49 Die Kaltfelsenfestung

Rand blickte sich stirnrunzelnd um. Eine Meile vor ihnen ragte eine dichte Gruppe hoher, steiler Spitzkuppen auf, oder vielleicht war es auch nur eine einzige, die von tiefen Rissen durchzogen war. Zu seiner Linken waren mit dürrem Gras bewachsene Flecken zu sehen, dazu blattlose Dornenpflanzen, verstreute Dornbüsche und niedrige Bäume, dahinter ausgetrocknete Hügel und zerklüftete Rinnen, und noch weiter hinten schließlich unregelmäßig geformte Felssäulen und wildgezackte Berge. Zur Rechten war es dasselbe, nur war der durchglühte gelbe Lehmboden ebener, und die Berge waren näher. Alles in allem konnte es jedes beliebige Stück Wüste sein, das sie seit dem Chaendaer gesehen hatten. »Wo?« fragte er.

Rhuarc blickte Aviendha an, die wiederum Rand ansah, als sei der nun vollends übergeschnappt. »Kommt. Ihr sollt die Kaltfelsen mit eigenen Augen sehen.« Der Clanhäuptling ließ seine Schufa auf die Schultern herabrutschen und rannte mit bloßem Kopf auf die zerklüftete Felswand zu.

Die Shaido hatten bereits Halt gemacht, wuselten herum und bauten ihre Zelte auf. Heirn und die Jindo schlossen sich Rhuarc an. Sie trabten mit den Packtieren am Zügel und unbedecktem Kopf jubelnd hinter ihm her. Die Töchter des Speers, die die Händlerkarawane begleiteten, riefen den Fahrern zu, sie sollten sich beeilen und den Jindo hinterherfahren. Eine der Weisen Frauen hob gar den Rock bis an die Knie und rannte zu Rhuarc nach vom. Rand glaubte, es sei Amys, jedenfalls dem hellen Haar nach zu schließen, und Bair konnte ja wohl sicherlich nicht so leichtfüßig laufen. Aber die anderen aus dem Zug der Weisen Frauen behielten ihr bisheriges Tempo bei. Einen Augenblick sah es aus, als wolle Moiraine sich von ihnen entfernen und zu Rand herüberreiten, doch dann zögerte sie und diskutierte mit einer der Weisen Frauen, deren Haar noch durch ihren Schal verborgen war. Schließlich ließ die Aes Sedai ihre weiße Stute wieder neben Egwenes graue und den schwarzen Hengst Lans zurücktraben. Kurz hinter ihnen folgten die weißgekleideten Gai'schain, die ihre Packtiere hinter sich herzogen. Doch auch sie gingen in die gleiche Richtung wie Rhuarc.

Rand beugte sich hinunter und reichte Aviendha die Hand. Als sie den Kopf schüttelte, sagte er: »Wenn sie soviel Lärm machen, kann ich nicht hören, was Ihr da unten sagt. Vielleicht mache ich dann irgendeinen idiotischen Fehler, bloß weil ich Euch nicht verstehe!« Sie knurrte etwas in sich hinein, blickte sich schnell nach den Töchtern des Speers bei der Händlerkarawane um, seufzte dann und packte seinen Arm. Er hievte sie mit einem Ruck hoch, ignorierte ihr empörtes Quieken und setzte sie hinter dem Sattel auf Jeade'en ab. Immer, wenn sie allein aufsteigen wollte, zog sie ihn fast aus dem Sattel. Also besorgte er das lieber. Er ließ ihr einen Moment Zeit, damit sie ihren schweren Rock zurechtziehen konnte, obwohl ihre Beine auch so nur ein Stückchen oberhalb der weichen, kniehohen Stiefel freigelegt worden waren, und dann spornte er den Apfelschimmel zu einem gemäßigten Galopp an. Es war das erste Mal, daß Aviendha mehr als nur Schrittempo erlebte. Sie umschlang seine Taille und preßte sich gegen ihn, um nicht herunterzufallen.

»Wenn Ihr mich vor meinen Schwestern zur Närrin macht, Feuchtländer«, fauchte sie ihm warnend von hinten zu.

»Warum würden Sie Euch für eine Närrin halten? Ich habe Bair und Amys und die anderen hinter Moiraine oder Egwene reiten sehen, wenn sie sich unterhalten wollten.« Nach einem Augenblick des Überlegens sagte sie: »Ihr akzeptiert Veränderungen schneller und leichter, als ich das kann, Rand al'Thor.« Er wußte nicht, was er damit wieder anfangen sollte.

Als er sich mit Jeade'en auf der Höhe von Rhuarc, Heirn und Amys und ein Stück vor den immer noch durcheinanderschreienden Jindo befand, sah er zu seiner Überraschung Couladin leichtfüßig mitlaufen. Sein flammenfarbener Haarschopf leuchtete unbedeckt im Sonnenschein. Aviendha zog nun auch Rands Schufa auf seine Schultern herunter. »Wenn Ihr eine Festung betretet, muß Euer Gesicht deutlich sichtbar sein. Das habe ich Euch doch gesagt. Und Lärm müßt Ihr machen. Man hat uns wohl schon lange gesehen und weiß, wer wir sind, aber es ist Sitte, um zu beweisen, daß man die Festung nicht durch einen Überraschungsangriff erstürmen will.« Er nickte, hielt aber ansonsten den Mund. Weder Rhuarc noch einer der drei anderen bei ihm gaben einen Laut von sich, und Aviendha schließlich auch nicht. Außerdem veranstalteten die Jindo schon genug Lärm, daß man es meilenweit hören konnte.

Couladin wandte sich ihm zu. Verachtung zeigte sich auf dem sonnengebräunten Gesicht und noch etwas anderes. Haß und Abscheu hatte Rand ja erwartet, aber Spott? Was fand denn Couladin so amüsant?

»Idiotischer Shaido«, knurrte Aviendha von hinten. Vielleicht hatte sie recht; vielleicht galt der spöttische Gesichtsausdruck ihrem Ritt. Aber Rand glaubte das nicht.

Mat galoppierte heran und zog dabei eine gelblichbraune Staubwolke hinter sich her. Den Hut hatte er weit heruntergezogen und der Speer ruhte wie eine Lanze senkrecht auf einem Steigbügel. »Was ist das hier, Rand?« schrie er herüber, um durch den Lärm hindurch hörbar zu sein. »Alles, was diese Frauen sagten, war immer nur: ›Macht schneller. Bewegt Euch schnellere« Rand sagte ihm Bescheid, und der Freund sah die hoch aufragende Steilwand der Felskuppe finster an. »Ich schätze, wenn man genügend Vorräte hat, kann man sich dort jahrelang verteidigen, aber es ist trotzdem nichts gegen den Stein oder die Tora Harad.« »Die Tora was?« fragte Rand.

