10 Widerstand

Zu Rands Füßen lagen tote Aiel und zwischen ihnen die Leichen dreier ganz durchschnittlich aussehender Männer mit unauffälligen Mänteln und Hosen. Total unauffällige Männer, und doch waren sechs Aiel, die gesamte Türwache, von ihnen getötet worden, ein paar davon offensichtlich, bevor sie überhaupt bemerkt hatten, was los war, und jeder dieser unauffälligen Männer war von mindestens zwei Aielspeeren durchbohrt worden.

Das war aber keineswegs alles. Sobald er die Tür aufzog, schlug eine Welle des Kampflärmes über ihn hinweg: Schreie, Heulen, das Dröhnen von Stahl auf Stahl unter den mächtigen Sandsteinsäulen. Die Verteidiger im Vorraum kämpften unter den vergoldeten Lampen um ihr blankes Leben gegen massige Gestalten in schwarzen Rüstungen, die sie um ein Beträchtliches überragten, Gestalten wie riesige Männer, doch mit Köpfen und Gesichtern, die von Hörnern und Federn verunstaltet waren, die Schnäbel oder Tierschnauzen aufwiesen, wo sich Mund und Nase befinden sollten. Trollocs. Man sah bei ihnen ebenso Pranken oder Hufe wie menschliche Füße mit Stiefeln daran. Sie hieben Männer mit ihren eigenartigen Dornenäxten nieder und mit Speeren, an denen sich Widerhaken befanden, oder mit Sichelschwertern, die sich seltsam nach der falschen Seite krümmten. Und unter ihnen war ein Myrddraal, ein Mann mit wurmblasser Haut unter schwarzem Panzer, der mit seinen geschmeidigen Bewegungen wie der leibhaftige Tod wirkte, dessen Skelett mit blutlosem Fleisch umhüllt war.

Irgendwo im Stein erklang ein Alarmgong, doch der dröhnende Klang erstarb mit erschreckender, tödlicher Plötzlichkeit. Dann nahm ein anderer den Alarmruf wieder auf und noch einer, und ihr Messingglockengeläut erschütterte den Stein.

Die Verteidiger kämpften verbissen, und sie waren den Trollocs gegenüber in der Überzahl, doch es lagen mehr Menschen am Boden als Trollocs. In dem Moment, als Rand das alles erblickte, riß der Myrddraal gerade dem tairenischen Hauptmann mit einer bloßen Hand die eine Gesichtshälfte ab, während er mit der anderen Hand eine tödlichschwarze Klinge durch den Hals eines der Verteidiger stieß. Wie eine Schlange wand er sich zwischen den Speerstichen der Verteidiger hindurch. Die Verteidiger standen einem Gegner gegenüber, den sie bisher für ein Märchenwesen gehalten hatten, einen Kinderschreck, und sie waren dementsprechend mit ihren Nerven am Ende. Ein Mann, der seinen Helm verloren hatte, warf seinen Speer zu Boden und versuchte zu fliehen. Sein Kopf wurde durch die schwere Axt eines Trollocs wie eine reife Melone zerteilt. Wieder ein anderer Mann sah den Myrddraal an und rannte schreiend davon. Der Myrddraal eilte geschmeidig hinterher, um ihn abzufangen. Noch einen winzigen Augenblick, und die Menschen würden alle vor Entsetzen davonlaufen.

»Blasser!« schrie Rand. »Versuch's mal mit mir, Blasser!« Der Myrddraal blieb stehen, als habe er sich nie bewegt. Sein bleiches, augenloses Gesicht wandte sich ihm zu. Bei diesem Blick überlief Rand die Angst, doch sie glitt lediglich über die Blase der kalten Ruhe, die ihn einhüllte, wenn er Saidin ergriffen hatte. In den Grenzlanden sagte man: »Der Blick des Augenlosen bedeutet Angst.« Einst hatte auch er geglaubt, daß die Blassen auf Schatten ritten wie auf Pferden und verschwanden, wenn sie sich zur Seite wandten. Diese alten Vorurteile waren gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.

Der Myrddraal glitt auf ihn zu, und Rand sprang über die Toten vor der Tür hinweg ihm entgegen. Seine Stiefel rutschten auf dem blutverschmierten, schlüpfrigen schwarzen Marmorboden weg. »Für den Stein von Tear!« schrie er beim Vorwärtsspringen. »Der Stein widersteht!« Das waren die Kampfrufe, die er in jener Nacht gehört hatte, als der Stein ihnen nicht widerstehen konnte.

