12 Nach Tanchico oder zur Burg?

Elayne atmete tief und erleichtert auf, als Egwene sich endlich rührte und die Augen öffnete. Am Fuß des Bettes saß Aviendha, und nun verloren ihre Gesichtszüge den Ausdruck von Niedergeschlagenheit und Angst, und sie lächelte sogar kurz die erwachende Egwene an. Die Kerze war schon vor Minuten über die Markierung hinaus heruntergebrannt. Es war ihnen wie eine Stunde vorgekommen.

»Du bist einfach nicht aufgewacht«, sagte Elayne mit leicht schwankender Stimme. »Ich habe dich gerüttelt und geschüttelt, aber du bist einfach nicht erwacht.« Sie lachte ein wenig. »O Egwene, du hast sogar Aviendha Angst eingejagt.« Egwene legte einen Arm um sie und drückte sie beruhigend. »Jetzt bin ich ja wieder da.« Es klang müde, und sie hatte mittlerweile auch ihr Hemd durchgeschwitzt. »Ich hatte wohl einen Grund, etwas länger als geplant dort zu bleiben. Nächstesmal nehme ich mich mehr in acht. Versprochen.« Nynaeve stellte ein wenig zu heftig den Wasserkrug wieder auf den Waschtisch zurück, so daß Wasser herausschwappte. Sie war drauf und dran gewesen, das Wasser auf Egwenes schlafendes Gesicht zu kippen. Ihre Miene war wohl äußerlich ruhig, doch der Krug stieß gegen die Waschschüssel, und sie ließ das übergeschwappte Wasser auf den Teppich tropfen, ganz entgegen ihrer sonstigen Ordnungsliebe. »Lag es daran, daß du etwas gefunden hast? Oder waren es... ? Egwene, falls die Welt der Träume dich irgendwie festhält, ist es möglicherweise zu gefährlich, noch mal hinzugehen, bevor du einiges dazugelernt hast. Vielleicht wird es immer schwerer, zurückzukehren, je öfter du hingehst. Vielleicht... ich weiß nicht. Aber ich weiß, daß wir es uns nicht leisten können, dich da drinnen zu verlieren.« Sie verschränkte entschlossen und kampfbereit die Arme vor der Brust.

»Ich weiß«, sagte Egwene beinahe zerknirscht. Elaynes Augenbrauen hoben sich. Nynaeve gegenüber tat Egwene sonst niemals schuldbewußt. Ganz im Gegenteil.

Egwene stand etwas schwankend aus dem Bett auf und ging auf unsicheren Beinen zum Waschtisch, um sich Gesicht und Arme in dem kühlen Wasser zu waschen. Elayne fand ein trockenes Hemd im Schrank, während Egwene das durchnäßte auszog.

»Ich habe eine Weise Frau getroffen. Sie hieß Amys.« Egwenes Stimme klang gedämpft, bevor ihr Kopf wieder aus dem frischen Hemd herauskam. »Sie sagte, ich solle zu ihr kommen, um mehr über Tel'aran'rhiod zu erfahren. Irgendwohin in der Wüste — die Kaltfelsenfestung oder so.« Elayne hatte den überraschten Blick Aviendhas bemerkt, so kurz er auch gewesen war, als Egwene die Weise Frau erwähnte. »Kennst du sie? Amys?« Das Nicken der Aielfrau konnte man nur als zögernd bezeichnen. »Eine Weise Frau. Sie ist eine Traumgängerin. Amys war eine Far Dareis Mai, bis sie den Speer aufgab und nach Rhuidean ging.« »Eine Tochter des Speers!« rief Egwene. »Deshalb also... Spielt keine Rolle. Sie sagte, sie sei jetzt in Rhuidean. Weißt du, wo diese Kaltfelsenfestung ist, Aviendha?« »Natürlich. Das ist Rhuarcs Festung. Rhuarc ist der Ehemann von Amys. Ich besuche sie manchmal. Meine Schwestermutter Lian ist Amys' Schwesterfrau.« Elayne tauschte verwirrte Blicke mit Egwene und Nynaeve. Einst hatte Elayne geglaubt, eine Menge über die Aiel zu wissen. Sie hatte alles von ihren Lehrern in Caemlyn gelernt. Aber seit sie Aviendha kannte, war ihr klar geworden, wie wenig sie wirklich wußte. Die Sitten und Verwandtschaftsgrade waren für sie ein undurchdringliches Durcheinander. Erstschwester bedeutete, daß man die gleiche Mutter hatte, aber es war für Freundinnen auch möglich, Erstschwestern zu werden, wenn sie vor den Weisen Frauen ein Gelübde ablegten. Zweitschwester bedeutet, daß die Mütter Schwestern waren. Falls die Väter Brüder waren, machte das zwei Frauen zu Vaterschwestern, und man betrachtete sie als weniger eng verwandt, als Zweitschwestern. Darüber hinaus wurde es dann erst wirklich verwirrend.