Mat zuckte die Achseln, bevor er antwortete: »Ach, nur etwas, von dem ich mal gehört habe.« Er stellte sich in den Steigbügeln auf, um nach hinten über die Jindo hinweg zu der Händlerkarawane spähen zu können. »Wenigstens sind die noch bei uns. Ich frage mich, wie lange sie noch brauchen werden, um ihre Geschäfte abzuwickeln, und uns dann verlassen.« »Nicht, bevor wir in Alcair Dal waren. Rhuarc sagte, es gebe jedesmal so eine Art von Jahrmarkt, wenn sich die Clanhäuptlinge treffen, auch wenn es nur zwei oder drei sind. Da diesmal alle zwölf kommen, glaube ich kaum, daß Kadere und Keille das versäumen wollen.« Mat schien über diese Neuigkeit nicht unbedingt erfreut.

Rhuarc führte sie geradewegs auf den breitesten Riß in der fast senkrechten Felswand zu. Er war an den größten Stellen wohl etwa zehn oder zwölf Schritt weit und zog sich im Schatten der Felswände immer tiefer in den riesigen Steinklotz hinein. Drinnen war es dunkel und kühl. Darüber war gerade noch ein Streifen des Himmels zu sehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, sich mit einemmal in solch tiefem Schatten zu bewegen. Die wortlosen Schreie der Aiel schwollen an, von den graubraunen Wänden um ein Vielfaches verstärkt, und dann brachen sie plötzlich ab, und Schweigen herrschte. Nur das Hufgeklapper der Maultiere und das Knarren der Wagenräder weit hinten war noch zu hören. In dieser Stille klang das schrecklich laut.

Sie kamen um eine Ecke, und der Riß öffnete sich abrupt zu einer breiten Schlucht, lang und fast gerade. Von allen Seiten her erklang mit einem Schlag das schrille Heulen Hunderter von Frauenstimmen. Zu beiden Seiten drängte sich eine dichte Menge, Frauen in bauschigen Röcken, die Schals um die Köpfe gewickelt, und Männer im graubraunen Wams und Hosen, der Cadin'sor. Auch Töchter des Speers waren dabei und winkten ihnen zu oder schlugen mit den Speerschäften auf Töpfe und was sonst noch Lärm machte.

Rand hatte Augen und Mund aufgerissen, und das nicht nur des Lärms und Durcheinanders wegen. Die Wände der Schlucht waren grün. Schmale Terrassen zogen sich an beiden Seiten etwa bis zur Hälfte die Wände hoch. Dann wurde ihm bewußt, daß nicht alle tatsächlich Terrassen waren. Kleine Häuser aus grauem Stein oder gelbem Lehm und mit flachen Dächern standen praktisch eins auf dem anderen, türmten sich in ganzen Gruppen hoch auf. Dazwischen wanden sich schmale Wege hindurch. Auf jedem freien Dach wuchsen in einem winzigen Garten Bohnen und Kürbisse, Paprika und Melonen und andere Pflanzen, die er nicht erkannte. Hühner rannten herum, rötlicher, als er gewöhnt war, und eine seltsame Art von Truthühnern, größer als sonst und grau gefleckt. Kinder, die zumeist wie die Erwachsenen gekleidet waren, und in Weiß gehüllte Gai'schain wanderten zwischen den Beeten umher und gossen die Pflanzen aus großen Tonkrügen. Man hatte ihm immer gesagt, die Aiel hätten keine Städte, aber das hier war zumindest eine größere Kleinstadt, wenn auch die eigenartigste, die er je erblickt hatte. Der Lärm war einfach zu stark, um Aviendha auch nur eine der vielen Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf gingen. Was waren das für runde Früchte, zu rot und glänzend für Äpfel, die an niedrigen Büschen mit hellen Blättern wuchsen? Oder diese geraden Stengel mit breiten Blättern, unter denen lange, dicke Schoten mit gelben Narbenfäden hingen? Er hatte zu lange auf einem Bauernhof gelebt, und so etwas interessierte ihn nun doch.

Rhuarc und Heirn und auch Couladin gingen nun langsamer, aber immer noch schnell genug. Sie hatten die Speere durch die ledernen Bogenhalter auf dem Rücken gesteckt. Amys rannte voraus und lachte wie ein junges Mädchen dabei, während die Männer im gleichen Schritt wie vorher über den von Menschen gesäumten Felsboden marschierten. Das Heulen der Frauen ließ die Luft beben und übertönte noch das Klappern der Töpfe. Rand folgte den Anführern, wie Aviendha ihm geraten hatte. Mat sah aus, als wolle er am liebsten umkehren und wieder hinausreiten.

Am hinteren Ende der Schlucht hing die Felswand ein Stück über und erzeugte so eine düstere, überdachte Felsfläche. Der Sonnenschein erreichte niemals das hintere Ende, wie Aviendha gesagt hatte, so daß die Felsen dort immer kalt waren. Das hatte der Festung den Namen verliehen. Vor dieser Schattenfläche stand mittlerweile Amys zusammen mit einer anderen Frau auf einem breiten, grauen Felsblock, dessen Oberfläche man abgeschliffen hatte, um einen erhöhten Standplatz zu schaffen.

Die zweite Frau, die trotz des bauschigen Rocks schlank wirkte und deren blondes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar unter dem Schal hervor bis über ihre Hüfte hinabreichte, schien älter als Amys, sah aber noch ausgesprochen gut aus. An den Augenwinkeln waren ein paar feine Fältchen zu entdecken, die den jugendlichen Eindruck überhaupt nicht störten. Sie war genauso wie Amys gekleidet, trug einen einfachen braunen Schal, dazu aber goldene Halsketten und glatte Armreife aus Gold oder Elfenbein. Das mußte Lian sein, die Dachherrin der Kaltfelsenfestung.

Das vibrierende Heulen wurde leiser und verklang, als Rhuarc vor dem Felsblock stehenblieb, einen Schritt näher als Heirn und Couladin. »Ich bitte um Erlaubnis, Eure Festung betreten zu dürfen, Dachherrin«, verkündete er mit lauter, hallender Stimme.