Er glaubte, von dem gerade verlassenen Raum her den gedämpften Ruf: »Narr!« zu hören, aber er hatte jetzt keine Zeit, nach Lanfear zu sehen oder sich darum zu kümmern, was sie vorhatte. Das Ausrutschen kostete ihn beinahe das Leben. Als er um sein Gleichgewicht kämpfte, konnte er gerade noch mit seinem rotgoldenen Schwert die schwarze Klinge des Myrddraal abwehren. »Für den Stein von Tear! Der Stein widersteht!« Er mußte die Verteidiger zusammenhalten, damit er nicht allein dem Myrddraal und zwanzig Trollocs gegenüberstand. »Der Stein widersteht!« Er hörte, wie jemand seine Worte wiederholte: »Der Stein widersteht!« Und dann fiel ein weiterer ein: »Der Stein widersteht!« Der Blasse bewegte sich schlangengleich, und dieser Eindruck noch von den schwarzen Schuppen seines Brustpanzers wurde verstärkt. Doch nicht einmal eine schwarze Viper konnte so schnell zuschlagen. Eine Weile lang war Rand nur mit Mühe in der Lage, sich der schwarzen Klinge zu erwehren, damit sie seine ungeschützte Haut nicht traf. Dieses schwarze Metall würde Wunden schlagen, die nicht zuheilten, die eiterten und schmerzten wie jene Wunde, die er an der Seite trug. Jedesmal, wenn der dunkle Stahl, der in Thakandar im Schatten des Shayol Ghul geschmiedet worden war, auf die rotgoldene Klinge traf, die er mit Hilfe der Macht erschaffen hatte, blitzte es im Raum wie bei einem Gewitter auf. Das grelle Blauweiß tat den Augen weh. »Diesmal wirst du sterben!« Die Stimme des Myrddraal hörte sich an wie knisternd zerbröckelnde abgestorbene Blätter im Spätherbst. »Ich werde dein Fleisch den Trollocs zum Fressen geben, und deine Frauen werden mir gehören.« Rand kämpfte so kaltblütig und gleichzeitig verzweifelt wie noch nie. Der Blasse wußte mit seinem Schwert umzugehen. Dann kam jedoch ein Moment, in dem er mit Wucht das Schwert des anderen treffen konnte und nicht nur dessen Schlag abgleiten ließ. Es zischte, als fiele Eis auf geschmolzenes Metall, und die rotgoldene Klinge durchschnitt die schwarze. Sein nächster Schlag trennte den augenlosen Kopf von den Schultern. Der Schlag, mit dem er den Knochen des Myrddraal durchhackte, fuhr ihm selbst gewaltig in den Arm. Blut schoß wie ein Tintenstrahl aus dem Halsstumpf des Blassen. Trotzdem fiel das Ding noch nicht. Es fuchtelte wild mit dem Schwertstumpf herum, und so taumelte die kopflose Gestalt durch den Raum und hieb Löcher in die Luft.

Als der Kopf des Blassen fiel und über den Boden rollte, stürzten auch die übriggebliebenen Trollocs, kreischten, zuckten und rissen mit ihren fellbedeckten Händen an ihren Haaren oder Federn. Das war eine Schwäche der Myrddraal und Trollocs: Obwohl die Myrddraal den Trollocs nicht trauten, waren sie auf irgendeine Art mit ihnen verbunden, die Rand nicht verstand. Es schien die Trollocs an die Myrddraal zu binden, zur absoluten Loyalität zu zwingen, aber wenn der Blasse starb, überlebten ihn seine Trollocs nicht lange.

Die noch im Kampf befindlichen Verteidiger, weniger als zwei Dutzend, zögerten nicht. Zu zweit oder zu dritt stürzten sie sich auf die Trollocs und stachen mit ihren Speeren zu, bis sie sich nicht mehr rührten. Ein paar von ihnen hatten auch den kopflosen Myrddraal zu Fall gebracht, aber der schlug immer noch wild um sich, gleich, wie oft sie zustießen. Als die Trollocs still waren, hörte man das Stöhnen und Weinen der wenigen verwundet überlebenden Menschen. Immer noch lagen mehr Menschen als Schattenwesen auf dem Boden. Der schwarze Marmor war schlüpfrig vom Blut, das sich farblich kaum von dem dunklen Stein abhob.

»Laßt es sein«, sagte Rand zu den Verteidigern, die sich abmühten, den Myrddraal endgültig zu töten. »Es ist schon tot. Blasse wollen einfach nicht zugeben, daß sie tot sind.« Das hatte ihm Lan gesagt, vor, wie es schien, langer Zeit. Er hatte schon öfters den Beweis dafür gesehen. »Kümmert euch um die Verwundeten.« Sie blickten nervös die kopflose Gestalt an, deren Torso von klaffenden Wunden übersät war, schauderten und zogen sich zurück, wobei sie irgend etwas über Lurks vor sich hin murmelten. So nannte man die Blassen in Tear, und zwar in Märchen, mit denen man Kinder erschrecken wollte. Einige suchten nun unter den gefällten Menschen nach denen, die noch am Leben waren, halfen ihnen auf die Beine oder betteten sie bequemer auf herumliegende Umhänge. Nur zu viele blieben liegen, wo sie gefallen waren. Man konnte den Verwundeten jetzt nicht mehr bieten als von ihren eigenen blutigen Hemden abgerissene Streifen, mit denen man die Wunden notdürftig verband.

