46 Schleier

Die Menge drängte sich durch die engen, gewundenen Straßen der Halbinsel Calpene in der Nähe des Großen Kreises. Der Rauch unzähliger Küchenfeuer, der über die hohen, weißen Mauern drang, war der Grund dafür. Ein säuerlicher Geruch nach Qualm, heißem Essen und altem Schweiß lag in der feuchten Morgenluft. Das Schreien von Kindern und das dumpfe Gemurmel, das große Menschenmengen immer begleitete, ergab einen Hintergrundlärm, der sogar das schrille Kreischen der Möwen vom Himmel übertönte. Die Läden in diesem Gebiet hatten längst endgültig die Eisengitter vor den Türen geschlossen. Es gab nichts mehr zu verkaufen.

Angeekelt wand sich Egeanin zu Fuß durch die Menge. Es war schlimm, daß Gesetz und Ordnung in einem solchen Maß zusammengebrochen waren, daß abgerissene Flüchtlinge es wagen konnten, die Kreise zu übernehmen und sogar auf den Steinbänken zu schlafen. Das war genauso schlimm wie Regierungsoberhäupter, die diese Flüchtlinge einfach verhungern ließen. Der Zustand sollte an sich ihr Herz erfreuen, denn dieses entmutigte Pack konnte der Corenne sicher nicht widerstehen, und anschließend würde man die Ordnung sehr schnell wiederherstellen, aber sie konnte trotzdem den Anblick kaum ertragen.

Die meisten der zerlumpten Menschen um sie herum schienen viel zu apathisch, um sich über eine Frau in sauberem, frisch gewaschenem, blauseidenem Reitkleid in ihrer Mitte zu wundern. Wohl war ihr Kleid von einfachem Schnitt, wirkte aber ganz und gar nicht billig. Hier und da sah sie in der Menge Männer und Frauen in einstmals feiner Kleidung, doch nun war sie verschmutzt und zerknittert. Aber dadurch fiel sie vielleicht doch nicht so sehr auf. Die wenigen, die sie taxierten und sich wohl fragten, ob ihre Kleidung auch eine wohlgefüllte Börse bedeuten mochte, hielten sich lieber von ihr fern, wenn sie bemerkten, mit welch geübtem Griff sie ihren festen, mannshohen Bauernspieß trug. Heute hatte sie die Wächter, die Sänfte und ihre Träger einmal zurücklassen müssen. Floran Gelb hätte an diesem Troß sonst todsicher bemerkt, daß er verfolgt wurde. Und dieses Kleid mit seinem Hosenrock gab ihr wenigstens einige Bewegungsfreiheit.

Selbst eingeklemmt in diesen Menschenmassen war es leicht, den schmierigen kleinen Mann im Auge zu behalten, und das, obwohl sie ständig Ochsenkarren und gelegentlich größeren Wagen ausweichen mußte, die häufiger von schwitzenden Männern mit bloßen Oberkörpern gezogen wurden als von Tieren. Gelb und sieben oder acht Begleiter, alles stämmige Burschen mit rohen Gesichtern, drängten sich gewaltsam und rücksichtslos durch die Menge, gefolgt von einer Flut von Flüchen und Verwünschungen. Sie ärgerte sich über diese Kerle. Gelb hatte bestimmt wieder eine Entführung vor. Seit sie ihm das versprochene Gold gesandt hatte, hatte er drei weitere Frauen gefunden, von denen keine denen auf der Liste auch nur annähernd ähnlich sah, und bei jeder, die sie ablehnte, hatte er lang und breit gejammert. Sie hätte ihn niemals für diese erste Frau bezahlen dürfen, die er auf der Straße hatte entführen lassen. Gier und der Gedanke an die Bezahlung hatten wohl die Erinnerung an die gewaltige Kopfwäsche getilgt, die sie ihm verpaßt hatte, als sie ihm den Beutel mit Gold überreichte.

Schreie von hinten ließen sie herumfahren und ihren Stock fester packen. Ein kleiner Freiraum in der Menge hatte sich gebildet, wie immer, wenn es Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen gab. Ein brüllender Mann in einem zerrissenen, einst aber teuren gelben Wams lag auf den Knien auf der Straße und hielt sich den rechten Arm, der ihm offensichtlich ausgerenkt worden war. Schützend beugte sich eine weinende Frau in einer zerschlissenen grünen Robe über ihn. Sie deutete anklagend auf einen verschleierten Burschen, der gerade wieder in der Menge verschwand.

»Er hat doch nur um eine Münze gebeten! Er hat nur gebettelt!« Die Menge schloß sich wieder um sie.

Egeanin verzog das Gesicht und wandte sich wieder um. Und dann blieb sie mit einem Fluch stehen, der ihr einige verblüffte Blicke einbrachte. Gelb und die anderen Kerle waren verschwunden. Sie schob sich weiter bis zu einem kleinen steinernen Brunnen, wo sich Wasser aus dem Maul eines Bronzefisches ergoß, der an der Seite einer kleinen Schenke mit flachem Dach hing. Grob stieß sie zwei Frauen weg, die am Brunnen ihre Eimer füllten, und sprang hoch auf die Umrandung. Von hier aus konnte sie über die Köpfe der Menge hinwegblicken. Enge Straßen führten in alle Richtungen und wanden sich um die Hügel. Durch die Kurven und die weiß getünchten Gebäude konnte sie bestenfalls hundert Schritt weit sehen, aber Gelb konnte in den wenigen Augenblicken wohl kaum weiter gekommen sein.

Mit einemmal entdeckte sie ihn. Er verbarg sich in einem Eingang vielleicht dreißig Schritt entfernt und stand auf Zehenspitzen, um die Straße hinunterzuspähen. Dann war es auch leicht, die anderen auszumachen, die an Gebäude auf beiden Straßenseiten gelehnt standen und sich bemühten, möglichst unauffällig zu wirken. Sie waren nicht die einzigen, die an den Hauswänden lehnten, doch wo die übrigen schlapp und mutlos wirkten, blickten ihre Gesichter mit den gebrochenen Nasen erwartungsvoll in die Menge hinein.

Also sollte ihre Entführung hier stattfinden. Es würde bestimmt niemand eingreifen. Die Leute hatten ja auch nichts unternommen, als man den Arm dieses anderen Mannes verrenkt oder gar gebrochen hatte. Aber wer war das Ziel? Falls Gelb wirklich endlich jemanden von ihrer Liste aufgespürt hatte, konnte sie gehen und darauf warten, daß er ihr die Frau verkaufte. Dann hatte sie ihre Gelegenheit, nachzuprüfen, ob ein Adam tatsächlich außer Bethamin auch andere Sul'dam binden konnte. Andererseits wollte sie nicht wieder vor der Wahl stehen, ob sie irgendeiner unglücklichen Frau die Kehle durchschneiden oder sie in die Sklaverei verkaufen solle.

Unzählige Frauen kamen die Straße herauf auf Gelb zu. Die meisten trugen die üblichen durchscheinenden Schleier, das Haar zu Zöpfen geflochten. Ohne einen zweiten Blick zu benötigen, schloß Egeanin zwei davon aus, die auf Sänften und von Leibwächtern begleitet einherschaukelten. Gelbs Straßenschläger würden sich nicht an eine Gruppe heranwagen, die beinahe genauso stark war wie sie und noch dazu Schwerter gegen ihre blanken Fäuste einsetzen konnte. Hinter wem sie auch her waren, sie würde kaum mehr als zwei oder drei Männer dabei haben, und die sicherlich unbewaffnet. Damit kamen aber wohl alle anderen Frauen in Sichtweite in Frage, ob in Lumpen oder unauffälliger Bauernkleidung oder den enganliegenden Kleidern, die von den Frauen in Tarabon bevorzugt wurden.

Plötzlich fiel Egeanins Blick auf zwei Frauen, die gerade um eine Ecke bogen und sich lebhaft miteinander unterhielten. Sie hatten die Haare zu vielen dünnen Zöpfen geflochten und ebenfalls diese transparenten Schleier vor den Gesichtern und wirkten auf einen flüchtigen Blick hin wie Einheimische. Doch bei genauerem Hinsehen schienen sie nicht hierher zu passen. Diese feinen, gewagt ausgeschnittenen Kleider, das eine grün und das andere blau, waren aus Seide und nicht aus Leinen oder dünner Wolle. Frauen, die sich so anziehen konnten, ließen sich gewöhnlich auf Sänften tragen und gingen nicht zu Fuß, besonders nicht hier in diesem Viertel. Und sie trugen auch nicht wie diese beiden schmale Faßdauben wie Knüppel auf den Schultern.