»Ihr habt meine Erlaubnis, Clanhäuptling«, erwiderte die blonde Frau dem Brauch entsprechend und genauso laut. Lächelnd fügte sie mit erheblich wärmer klingender Stimme hinzu: »Schatten meines Herzens, du wirst immer meine Erlaubnis erhalten.« »Ich danke Euch, Dachherrin meines Herzens.« Das klang auch nicht gerade formell.

Heirn trat vor. »Dachherrin, ich bitte um Erlaubnis, unter Euer Dach treten zu dürfen.« »Ihr habt meine Erlaubnis, Heirn«, sagte Lian zu dem stämmigen Mann. »Unter meinem Dach gibt es Wasser und Schatten für Euch. Die Jindo-Septime ist hier immer willkommen.« »Ich danke Euch, Dachherrin.« Heirn klopfte Rhuarc auf die Schulter und ging zu seinen Leuten zurück. Die Zeremonien bei den Aiel waren offensichtlich kurz, und man kam schnell zur Sache.

Couladin kam großspurig zu Rhuarc nach vorn. »Ich bitte um Erlaubnis, Eure Festung betreten zu dürfen, Dachherrin.« Lian blinzelte kurz und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. Hinter Rand erhob sich ein Gemurmel, das erstaunte Summen von Hunderten von leisen Stimmen. Plötzlich hing Gefahr in der Luft. Mat fühlte es offensichtlich auch, strich über seinen Speer und drehte sich halb um, damit er sehen konnte, was die Menge der Aiel vorhatte.

»Was ist los?« raunte Rand Aviendha nach hinten zu. »Warum sagt sie nichts?« »Er stellte die Frage wie ein Clanhäuptling«, flüsterte ihm Aviendha ungläubig zu. »Der Mann ist wirklich ein Narr. Er muß verrückt geworden sein! Wenn sie ihn nicht einläßt, gibt es Schwierigkeiten mit den Shaido, und das kann passieren bei einer solchen Beleidigung. Keine Blutfehde — er ist ja nicht ihr Clanhäuptling, auch wenn er sich so fühlt —, aber Schwierigkeiten.« Sie holte kaum Luft, aber ihr Tonfall verschärfte sich. »Ihr habt nicht zugehört, oder? Ihr habt nicht zugehört! Sie hätte selbst Rhuarc den Einlaß verwehren können, und er hätte wieder gehen müssen. Das hätte den Clan gespalten, aber es liegt in ihrer Macht. Sie kann sogar Ihn, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, zurückweisen, Rand al'Thor. Frauen sind bei uns keineswegs machtlose Geschöpfe, nicht wie Eure Feuchtländerfrauen, die schon Königinnen oder Adlige sein müssen, um nicht für einen Mann erst einmal tanzen zu müssen, damit sie zu essen erhalten!« Er schüttelte leicht den Kopf. Jedesmal, wenn er soweit war, sich selbst zu verwünschen, weil er so wenig über die Aiel wußte, erinnerte ihn Aviendha daran, wie wenig sie über alle wußte, die keine Aiel waren. »Eines Tages möchte ich Euch gern der Versammlung der Frauen von Emondsfeld vorstellen. Es wird... interessant werden... zu hören, wie Ihr denen erklärt, daß sie machtlos seien.« Er fühlte, wie sie hinter ihm ihr Gewicht verlagerte, um sein Gesicht sehen zu können, und so bemühte er sich, ausdruckslos dreinzublicken. »Vielleicht werden sie Euch auch einiges zu erklären haben.« »Ihr habt meine Erlaubnis«, begann Lian, und Couladin lächelte bereits triumphierend, »unter mein Dach zu treten. Wasser und Schatten werden sich für Euch finden.« Hunderte von Mündern schnappten hörbar nach Luft. Der Mann mit dem feurigen Haar bebte, als habe man ihn geschlagen. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Er wußte anscheinend nicht, was er tun solle. Erst trat er herausfordernd einen Schritt vor, starrte zu Lian und Amys hoch und hielt seine bebenden Unterarme, als wolle er verhindern, daß er nach seinen Speeren griff, und dann wirbelte er herum und schritt zurück auf die Versammlung zu, wobei er hierhin und dorthin finstere Blicke austeilte, damit niemand es wagte, auch nur ein Wort zu sagen. Schließlich blieb er nahe dem Fleck stehen, an dem er vorher gestanden hatte, und sah Rand an. Kohlen hätten nicht heißer glühen können als diese blauen Augen.

»Wie einen, der keine Freunde hat und ganz allein ist«, flüsterte Aviendha. »Sie hat ihn als Bettler willkommen geheißen. Das ist die schlimmste Beleidigung für ihn, aber sie trifft die Shaido ansonsten nicht. Nur ihn.« Plötzlich hieb sie Rand so hart die Fäuste in die Rippen, daß er stöhnte. »Bewegt Euch, Feuchtländer. Ihr tragt meine Ehre in Euren Händen. Jeder weiß, daß ich Euch unterrichtet habe! Los!« Er schwang ein Bein herüber, glitt von Jeade'ens Rücken und schritt zu Rhuarc vor. Ich bin kein Aiel, dachte er. Ich verstehe sie nicht und ich darf auch nicht zulassen, daß ich sie allein zu sehr ins Herz schließe. Das darf ich nicht.

Keiner der anderen Männer hatte das gemacht, aber er verbeugte sich vor Lian. So war er erzogen worden. »Dachherrin, ich bitte um Eure Erlaubnis, unter Euer Dach treten zu dürfen.« Er hörte, wie Aviendha nach Luft schnappte. Er hätte an sich den anderen Spruch aufsagen sollen, so wie Rhuarc. Die Augen des Clanhäuptlings verengten sich besorgt, als er seine Frau beobachtete, und Couladins erhitztes Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Grinsen. Das leise Gemurmel der Menschenmenge klang überrascht.

Die Dachherrin sah ihn mit noch härterem Blick an als zuvor Couladin, musterte ihn von Kopf bis Fuß und wieder zurück, betrachtete die Schufa auf seinen Schultern und das rote Wams, das ein Aiel niemals tragen würde. Dann blickte sie fragend Amys an, und die nickte.