Jetzt sahen diese Tairener nicht mehr so hübsch aus wie vorher. Ihr Harnisch glänzte nicht mehr und war verbeult und eingedellt; die einst so schönen schwarzroten Mäntel und Hosen waren zerrissen und schmutzig. Einige trugen keine Helme mehr und manch einer stützte sich auf seinen Speer, als könne ihn nur der allein noch aufrecht halten. Vielleicht war es tatsächlich so. Sie atmeten schwer, und ihre Gesichter waren verzerrt von dieser eigenartigen Mischung von nackter Angst und blinder Betäubung, die Männer in der Schlacht oft ergreift. Sie sahen Rand unsicher an. Ihre Blicke waren unstet und ängstlich, als könne es sein, daß er selbst diese Kreaturen aus der Fäule herbeigerufen habe.

»Wischt Eure Speerspitzen ab«, sagte er ihnen. »Das Blut eines Blassen brennt sich wie Säure in Stahl, falls es lange genug daran klebt.« Die meisten kamen dem Befehl nur langsam nach, benützten zögernd alles, was zu Hand war, vor allem die Mantelärmel ihrer eigenen Toten.

Die Geräusche weiterer Kämpfe drangen durch die Gänge, ferne Schreie und das gedämpfte Dröhnen von Metall auf Metall. Sie hatten ihm zweimal gehorcht, und nun war es an der Zeit, festzustellen, ob sie noch mehr tun würden. Er wandte ihnen den Rücken zu und ging durch den Vorraum in Richtung des Kampflärms. »Folgt mir«, befahl er. Er hob seine aus dem Feuer geborene Klinge, um sie daran zu erinnern, wer er war, und hoffte, daß ihm diese Geste keinen Speer in den Rücken einbringen würde. Er mußte es riskieren. »Der Stein widersteht! Für den Stein von Tear!« Einen Moment lang waren seine eigenen hallenden Schritte das einzige Geräusch unter den Säulen des Raums, aber dann begannen andere Stiefeltritte, ihm zu folgen. »Für den Stein!« rief ein Mann, und ein anderer: »Für den Stein und den Drachen!« Weitere Männerstimmen nahmen den Ruf auf. »Für den Stein und den Drachen!« Rand begann zu laufen, und so führte er sein blutendes Herr von dreiundzwanzig Soldaten tiefer in den Stein hinein.

Wo war Lanfear, und welche Rolle hatte sie bei dem allen gespielt? Er hatte kaum Zeit zu überlegen. In den Sälen des Steins lagen tote Männer in ihrem eigenen Blut, hier einer, weiter hinten zwei oder drei, Verteidiger, Diener, Aiel. Auch Frauen, Adelige in Linnengewändern und in Wolle gekleidete Dienerinnen, die man niedergestreckt hatte, als sie zu fliehen versuchten. Den Trollocs war es gleich, wen sie töteten. Es machte ihnen Spaß. Myrddraal waren aber noch schlimmer. Die Halbmenschen genossen Schmerz und Tod geradezu.

Ein Stückchen weiter drinnen im Stein brodelte es. Horden von Trollocs zogen durch die Säle, manchmal von einem Myrddraal angeführt, manchmal allein, kämpften gegen Aiel oder Verteidiger, erstachen Unbewaffnete und zogen weiter auf der Suche nach Menschen, die sie töten konnten. Rand führte seine kleine Streitmacht gegen alle Schattenwesen, die er antraf. Sein Schwert schnitt mit gleicher Leichtigkeit durch halbmenschliches Fleisch wie durch schwarze Harnische. Nur die Aiel allerdings wagten es, sich einem Blassen offen im Kampf zu stellen. Die Aiel und Rand. Er überließ die Trollocs den Verteidigern und griff statt dessen Blasse an. Manchmal nahm ein Myrddraal im Sterben ein oder zwei Dutzend Trollocs mit in den Tod, manchmal auch keinen.

Einige seiner Verteidiger fielen und standen nicht mehr auf, aber dafür schlossen sich ihnen ein paar Aiel an, so daß sich ihre Anzahl beinahe verdoppelte. Gruppen von Männern fielen von ihnen ab, als die wütenden Gefechte sie unter Schreien und dem Dröhnen aufeinandertreffender Schwerter wie in einer irren Schmiede von ihnen wegführten. Andere Männer kamen dafür hinzu, fielen wieder ab, wurden ersetzt, und so befand sich schließlich niemand von denen mehr bei ihm, die ursprünglich mit ihm gegangen waren. Manchmal kämpfte er auch ganz allein oder rannte durch einen Gang, der bis auf ihn und die Toten leer war. Immer folgte er dem Lärm entfernter Gefechte.