»Was bedeutet ›Schwesterfrau‹?« fragte sie zögernd.

»Daß man den gleichen Ehemann hat.« Aviendha runzelte irritiert die Stirn, als Egwene nach Luft schnappte und Nynaeve die Augen bis zum Äußersten aufriß. Elayne hatte diese Antwort schon beinahe erwartet, aber trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie an ihrem Rock herumfummelte, obwohl der perfekt saß.

»Ist das bei euch nicht so Sitte?« fragte die Aielfrau.

»Nein«, sagte Egwene mit schwacher Stimme. »Nein, bei uns nicht.« »Aber du und Elayne, ihr fühlt euch doch wie Erstschwestern. Was hättet ihr denn getan, wenn keine von euch bereit gewesen wäre, Rand al'Thor aufzugeben? Seinetwegen kämpfen? Einen Mann das Band zwischen euch zerreißen lassen? Wäre es dann nicht besser gewesen, wenn ihr ihn beide heiratet?« Elayne sah Egwene an. Der Gedanke daran... Hätte sie so etwas fertiggebracht? Selbst mit Egwene zusammen? Sie wußte, daß sie rot angelaufen war. Egwene blickte lediglich überrascht drein.

»Aber ich wollte ja auf ihn verzichten«, sagte Egwene.

Elayne wußte, daß diese Bemerkung sowohl für sie wie auch für Aviendha bestimmt war, aber der Gedanke an eine solche Doppelehe ließ sich nicht so schnell vertreiben. Hatte Min so etwas vorausgesehen? Was würde sie tun, wenn Min damit recht behielt? Falls es sich um Berelain dreht, werde ich sie und ihn erwürgen! Wenn es schon sein muß, warum dann nicht Egwene? Licht, was denke ich da bloß? Sie wußte, daß sie wie ein aufgescheuchtes Huhn wirken mußte, und so versuchte sie, ihre Erregung zu vertuschen und fragte in heiterem Tonfall: »Das klingt, als habe der Mann in solch einem Fall gar nichts zu sagen.« »Er kann durchaus nein sagen«, sagte Aviendha, als teile sie ihnen etwas ganz Offensichtliches mit, »aber wenn er eine von ihnen heiraten möchte, muß er eben beide nehmen, falls sie es verlangen. Seid mir bitte nicht böse, aber ich war ganz schön schockiert, als ich hörte, daß bei euch ein Mann eine Frau bitten kann, ihn zu heiraten. Ein Mann sollte zeigen, daß er daran interessiert ist, und dann muß er warten, bis sich die Frau dazu äußert. Natürlich führen manche Frauen einen Mann solange, bis er weiß, was er eigentlich will, aber sie haben das alleinige Recht, einen Heiratsantrag zu machen. Ich weiß nicht so schrecklich viel darüber. Ich wollte seit meiner Kindheit eine Far Dareis Mai werden. Alles, was ich vom Leben will, sind mein Speer und meine Speerschwestern«, schloß sie ziemlich unwirsch.

»Keine von uns will dich dazu bringen, zu heiraten«, beruhigte Egwene sie. Aviendha blickte sie überrascht an.