»Solche Bescheidenheit«, sagte Lian bedächtig, »steht einem Mann gut zu Gesicht. Man findet sie nur sehr selten bei Männern.« Sie breitete ihren dunklen Rock aus und knickste ungeschickt. So etwas taten Aielfrauen normalerweise nie, aber es war zweifellos ein Knicks als Antwort auf seine Verbeugung. »Der Car'a'carn hat meine Erlaubnis, meine Festung zu betreten. Für den Häuptling aller Häuptlinge gibt es immer Wasser und Schatten in der Kaltfelsenfestung.« Wieder erklang lautes Heulen von den Frauen in der Menschenmenge. Rand wußte nicht, ob es ihm galt oder zur Zeremonie gehörte. Couladin stand noch da und warf ihm einen von unbeugsamem Haß getränkten Blick zu, und dann stolzierte er davon. Er rempelte fast noch Aviendha an, die erleichtert von dem Apfelschimmelhengst glitt. Er verschwand schnell in der Menge, die jetzt langsam auseinanderlief.

Mat, der auch beim Absteigen war, hielt inne und blickte dem Mann hinterher. »Hüte deinen Rücken bei dem, Rand«, sagte er ruhig. »Nimm es ernst.« »Das sagt mir jeder«, erklärte Rand. Die Händler richteten sich bereits mitten in der Schlucht häuslich ein und am Eingang erschienen gerade Moiraine und die anderen Weisen Frauen, was noch einmal ein paar Schreie und ein Trommeln auf einigen Töpfen hervorrief, wenn man das auch nicht mit dem Empfang Rhuarcs vergleichen konnte. »Er ist nicht derjenige, über den ich mir den Kopf zerbrechen muß.« Seine Gefahren gingen nicht von den Aiel aus. Auf der einen Seite Moiraine und Lanfear auf der anderen. Wie könnte die Gefahr noch größer werden? Es reichte beinahe, um ihn zum Lachen zu bringen.

Amys und Lian waren mittlerweile herabgestiegen, und zu Rands Überraschung legte Rhuarc um jede von ihnen einen Arm. Sie waren beide großgewachsen wie die meisten Aielfrauen, aber keine kam über seine Schulterhöhe. »Ihr habt meine Frau Amys schon kennengelernt«, sagte er zu Rand. »Nun darf ich Euch meine Frau Lian vorstellen.« Rand wurde bewußt, daß sein Mund offenstand, und so schloß er ihn schnell wieder. Als Aviendha ihm erklärt hatte, daß die Dachherrin der Kaltfelsenfestung Lian hieß und Rhuarcs Frau sei, hatte er geglaubt, am Chaendaer alles mißverstanden zu haben, all dieses Zeugs von ›Schatten meines Herzens‹ zwischen dem Mann und Amys. Damals hatte er sowieso alles andere im Kopf gehabt. Aber nun das...

»Beide?« platzte Mat entgeistert heraus. »Licht! Gleich zwei! Oh, seng mich! Entweder ist er der glücklichste Mann auf der Welt oder der größte Narr seit der Schöpfung!« »Ich hatte geglaubt«, sagte Rhuarc stirnrunzelnd, »daß Aviendha Euch über unsere Sitten unterrichtet habe. Es scheint, sie hat eine Menge ausgelassen.« Lian beugte sich zurück, um an ihrem Mann — ihrer beider Mann — vorbei Amys ansehen zu können und zog die Augenbrauen hoch, worauf Amys trocken bemerkte: »Sie schien die ideale Person, um ihm beizubringen, was er wissen muß. Und auch, um sie daran zu hindern, ständig hinter unserem Rücken wieder zu den Töchtern des Speers zurückzulaufen. Jetzt scheint es, daß ich mich an einem ruhigen Fleckchen einmal ausführlich mit ihr unterhalten muß. Zweifellos hat sie ihm nur den üblichen Klatsch der Töchter weitererzählt oder ihm beigebracht, wie man eine Gara melken muß.« Aviendha lief leicht rot an und warf zornig den Kopf in den Nacken. Ihr dunkelrotes Haar war mittlerweile über die Ohren heruntergewachsen und schwankte unter ihrem Kopftuch. »Es gab wirklich wichtigere Dinge zu berichten, als über das Heiraten. Außerdem hört dieser Mann nie zu.« »Sie war eine gute Lehrerin«, warf Rand schnell ein. »Ich habe eine Menge über Eure Sitten und Bräuche und über das Dreifache Land gelernt.« Klatsch? »Die Fehler, die ich begehe, sind meine eigenen und nicht die ihren.« Wie konnte man denn eine giftige, zwei Fuß lange Eidechse melken? Und warum? »Sie war eine gute Lehrerin und ich möchte sie als solche behalten, falls das in Ordnung geht.« Warum beim Licht habe ich das nur gesagt? Die Frau konnte ja wirklich manchmal sehr angenehme Gesellschaft sein; jedenfalls, wenn sie sich vergaß. Den Rest der Zeit über war sie ihm ein Dorn im Fleisch. Aber wenigstens wußte er so, wen die Weisen Frauen zum Spionieren gesandt hatten, solange sie zugegen war.

Amys betrachtete ihn. Diese klaren blauen Augen blickten genauso scharf drein wie die einer Aes Sedai. Aber sie konnte natürlich auch die Macht benützen. Ihr Gesicht wirkte lediglich jünger, als es sein dürfte, und nicht alterslos, aber möglicherweise war sie genau wie die Aes Sedai. »Das klingt in meinen Ohren sehr gut«, sagte sie. Aviendha öffnete den Mund. Sie schäumte beinahe vor Wut. Und dann schloß sie ihn doch wieder mürrisch, als die Weise Frau ihr diesen Blick zuwandte. Vielleicht hatte die junge Frau geglaubt, sie müßte sich nun nicht mehr um ihn kümmern, nachdem sie in der Kaltfelsenfestung eingetroffen waren.

»Ihr müßt doch müde von Eurer Reise sein«, sagte Lian zu Rand. Ihre grauen Augen blickten mütterlich drein. »Und hungrig sicher auch. Kommt.« Ihr warmes Lächeln galt auch Mat, der sich zurückgehalten hatte und sich nun nach den Wohnwagen der Händler umsah. »Kommt unter mein Dach.« Rand holte seine Satteltaschen herunter und überließ Jeade'en einer Gai'schain, die auch Pips gleich mitnahm. Mat warf den Wohnwagen einen letzten Blick zu, warf sich die Satteltaschen über die Schulter und folgte ihnen.