Einmal, als er mit zweien der Verteidiger einen Säulengang durchschritt, der den Blick nach unten in einen langen Saal mit vielen Türen freigab, sah er Moiraine und Lan, die von Trollocs umzingelt waren. Die Aes Sedai stand mit hoch erhobenem Kopf da wie eine der sagenhaften Königinnen in der Schlacht, und um sie herum barst Feuer aus tierähnlichen Gestalten. Während die einen verbrannten, kamen bereits weitere herbei, eilten zu sechst oder zu siebt aus einer der vielen Türen. Lans Schwert erledigte diejenigen, die Moiraines Flammen entkamen. Das Gesicht des Behüters war über und über mit Blut beschmiert, doch er vollführte die so lange geübten Fechtfiguren so kühl und selbstverständlich, als übe er lediglich vor einem Spiegel. Dann stieß ein wolfsschnäuziger Trolloc seinen Speer in Richtung auf Moiraines Rücken. Lan wirbelte herum, als hätte er auch hinten Augen und hackte dem Trolloc ein Bein unter dem Knie ab. Der Trolloc stürzte jaulend zu Boden, stieß aber trotzdem noch einmal mit dem Speer nach Lan. Im gleichen Moment versuchte ein anderer, den Behüter ungeschickt mit der Flachseite seiner Axt niederzuschlagen. Lan ging in die Knie.

Rand konnte ihnen nicht zur Hilfe kommen, denn in diesem Augenblick wurden er und seine beiden Begleiter von fünf Trollocs angefallen. Mit ihren Schnauzen und Hauern und Hammelhörnern stürmten sie heran und drückten die Menschen erst einmal aus dem Säulengang hinaus. Normalerweise wären fünf Trollocs mit Leichtigkeit in der Lage gewesen, drei Männer zu töten, doch einer dieser Männer war Rand, und er besaß ein Schwert, das ihre Rüstungen zu bloßem Tuch werden ließ. Einer der beiden Verteidiger starb, und der andere verschwand auf der Jagd nach einem verwundeten Trolloc, dem einzigen Überlebenden der fünf. Als Rand zurückeilte, roch er aus dem Saal unten verbranntes Fleisch und sah auf dem Fußboden einige mächtige verschmorte Leichen, doch von Moiraine und Lan war nichts mehr zu sehen.

So spielte sich der Kampf um den Stein ab. Oder der Kampf um Rands Leben. Gefechte brachen aus und trieben von ihrem ursprünglichen Ort hinweg oder erstarben ganz, wenn eine Seite gefallen war. Die Menschen kämpften dabei nicht nur gegen Trollocs und Myrddraal, sondern auch gegen andere Menschen, denn Seite an Seite mit den Schattenwesen fochten auch menschliche Schattenfreunde, grob gekleidete Burschen, die aussahen wie Söldner oder wie die typischen Tavernenraufer. Sie hatten offensichtlich genauso vor den Trollocs Angst wie die Verteidiger, aber sie mordeten genauso ungehemmt wie die Schattenabkömmlinge. Zweimal sah Rand sogar Kämpfe von Trollocs untereinander. Er nahm an, daß die Myrddraal die Kontrolle über sie verloren hatten und daß sie nur noch von ihrer Mordlust beherrscht wurden. Aber wenn sie sich gegenseitig umbringen wollten — bitte schön.

Dann war er wieder allein und kam auf seiner Suche um eine Ecke und stand plötzlich vor drei Trollocs. Jeder von ihnen war doppelt so breit und um die Hälfte größer als er. Einer von ihnen — mit einem gekrümmten Adlerschnabel in einem ansonsten menschlichen Gesicht — hackte gerade einen Arm von der Leiche einer tairenischen Lady, während die beiden anderen gespannt zusahen und sich die Schnauzen erwartungsvoll leckten. Trollocs fraßen alles, solange es nur Fleisch war. Ob nun sie oder er von diesem Zusammentreffen mehr überrascht waren — jedenfalls erholte er sich schneller von dem Schreck.

Derjenige mit dem Adlerschnabel fiel unter Rands erstem Streich. Panzer und Bauch waren gleichermaßen aufgeschnitten. Eigentlich hätte die Fechtfigur ›Eidechse im Dornbusch‹ für die beiden anderen gereicht, doch der erste Trolloc schlug im Sterben noch um sich und trat Rand beinahe einen Fuß weg, so daß er ins Stolpern kam. Sein Schlag in Richtung des dritten Trollocs ging daneben und schnitt nur dessen Rüstung auf, während der zweite im Stürzen mit ins Leere schnappendem Wolfsrachen direkt auf ihn fiel. Der schwere Körper des Trollocs riß Rand mit zu Boden und begrub ihn halb unter sich. Schwertarm und Schwert waren darunter eingeklemmt. Der überlebende Trolloc hob seine Dornenaxt, und trotz seiner Keilerschnauze und den dicken Hauern verzerrte sich sein Gesicht zu einer Art von Lächeln. Rand rang um Luft und bemühte sich, unter dem toten Trolloc hervorzukriechen.

Ein sichelgleiches Schwert spaltete den Keilerkopf bis zum Hals hinunter.

Ein vierter Trolloc riß sein Schwert aus dem Körper des anderen und knurrte ihn mit gefletschten Bockszähnen an. Die Ohren neben den Hörnern zuckten. Dann rannte er weg. Seine scharfen Hufe klapperten auf den Fußbodenkacheln.