Sie beachtete diejenige mit dem rotgoldenen Haar nicht weiter und musterte dafür die andere genau. Ihre dunklen Zöpfe waren außergewöhnlich lang und reichten ihr beinahe bis zur Taille. Auf diese Entfernung sah die Frau einer Sul'dam namens Surine sehr ähnlich. Aber es war nicht Surine. Diese Frau hier hätte ihr gerade bis ans Kinn gereicht.

Egeanin knurrte in sich hinein, sprang von der Brunneneinfassung herunter und schob sich durch die zwischen ihr und Gelb brodelnde Menschenmenge. Mit etwas Glück konnte sie ihn rechtzeitig erreichen, damit er die Aktion abbrach. Dieser Narr. Dieser raffgierige Narr mit dem Gehirn eines Wiesels!

»Wir hätten uns Sänften mieten sollen, Nynaeve«, sagte Elayne wieder und fragte sich dabei zum hundertstenmal, wie die Frauen aus Tarabon es fertigbrachten, miteinander zu sprechen, ohne ständig den Schleier im Mund zu haben. Sie spuckte den Saum aus und fügte hinzu: »Wir werden diese Dinger auf Dauer benutzen müssen.« Ein Bursche mit schmächtigem Gesicht drängte sich durch die Menge auf sie zu, hielt aber inne, als Nynaeve ihre Faßdaube drohend hob. »Dafür sind sie da.« Ihr böser Blick war vielleicht auch zum Teil dafür verantwortlich, daß der Kerl sein Interesse an ihnen verlor. Sie fummelte an den dunklen Zöpfen herum, die ihr über die Schultern hingen und gab einen angewiderten Laut von sich. Elayne wußte nicht, wann sie sich endlich daran gewöhnen werde, daß sie statt eines dicken Zopfes, an dem sie ziehen konnte, nun viele dünne trug. »Und die Füße sind zum Gehen da. Wie könnten wir uns umsehen und Fragen stellen, wenn wir herumgetragen werden wie die Schweine zum Markt? Ich würde mich vollkommen idiotisch fühlen in so einer dummen Sänfte. Und auf jeden Fall vertraue ich lieber auf meinen eigenen Verstand als auf Männer, die ich nicht kenne.« Elayne war sicher, daß Bayle Domon durchaus vertrauenswürdige Männer hätte stellen können. Und die Meerleute hätten das auf jeden Fall auch getan. Sie verwünschte die Tatsache, daß der Wogentänzer wieder abgesegelt war, aber die Segelherrin und ihre Schwester hatten unbedingt die Kunde vom Coramoor nach Dantora und Cantorin weitergeben wollen. Zwanzig Leibwächter hätten ihr jetzt gut gepaßt.

Sie fühlte im Geist ebenso wie mit ihren äußeren Sinnen, wie etwas die Börse an ihrem Gürtel streifte. Mit einer Hand packte sie die Börse, und mit der anderen hob sie im Herumfahren ihre Daube. Die Menge in ihrer Umgebung machte ein wenig Platz, doch die Menschen blickten sie kaum an, als sie sich weiterdrängten. Von dem erfolglosen Taschendieb konnte sie keine Spur entdecken. Sie spürte wenigstens noch die Münzen in ihrer Börse. Ihr Ring mit der Großen Schlange und der verdrehte steinerne Ter'Angreal hingen an einer Schnur um ihren Hals. Das hatte sie sich angewöhnt, als man sie zum erstenmal beinahe bestohlen hätte, denn bei Nynaeve hatte sich das bewährt. Während der fünf Tage in Tanchico war sie dann allerdings tatsächlich drei Geldbörsen losgeworden. Zum Glück befanden sich die Ringe nicht darin. Ja, zwanzig Leibwächter wären genau richtig. Und eine Kutsche. Mit Vorhängen an den Fenstern.

Sie begannen wieder ihren langsamen Aufstieg die Straße entlang, und nach einer Weile sagte Elayne: »Dann sollten wir eigentlich auch nicht diese Kleider tragen. Ich erinnere mich noch, wie du mich einmal in das Kleid eines Bauernmädchens gesteckt hast.« »Das war doch eine gute Verkleidung«, antwortete Nynaeve knapp. »Wir heben uns aber auch so nicht zu sehr von der Menge ab.« Elayne schnaubte leise. Einfachere Kleider hätten sich doch wohl noch besser ihrer Umgebung angepaßt. Nynaeve wollte einfach nicht zugeben, daß sie es mittlerweile genoß, in Seide und hübschen Kleidern herumzulaufen. Trotzdem hätte sie es nicht so weit treiben müssen, fand Elayne. Sicher, jeder hielt sie für Einheimische, zumindest bis man ihren Akzent hörte, doch sogar mit einem hochgeschlossenen Spitzenkragen hatte sie bei dieser enganliegenden grünen Seide immer das Gefühl, sie zeige mehr Haut als jemals zuvor in ihrem Leben. Jedenfalls, was ihre Kleidung in der Öffentlichkeit betraf. Nynaeve dagegen schritt so selbstverständlich durch die überfüllten Straßen, als zöge sie nicht sämtliche Blicke an. Nun ja, vielleicht wurden sie tatsächlich nicht weiter angestarrt, jedenfalls nicht ihrer Kleider wegen, aber es kam ihr eben so vor.

In Unterwäsche hätten sie bestimmt genauso ›züchtig‹ gewirkt. Bei dem Gedanken begannen ihre Wangen zu glühen und sie bemühte sich, nicht mehr daran zu denken, wie sich die Seide an ihre Figur schmiegte. Hör auf damit! Es sieht durchaus anständig aus!

»Hat dir diese Amys denn nichts erzählt, was uns hier nützlich wäre?« »Ich habe dir doch berichtet, was sie alles gesagt hat.« Elayne seufzte. Nynaeve hatte sie bis mitten in der Nacht wachgehalten und über die Weise Frau der Aiel verhört, die beim letzten Treffen mit Egwene in Tel'aran'rhiod dabeigewesen war, und dann mußte sie alles nochmals vor dem Frühstück berichten. Egwene hatte aus irgendeinem Grund das Haar zu zwei Zöpfen geflochten und der Weisen Frau gelegentlich mürrische Blicke zugeworfen und dann auch kaum etwas von sich gegeben, außer, daß es Rand gutgehe und Aviendha sich um ihn kümmere. Die weißhaarige Amys hatte zur Hauptsache das Reden übernommen und ihnen einen strengen Vortrag über die Gefahren in der Welt der Träume gehalten. Sie hatte Elayne das Gefühl gegeben, wieder zehn und von Lini, ihrer alten Kinderschwester, erwischt worden zu sein, als sie Süßigkeiten klauen wollte. Danach folgten Ratschläge in bezug auf Konzentration und Selbstbeherrschung und daß sie sich jeden Gedanken überlegen müßten, wenn sie Tel'aran'rhiod betraten. Wie konnte man denn kontrollieren, was man dachte? »Ich glaubte ehrlich, daß Perrin bei Rand und Mat sei.« Das war die größte Überraschung nach dem Auftauchen von Amys gewesen. Egwene hatte offensichtlich geglaubt, er sei bei ihr und Nynaeve.

»Wahrscheinlich ist er mit diesem Mädchen irgendwohin gegangen, wo er in Frieden als Schmied arbeiten kann«, sagte Nynaeve, aber Elayne schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht.« Sie hatte in bezug auf Faile einen eindeutigen Verdacht, und falls sie auch nur zum Teil recht behielt, würde sich Faile nicht damit zufriedengeben, die Frau eines Schmieds zu werden. Wieder spuckte sie den Schleier aus, der sich in ihrem Mund verfangen hatte. Dieses idiotische Ding.

»Na ja, wo er auch stecken mag«, sagte Nynaeve, die schon wieder an ihren Zöpfen herummachte, »ich hoffe jedenfalls, daß es ihm gutgeht und er sich in Sicherheit befindet. Er ist nicht hier und kann uns sowieso nicht helfen. Hast du Amys wenigstens gefragt, ob wir Tel'aran'rhiod dazu benützen können... « Ein klobiger Mann mit Halbglatze in einem abgewetzten braunen Wams drängte sich zwischen den Leuten durch und versuchte, seine kräftigen Arme um sie zu legen. Sie riß die Faßdaube von der Schulter und donnerte sie ihm auf das breite Gesicht, so daß er zurücktaumelte und sich eine Nase hielt, die gerade wenigstens zum zweitenmal gebrochen war. Elayne holte noch Luft, um einen Ausruf der Überraschung loszuwerden, da stieß sie ein zweiter Mann beiseite, genauso groß wie der erste und mit einem dichten Schnurrbart ausgestattet, um nach Nynaeve zu greifen. Sie vergaß ihre Angst. Sie biß wütend die Zähne aufeinander, und in dem Moment, als seine Hände die andere Frau berührten, hieb sie ihm die Daube mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, über den Schädel. Die Beine des Kerls gaben nach, und er stürzte mit dem Gesicht nach unten zu Boden.