Lians Dach, also ihr Haus, befand sich auf der höchsten Ebene der Westseite. Die Steilwand der Schlucht ragte gute hundert Schritt hoch dahinter auf. Ob es nun das Wohnhaus eines Clanhäuptlings und der Dachherrin war oder nicht, es sah jedenfalls von außen wie ein bescheidenes, rechteckiges Häuschen aus großen, gelben Backsteinen aus, wies enge, unverglaste, mit einfachen weißen Vorhängen ausgestattete Fenster auf und hatte auf dem flachen Dach einen Gemüsegarten und einen zweiten auf einer kleinen Terrasse vor dem Haus, die vom Haus selbst durch einen schmalen, mit flachen grauen Steinen gepflasterten Weg getrennt war. Es hatte vielleicht Platz für zwei Zimmer. Höchstens der viereckige Bronzegong, der neben der Tür hing, unterschied es von den anderen Gebäuden, die Rand in der Umgebung sehen konnte. Und von diesem Punkt aus konnte er tatsächlich die ganze Länge des Tals überblicken. Ein kleines, einfaches Haus. Innen war es jedoch etwas ganz anderes.

Der gemauerte Teil des Hauses war ein einziger, großer Raum mit rötlichbraunen Fußbodenkacheln, der aber nur einen Teil des ganzen Hauses bildete. Die dahinterliegende Felswand war ausgehöhlt, und dort befanden sich weitere Zimmer mit hohen Decken, breiten Türbögen und silbernen Lampen, die einen Duft von sich gaben, der ihn entfernt an lichte, grüne Wälder erinnerte. Es war überraschend kühl hier drinnen. Rand entdeckte nur einen einzigen Stuhl mit hoher Lehne, der rot und golden lackiert war und nicht den Eindruck häufiger Benutzung vermittelte. Aviendha bezeichnete ihn als Häuptlingsstuhl. Sonst war überhaupt nicht viel Holz zu sehen, außer ein paar auf Hochglanz lackierten Kästen und Truhen und niedrigen Lesepulten, auf denen geöffnete Bücher lagen. Wenn man sie so lesen wollte, mußte man sich auf den Boden legen. Der wiederum war von kunstvoll gewebten Teppichen bedeckt und stellenweise mit ganzen Schichten bunter Läufer. Er bemerkte typische Webmuster aus Tear und Cairhien und Andor, ja sogar aus Illian und Tarabon, während ihm andere Muster unbekannt waren, so zum Beispiel eines mit breiten, gezackten Streifen in immer neuen Farbtönen, oder eines aus miteinander verbundenen Hohlquadraten in Grau, Braun und Schwarz. Die lebhaften Farben überall im Haus standen in scharfem Kontrast zu den ewig gleichen Farbtönen außerhalb dieser Schlucht. Die Wandbehänge stammten mit Sicherheit von der anderen Seite des Rückgrats der Welt. Vielleicht waren sie auf dem gleichen Weg hierhergekommen wie die Sachen, die aus dem Stein von Tear als Beutestücke mitgenommen worden waren.

Dazu lagen überall Kissen in allen Größen und Farben, oft mit rot- oder goldseidenen Troddeln oder Fransen besetzt, oder auch mit beidem. Hier und da hatte man Nischen in die Felswand gehauen, und dort stand einmal eine schmale Porzellanvase oder in einer anderen eine silberne Schale oder eine Elfenbeinschnitzerei, die gewöhnlich ein fremdartig anmutendes Tier oder ähnliches darstellte. Das waren also die ›Höhlen‹, von denen die Leute in Tear gesprochen hatten. Es wirkte jedoch alles nicht so grell wie in Tear oder bei den Kesselflickern, sondern irgendwie zusammenpassend, wohl formell, aber auch gleichzeitig gemütlich.

Rand grinste Aviendha ganz kurz an, um ihr zu zeigen, daß er diesmal zugehört hatte, und zog ein Gastgeschenk für Lian aus einer Satteltasche: einen äußerst fein geschmiedeten goldenen Löwen. Er stammte aus der Beute aus Tear, und er hatte ihn einem Jindo-Wassersucher abgekauft. Nun, wenn er der Herrscher Tears war, bestahl er auf diese Weise wohl sich selbst. Mat zögerte einen Moment und holte dann ebenfalls ein Geschenk heraus, eine Halskette in Form von silbernen Blumen, die zweifellos aus derselben Quelle stammte und die er wahrscheinlich ursprünglich Isendre schenken wollte.

»Wundervoll«, sagte Lian lächelnd und hielt den Löwen hoch. »Mir hat die tairenische Goldschmiedekunst immer schon gefallen. Rhuarc hat mir vor Jahren auch zwei schöne Stücke mitgebracht.« Sie sagte in einem Tonfall, wie es einer altgedienten Ehefrau zukam, die sich wehmütig an ein paar besonders wohlschmeckende Beeren erinnert, zu ihrem Mann: »Du hast sie aus dem Zelt eines Hochlords geholt, bevor Laman geköpft wurde, nicht wahr? Schade, daß du nicht bis Andor gekommen bist. Ich hätte immer so gern etwas aus andoranischem Silber gehabt. Diese Kette ist auch sehr schön, Mat Cauthon.« Rand hörte zu, wie sie beide Geschenke in höchsten Tönen pries, und verbarg seine Überraschung. Trotz des Rocks und des mütterlichen Blicks war sie eine genauso typische Aielfrau wie die Töchter des Speers.

Als Lian fertig war, kamen gerade Moiraine und die anderen Weisen Frauen zusammen mit Lan und Egwene an. Das Schwert des Behüters bekam einen mißbilligenden Blick ab, aber die Dachherrin hieß ihn freundlich willkommen, nachdem ihn Bair als den Aan'allein vorgestellt hatte. Aber das war nichts gegen die Begrüßung, die sie Moiraine und Egwene zuteil werden ließ.

»Ihr ehrt mein Dach, Aes Sedai.« Der Tonfall der Dachherrin ließ das als untertrieben erscheinen; am liebsten hätte sie sich vor ihnen verbeugt. »Man sagt, vor der Zerstörung der Welt hätten wir den Aes Sedai gedient und dabei versagt, und zur Strafe seien wir in das Dreifache Land gesandt worden. Eure Anwesenheit beweist uns, daß uns diese Sünde vielleicht doch noch vergeben werden kann.« Klar. Sie war offensichtlich nicht in Rhuidean gewesen. Das Verbot, darüber zu berichten, was in Rhuidean gesehen worden war, hatte wohl auch für ein Ehepaar Gültigkeit. Und selbst bei Schwester-Frauen, oder wie man die Beziehung von Amys und Lian nun auch nannte.