Rand hievte den Körper des toten Trollocs halb betäubt von sich herunter. Ein Trolloc hat mich gerettet. Ein Trolloc? Er war über und über mit dickem, dunklem Trollocblut beschmiert. Weiter unten im Gang, in entgegengesetzter Richtung zu der, in der der Trolloc mit den Bockshörnern geflüchtet war, blitzte es blauweiß auf, und zwei Myrddraal kamen in Sicht. Sie kämpften mit nicht endenwollenden, fließenden Bewegungen gegeneinander! Der eine drängte den anderen in einen Seitenkorridor, und das immer wieder aufblitzende Licht verschwand aus seiner Sicht. Ich bin verrückt! Das muß es sein. Ich bin verrückt und das ist alles nur ein wahnwitziger Traum.

»Du riskierst wirklich alles, wenn du so wild mit diesem... diesem Schwert herumrennst.« Rand wandte sich zu Lanfear um. Sie hatte sich wieder das Aussehen eines Mädchens zugelegt, nicht älter als er selbst, vielleicht sogar jünger. Sie hob ihren weißen Rock etwas an, um über den zerhackten Körper der tairenischen Lady hinwegsteigen zu können. Ihrem unbeteiligten Gesichtsausdruck nach hätte es auch ein Baumstamm sein können.

»Du baust dir eine Hütte aus Reisig«, sagte sie, »wenn du statt dessen mit einem Fingerschnippen Marmorpaläste haben könntest. Du hättest sie töten und ihnen das bißchen Seele nehmen können, das ein Trolloc besitzt, und doch hättest du dich beinahe von ihnen umbringen lassen. Du mußt lernen. Schließ dich mir an!« »War das dein Werk?« wollte er wissen. »Dieser Trolloc, der mich gerettet hat? Diese Myrddraal? Stimmt's?« Sie überlegte einen Augenblick lang und dann schüttelte sie ein wenig bedauernd den Kopf. »Wenn ich das für mich beanspruche, wirst du das nächstemal wieder auf so etwas warten, und das könnte sich als tödlich erweisen. Keiner der anderen ist sich vollkommen sicher, wo ich eigentlich stehe, und das paßt mir. Du kannst von mir keine offene Unterstützung erwarten.« »Deine Unterstützung erwarten?« grollte er. »Du willst mich zum Schatten bekehren. Du willst mich mit schönen Worten davon ablenken, was du bist.« Er griff nach der Macht, und sie wurde so hart gegen einen Wandbehang geschleudert, daß sie aufstöhnte. Er hielt sie dort fest, mit gespreizten Beinen über einer gewebten Jagdszene hängend, die Füße ein paar Handbreit über dem Boden und das schneeweiße Kleid ausgebreitet und flach angedrückt. Wie hatte er nur Egwene und Elayne abgeschirmt? Er mußte sich daran erinnern.

Plötzlich flog er selbst durch den Gang und krachte gegen die gegenüberliegende Wand. Irgend etwas drückte ihn wie ein lästiges Insekt dagegen und erlaubte ihm kaum zu atmen.

Lanfear schien mit dem Luftholen keinerlei Schwierigkeiten zu haben. »Was du auch tun kannst, Lews Therin, das kann ich auch. Und sogar besser.« Obwohl sie an die Wand gepreßt war, schien sie von allem unberührt. In der Nähe erhob sich neuer Kampfeslärm, und dann wurde er wieder schwächer, als sich die Kämpfenden entfernten. »Du benützt nur den kleinsten Teil dessen, was dir zur Verfügung steht, und auch den nur zur Hälfte. Und dann rennst du weg vor dem, was dir ermöglichen würde, alle deine Gegner zu vernichten. Wo ist Callandor, Lews Therin? Immer noch oben in deinem Schlafzimmer wie nutzloser Zierat? Glaubst du, daß nur deine Hand es führen kann, nun, da du es befreit hast? Falls Sammael hier ist, wird er es an sich nehmen und gegen dich einsetzen. Sogar Moghedien würde es nehmen, damit du es nicht benützen kannst. Sie könnte viel gewinnen, wenn sie es einem der männlichen Erwählten zum Tausch anböte.« Er kämpfte gegen die Kraft an, die ihn festhielt, doch nichts außer seinem Kopf bewegte sich. So drehte er den wütend nach der einen und dann nach der anderen Seite. Callandor in den Händen eines der männlichen Verlorenen: der Gedanke machte ihn verrückt vor Angst und Frustration. Er lenkte die Macht und versuchte, sich von dem loszureißen, was ihn band, fand aber nichts. Und dann war es mit einem Schlag weg und er taumelte von der Wand fort, bis er endlich begriff, daß er frei war. Und er hatte nichts dazu beigetragen.

Er sah Lanfear an. Sie hing noch immer in aller Ruhe dort, als nähme sie ein Sonnenbad neben einem Bach. Sie versuchte natürlich, ihn einzulullen, ihn dazu zu bringen, daß er ihr gegenüber schwach wurde. Er zögerte, als er die Stränge der Macht kontrollierte, die sie festhielten. Falls er sie abnabelte und einfach dort hängen ließ, würde sie vielleicht den halben Stein einreißen, wenn sie sich mit Gewalt zu befreien suchte — falls sie nicht von einem vorbeikommenden Trolloc getötet würde, der glaubte, sie sei eine aus dem Stein. Es hätte ihn eigentlich nicht beunruhigen sollen, wenn eine der Verlorenen starb, aber der Gedanke daran, eine Frau oder überhaupt irgend jemanden hilflos den Trollocs zu überlassen, stieß ihn ab. Ein Blick auf ihre gelassene Miene allerdings ließ diesen Gedanken schnell verfliegen. Niemand und nichts im Stein würde ihr etwas antun, solange sie die Macht benutzen konnte. Wenn er Moiraine aufspüren könnte, um sie abzuschirmen...