Die Menge wich zurück, denn niemand wollte sich in die Schlägereien anderer verwickeln lassen. Und keiner bot seine Hilfe an. Doch Elayne war klar, daß sie Hilfe benötigten. Der Mann, den Nynaeve geschlagen hatte, war immer noch auf den Beinen, das Gesicht wutverzerrt, und wischte sich das von der Nase herunterrinnende Blut ab. Dabei öffnete und schloß er die Pratzen, als wolle er jemand erwürgen. Aber was noch schlimmer war: Er war nicht allein. Sieben weitere Männer waren losgerannt und bildeten einen Fächer, um ihnen jeden Fluchtweg abzuschneiden. Alle bis auf einen waren genauso groß wie der erste und wirkten mit ihren vernarbten Gesichtern und Händen, als habe man sie jahrelang pausenlos verprügelt. Ein schmächtiger Kerl mit hohlwangigem Gesicht, der wie ein nervöser Fuchs grinste, japste immer wieder: »Laßt sie nicht entkommen. Sie ist Gold wert, sage ich Euch. Gold!« Sie wußten, wer sie war. Das war kein Versuch, lediglich eine fette Geldbörse zu stehlen. Sie wollten Nynaeve beseitigen und die Tochter-Erbin von Andor entführen. Sie spürte, wie Nynaeve nach Saidar griff —wann, wenn nicht jetzt, hätte sie denn in Wut geraten sollen. So öffnete auch sie sich der Wahren Quelle. Die Eine Macht durchströmte sie — ihre süße Flut erfüllte sie von Kopf bis Fuß. Ein paar schnell verwebte Stränge des Elements Luft von ihnen beiden würden diesen Schlägern das Handwerk legen.

Doch dann benützten weder sie noch Nynaeve die Macht. Zusammen konnten sie diese Kerle verprügeln, wie ihre Mütter es wohl versäumt hatten. Aber mehr wagten sie nicht, jedenfalls solange nicht, bis sie absolut keine andere Wahl mehr hatten.

Falls eine der Schwarzen Ajah nahe genug war, um es zu bemerken, hatten sie sich bereits durch das Glühen von Saidar verraten. Wenn sie aber die Luftstränge verwoben, würden sie noch mehr von der Macht benötigen, so daß eine Schwarze Schwester sie auch noch von einer anderen Straße her auf hundert Schritt Entfernung oder mehr bemerken würde, wenn sie stark und sensitiv genug war. Das war es ja, was auch sie diese letzten fünf Tage über vor allem versucht hatten. Sie waren durch die Straßen der Stadt geschlendert und hatten darauf gelauert, ob irgendwo eine Frau die Macht gebrauchte. Das hätte sie zu Liandrin und den anderen führen können.

Dann mußte man auch die Menschenmenge in die Überlegungen mit einbeziehen. Ein paar Leute drückten sich immer noch zu beiden Seiten an den Hauswänden entlang an ihnen vorbei. Die anderen schoben sich gegenseitig hierhin und dorthin und suchten nach einem Weg. Nur eine Handvoll zeigte überhaupt, daß sie die beiden Frauen in Gefahr bemerkt hatten, aber das mit schamhaft abgewandtem Blick. Doch wenn sie sahen, wie kräftige Männer von etwas Unsichtbarem weggeschleudert wurden... ?

Die Aes Sedai und auch die Eine Macht selbst waren zur Zeit in Tanchico nicht gerade gern gesehen. Noch immer gingen die alten Gerüchte in bezug auf Falme um, und neuere behaupteten, die Weiße Burg unterstütze die Drachenverschworenen auf dem Land. Diese Leute würden wahrscheinlich weglaufen, wenn sie beobachteten, daß jemand die Eine Macht benützte. Oder sie würden sich in einen wütenden Mob verwandeln. Selbst wenn sie und Nynaeve es dann vermeiden konnten, an Ort und Stelle in Stücke gerissen zu werden, und sie war sich da nicht so sicher, konnten sie so etwas hinterher nicht mehr vertuschen. Die Schwarzen Ajah würden noch vor Sonnenuntergang davon hören, daß sich Aes Sedai in Tanchico befanden.

Sie stellte sich Rücken an Rücken zu Nynaeve und packte ihre Daube ganz fest. Dabei hatte sie das Gefühl, hysterisch lachen zu müssen. Wenn Nynaeve noch einmal etwas davon sagte, daß sie allein hinausgehen sollten — zu Fuß noch dazu —, würde man ja sehen, ob es ihr gefiel, wenn sie zur Abwechslung ihren Kopf in einen Eimer Wasser steckte. Wenigstens schien keiner dieser Schläger besonders erpicht darauf, der erste zu sein, der wie dieser Kerl auf dem Boden eine Faßdaube über den Schädel bekam.

»Vorwärts«, trieb der Mann mit dem schmalen Gesicht die anderen an. Er fuchtelte wild mit den Händen. »Vorwärts! Es sind doch nur zwei Frauen!« Er selbst machte aber keine Anstalten, sich ins Getümmel zu stürzen. »Vorwärts, sage ich! Wir brauchen nur die eine. Sie ist Gold wert, sage ich Euch.« Plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag, und einer der Schläger fiel auf die Knie und hielt sich halb betäubt den blutenden Kopf. Eine dunkelhaarige Frau mit herbem Gesicht in einem blauen Reitkleid huschte an ihm vorbei und drehte sich dann blitzschnell herum, um einem anderen Kerl die Rückseite ihrer Faust auf den Mund zu donnern. Dann schlug sie ihm mit einem Stock die Beine unter dem Leib weg, und als er stürzte, trat sie ihm noch gegen den Kopf.

Daß ihnen überhaupt jemand half, war schon überraschend genug, und noch mehr überraschte die Person ihrer Helferin, doch Elayne war keineswegs wählerisch. Nynaeve wirbelte mit einem wortlosen Aufschrei herum, und sie selbst sprang mit dem Ruf vor: »Es lebe der Weiße Löwe!« Dann prügelte sie so schnell und kraftvoll sie konnte auf den am nächsten stehenden Kerl los. Der warf die Arme hoch, um sich zu schützen, und er schien zutiefst erschrocken. »Vorwärts der Weiße Löwe!« schrie sie wieder. Es war der Schlachtruf von Andor. Er wandte sich um und rannte davon.

Unwillkürlich mußte sie lachen und fuhr dann herum, um jemand anderen zu finden, den sie verprügeln konnte. Nur zwei waren noch nicht geflohen oder zu Boden gegangen. Dieser erste Kerl mit der gebrochenen Nase wollte ebenfalls fliehen, und Nynaeve gab im noch eins hinterher. Die Frau mit dem strengen Gesicht brachte es irgendwie fertig, ihren Stock zwischen Arm und Schulter des zweiten Kerls zu schieben und zog ihn auf diese Weise zu sich heran und gleichzeitig hoch auf die Zehenspitzen. Er wäre barfuß noch einen guten Kopf größer gewesen als sie und wog bestimmt das Doppelte, doch sie klatschte ihm ganz gelassen dreimal kurz hintereinander den Rücken ihrer freien Faust ans Kinn. Seine Augäpfel rollten, und er sackte zusammen. Gleichzeitig sah Elayne jedoch den Mann mit dem schmalen Gesicht mit blutender Nase und fast glasigen Augen von der Straße hochtaumeln, ein Messer aus dem Gürtel ziehen und von hinten an die Frau heranschleichen. Ohne nachzudenken griff Elayne nach der Macht. Ein Luftwirbel packte den Mann und schleuderte ihn mitsamt Messer nach hinten. Die Frau mit dem strengen Gesicht zuckte herum, aber er kroch bereits auf allen vieren weg, bis er wieder auf die Beine kam und in der Menge verschwand. Die Leute waren stehengeblieben, um den eigenartigen Kampf zu beobachten, aber keiner außer der dunkelhaarigen Frau hatte die Hand erhoben, um zu helfen. Die Frau blickte unsicher von Elayne zu Nynaeve. Elayne fragte sich, ob sie bemerkt hatte, daß der schmächtige Bursche offensichtlich von überhaupt nichts umgerissen worden war.