Moiraine bemühte sich, Lian ebenfalls ein Gastgeschenk aufzudrängen — eine kleine, mit Silber verzierte, kristallne Parfümflasche aus dem fernen Arad Doman —, doch Lian wehrte das mit ausgestreckten Händen ab. »Eure bloße Anwesenheit hier ist ein unschätzbares Gastgeschenk, Aes Sedai. Noch mehr von Euch anzunehmen würde mein Dach entehren und mich auch. Ich könnte die Scham nicht ertragen.« Es klang wirklich ernst und besorgt darüber, daß ihr Moiraine das Parfüm tatsächlich aufdrängen werde. Jedenfalls rückte es die Bedeutung eines Car'a'carn im Vergleich mit einer Aes Sedai deutlich zurecht.

»Wie Ihr wünscht«, sagte Moiraine und steckte das Fläschchen in ihre Gürteltasche zurück. Sie wirkte kühl und würdevoll in ihrem blauseidenen Kleid, den hellen Umhang zurückgeschlagen. »In Eurem Dreifachen Land werden sicher bald weitere Aes Sedai als Besucherinnen erscheinen. Wir hatten zuvor nie einen Grund, hierher zu kommen.« Amys schien nicht besonders erfreut über diese Unterhaltung, und Melaine mit dem Flammenhaar sah Moiraine wie eine grünäugige Katze an, die sich fragte, ob sie etwas in Bezug auf diesen großen Hund unternehmen solle, der gerade auf ihren Hühnerhof gekommen war. Bair und Seana tauschten einen besorgten Blick, sie reagierten aber nicht so stark wie die beiden Weisen Frauen, die die Macht benutzen konnten. Eine Schar von Gai'schain —Männer und Frauen mit geschmeidigen Bewegungen und alle in die gleiche Art von weißem Kapuzenmantel gekleidet, deren zu Boden gerichteter, demütiger Blick in ihren Aielgesichtern so unpassend wirkte — nahm Moiraine und Egwene die Umhänge ab, brachte ihnen feuchte Tücher, um sich damit Gesicht und Hände abzuwischen, winzige Silbertassen, aus denen zeremoniell Wasser getrunken wurde, und schließlich ein Mahl, das ihnen auf silbernen Tabletts und in silbernen Schüsseln gereicht wurde, die in jeden Palast gepaßt hätten. Gegessen wurde jedoch alles von blaugestreiftglasierten Keramiktellern. Alle aßen im Liegen auf dem Fußboden, wo man weiße Kacheln wie einen Tisch etwas erhöht angebracht hatte, die Köpfe zusammengesteckt, Kissen unter dem Bauch, so daß es von oben wie ein Rad mit vielen Speichen aussehen mußte. Immer wieder schlüpften Gai'schain zwischen diese Speichen, um neue Teller oder Schüsseln zu bringen.

Mat kam nicht zurecht und wälzte sich auf seinen Kissen mal nach der einen und mal nach der anderen Seite, während Lan entspannt dalag, als habe er schon immer in dieser Haltung gegessen. Moiraine und Egwene wirkten ebenfalls, als fänden sie diese Lage bequem. Zweifellos hatten sie schon genug Übung von ihrer Zeit in den Zelten der Weisen Frauen her. Rand fühlte sich so nicht wohl, doch das Essen war so fremdartig, daß er sich mehr damit beschäftigte.

Ein dunkler, gut gewürzter Eintopf mit Ziegenfleisch und gehacktem Paprika war wohl ungewohnt, aber nicht unbedingt fremdartig, na ja, und Erbsen blieben überall Erbsen und Kürbis Kürbis. Das konnte man aber nicht in bezug auf das grobe, gelbe Brot behaupten, oder die langen, leuchtend roten Bohnenschoten, die zusammen mit grünen Bohnen serviert wurden, oder dieses Gericht mit hellgelben Kernen und rotem Brei, die Aviendha als Zemai und T'mat bezeichnete, oder eine süße, bauchige Frucht mit zäher grüner Schale. Die stammte nach ihrer Erklärung von einer der blattlosen Dornenpflanzen, die man hier Kardon nannte. Alles schmeckte aber gut.

Er hätte das Mahl allerdings besser genießen können, wenn ihm Aviendha nicht die ganze Zeit über Vorträge gehalten hätte. Alles wollte sie ihm nun auf einmal erklären. Nicht die Schwester-Frauen. Diese Erklärung blieb Amys und Lian überlassen, die zu beiden Seiten Rhuarcs lagen und sich gegenseitig mindestens genauso oft anlächelten wie ihren Mann. Wenn sie ihn beide geheiratet hatten, damit ihre Freundschaft nicht zerbrach, dann war auch klar, daß sie ihn beide liebten. Rand konnte sich nicht denken, daß Min und Elayne einem solchen Arrangement zustimmen würden. Und dann wunderte er sich, daß er überhaupt daran gedacht hatte. Die Sonne mußte wohl allmählich sein Gehirn aufgeweicht haben.

Diese Erklärung überließ Aviendha also den anderen, doch ansonsten erklärte sie wirklich alles und jede Einzelheit, auch wenn er mit den Zähnen knirschte. Vielleicht hielt sie ihn für einen Idioten, weil er nicht über Schwester-Frauen Bescheid wußte. Sie hatte sich so hingelegt, daß sie ihn ansehen konnte, und sie lächelte beinahe schon süß, als sie ihm sagte, er könne sowohl Zemai als auch T'mat mit dem Löffel essen, doch in ihren Augen leuchtete etwas, das ihm sagte, wenn nicht die Weisen Frauen anwesend wären, würde sie ihm vermutlich einen Teller an den Kopf werfen.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich Euch getan habe«, sagte er leise. Er war sich Melaines an seiner anderen Seite bewußt, die aber in ihre Unterhaltung mit Seana vertieft zu sein schien. Bair warf von Zeit zu Zeit auch ein Wort ein, aber er glaubte, daß sie ebenfalls die Ohren spitze, um zu hören, was er so sagte. »Aber wenn es Euch so zuwider ist, meine Lehrerin zu spielen, dann müßt Ihr das nicht. Es ist mir nur so herausgerutscht. Ich bin sicher, daß Rhuarc oder die Weisen Frauen jemanden anders für diese Aufgabe finden werden.« Das würden die Weisen Frauen ganz bestimmt tun, wenn er auf diese Weise ihre Spionin loswürde.