Noch einmal nahm ihm Lanfear die Entscheidung ab. Das Reißen seiner eigenen Stränge schüttelte ihn kräftig durch, und sie fiel leichtfüßig herunter. Er machte große Augen, als sie von der Wand wegtrat und ruhig ihren Rock glattstrich. »Das kannst du nicht tun«, stotterte er dümmlich, und sie lächelte.

»Ich muß einen Strang nicht sehen, um ihn zu lösen, sobald ich weiß, was und wo es ist. Siehst du, du mußt eben noch viel lernen. Aber so gefällst du mir. Du warst immer zu stur und selbstsicher. Es war immer besser, wenn du dir deiner selbst nicht so sicher warst. Hast du also Callandor vergessen?« Er zögerte noch. Da stand eine der Verlorenen vor ihm.

Und es gab absolut nichts, was er tun konnte. Schließlich drehte er sich um und lief los, Callandor zu holen. Ihr Lachen schien ihm zu folgen.

Diesmal ließ er sich nicht ablenken und versuchte nicht, Trollocs und Myrddraal zu bekämpfen. Er verlangsamte sein wildes Klettern durch den Stein nur, wenn sie sich ihm in den Weg stellten. Dann öffnete sein aus Flammen geschmiedetes Schwert einen Weg für ihn. Er sah Perrin und Faile. Er trug die Axt in der Hand, und sie deckte mit ihren Messern seinen Rücken. Die Trollocs schienen genauso beim Anblick seiner gelben Augen zu zögern wie beim Anblick seiner Axt. Rand ließ sie zurück, ohne sich noch einmal umzublicken. Falls einer der Verlorenen Callandor in die Hände bekam, würde keiner von ihnen mehr die Sonne aufgehen sehen.

Atemlos stürzte er zwischen den mächtigen Säulen des Vorraums hindurch und sprang über die Leichen hinweg, die immer noch dort lagen. Verteidiger und Trollocs lagen da im Tod vereint. Er warf beide Türflügel auf. Das Schwert, Das Kein Schwert War hing in seinem vergoldeten und mit Gemmen besetzten Ständer und leuchtete im Schein der untergehenden Sonne. Es wartete auf ihn.

Jetzt, da er es sah und in Sicherheit wußte, fiel es ihm schwer, es zu berühren. Einmal bisher hatte er Callandor so benützt, wie es eigentlich sein sollte. Nur einmal. Er wußte, was ihn erwartete, wenn er es wieder aufnahm, wenn er es gebrauchte, um viel mehr Energie aus der Wahren Quelle zu schöpfen, als ein Mensch ohne Hilfe fertigbrachte. Es fiel ihm auch ungeheuer schwer, seine rotgoldene Klinge wieder verschwinden zu lassen, und als es geschah, hätte er sie beinahe zurückgeholt.

Er schlurfte zögernd um die Leiche des Grauen Mannes herum und legte seine Hände langsam um den Griff Callandors. Er war kalt, wie ein Kristall, der lange im Dunkeln geruht hatte, aber er war auch nicht so glatt, daß er seinem Griff hätte entschlüpfen können.

Ein Gefühl ließ ihn aufblicken. An der Tür stand zögernd ein Blasser, den augenlosen Blick aus seinem bleichen Gesicht auf Callandor gerichtet.

Rand zog Saidin an sich. Callandor, das Schwert, Das Kein Schwert War, flammte in seinen Händen auf, als enthalte es den Mittagssonnenschein. Die Macht erfüllte ihn, schlug wie mächtiger Donner über ihm zusammen. Das süße Verderben in Saidin durchströmte ihn wie eine schwarze Flut. Geschmolzener Fels pulsierte durch seine Adern. Die Kälte in ihm hätte die Sonne erfrieren lassen können. Er mußte die Macht benützen, oder er würde bersten wie eine überreife Melone.

Der Myrddraal wandte sich zur Flucht, und plötzlich fielen die schwarzen Kleider und der Harnisch leer zu Boden und hinterließen nur in der Luft schwebende ölige Staubteilchen.

Rand war sich selbst nicht einmal im klaren darüber, daß er mit der Macht gearbeitet hatte, bis es vorbei war. Er hätte auch nicht mehr sagen können, was er eigentlich angestellt hatte, und wenn auch sein Leben davon abhinge. Doch nichts konnte sein Leben gefährden, solange er Callandor in der Hand hielt. Die Macht durchpulste ihn wie der Herzschlag der Welt. Mit Callandor in Händen würde ihm alles gelingen. Die Macht hämmerte auf ihn ein; ein Hammer, der Berge zerhauen konnte. Ein dünner Faden der Macht riß die durch die Luft treibenden Überreste des Myrddraal mit sich in den Vorraum hinaus, genau wie seine Kleidung und den Harnisch. Ein weiterer winziger Machtstrom ließ alles in Flammen aufgehen. Er schritt hinaus, um die zu jagen, die gekommen waren, ihn zu töten.