Nynaeve räusperte sich vernehmlich. Elayne fragte sich, ob sie an Lan gedacht hatte. Auch ihre Wangen wiesen deutlich gerötete Flecken auf. »Ich schätze, Egwene«, sagte Nynaeve mit etwas übertrieben forscher Stimme, »daß du nicht gefunden hast, wonach du suchtest, sonst hättest du mittlerweile etwas davon erwähnt.« »Ich habe nichts gefunden«, antwortete Egwene bedauernd. »Aber Amys sagte... Aviendha, was für eine Art von Frau ist Amys?« Die Aielfrau hatte begonnen, den Teppich einer genauen Musterung zu unterziehen. »Amys ist so hart wie die Berge und so gnadenlos wie die Sonne«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Sie ist eine Traumgängerin. Sie kann dich unterrichten. Wenn sie dich einmal in die Hände bekommt, zerrt sie dich an den Haaren, wohin immer sie dich bekommen will. Rhuarc ist der einzige, der mit ihr fertig wird. Selbst die anderen Weisen Frauen hüten ihre Zunge, wenn Amys spricht. Aber sie kann dich unterrichten.« Egwene schüttelte den Kopf. »Ich meinte mit meiner Frage, ob ein fremder Ort sie aus dem Gleichgewicht bringen könnte, sie nervös machen? Sich in einer Stadt aufzuhalten beispielsweise? Könnte es sein, daß sie dann Dinge sieht, die gar nicht da sind?« Aviendhas Lachen klang scharf und abgehackt. »Nervös? Auch wenn sie aufwacht und einen Löwen in ihrem Bett findet, wird Amys deshalb nicht nervös. Sie war eine Tochter des Speers, Egwene, und sie ist seither keineswegs verweichlicht, da kannst du sicher sein.« »Was hat diese Frau gesehen?« fragte Nynaeve.

»Es war nichts, was sie wirklich gesehen hat, um genau zu sein«, sagte Egwene bedächtig. »Ich glaube, sie hat es nicht gesehen. Sie sagte, in Tanchico lauere etwas Böses. Schlimmer, als es Menschen erfinden können. Es könnten die Schwarzen Ajah sein. Fang jetzt bitte keinen Streit an, Nynaeve«, fügte sie mit Entschlossenheit in der Stimme hinzu. »Träume muß man irgendwie deuten. Es könnte doch sehr wohl so sein.« Nynaeve hatte die Stirn gerunzelt, sobald Egwene etwas Böses in Tanchico erwähnt hatte, und aus dem bloßen Stirnrunzeln wurde ein wütender Blick, als Egwene ihr sagte, sie solle nicht streiten. Manchmal hätte Elayne am liebsten beide Frauen kräftig geschüttelt. So mischte sie sich schnell ein, bevor eine von beiden explodierte: »Es könnte durchaus sein, Egwene. Du hast also doch etwas gefunden. Mehr als Nynaeve oder ich glaubten. Stimmt's, Nynaeve? Glaubst du nicht auch?« »Könnte sein«, gab Nynaeve mürrisch zu.