»Ihr habt mir nichts getan... « Sie bleckte die Zähne in seine Richtung. Falls es ein Lächeln gewesen sein sollte, war es erstaunlich kurz ausgefallen. »... und das werdet Ihr auch nicht. Ihr könnt Euch hinlegen, so, wie es Euch am bequemsten ist, und mit allen um Euch herum sprechen. Außer mit denjenigen unter uns natürlich, die Unterricht halten müssen, anstatt mitzuessen. Es wird als höflich angesehen, wenn man sich mit den Nachbarn auf beiden Seiten unterhält.« Mat sah über sie hinweg Rand an und rollte die Augen. Er war offensichtlich erleichtert, daß ihm das erspart blieb. »Außer natürlich, wenn Ihr gezwungen seid, jemand Bestimmten zu unterrichten und somit immer den gleichen Nachbarn anzuschauen. Nehmt das Essen mit Eurer rechten Hand, wenn Ihr euch nicht gerade auf diesen Ellbogen stützt, und... « Es war die reinste Folter und ihr schien das Spaß zu machen. Die Aiel legten doch soviel Wert auf Geschenke. Vielleicht — wenn er ihr ein Geschenk gab...

»... alle unterhalten sich noch eine Weile, nachdem man mit dem Essen fertig ist, außer natürlich, man muß jemanden unterrichten, und... « Bestechung. Es schien nicht gerade fair, wenn man jemanden bestechen mußte, die als Spionin auf ihn angesetzt war, aber wenn sie vorhatte, so weiterzumachen, kostete der Friede eben seinen Preis.

Als das Geschirr von Gai'schain weggetragen und silberne Becher mit Rotwein gebracht worden waren, warf Bair Aviendha einen grimmigen Blick über die weißen Kacheln hinweg zu, und sie gehorchte schmollend. Egwene schob sich hoch auf die Knie, damit sie über Mat hinwegfassen und sie tätscheln konnte, doch auch das schien nicht zu helfen. Na, wenigstens gab sie jetzt Ruhe. Egwene sah ihn böse an. Entweder war ihr klar, was er dachte, oder sie gab ihm die Schuld an Aviendhas Schmollen.

Rhuarc kramte seine kurzstielige Pfeife und den Tabaksbeutel heraus. Er stopfte die Pfeife und gab den Beutel an Mat weiter. Der hatte seine eigene silberverzierte Pfeife herausgeholt. »Einige haben sich die Nachricht von Euch zu Herzen genommen, Rand al'Thor, und sogar sehr schnell, wie es scheint. Lian hat mir gesagt, die Nachricht sei eingetroffen, daß Jheran, der Clanhäuptling der Shaarad Aiel und Bael von den Goshien bereits in Alcair Dal eingetroffen sind. Erim von den Chareen ist auf dem Weg dorthin.« Er gestattete einer schlanken, jungen Gai'schain-Frau, seine Pfeife mit einem brennenden Ästchen anzuzünden. So, wie sie sich bewegte, auch elegant, aber doch anders als die anderen weißgekleideten Männer und Frauen, vermutete Rand, daß sie noch vor kurzem eine Tochter des Speers gewesen sei. Er fragte sich, wie lange sie noch demütig und bescheiden dienen müsse, bis ihre Zeit als Gai'schain vorbei wäre.

Mat grinste die Frau an, als sie niederkniete, um seine Pfeife zu entzünden. Der Blick aus grünen Augen, der ihn von unter ihrer Kapuze her traf, war alles andere als demütig und ließ sein Grinsen augenblicklich verschwinden. Unwirsch rollte er sich herum auf den Bauch. Ein dünner, blauer Rauchfaden erhob sich aus seinem Pfeifenkopf. Es war zu schade, daß er den Ausdruck der Befriedigung auf ihrem Gesicht nicht mehr sehen konnte, allerdings auch nicht, wie er unter einem Erröten wieder verschwand, nachdem Amys ihr einen scharfen Blick zugeworfen hatte. Die junge Frau mit ihren grünen Augen hastete hinaus. Sie wirkte dabei unglaublich beschämt. Und Aviendha, der es so widerstrebte, den Speer aufzugeben, und die sich immer noch als Speerschwester aller Töchter des Speers ansah, gleich, welchen Clans...? Sie blickte der Gai'schain so mißbilligend nach, wie es Frau al'Vere getan hätte, wenn ihr jemand auf den frisch geputzten Boden gespuckt hätte. Ein seltsames Volk. Egwene war die einzige, in deren Blick Rand wenigstens noch etwas Mitgefühl wahrnehmen konnte.

»Die Goshien und die Shaarad«, murmelte er in seinen Wein hinein. Rhuarc hatte ihm gesagt, jeder Clanhäuptling werde ein paar Krieger in die Goldene Schale mitbringen —als Ehrenwache — und jeder Septimenhäuptling ebenfalls. Alles zusammen bedeutete das, daß vielleicht tausend Krieger aus jedem Clan kommen würden. Zwölf Clans. Zwölftausend Männer und Frauen würden also schließlich dort eintreffen, alle in ihren eigenartigen Ehrbegriffen befangen und bereit, den Tanz der Speere zu tanzen, sobald auch nur eine Katze niesen mußte. Vielleicht mehr, wegen des Jahrmarkts. Er blickte auf. »Sie haben doch eine Fehde miteinander, nicht wahr?« Rhuarc und Lan nickten gleichzeitig. »Ich weiß, Ihr habt gesagt, daß so etwas Ähnliches wie der Friede von Rhuidean auch dort zutrifft, Rhuarc, aber ich habe auch gesehen, inwieweit dieser Friede Couladin und die Shaido zurückgehalten hat. Vielleicht sollte ich sofort dorthin aufbrechen. Falls die Goshien und die Shaarad zu kämpfen anfangen... So etwas könnte Wellen schlagen. Ich will, daß alle Aiel hinter mir stehen, Rhuarc.« »Die Goshien sind keine Shaido«, sagte Melaine in scharfem Ton, wobei sie ihre rotgoldene Mähne wie eine Löwin schüttelte.