Ein paar davon waren immerhin bis zum Vorraum gekommen. Ein weiterer Blasser und eine Gruppe ängstlichgeduckter Trollocs standen auf der anderen Seite der Säulen und starrten die Ascheteilchen an, die durch die Luft flogen, die letzten Überreste des Myrddraal und seiner Kleidung. Beim Anblick Rands mit einem hell aufflammenden Callandor in der Hand heulten die Trollocs wie Tiere. Der Blasse stand vor Schreck wie gelähmt da. Rand ließ ihnen keine Chance wegzurennen. Er behielt seinen gemächlichen, zielbewußten Schritt bei, sammelte genug Macht in sich, und plötzlich prasselten aus dem blanken, schwarzen Marmorboden unter den Schattenwesen Flammen empor, so heiß, daß er die Hand hob, um sich dagegen zu schützen. Als er sie erreicht hatte, verschwanden die Flammen wieder, und nichts blieb von ihnen zurück als geschwärzte stumpfe Flecken auf dem Marmor.

Er ging den Weg zurück hinunter in den Stein, und jeder Trolloc, jeder Myrddraal, den er sah, starb in einem Feuersturm. Er verbrannte sie, ob sie nun gerade gegen Aiel oder Tairener kämpften oder ob sie Diener dahinschlachteten, die sich notdürftig mit Speeren und Schwertern verteidigten, die sie neben den Leichen gefunden hatten. Er verbrannte sie im Laufen, ob sie nun hinter Opfern herrannten oder selbst flohen. Er begann, sich schneller zu bewegen, im Laufschritt, dann hastend, vorbei an den Verwundeten, die oft alleingelassen und hilflos dalagen, vorbei an den Toten. Es reichte nicht, er kam einfach nicht schnell genug voran. Während er einen Trolloc nach dem anderen tötete, mordeten andere noch immer, wenn auch manchmal nur, um zu entkommen.

Plötzlich blieb er in einem breiten Korridor stehen, von Leichen umgeben. Er mußte etwas tun — mehr als bisher. Die Macht durchströmte seine Knochen mit der Urgewalt des Feuers. Noch mehr. Die Macht ließ sein Mark zu Eis erstarren. Etwas, um sie alle zu töten, alle auf einmal. Das süße Verderben in Saidin überrollte ihn wie ein Berg verfaulenden Unrats, der seine Seele unter sich begraben wollte. Er hob Callandor und zog Energie aus der Quelle, immer mehr und mehr, bis ihm schien, er müsse schreien, Schreie gefrorener Flammen ausstoßen. Er mußte sie alle töten.

Ganz oben unter der Decke, geradewegs über seinem Kopf, begann sich ein Luftwirbel zu bilden, drehte sich schneller, wirbelte in roten und schwarzen und goldenen Streifen um die eigene Achse. Dann brach der Wirbel in sich zusammen, kochte noch stärker auf, jaulte beim Herumwirbeln und wurde immer noch kleiner.

Schweiß rann Rand über das Gesicht, als er angestrengt nach oben blickte. Er hatte keine Ahnung, was das war, spürte aber, daß ihn unzählige Stränge der Macht mit dieser wirbelnden Masse verbanden. Sie hatte wirklich eine eigene Masse, und ihr Gewicht wurde immer größer, während sie in sich zusammensank. Callandor flammte immer heftiger und heller auf. Es war zu hell, um es noch ansehen zu können. Er schloß die Augen, und das Licht schien ihm durch die geschlossenen Lider zu brennen. Die Macht durchtobte ihn. Der rasende Strom drohte, ihn selbst, sein ganzes Wesen, mitzuschwemmen und in das Herumwirbeln hineinzuziehen. Er mußte loslassen. Er mußte. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und es war, als sehe er alle Gewitter der Welt auf einmal, auf die Größe eines Trolloc-Kopfes reduziert. Er mußte... mußte... mußte...

Jetzt. Der Gedanke trieb wie ein gackerndes Lachen am Rande seines Bewußtseins entlang. Er zertrennte die Stränge, die sich von ihm wegzogen, und ließ das Ding weiterwirbeln und jaulen wie ein Bohrer, der sich in einen Knochen hineinsägt. Jetzt.

Und dann zuckten die Blitze auf, rasten wie silberne Ströme nach links und rechts die Decke entlang. Ein Myrddraal trat aus einem Seitengang, und bevor er noch zurückweichen konnte, stachen ein halbes Dutzend flammender Speerspitzen von oben herunter und zerfetzten ihn. Die anderen Lichtströme rasten weiter, verteilten sich in jeden abzweigenden Korridor, wurden durch weitere ersetzt, und mehr und mehr Explosionen ertönten im Stein.