»Ich danke Euch sehr«, sagte Nynaeve ein wenig atemlos, während sie auf die Frau zuging und ihren Schleier zurechtrückte. »Ich glaube, wir sollten hier verschwinden. Ich weiß, daß die Miliz sich nicht oft auf die Straßen hinauswagt, aber falls die doch kommen, möchte ich nicht erklären müssen. Unsere Schenke ist nicht weit entfernt. Kommt Ihr mit uns? Eine Tasse Tee ist das Mindeste, was wir jemandem anbieten können, die in dieser vom Licht verlassenen Stadt tatsächlich jemand anderem zur Hilfe kam. Ich heiße Nynaeve al'Meara, und dies hier ist Elayne Trakand.« Die Frau zögerte sichtlich. Sie hatte es also bemerkt. »Ich... Ja, ich würde gern mitkommen. Ja.« Sie sprach irgendwie schleppend und schwer verständlich, aber es klang ein wenig vertraut. Sie war im Grunde eine sehr gut aussehende Frau, was vor allem an ihrem dunklen Haar lag, das beinahe bis auf ihre Schultern herabfiel. Vielleicht war ihr Gesicht ein bißchen zu herb, um es schön zu nennen. Ihre blauen Augen verströmten einen Ausdruck von Macht, als sei sie daran gewöhnt, Befehle zu geben. Vielleicht war sie eine Kauffrau, bei diesem Kleid. »Ich heiße Egeanin.« Egeanin zögerte nicht, mit ihnen in die nächste Seitenstraße zu gehen. Die Menge schloß sich bereits um die am Boden Liegenden. Elayne erwartete, daß die Männer, bevor sie noch richtig wach waren, um alle Wertsachen erleichtert würden, vielleicht sogar um Kleidung und Stiefel. Sie wünschte, sie könne erfahren, wie sie ihre Identität herausgefunden hatten, aber es gab keine Möglichkeit, einen mitzunehmen und zu verhören. Sie würden jedoch mit Sicherheit ab jetzt Leibwächter mitnehmen, gleich, was Nynaeve sagte.

Wohl hatte Egeanin nicht gezögert, aber sie war doch nervös. Elayne las ihr das von den Augen ab, während sie sich durch die Menge drängten. »Ihr habt es bemerkt, nicht wahr?« fragte sie. Die Frau kam kurz ins Stolpern, und das war genug Bestätigung für Elayne. So fügte sie schnell hinzu: »Wir werden Euch nichts tun. Und schon deshalb nicht, weil ihr uns zur Hilfe gekommen seid.« Wieder mußte sie ihren Schleier ausspucken. Nynaeve schien kein Problem mit ihrem zu haben. »Du mußt nicht so böse schauen, Nynaeve. Sie hat gesehen, was ich tat.« »Das weiß ich«, sagte Nynaeve trocken. »Und es war durchaus das Richtige, was du gemacht hast. Aber wir befinden uns nicht gemütlich im Palast deiner Mutter und sicher vor allen Lauschern.« Ihre Geste umfaßte alle die vielen Leute in ihrer Umgebung. Wegen Egeanins Stock und ihren Faßdauben machten alle einen großen Bogen um sie. Dann sagte sie zu Egeanin: »Der größte Teil aller Gerüchte, die Ihr vielleicht gehört habt, sind falsch. Nur weniges daran stimmt. Ihr müßt keine Angst vor uns haben, aber Ihr müßt auch verstehen, daß es Dinge gibt, über die wir hier nicht sprechen wollen.« »Angst vor Euch?« Egeanin wirkte erstaunt. »Ich hatte nicht geglaubt, daß ich Angst haben müßte. Ich werde schweigen, bis Ihr zu sprechen wünscht.« Sie hielt denn auch Wort. Sie gingen schweigend weiter durch das Gemurmel der Menge den ganzen Weg zurück über die Halbinsel zum ›Hof der Drei Pflaumen‹. Von all der vielen Lauferei schmerzten Elayne allmählich die Füße. Trotz der frühen Tageszeit saß eine Handvoll Männer und Frauen im Schankraum über ihrem Wein oder Bier. Die Frau mit dem Hackbrett wurde von einem dürren Mann auf der Flöte begleitet, deren Töne genauso dünn klangen, wie er war. Juilin saß an einem Tisch in der Nähe der Eingangstür und rauchte seine kurzstielige Pfeife. Er war noch nicht von seiner nächtlichen Tour zurück gewesen, als sie gingen. Elayne war froh, daß er ausnahmsweise keine neue Schramme und keinen Schnitt aufwies. Was er die Unterseite von Tanchico nannte, schien noch rauher zu sein als das Gesicht, das die Stadt der Welt zeigte. Seine einzige Konzession an die in Tanchico übliche Kleidung war eine dieser spitz zulaufenden Filzkappen, die er schief auf dem Hinterkopf trug und die seinen flachen Strohhut nun ersetzte.

»Ich habe sie gefunden«, sagte er, sprang dabei wie von der Tarantel gestochen von seiner Bank auf und riß sich die Kappe vom Kopf. Erst dann bemerkte er, daß sie nicht allein waren. Er warf Egeanin einen vorsichtigen Blick zu und verbeugte sich leicht. Sie erwiderte seinen Gruß mit einem leichten Kopfneigen und einem genauso zurückhaltenden Blick.

»Ihr habt sie gefunden?« rief Nynaeve. »Seid Ihr sicher? Sprecht, Mann! Habt Ihr eure Zunge verschluckt?« Und das von ihr, die immer davor gewarnt hatte, sich vor anderen Leuten zu verplappern.

»Ich sollte besser sagen: Ich habe herausgefunden, wo sie sich aufhielten.« Er sah Egeanin nicht mehr an, wählte aber seine Worte sehr vorsichtig. »Die Frau mit der weißen Strähne im Haar führte mich zu einem Haus, wo sie mit einer Anzahl anderer Frauen wohnte, wenn sich auch nur wenige jemals draußen sehen ließen. Die Anwohner meinen, es seien reiche Flüchtlinge von irgendwelchen Landgütern. Jetzt ist nicht mehr viel dort übrig als ein paar Nahrungsreste in der Speisekammer. Selbst die Diener sind weg. Der eine oder andere Hinweis läßt mich glauben, daß sie letzten Nachmittag oder spätestens letzten Abend von dort weggingen. Ich glaube kaum, daß sie die Nacht in Tanchico fürchten.« Nynaeves Hand verkrampfte sich um mehrere ihrer Zöpfe. »Seid Ihr drinnen gewesen?« fragte sie mit betont gleichmütiger Stimme. Elayne fürchtete, es sei bald soweit, daß sie die Daube drohend erheben würde, die an ihrer Seite baumelte.

Auch Juilin hatte wohl dieses Gefühl. Er beäugte die Daube und sagte: »Ihr wißt genau, daß ich bei denen kein Risiko eingehen würde. Ein leeres Haus hat so etwas an sich — ich kann es nicht beschreiben. Gleich, wie groß es sein mag, aber man spürt die Leere. Man kann nicht so lange wie ich Diebe aufspüren und dann kein Gefühl für so etwas entwickeln.« »Und wenn Ihr damit eine Falle ausgelöst habt?« Nynaeve fauchte das beinahe. »Schließt Euer toller Sinn für bestimmte Dinge auch Fallen mit ein?« Juilins dunkles Gesicht verfärbte sich leicht ins Graue. Er leckte sich die Lippen, als wolle er etwas sagen oder sich verteidigen, doch sie schnitt ihm das Wort ab: »Wir sprechen später noch darüber, Meister Sandar.« Ihr Blick glitt ein wenig in Egeanins Richtung, denn offensichtlich erinnerte sie sich endlich daran, daß fremde Ohren alles mitgehört hatten. »Sagt Rendra, daß wir unseren Tee im Fallende-Blüten-Raum einnehmen.« »In der Kammer der Fallenden Blüten«, korrigierte Elayne sanft und Nynaeve warf ihr einen wütenden Blick zu. Juilins Nachricht hatte die ältere der beiden jungen Frauen in eine üble Laune versetzt.

Er verbeugte sich tief mit gespreizten Händen. »Wie Ihr befehlt, Frau al'Meara. Ich gehorche Euch aus ganzem Herzen«, sagte er trocken, setzte sich die dunkle Kappe wieder auf und stolzierte von dannen. Seine Haltung wirkte würdevoll indigniert. Es mußte unangenehm sein, von jemandem Befehle entgegenzunehmen, mit dem man vorher zu flirten versucht hatte.

»Närrischer Mann!« knurrte Nynaeve. »Wir hätten beide auf dem Kai in Tear zurücklassen sollen.« »Er ist Euer Diener?« fragte Egeanin bedächtig.

»Ja«, fauchte Nynaeve, während Elayne im gleichen Moment »Nein« sagte.