»Es könnte sein.« Egwene klang auch nicht gerade glücklich. Sie atmete tief durch. »Nynaeve hat recht. Ich muß mehr über das erfahren, was ich tue. Wenn ich mir meines Weges sicher wäre, müßte mir niemand etwas über das Böse erzählen. Ich hätte vielleicht sogar das Zimmer finden können, in dem Liandrin wohnt, wo immer das auch sein mag. Amys kann mich unterrichten. Deshalb... Deshalb muß ich zu ihr.« »Zu ihr?« Nynaeve hörte sich entsetzt an. »In die Wüste?« »Aviendha kann mich direkt zu dieser Kaltfelsenfestung bringen.« Egwenes Blick, halb trotzig und halb ängstlich, wanderte von Elayne zu Nynaeve und zurück. »Wenn ich sicher wäre, daß sie in Tanchico sind, würde ich euch nicht allein hinlassen. Falls ihr euch dazu entschließt. Aber wenn mir Amys hilft, kann ich vielleicht herausbekommen, wo sie sind. Vielleicht kann ich... Das ist eben der springende Punkt: Ich weiß nicht einmal, was ich alles kann, nur bin ich sicher, es wird viel mehr sein als jetzt im Augenblick. Es ist ja nicht so, daß ich euch im Stich lassen will. Ihr könnt den Ring mitnehmen. Ihr kennt den Stein ja gut genug, daß ihr in Tel'aran'rhiod hierher zurückkehren könnt. Ich kann zu euch nach Tanchico kommen. Was ich auch bei Amys lerne, kann ich euch dann auch beibringen. Bitte sagt mir doch, daß ihr mich versteht. Ich kann soviel von Amys lernen und es dann benützen, um euch zu helfen. Das ist dann so, als würden wir alle drei von ihr unterrichtet. Eine Traumgängerin, eine Frau, die Bescheid weiß! Liandrin und die anderen werden dagegen wie Kinder dastehen; sie wissen kein Viertel von dem, was wir wissen.« Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Ihr glaubt doch nicht, daß ich euch im Stich lassen will, oder? Wenn es so ist, gehe ich nicht hin.« »Natürlich mußt du hingehen«, sagte Elayne zu ihr. »Ich werde dich vermissen, aber niemand hat uns versprochen, daß wir zusammenbleiben könnten, bis das alles vorbei ist.« »Aber ihr zwei... allein... Ich sollte mit euch kommen. Wenn sie sich wirklich in Tanchico aufhalten, sollte ich bei euch sein.« »Unsinn«, sagte Nynaeve kurz angebunden. »Du brauchst dringend eine richtige Ausbildung. Das wird uns auf lange Sicht viel mehr helfen als deine Anwesenheit in Tanchico. Und dabei wissen wir ja noch nicht einmal, ob sie sich wirklich dort aufhalten. Wenn es der Fall ist, ergänzen Elayne und ich uns sehr gut, aber vielleicht kommen wir auch dort an und finden heraus, daß dieses Böse lediglich der Krieg ist. Das Licht weiß, daß ein Krieg für jedermann schon böse genug sein sollte. Vielleicht sind wir schneller wieder in der Burg als du. Du mußt in der Wüste sehr vorsichtig sein«, fügte sie in geschäftsmäßigem Tonfall hinzu. »Es ist gefährlich dort. Aviendha, du wirst doch auf sie aufpassen?« Bevor die Aielfrau den Mund zur Antwort aufbekam, klopfte es an die Tür, und Moiraine trat, ohne zu warten, ein. Die Aes Sedai erfaßte sie alle mit einem Blick, der abwog, abschätzte und überdachte, was sie wohl getan hatten, doch nicht einmal ein Wimpernzucken verriet, zu welchem Schluß sie gekommen war. »Joiya und Amico sind tot«, verkündete sie lapidar.

»War das dann vielleicht der Grund für den Angriff?« fragte Nynaeve. »All das nur, um sie zu töten? Oder sie vielleicht dann zu töten, wenn man sie nicht befreien konnte? Ich bin sicher, daß Joiya nur deshalb soviel Selbstvertrauen zeigte, weil sie erwartete, gerettet zu werden. Sie muß eben doch gelogen haben. Ich habe ihrer Reue niemals getraut.« »Es war wohl nicht das Hauptziel des Angriffs«, erwiderte Moiraine. »Der Hauptmann war klug genug, während des Angriffs seine Männer unten in den Kerkern zusammenzuhalten. Sie haben dort keinen einzigen Trolloc oder Myrddraal angetroffen. Aber hinterher fanden sie die beiden tot auf. Jeder war ziemlich grob die Kehle durchgeschnitten worden. Nachdem man ihre Zunge an die Zellentür genagelt hatte.« Sie hätte ihrem Tonfall nach genausogut über ein Kleid sprechen können, das genäht werden mußte.