»Und die Shaarad auch nicht.« Bains schrille Stimme war dünner als die der jüngeren Frau, klang aber nicht weniger entschieden. »Es kann schon sein, daß Jheran und Bael versuchen, sich gegenseitig umzubringen, bevor sie in ihre Festungen zurückkehren, aber nicht in Alcair Dal.« »Nichts davon beantwortet Rand al'Thors Frage«, sagte Rhuarc. »Wenn Ihr nach Alcair Dal geht, bevor alle Clanhäuptlinge ankommen, verlieren diejenigen ihre Ehre, die noch nicht da sind. Das ist keine gute Methode, um zu verkünden, daß Ihr der Car'a'carn seid, wenn Ihr Männer entehrt, die Ihr gerufen habt, um Euch zu folgen. Die Nakai haben den weitesten Weg. Noch einen Monat, und dann sind alle in Alcair Dal.« »Weniger«, sagte Seana mit kurzem Kopfschütteln. »Ich bin zweimal in Alseras Träumen gewesen, und sie sagt, daß Bruan den ganzen Weg von der Shiagifestung dorthin rennen will. Weniger als einen Monat.« »Um sicherzugehen, solltet Ihr in einem Monat abreisen«, sagte Rhuarc zu Rand. »Es sind ungefähr drei Tage bis Alcair Dal. Vielleicht auch vier. Bis dahin sind alle dort.« Einen Monat warten. Er rieb sich das Kinn. Zu lange. Zu lange, und doch hatte er keine Wahl. In den Legenden geschah immer alles so, wie es der Held geplant hatte, und anscheinend auch immer dann, wenn er es wünschte. Im wirklichen Leben geschah so etwas nur selten, selbst bei einem Ta'veren, der auch noch die ganze Macht der Weissagungen auf seiner Seite hatte. Im wirklichen Leben hieß es arbeiten und hoffen, und wenn man Glück hatte, trieb man ein halbes Brot auf, wo man ein ganzes brauchte. Und doch verlief wenigstens ein Teil seines Plans auf den richtigen Bahnen. Der gefährlichste Teil.

Moiraine hatte sich zwischen Lan und Amys ausgestreckt, nippte gemütlich an ihrem Wein und hatte die Lider halb geschlossen, als döse sie. Das glaubte er aber nicht. Sie sah und hörte alles. Doch im Augenblick hatte er nichts zu sagen, was sie nicht hören durfte. »Wie viele werden sich dagegenstellen, Rhuarc? Mir Widerstand leisten? Ihr habt die Dinge bisher nur angedeutet, aber niemals richtig angesprochen.« »Ich bin einfach nicht sicher«, erwiderte der Clanhäuptling, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. »Wenn Ihr ihnen die Drachen zeigt, dann wissen sie Bescheid. Man kann die Drachen von Rhuidean nicht nachmachen.« Hatten sich Moiraines Wimpern bewegt? »Ihr seid derjenige, dessen Kommen uns geweissagt wurde. Ich werde Euch unterstützen, Bruan sicher auch, und auch Dhearic von den Reyn Aiel. Die anderen... ? Sevanna, Suladrics Frau, wird die Shaido hinführen, weil der Clan keinen Häuptling hat. Sie ist an sich zu jung dazu, Dachherrin einer Festung zu sein, und die Aussicht wird ihr nicht passen, nur noch ein Dach zu besitzen und keine ganze Festung, wenn jemand zum Nachfolger Suladrics erwählt wird. Und Sevanna ist so hinterhältig und verräterisch, wie es eine Shaido überhaupt nur sein kann. Und selbst wenn sie keine Schwierigkeiten macht, wird Couladin das tun. Er benimmt sich wie der Clanhäuptling und einige Shaido werden ihm folgen, obwohl er nicht in Rhuidean war. Die Shaido sind dumm genug dazu. Han von den Tomanelle könnte sich so oder so entscheiden. Er ist ein sehr schwieriger Mann, schwer zu durchschauen und richtig zu behandeln, und... « Er brach ab, als Lian leise murmelte: »Gibt es denn überhaupt andere Männer?« Rand glaubte nicht, daß dies für die Ohren des Clanhäuptlings bestimmt gewesen sei. Amys hob eine Hand, um dahinter ein Lächeln zu verbergen. Ihre Schwester-Frau barg das Gesicht unschuldig im Weinbecher.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Rhuarc in resignierendem Tonfall fort, wobei er seine Frauen nacheinander anblickte, »kann ich eben nicht sicher sein. Die meisten werden Euch folgen. Vielleicht sogar alle. Möglicherweise auch die Shaido. Wir haben dreitausend Jahre lang auf den Mann gewartet, der die beiden Drachen an seinen Armen trägt. Wenn Ihr sie ihnen zeigt, wird keiner daran zweifeln, daß Ihr der Mann seid, der gesandt wurde, um uns zu einen.« Und sie zu vernichten; doch das erwähnte er jetzt nicht. »Die Frage ist nur, wie sie sich über ihr weiteres Verhalten entscheiden werden.« Er klopfte einen Moment lang mit dem Pfeifenstiel an seine Zähne. »Ihr werdet Euch nicht doch noch entscheiden, die Cadin'sor anzulegen?« »Und was beweise ich ihnen damit, Rhuarc? Daß ich ein nachgemachter Aiel bin? Da könnt Ihr genausogut Mat als Aiel einkleiden.« Mat erstickte beinahe an seiner Pfeife. »Ich werde ihnen nichts vorgaukeln. Ich bin, was ich bin, und sie müssen mich als das anerkennen.« Rand hob die Fäuste. Seine Ärmel rutschten weit genug herunter, um die goldmähnigen Köpfe auf seinen Unterarmen zu entblößen. »Diese hier sind der Beweis. Wenn das nicht reicht, reicht sowieso nichts mehr.« »Wohin wollt Ihr die ›Speere wieder in den Krieg führen‹?« fragte Moiraine plötzlich, und Mat erlitt den nächsten Erstickungsanfall. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sah sie an. Ihre dunklen Augen wirkten nicht mehr schläfrig.

Rand ballte krampfhaft die Fäuste, bis seine Gelenke knackten. Bei ihr den Schlaumeier spielen zu wollen war gefährlich. Das hätte er eigentlich wissen sollen. Sie erinnerte sich an jedes gehörte Wort, speicherte es, wälzte es in Gedanken hin und her und dachte darüber nach, bis sie wußte, was es bedeutete.

Er stand langsam auf. Alle beobachteten ihn. Egwene standen noch mehr Sorgenfalten im Gesicht als Mat, doch die Aiel warteten einfach nur ab. Gespräche von Krieg und ähnlichem störten sie nicht. Rhuarc wirkte sogar — zu allem bereit. Und Moiraines Gesicht zeigte eine eingefrorene Ruhe.

»Entschuldigt mich nun bitte«, sagte er. »Ich will mir eine Weile die Füße vertreten.« Aviendha stemmte sich hoch, und Egwene stand auf, aber keine ging ihm hinterher.

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