Sie blickten sich an. Nynaeve hatte die Stirn gerunzelt. »Na ja, auf gewisse Weise vielleicht«, seufzte Elayne, während zugleich Nynaeve ergeben murmelte: »Na ja, eigentlich nicht.« »Oh, ich... verstehe«, sagte Egeanin.

Rendra kam geschäftig zwischen den Tischen hindurch mit einem lächelnden Schmollmund unter dem Schleier auf sie zu. Elayne wünschte sich, sie sähe Liandrin nicht so verteufelt ähnlich. »Oh. Ihr seht heute morgen so hübsch aus. Eure Kleider sind einfach großartig. Wirklich schön.« Als habe die Frau mit dem honigfarbenen Haar nicht genausoviel mit der Auswahl der Stoffe und Schnittmuster zu tun gehabt wie sie selbst. Ihr eigenes Kleid war rot genug, um jede Kesselflickerfrau zu erfreuen, und ganz bestimmt nicht für die Öffentlichkeit geeignet.

»Aber Ihr wart wieder ein wenig unklug, ja? Deshalb macht der gute Juilin wieder so eine finstere Miene. Ihr solltet ihm nicht so viele Schwierigkeiten bereiten.« Ein Zwinkern in ihren großen braunen Augen machte deutlich, daß Juilin in ihr offensichtlich jemanden zum Flirten gefunden hatte. »Kommt. Ihr nehmt Euren Tee im Kühlen und ohne Zuschauer ein, und wenn Ihr wieder ausgehen müßt, laßt Ihr mich die Träger und Leibwächter für Euch stellen, ja? Die hübsche Elayne hätte nicht so viele Geldbörsen verloren, wärt Ihr nur richtig beschützt worden. Aber sprechen wir jetzt nicht von solchen Dingen. Euer Tee ist fast fertig. Kommt.« Man mußte das wohl einfach richtig gelernt haben. So sah es Elayne jedenfalls. Man mußte lernen, wie man sprach, ohne den Schleier dabei halb aufzuessen.

Die Kammer der Fallenden Blüten, einen kurzen Flur vom Schankraum entfernt, war ein kleiner, fensterloser Raum mit einem niedrigen Tisch und geschnitzten Stühlen mit roten Sitzkissen. Nynaeve und Elayne nahmen hier ihre Mahlzeiten ein, entweder mit Thom oder Juilin oder beiden, wenn Nynaeve nicht gerade wütend auf sie war. Die verputzten Backsteinwände, auf die man einen ganzen Wald von Pflaumenbäumen und einen wahren Blütenregen gemalt hatte, waren so dick, daß niemand draußen etwas aufschnappen konnte. Elayne riß sich beinahe den Schleier herunter und warf das hauchdünne Stück Stoff auf den Tisch, bevor sie sich hinsetzte. Selbst die Taraboner Frauen versuchten nicht, mit dem Ding vor dem Mund zu essen oder zu trinken. Nynaeve machte ihren lediglich an der einen Seite von ihrem Haar los.

Rendra plapperte fröhlich weiter, während ihnen der Tee serviert wurde. Ihre Themen wechselten wild durcheinander — von einer neuen Damenschneiderin, die ihnen Kleider im allerneuesten Stil aus der allerdünnsten Seide nähen könne — als sie Egeanin vorschlug, es mit dieser Frau zu versuchen, bekam sie einen abweisenden Blick zur Antwort, was sie aber nicht im geringsten bremste —, zu Juilin und warum sie auf ihn hören sollten, da die Stadt einfach zu gefährlich sei und eine Frau heutzutage noch nicht einmal bei hellem Tageslicht allein ausgehen könne, und dann kam sie auf eine parfümierte Seife zu sprechen, die dem Haar seidigen Glanz verschaffe. Elayne fragte sich manchmal, wie diese Frau eine gutgehende Schenke leiten könne, obwohl sie an nichts anderes als ihr Haar und ihre Kleider dachte. Doch die Schenke war und ging wirklich gut. Das blieb ein Rätsel für Elayne. Natürlich trug sie sehr hübsche Kleider, wenn sie auch nicht ganz anständig wirkten. Der Kellner, der den Tee und die blauen Porzellantassen und dazu winzige Plätzchen auf einem Tablett hereintrug, war der gleiche schlanke, dunkeläugige junge Mann, der in jener peinlichen Nacht Elaynes Becher immer nachgefüllt hatte. Er hatte es seither noch mehr als einmal versucht, aber sie hatte sich geschworen, in Zukunft niemals wieder mehr als einen einzigen Becher zu trinken. Ein gutaussehender Bursche, doch sie warf ihm einen eisgekühlten Blick zu, worauf er wohl froh war, den Raum schnell wieder verlassen zu können.

Egeanin beobachtete alles schweigend, bis Rendra auch weg war. »Ihr seid nicht, was ich erwartete«, sagte sie dann. Sie hielt ihre Tasse ganz eigenartig zwischen den Fingerspitzen. »Die Wirtin quatscht über Frivolitäten und behandelt Euch, als wärt Ihr Schwestern und genauso närrisch wie sie, und Ihr laßt es zu. Der dunkle Mann — ich glaube, er ist schon eine Art von Diener — macht sich über Euch lustig. Dieser junge Kellner starrt Euch mit offener Gier an, und Ihr gestattet es ihm. Ihr seid... Aes Sedai, oder?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern wandte sich mit einem scharfen Blick Elayne zu. »Und Ihr seid vom... Ihr seid von adeliger Abstammung. Nynaeve sprach vom Palast Eurer Mutter.« »Solche Dinge spielen in der Weißen Burg keine große Rolle«, sagte Elayne bedauernd zu ihr und wischte sich hastig Krümel vom Kinn. Die Plätzchen waren ziemlich stark gewürzt, beinahe scharf. »Falls eine Königin dorthin käme, um zu lernen, müßte sie genauso Böden schrubben wie jede andere Novizin und springen, wenn man es ihr befiehlt.« Egeanin nickte bedächtig. »Also auf diese Art herrscht Ihr. Indem Ihr die Herrscher beherrscht. Werden viele... Königinnen so ausgebildet?« »Nicht, daß ich wüßte.« Elayne lachte. »Bei uns in Andor ist es Tradition, daß die Tochter-Erbin dorthin geht. Eine ganze Anzahl von adligen Mädchen geht hin, obwohl sie es nicht an die große Glocke hängen, und die meisten gehen wieder weg, ohne auch nur die Wahre Quelle einmal wahrgenommen zu haben. Es war nur ein Beispiel.« »Ihr seid auch vom... eine Adlige?« fragte Egeanin und Nynaeve schnaubte.

»Meine Mutter war eine Bäuerin und mein Vater hat Schafe gehütet und Tabak angebaut. Nur wenige in der Gegend, aus der ich komme, können ohne den Verkauf sowohl von Wolle wie auch von Tabak auskommen. Wie steht es mit Euren Eltern, Egeanin?« »Mein Vater war Soldat und meine Mutter war die... Schiffsoffizier.« Einen Augenblick lang nippte sie an ihrem ungesüßten Tee und musterte sie. »Ihr sucht nach jemandem«, stellte sie schließlich fest. »Nach diesen Frauen, von denen der dunkle Mann sprach. Ich handle ein wenig mit Informationen, neben anderen Dingen natürlich. Ich habe Quellen, von denen ich einiges erfahre. Vielleicht kann ich helfen. Ich würde kein Geld dafür verlangen. Ich möchte nur von Euch mehr über die Aes Sedai erfahren.« »Ihr habt uns schon zuviel geholfen«, sagte Elayne schnell, wobei sie sich daran erinnerte, daß Nynaeve Bayle Domon fast alles erzählt hatte. »Ich bin Euch sehr dankbar, aber wir können nicht noch mehr annehmen.« Diese Frau von den Schwarzen Ajah wissen zu lassen oder sie ohne dieses Wissen mit einzuspannen kam absolut nicht in Frage. »Wir können wirklich nicht noch mehr annehmen.« Nynaeve stand mit halb geöffnetem Mund da und funkelte sie an. »Ich wollte gerade dasselbe sagen«, behauptete sie mit beherrschter Stimme. Dann fuhr sie etwas freundlicher fort: »Unsere Dankbarkeit geht aber gewiß so weit, daß wir Eure Fragen beantworten, Egeanin. Jedenfalls, soweit wir das können.« Sie meinte damit, daß es eine Reihe von Fragen gab, die sie gar nicht beantworten konnten, weil sie selbst die Antworten nicht wußten, Egeanin aber verstand sie anders.