Elayne drehte sich bei der nüchternen Beschreibung fast der Magen herum. »Das hätte ich ihnen nicht gewünscht. Nicht so was. Das Licht leuchte ihren Seelen.« »Sie haben ihre Seelen vor langer Zeit dem Schatten verkauft«, sagte Egwene grob. Aber auch sie preßte beide Hände auf den Bauch. »Wie... wie ist das denn geschehen? Graue Männer?« »Ich bezweifle, daß selbst Graue Männer das fertiggebracht hätten«, sagte Moiraine trocken. »Es scheint, daß der Schatten noch Dinge auf Lager hat, die wir nicht kennen.« »Ja.« Egwene strich ihr Kleid glatt, das sie schnell übergeworfen hatte, und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Wenn man gar nicht erst versucht hat, sie zu retten, dürfte das bedeuten, daß beide die Wahrheit gesagt haben. Sie wurden getötet, weil sie geplaudert hatten.« »Oder um sie davon abzuhalten«, fügte Nynaeve grimmig hinzu. »Wir können nur hoffen, daß niemand weiß, was sie uns gesagt haben. Vielleicht hat Joiya wirklich etwas bereut, aber ich glaube nicht daran.« Elayne schluckte, als sie daran dachte, wie es wohl sei, in einer Zelle zu sitzen, und dann drückte jemand ihr Gesicht an die Tür, zerrte ihre Zunge heraus und... Sie schauderte, brachte aber wenigstens heraus: »Vielleicht hat man sie einfach deshalb umgebracht, weil man sie bestrafen wollte, daß sie sich gefangennehmen ließen.« Sie sprach ihren anderen Gedanken lieber nicht aus, daß man sie getötet haben könnte, damit sie glaubten, was Joiya und Amico ihnen gesagt hatten. Sie waren sich so schon nicht sicher, was sie unternehmen sollten. »Drei Möglichkeiten, und nur eine davon schließt ein, daß die Schwarzen Ajah wußten: Joiya und Amico haben ausgesagt. Da alle drei gleich wahrscheinlich sind, spricht einiges dafür, daß sie keine Ahnung haben.« Egwene und Nynaeve wirkten schockiert. »Um sie zu bestrafen?« sagte Nynaeve ungläubig.

In vieler Hinsicht waren beide zäher und härter als sie, und deshalb bewunderte sie die beiden auch, aber sie waren nicht im Schatten der ständigen Intrigen am Hof in Caemlyn aufgewachsen und hatten nicht die grausamen Folgen mitbekommen, wenn die Adligen aus Cairhien und Tear das Spiel der Häuser gespielt hatten.

»Ich glaube, die Schwarzen Ajah lassen niemandem auch nur den geringsten Fehler irgendwelcher Art durchgehen«, sagte sie zu ihnen. »Ich kann mir vorstellen, daß Liandrin so etwas angeordnet hat. Joiya wäre das sicher auch nicht schwer gefallen.« Moiraine warf ihr einen kurzen, anerkennenden Blick zu.

»Liandrin«, sagte Egwene mit absolut ausdrucksloser Stimme. »Ja, ich kann mir vorstellen, wie Liandrin oder Joiya einen solchen Befehl geben.« »Ihr hattet sowieso nicht mehr viel Zeit, sie zu verhören«, sagte Moiraine. »Morgen mittag hätten sie sich auf dem Schiff befunden.« In ihrer Stimme schwang ein wenig Zorn mit. Elayne wurde klar, daß Moiraine den Tod der Schwarzen Schwestern auch als eine Flucht vor der Gerechtigkeit ansah. »Ich hoffe, Ihr entscheidet Euch bald. Nach Tanchico oder zur Burg?« Elaynes Blick traf den Nynaeves, und sie nickte leicht.

Nynaeve nickte bestätigend zurück und wandte sich der Aes Sedai zu. »Elayne und ich reisen nach Tanchico, sobald wir ein Schiff finden. Ein schnelles Schiff, hoffe ich. Egwene und Aviendha gehen zur Kaltfelsenfestung in der Aiel-Wüste.« Sie erwähnte keine Gründe, und Moiraine zog die Augenbrauen hoch.

»Jolien kann sie hinbringen«, sagte Aviendha in das augenblickliche Schweigen hinein. Sie mied Egwenes Blick. »Oder Sefela oder Bain und Chiad. Ich... ich habe daran gedacht, mit Elayne und Nynaeve zu gehen. Falls in Tanchico Krieg herrscht, brauchen sie eine Schwester, die ihnen den Rücken deckt.« »Falls du das wünscht, Aviendha«, sagte Egwene langgezogen.