»Natürlich. Ich will nichts über die geheimen Angelegenheiten der Weißen Burg wissen.« »Ihr scheint sehr an den Aes Sedai interessiert zu sein«, sagte Elayne. »Ich kann die Fähigkeit nicht in Euch spüren, aber vielleicht könnt Ihr lernen, die Macht zu gebrauchen.« Egeanin hätte fast ihre Porzellantasse fallen lassen. »Man... man kann es lernen? Ich wußte nicht... Nein. Ich will es... nicht lernen.« Ihre Erregung machte Elayne traurig. Selbst unter den Menschen, die vor den Aes Sedai keine Angst hatten, wollten zu viele nichts mit der Einen Macht zu tun haben. »Was wollt Ihr denn wissen, Egeanin?« Bevor die Frau etwas sagen konnte, klopfte es an die Tür, und Thom trat ein, angetan mit einem teuren, braunen Umhang, den er nun gewöhnlich beim Ausgehen trug. Er erregte auf jeden Fall nicht soviel Aufsehen wie sein Gauklerumhang mit den bunten Flicken. Er wirkte darin sogar sehr würdevoll mit seinem weißen Haarschopf, den er allerdings häufiger kämmen sollte. Wenn sie ihn sich jünger vorstellte, war Elayne schon klar, was ihre Mutter zu ihm hingezogen hatte. Das entschuldigte allerdings nicht, wie er sie verlassen hatte. Sie glättete ihre Züge schnell, bevor er ihre gerunzelte Stirn wahrnehmen konnte.

»Man sagte mir, daß ihr nicht allein seid«, sagte er und warf Egeanin einen abschätzenden Blick zu, der dem Juilins sehr ähnlich war. Männer mißtrauten immer jemandem, den sie nicht kannten. »Aber ich dachte, ihr solltet wissen, daß die Kinder des Lichts heute morgen den Palast der Panarchen umstellt haben. Die ganze Stadt schwirrt bereits von Gerüchten. Wie es scheint, soll morgen Lady Amathera als Panarchin eingeführt werden.« »Thom«, sagte Nynaeve müde, »außer, falls Amathera in Wirklichkeit Liandrin ist, ist es mir völlig gleich, ob sie Panarchin wird oder Königin oder Seherin für die gesamten Zwei Flüsse auf einmal.« »Das Interessante daran ist«, sagte Thom ungerührt und hinkte zum Tisch, »daß den Gerüchten nach die Versammlung sich weigerte, Amathera zu wählen. Sie weigerten sich. Also, warum wird sie dann in das Amt eingeführt? So eigenartige Vorkommnisse muß man einfach beachten, Nynaeve.« Als er sich setzen wollte, sagte sie ruhig: »Wir führen hier eine private Unterhaltung, Thom. Ich bin sicher, daß du lieber im Schankraum sitzen wirst.« Sie nippte an ihrem Tee und blickte ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Sichtlich erwartete sie seinen Rückzug. Errötend erhob er sich wieder, ohne richtig gesessen zu haben, doch er ging noch nicht gleich. »Ob nun die Versammlung ihre Meinung geändert hat oder nicht, es wird auf jeden Fall Ausschreitungen geben. In den Straßen glaubt man immer noch, daß Amathera abgewiesen wurde. Wenn ihr unbedingt ausgehen müßt, dann auf keinen Fall allein.« Er sah Nynaeve nur an, aber Elayne hatte den Eindruck, er hätte ihr beinahe die Hand auf die Schulter gelegt. »Bayle Domon hängt in diesem kleinen Zimmer unten in der Nähe des Hafens fest und regelt seine Angelegenheiten für den Fall, daß er fliehen muß. Aber er hat sich einverstanden erklärt, fünfzig ausgewählte Männer zur Verfügung zu stellen, harte Burschen, die an Raufereien gewöhnt sind und schnell mit Messer oder Schwert.« Nynaeve öffnete den Mund, aber Elayne kam ihr zuvor. »Wir sind dankbar, Thom, sowohl Euch wie auch Meister Domon. Bitte, sagt ihm, daß wir sein freundliches und großzügiges Angebot annehmen.« Nynaeves strenger Blick traf sie, und sie fügte bedeutungsschwanger hinzu: »Ich will nicht bei hellem Tageslicht von der Straße weg entführt werden.« »Nein«, sagte Thom. »Das wollen wir doch nicht.« Elayne glaubte, ein nur halb gehauchtes ›Kind‹ am Ende gehört zu haben, und diesmal berührte er wirklich ihre Schulter, streifte kurz mit den Fingerspitzen darüber. »Übrigens«, fuhr er fort, »warten die Männer bereits draußen auf der Straße. Ich versuche auch, eine Kutsche aufzutreiben, denn auf diesen Sänften ist man einfach zu exponiert.« Er schien zu wissen, daß er damit zu weit gegangen war, Domons Männer herzubringen, bevor sie auch nur zugestimmt hatten, ganz zu schweigen von einer Kutsche. Auch dazu hatte er sie nicht einmal um Erlaubnis gebeten. Doch er stand ihnen nun gegenüber wie ein in die Enge getriebener Wolf, die buschigen Augenbrauen heruntergezogen. »Ich würde es... persönlich... bedauern, wenn euch etwas zustieße. Die Kutsche wird hiersein, sobald ich ein Gespann auftreiben kann. Falls man eines findet.« Nynaeve hatte die Augen aufgerissen und war offenbar nahe daran, ihm eine Abreibung zu verpassen, die er nie mehr vergessen würde. Elayne hätte ihm ebenfalls, wenn auch etwas sanfter, einiges zu sagen gehabt. Sanfter, aber ›Kind‹ zu ihr zu sagen...!

Er nützte ihr Zögern aus, um sich mit grandioser Geste zu verbeugen, wie man sie in einem Palast nicht schöner zu sehen bekam, und zu gehen, solange er noch Zeit hatte.

Egeanin hatte ihre Tasse hingestellt und blickte sie konsterniert an. Elayne war klar, daß sie nicht gerade eine beeindruckende Vorstellung vom Rang einer Aes Sedai gegeben hatten, als sie sich praktisch von Thom hatten herumkommandieren lassen. »Ich muß gehen«, sagte die Frau, erhob sich und nahm ihren Stock von der Wand, wo sie ihn hingelehnt hatte.

»Aber Ihr habt Eure Fragen noch gar nicht gestellt!« protestierte Elayne. »Wir schulden Euch doch wenigstens einige Antworten.« »Ein andermal«, sagte Egeanin, nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte. »Wenn es gestattet ist, komme ich ein andermal zu Besuch. Ich muß mehr über Euch erfahren. Ihr seid ganz anders, als ich erwartet hatte.« Sie versicherten ihr, sie könne jederzeit kommen, wenn sie da waren, und bemühten sich, sie zum Bleiben zu überreden, um wenigstens noch ihren Tee zu trinken und noch etwas Gebäck zu essen, doch sie bestand darauf, sie jetzt verlassen zu müssen.

Nynaeve brachte sie zur Tür und drehte sich dann mit in die Hüften gestemmten Fäusten zu Elayne um. »Dich entführen? Falls du es vergessen haben solltest, Elayne, war ich es, die von diesen Männern entführt werden sollte!« »Um dich aus dem Weg zu haben, damit sie mich packen konnten«, gab Elayne zurück. »Falls du es vergessen hast: Ich bin die Tochter-Erbin von Andor. Meine Mutter hätte sie reich gemacht, um mich zurückzubekommen.« »Vielleicht«, meinte Nynaeve zweifelnd. »Na ja, wenigstens hatte das alles nichts mit Liandrin zu tun. Die würde uns keine Bande von Straßenschlägern schicken, um uns in einen Sack zu stopfen. Warum machen die Männer immer Sachen, ohne vorher zu fragen? Saugt denen das Haar auf der Brust etwa den Verstand aus?« Der plötzliche Themenwechsel verwirrte Elayne keineswegs. »Wenigstens müssen wir uns nicht mehr darum kümmern, wie wir Leibwächter auftreiben. Du bist doch auch der Meinung, daß sie notwendig sind, obwohl Thom ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist?« »Ja, ich denke schon.« Nynaeve hatte eine bemerkenswerte Abneigung, zuzugeben, daß sie im Unrecht war. Zu glauben, diese Männer seien hinter ihr hergewesen, ha! »Elayne, ist dir klar, daß wir immer noch nicht mehr haben als ein leeres Haus? Falls Juilin — oder Thom — einen Fehler begeht und sie ihn finden? Wir müssen die Schwarzen Schwestern finden, ohne daß sie es merken, oder wir werden niemals eine Gelegenheit bekommen, ihnen dorthin zu folgen, wo sich diese Gefahr für Rand befindet, was es auch sein mag.« »Ich weiß«, sagte Elayne geduldig. »Wir haben das alles doch schon durchgekaut.« Die ältere der beiden runzelte die Stirn und blickte ins Leere. »Wir haben noch immer nicht die geringste Ahnung, was es ist oder wo es sich befindet.« »Ich weiß.« »Selbst wenn wir im nächsten Moment Liandrin und die anderen einsacken, könnten wir es nicht dort draußen lassen, wo jemand anders es finden mag.« »Das weiß ich doch, Nynaeve.« Elayne zwang sich zu mehr Geduld und einem sanfteren Tonfall. »Wir finden sie bestimmt. Sie müssen sich irgendwann einmal verraten, und wenn Thoms Gerüchte stimmen, Juilins Diebe und Bayle Domons Seeleute aufpassen, dann erfahren wir davon.« Nynaeves Stirnrunzeln wirkte nun eher nachdenklich. »Hast du Egeanins Blick bemerkt, als Thom Domon erwähnte?« »Nein. Glaubst du, sie kennt ihn? Warum sollte sie das nicht zugeben?« »Ich weiß es nicht«, meinte Nynaeve leicht beunruhigt. »Ihr Gesichtsausdruck hat sich nicht geändert, aber ihr Blick... Sie war überrascht. Sie muß ihn kennen. Ich frage mich, was...« Jemand klopfte leise an die Tür. »Kommt denn heute jeder in Tanchico zu uns auf Besuch?« grollte sie und riß die Tür auf.

Rendra fuhr unter Nynaeves wildem Blick zusammen, aber ihr allgegenwärtiges Lächeln kehrte sofort wieder. »Vergebt mir, daß ich Euch störe, aber unten ist eine Frau, die nach Euch gefragt hat. Sie hat nicht Eure Namen genannt, Euch aber sehr genau beschrieben. Sie meint, daß sie Euch kennt. Sie... « Ihr Schmollmund verzog sich ärgerlich. »Ich habe vergessen, nach ihrem Namen zu fragen. Heute morgen bin ich wirklich eine hirnlose Ziege. Die Frau ist gut angezogen und noch nicht ganz in ihren mittleren Jahren. Sie stammt nicht aus Tarabon.« Sie schauderte ein klein wenig. »Eine strenge Frau, glaube ich. Als sie mich zuerst sah, blickte sie mich an wie meine ältere Schwester in unserer Kindheit, als sie am liebsten meine Zöpfe ausgerissen hätte.« »Haben sie uns vielleicht zuerst gefunden?« fragte Nynaeve leise.

Elayne griff bereits nach der Wahren Quelle, bevor es ihr bewußt wurde, und als es tatsächlich ging, überlief sie ein Schaudern der Erleichterung. Sie konnte es tun und war nicht unversehens abgeschirmt worden. Falls die Frau eine Schwarze Ajah war... Aber warum hätte sie sich dann anmelden lassen? Trotzdem wünschte sie sich, Nynaeve wäre ebenfalls vom Glühen Saidars umgeben. Wenn die Frau nur endlich einmal die Macht benützen könnte, ohne zuvor zornig werden zu müssen!

»Schickt sie herein«, sagte Nynaeve, und Elayne bemerkte, daß die andere sich des fehlenden Schutzes sehr wohl bewußt war und sich offensichtlich fürchtete. Während Rendra wieder hinausging, begann Elayne, Stränge des Elements Luft zu verweben, kabeldick und bereit, jeden zu fesseln, und dann Ströme des Elements Geist, um jeden anderen von der Wahren Quelle abzuschirmen. Falls diese Frau einer von denen auf der Liste auch nur ähnlich sah, falls sie versuchte, auch nur einen Funken der Macht zu gebrauchen...

Elayne hatte die Frau, die nun, gekleidet in ein schimmerndes schwarzseidenes Kleid von ihnen unbekanntem Schnitt, in die Kammer der Fallenden Blüten trat, noch nie gesehen, und sie stand auch bestimmt nicht auf der Liste der Frauen, die mit Liandrin geflohen waren. Das dunkle Haar, das ihr lose auf die Schultern fiel, umrahmte ein kraftvoll wirkendes, gutaussehendes Gesicht mit großen, dunklen Augen und glatten Wangen, doch ohne die typische Alterslosigkeit der Aes Sedai. Lächelnd schloß sie die Tür hinter sich. »Verzeiht mir, doch ich glaubte, Ihr wärt... « Das Glühen Saidars umgab sie, und sie...

Elayne ließ die Wahre Quelle fahren. In diesen dunklen Augen lag etwas sehr Beherrschendes, genau wie in dem Lichtschein, der Ausstrahlung der Einen Macht. Elayne hatte noch nie eine Frau gesehen, die ihr einen so würdigen, königlichen Eindruck vermittelt hatte. Sie ertappte sich dabei, wie sie schnell knickste, und errötete bei dem Gedanken, auch nur erwogen zu haben... Was hatte sie eigentlich erwogen? So schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Frau musterte sie einen Augenblick lang, nickte dann zufrieden, glitt hinüber zum Tisch und packte den geschnitzten Stuhl an seiner Lehne. »Kommt her, wo ich Euch beide besser sehen kann«, sagte sie mit gebieterischer Stimme. »Kommt. Ja. So ist es recht.« Elayne wurde mit einemmal bewußt, daß sie neben dem Tisch stand und auf die dunkeläugige, glühende Frau herabsah. Sie hoffte, das sei so in Ordnung. Auf der anderen Seite des Tisches stand Nynaeve und hatte eine ganze Handvoll ihrer langen, dünne Zöpfe gepackt. Aber auch sie blickte ihre Besucherin mit dümmlich fasziniertem Gesichtsausdruck an. Elayne hätte am liebsten gekichert.

»Ungefähr, was ich erwartet hatte«, sagte die Frau. »Wenig mehr als kleine Mädchen und kaum halb ausgebildet. Aber stark, stark genug, um ziemliche Schwierigkeiten zu bereiten. Besonders Ihr.« Sie fixierte Nynaeve mit einem strengen Blick. »Aus Euch könnte eines Tages etwas werden. Aber Ihr habt Euch selbst abgeschirmt, oder? Den Block hätten wir schnell aus Euch herausgeholt, und wenn Ihr deshalb noch so jammert.« Nynaeve hielt sich immer noch an ihren Zöpfen fest, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich. Aus dem erfreuten, mädchenhaften Lächeln, als habe man sie gelobt, wurde eine zerknirschte Miene. Ihre Unterlippe zitterte. »Es tut mir leid, daß ich mich selbst abgeschirmt habe«, wimmerte sie beinahe. »Ich habe Angst vor... all dieser Macht... der Einen Macht... Wie kann ich...?« »Schweigt, bis ich Euch eine Frage stelle«, sagte die Frau streng. »Und fangt nicht gleich zu weinen an. Ihr freut Euch, mich zu sehen. Ihr seid glücklich. Alles, was Ihr wollt, ist, mir eine Freude zu machen und meine Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.« Nynaeve nickte lebhaft und lächelte noch entrückter als zuvor. Elayne war bewußt, daß sie sich genauso anstellte. Sie war sogar sicher, daß sie zuerst die Fragen beantworten könne. Alles, um dieser Frau eine Freude zu machen.

»Also. Seid Ihr allein? Sind noch andere Aes Sedai bei Euch?« »Nein«, sagte Elayne schnell als Antwort auf die erste Frage, und genauso schnell beantwortete sie die zweite:

»Es sind keine Aes Sedai bei uns.« Vielleicht sollte sie ihr erklären, daß sie beide eigentlich noch gar keine Aes Sedai waren. Aber danach hatte sie nicht gefragt. Nynaeve sah sie zornig an. Ihre Knöchel an den Handgelenken waren ganz weiß vor Anstrengung, so fest hielt sie ihre Zöpfe. Sie war zornig, weil ihr Elayne mit der Antwort zuvorgekommen war. »Warum befindet Ihr euch in dieser Stadt?« fragte die Frau.

»Wir suchen nach Schwarzen Schwestern«, platzte Nynaeve heraus und warf Elayne einen triumphierenden Blick zu.