Sie wirkte überrascht und verletzt, aber nicht überraschter als Elayne. Die hatte geglaubt, die beiden wären Freundinnen geworden. »Ich bin froh, daß du uns helfen willst, Aviendha, aber du solltest diejenige sein, die Egwene zur Kaltfelsenfestung bringt.« »Sie wird weder nach Tanchico noch zur Kaltfelsenfestung gehen«, sagte Moiraine, nahm einen Brief aus ihrer Gürteltasche und entfaltete ihn. »Dies hat man mir vor einer Stunde ausgehändigt. Der junge Aielmann, der ihn mir überbrachte, sagte, er habe ihn vor einem Monat erhalten, bevor eine von uns Tear überhaupt erreicht hatte, aber er ist an mich adressiert und sollte in den Stein von Tear gebracht werden.« Sie sah die letzte Seite an. »Aviendha, kennt Ihr Amys von der Neun-TälerSeptime der Taardad Aiel, Bair von der Haido-Septime der Shaarad Aiel, Melaine von der Jhirad-Septime der Goshien Aiel und Seana von der Schwarzklippenseptime der Nakai Aiel? Sie haben alle unterzeichnet.« »Das sind alles Weise Frauen, Aes Sedai. Alle Traumgängerinnen.« Aviendhas Haltung drückte nun Mißtrauen aus, obwohl sie sich dessen gar nicht bewußt schien. Sie wirkte zu allem bereit — zum Kämpfen genau wie zur Flucht.

»Traumgänger«, sagte Moiraine nachdenklich. »Vielleicht erklärt das einiges. Ich habe von den Traumgängern gehört.« Sie durchblätterte den Brief und blieb bei der zweiten Seite hängen. »Hier steht einiges über Euch. Was sie dazu sagten, bevor Ihr euch überhaupt entschlossen hattet, nach Tear zu kommen. ›Unter den Töchtern des Speers im Stein von Tear befindet sich ein halsstarriges Mädchen namens Aviendha, von der NeunTäler-Septime der Taardad Aiel. Sie muß nun zu uns kommen. Es kann kein weiteres Warten und keine Ausflüchte mehr geben. Wir werden an den Abhängen des Chaendar über Rhuidean auf sie warten.‹ Es steht mehr über Euch da, aber vor allem werde ich beauftragt, dafür zu sorgen, daß Ihr ohne Zögern zu ihnen kommt. Sie geben Befehle aus wie die Amyrlin, diese Weisen Frauen bei Euch.« Sie gab einen knurrenden Laut von sich, der Elayne dazu brachte, sich zu fragen, ob die Weisen Frauen versucht hatten, auch die Aes Sedai herumzukommandieren. Nicht sehr wahrscheinlich. Und noch unwahrscheinlicher, daß sie damit Erfolg hatten. Trotzdem — irgend etwas an diesem Brief irritierte die Aes Sedai.

»Ich bin eine Far Dareis Mai«, sagte Aviendha zornig. »Ich renne nicht wie ein Kind hin, wenn jemand meinen Namen ruft. Ich gehe nach Tanchico, wenn ich das will.« Elayne schürzte nachdenklich die Lippen. Das waren ganz neue Töne von der Aielfrau. Nicht der Zorn — sie hatte Aviendha schon zornig genug gesehen, wenn auch nicht derart —, aber der Unterton. Sie empfand es als ein Schmollen. Das schien genauso unwahrscheinlich, wie wenn Lan schmollte, aber es stand außer Zweifel.

Egwene hatte es auch herausgehört. Sie tätschelte Aviendhas Arm. »Es ist schon gut. Wenn du lieber nach Tanchico willst, dann freue ich mich darüber, daß du Elayne und Nynaeve beschützt.« Aviendha warf ihr einen vollkommen niedergeschlagenen Blick zu.

Moiraine schüttelte den Kopf, wohl nur leicht, aber doch merklich. »Ich habe den Brief Rhuarc gezeigt.« Aviendha öffnete den Mund mit trotzigem Gesichtsausdruck, doch die Aes Sedai kam ihr zuvor und fuhr mit etwas lauterer Stimme fort: »Darum wurde ich im Brief gebeten. Natürlich sollte ich ihm nur den Teil zeigen, in dem es um Euch geht. Er scheint durchaus entschlossen, Euch dazu zu bringen, das zu tun, was in dem Brief verlangt wird. Befohlen wird. Ich glaube, es ist das Klügste, wenn Ihr tut, was Rhuarc und die Weisen Frauen von Euch verlangen, Aviendha. Sind wir uns einig?« Aviendha blickte sich wild im Raum um, als stecke sie in einer Falle. »Ich bin eine Far Dareis Mai«, knurrte sie und ging ohne ein weiteres Wort zur Tür.