Die gutaussehende Frau lachte. »Deshalb also habe ich bis heute nicht merken können, daß Ihr die Macht benützt. Sehr klug von Euch, Euch nicht zu verraten, wenn es elf gegen zwei heißt. So habe ich es auch Der gemacht. Laßt andere Narren nur völlig deckungslos herumspringen. Die kann schon eine Spinne zu Fall bringen, die sich in Mauerspalten verbirgt, eine Spinne, die sie nicht bemerken, bis es zu spät ist. Berichtet mir alles, was Ihr über diese Schwarzen Schwestern herausgefunden habt, alles, was Ihr über sie wißt.« Elayne sprudelte alles heraus in ihrem Eifer, Nynaeve zuvorzukommen. Es war nicht sehr viel. Ihre Beschreibungen, die Ter'Angreal, die sie gestohlen hatten, die Morde in der Burg und die Furcht, es könnten sich noch weitere Schwarze Schwestern dort befinden, wie sie einen der Verlorenen in Tear unterstützt hatten, bevor der Stein gefallen war, und ihre Reise hierher, um etwas zu suchen, was für Rand zur Gefahr werden konnte. »Sie wohnten alle zusammen in einem Haus«, beendete Elayne ihren Bericht schwer atmend, »aber gestern abend haben sie es verlassen.« »Wie es scheint, seid Ihr ihnen sehr nahe gekommen«, sagte die Frau bedächtig. »Sehr nahe. Ter'Angreal. Leert den Inhalt Eurer Börsen und Taschen auf den Tisch.« Sie folgten ihrem Befehl, und die Frau untersuchte schnell die Münzen, das Nähzeug, Taschentücher und was da sonst noch lag. »Habt Ihr irgendwelche Ter'Angreal in Euren Gemächern? Angreal oder Sa'Angreal?«

Elayne war sich des verdrehten Steinrings bewußt, der zwischen ihren Brüsten hing, aber danach hatte sie ja nicht gefragt. »Nein«, sagte sie. Sie hatten nichts davon in ihren Gemächern.

Die Frau schob alles zur Seite, lehnte sich zurück und sprach so halb mit sich selbst. »Rand al'Thor. So nennt er sich also heute.« Ihr Gesicht verzog sich einen Augenblick lang. »Ein arroganter Mann, der nach Religiosität und Güte stank. Ist er immer noch derselbe? Nein, bemüht Euch nicht, zu antworten. Eine überflüssige Frage. Also ist Be'lal tot. Der andere hört sich für mich nach Ishamael an. Sein ganzer Stolz darauf, nur halb im Kerker zu stecken, was auch der Preis dafür gewesen sein mag... In ihm war weniger Menschliches übrig geblieben als an allen anderen von uns, als ich ihn wieder traf. Ich denke, er glaubte beinahe, selbst der Große Herr der Dunkelheit zu sein. Dreitausend Jahre seiner Machenschaften, und dann wird er von einem unausgebildeten Jungen gejagt. Nein, mein Weg ist der beste. Leise, leise und im Schatten bleiben. Etwas, um einen Mann unter meine Kontrolle zu bringen, der die Macht benützen kann. Ja, das ist wohl notwendig.« Ihr Blick wurde wieder scharf und sie musterte die beiden Mädchen nacheinander. »Und nun zu Euch. Was mache ich mit Euch?« Elayne wartete geduldig. Nynaeve lächelte dümmlich mit erwartungsvoll halb geöffneten Lippen. Das wirkte besonders töricht in Verbindung mit dem Klammergriff an ihren Zöpfen.

»Ihr seid zu stark, um Eure Kräfte zu verschwenden. Eines Tages könntet Ihr nützlich werden. Ich fände es herrlich, Rahvins Augen zu sehen, wenn er Euch eines Tages ohne Eure Abschirmung kennenlernt«, sagte sie zu Nynaeve. »Wenn ich könnte, würde ich Euch ja von Eurer Jagd abhalten. Schade, daß diese Suggestion so eingeschränkt ist. Aber da Ihr erst so wenig herausgefunden habt, ist Euer Rückstand zu groß, um sie jetzt einzuholen. Ich schätze, ich muß Euch später zu mir holen und für Eure... Neuausbildung sorgen.« Sie stand auf, und plötzlich juckte es Elayne am ganzen Körper. Ihr Gehirn schien zu schaudern. Sie konnte nur noch die Stimme der Frau wahrnehmen, die wie aus großer Entfernung in ihren Ohren dröhnte. »Ihr nehmt Eure Sachen wieder vom Tisch, und wenn Ihr sie zurückgesteckt habt, erinnert Ihr euch an nichts mehr, was hier geschehen ist. Ich kam hierher, weil ich glaubte, Freundinnen vom Land wiederzutreffen. Ich habe mich geirrt. Ich habe eine Tasse Tee mit Euch getrunken und bin dann gegangen.« Elayne blinzelte und fragte sich, wieso sie ihre Geldbörse wieder neben die Gürteltasche schnallte. Nynaeve blickte verwirrt auf die eigenen Hände nieder, die ihre Tasche gerade zurechtrückten.

»Eine nette Frau«, sagte Elayne und rieb sich die Stirn. Sie hatte Kopfschmerzen. »Hat sie ihren Namen genannt? Ich erinnere mich nicht mehr daran.« »Nett?« Nynaeve hob die Hand und zupfte hart an ihren Zöpfen. Sie sah die Hand an, als habe sie sich ohne ihr Zutun bewegt. »Ich... glaube nicht, daß sie ihn genannt hat.« »Worüber sprachen wir eigentlich gerade, als sie hereinkam?« Egeanin war erst kurze Zeit vorher gegangen. Was war das nur gewesen?

»Ich erinnere mich daran, was ich in dem Moment sagen wollte.« Nynaeves Stimme klang wieder fest. »Wir müssen die Schwarzen Schwestern finden, ohne daß sie es bemerken, sonst haben wir keine Chance, ihnen dorthin zu folgen, was Rand so gefährlich werden kann.« »Das weiß ich«, antwortete Elayne ungeduldig. Hatte sie das schon einmal gesagt? Natürlich nicht. »Das haben wir wirklich schon durchgekaut.« Egeanin blieb unter dem Torbogen stehen, der aus dem kleinen Innenhof der Schenke führte, und musterte die Männer mit harten Gesichtern, die barfuß und zumeist auch mit nacktem Oberkörper zwischen den Herumlungernden auf dieser Straßenseite hockten. Sie sahen aus, als könnten sie gut mit den gekrümmten Entermessern umgehen, die sie am Gürtel hängen oder durch die Schärpe gesteckt hatten, aber keines dieser Gesichter kam ihr bekannt vor. Falls einer von ihnen sich auf Bayle Domons Schiff befunden hatte, als sie mit ihm nach Falme segelte, erinnerte sie sich nicht an ihn. Falls es der Fall sein sollte, hoffte sie, daß er eine Frau im Reitkleid nicht mit der Frau in einer Rüstung in Verbindung brachte, die ihr Schiff gekapert hatte.

Plötzlich wurde ihr bewußt, daß ihre Hände ganz feucht waren. Aes Sedai. Frauen, die die Macht benützen konnten, und sie waren nicht an die Leine gelegt, wie es sein sollte. Sie hatte mit ihnen am gleichen Tisch gesessen und sich sogar mit ihnen unterhalten. Sie waren ganz anders, als sie erwartet hatte. Das ging ihr immer wieder durch den Kopf. Sie konnten die Macht lenken, also waren sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Demzufolge mußte man sie sicher an die Leine legen — und doch... Es war überhaupt nicht so, wie man es sie gelehrt hatte. Man konnte es lernen. Lernen! Solange sie Bayle Domon mied, der sie sicher erkennen würde, sollte sie in der Lage sein, wieder hierher zurückzukehren. Sie mußte mehr erfahren. Das war wichtiger denn je.

Sie wünschte, sie hätte einen Umhang mit Kapuze. Dann jedoch packte sie ihren Stock entschlossen und ging die Straße hinauf los. Sie schlängelte sich durch die Menschenmenge. Keiner der Seemänner warf ihr mehr als einen Blick zu, und sie beobachtete sie genau, um sicherzugehen.

Sie sah den Mann mit hellblondem Haar nicht, der in schmutziger, einheimischer Kleidung vor einer weiß getünchten Schenke auf der anderen Straßenseite kauerte. Er hatte blaue Augen über dem schmuddeligen Schleier und einen dicken Schnurrbart, der von Klebstoff festgehalten wurde, und sein Blick folgte ihr, bis er schließlich wieder zum ›Hof der Drei Pflaumen‹ zurückschlüpfte. Er richtete sich auf und überquerte die Straße, wobei er sich nicht darum scherte, wie ekelhaft eng das Gedränge war, das er durchqueren mußte. Egeanin hätte ihn beinahe entdeckt, als er sich soweit vergessen hatte, den Arm dieses Narren zu brechen. Einer vom Blut, wie man das in seiner Heimat bezeichnete, der hier zum Bettler geworden war und nicht genug Ehre im Leib hatte, die eigenen Pulsadern zu öffnen. Ekelhaft. Vielleicht konnte er mehr darüber in Erfahrung bringen, was sie vorhatte, wenn man in dieser Schenke feststellte, daß er mehr Geld besaß, als seine Kleidung andeutete.

Загрузка...