Egwene machte einen Schritt vorwärts und hob halb die Hand, um sie aufzuhalten, doch dann ließ sie sie sinken, denn die Tür knallte bereits zu. »Was wollen sie eigentlich von ihr?« fragte sie Moiraine. »Ihr wißt doch immer mehr, als Ihr herauslaßt. Was haltet Ihr diesmal zurück?« »Welche Gründe die Weisen Frauen auch haben«, sagte Moiraine kühl, »es ist sicher eine Angelegenheit zwischen Aviendha und ihnen. Wenn sie wollte, daß Ihr Bescheid wißt, hätte sie es Euch gesagt.« »Ihr könnt nicht damit aufhören, Menschen zu manipulieren«, sagte Nynaeve bitter. »Jetzt manövriert Ihr Aviendha in etwas hinein, ja?« »Ich nicht. Die Weisen Frauen. Und Rhuarc.« Moiraine faltete den Brief zusammen und steckte ihn mit säuerlichem Gesichtsausdruck in die Tasche zurück. »Sie kann ihm ja jederzeit nein sagen. Ein Clanhäuptling ist nicht das Gleiche wie ein König, soviel ich von den Gebräuchen bei den Aiel weiß.« »Kann sie das?« fragte Elayne. Rhuarc erinnerte sie an Gareth Bryne. Der Generalhauptmann der Königlichen Garde ihrer Mutter hatte nur selten Druck angewandt, doch wenn er es tat, dann konnte ihn noch nicht einmal Morgase umstimmen; höchstens, wenn sie einen königlichen Befehl ausgab. Diesmal würde es keinen Befehl vom Thron geben. Nun, Morgase hatte ihm auch niemals einen erteilt, wenn Gareth Bryne der Meinung war, er sei im Recht, mußte Elayne zugeben. Ohne den würde Aviendha wohl oder übel zu den Abhängen des Chaendar über Rhuidean ziehen müssen. »Wenigstens kann sie mit dir ziehen, Egwene. Amys kann dich schwerlich in der Kaltfelsenfestung treffen, wenn sie in Rhuidean auf Aviendha warten will. Ihr könnt zusammen zu Amys gehen.« »Aber ich will das nicht«, sagte Egwene traurig. »Nicht, wenn sie das nicht von alleine will.« »Was irgendwer auch will«, sagte Nynaeve, »wir haben Arbeit zu erledigen. Du wirst eine Menge Sachen für eine Reise in die Wüste mitnehmen müssen, Egwene. Lan wird mir sagen, was alles notwendig ist. Und Elayne und ich müssen Reisevorbereitungen treffen, wenn wir nach Tanchico segeln wollen. Ich denke schon, daß wir morgen ein Schiff finden werden, aber das heißt auch, daß wir uns entscheiden müssen, was wir heute abend einpacken.« »Im Mauleviertel liegt ein Schiff der Atha'an Miere vor Anker«, sagte Moiraine. »Eine Brigg. Es gibt im Moment keine schnelleren Schiffe. Ihr wolltet doch ein schnelles Schiff für diese Reise.« Nynaeve nickte mürrisch.

»Moiraine«, sagte Elayne, »was wird Rand nun unternehmen? Nach diesem Angriff... Wird er den Krieg beginnen, den Ihr haben wollt?« »Ich will keinen Krieg haben«, antwortete die Aes Sedai. »Ich will das, was ihm das Überleben bis Tarmon Gai'don ermöglicht. Er sagt, er werde uns allen morgen mitteilen, was er zu tun gedenkt.« Ein kaum merkliches Stirnrunzeln störte die Glätte ihrer Haut. »Morgen werden wir alle mehr wissen als heute abend.« Ihr Abgang war reichlich abrupt.

Morgen, dachte Elayne. Was macht er, wenn ich es ihm sage? Was wird er dazu sagen? Er muß mich einfach verstehen. Energisch schloß sie sich den anderen an, um ihre Reisevorbereitungen zu besprechen.

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