Rand fand keinen Hinweis darauf, was er getan hatte oder wie das zugehen mochte. Er konnte einfach nur dastehen und zittern unter dem Druck der Macht, die ihn erfüllte und dazu zwingen wollte, sie zu benützen. Selbst, wenn sie ihn dabei vernichtete. Er fühlte, wie Trollocs und Myrddraal starben, fühlte die Blitze zuschlagen und töten. Er konnte sie nun überall töten, überall auf der Welt. Das war ihm klar. Mit Callandor brachte er alles fertig. Und ihm war auch klar, daß er bei dem Versuch selbst genauso sicher sterben müßte.

Die Blitze verblaßten und erstarben mit den letzten der Schattenwesen. Die herumwirbelnde Masse stürzte mit einem lauten Schlag in sich zusammen, als die Luft hineinströmte. Doch Callandor gleißte immer noch wie die Sonne. Die Macht schüttelte ihn.

Moiraine war da, nur ein Dutzend Schritte entfernt, und sah ihn an. Ihr Kleid machte einen ordentlichen Eindruck. Jede Falte aus blauer Seide war am rechten Fleck, nur ein paar Strähnen ihres Haares waren verwirrt. Sie sah müde aus — und erschrocken. »Wie...? Was Ihr vollbracht habt, hätte ich nicht für möglich gehalten.« Lan erschien. Im Laufschritt kam er den Gang herauf, das Schwert in der Hand, das Gesicht blutverschmiert, die Kleidung zerrissen. Ohne den Blick von Rand zu wenden, streckte Moiraine eine Hand aus und brachte Lan kurz vor sich zum Stehen, ein gutes Stück von Rand entfernt. Als sei er so gefährlich, daß sich nicht einmal Lan ihm nähern dürfe. »Geht es... Euch gut, Rand?« Rand riß seinen Blick von ihr los, und er fiel auf den Körper eines dunkelhaarigen Mädchens, kaum mehr als ein Kind. Sie lag auf dem Rücken, die Augen weit aufgerissen und zur Decke gewandt, während Blut das Mieder ihres Kleides dunkel färbte. Traurig beugte er sich herunter und wischte ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Licht, sie ist doch nur ein Kind. Ich bin zu spät gekommen. Warum habe ich nicht früher angefangen? Ein Kind!

»Ich werde dafür sorgen, daß sich jemand um sie kümmert, Rand«, sagte Moiraine mit sanfter Stimme. »Ihr könnt ihr jetzt nicht helfen.« Seine Hand, mit der er Callandor hielt, zitterte derart, daß er das Schwert kaum noch halten konnte. »Hiermit kann ich alles vollbringen.« Seine Stimme klang sogar in den eigenen Ohren hart. »Alles!« »Rand!« sagte Moiraine mahnend.

Er wollte nicht hören. Die Macht erfüllte ihn. Callandor gleißte, und er war die Macht. Er lenkte Ströme in den Körper des Kindes hinein, suchte, probierte, bewegte sie in ihrem Innern herum. Sie stand schwankend und mit ruckartigen Bewegungen auf, die Arme und Beine unnatürlich steif.

»Rand, das könnt Ihr nicht tun! Nicht das!« Atmen. Sie muß atmen. Die Brust des Mädchens hob und senkte sich. Herz. Muß schlagen. Blut, daß bereits zähflüssig und dunkel war, quoll aus der Wunde an ihrer Brust. Lebe. Lebe, seng Dich! Ich wollte nicht zu spät kommen. Ihre Augen starrten ihn an. Verschleiert. Leblos. Unbeachtet rannen ihm Tränen über die Wangen. »Sie muß leben! Heilt sie, Moiraine. Ich weiß nicht, wie! Heilt sie!« »Den Tod kann man nicht heilen, Rand. Du bist nicht der Schöpfer.« Rand blickte in diese toten Augen und ließ langsam die Ströme der Macht absterben. Der Körper fiel steif zu Boden. Die Leiche. Er warf den Kopf zurück und heulte so wild wie ein Trolloc. Gebündelte Feuerstrahlen schlugen in Wände und Decke, als er sich enttäuscht und voller Schmerz Luft machte.

Er sackte in sich zusammen und ließ Saidin fahren, schob es weg von sich. Es war, als schiebe er einen Felsblock zur Seite, als schiebe er das Leben selbst von sich. Mit der Macht verließ ihn auch die Stärke. Nur dieses süße Verderben blieb wie ein Schmutzfleck, der ihn durch Dunkelheit und Schatten niederdrückte. Er mußte Callandor auf die Fußbodenkacheln stellen und sich daraufstützen, um auf den Beinen zu bleiben.

»Die anderen.« Das Sprechen fiel ihm schwer; sein Hals schmerzte. »Elayne, Perrin, alle die anderen? Kam ich für sie auch zu spät?« »Ihr seid nicht zu spät gekommen«, sagte Moiraine ruhig. Aber sie hatte sich ihm immer noch nicht genähert und Lan wirkte, als sei er bereit, sich zwischen sie und Rand zu werfen. »Ihr dürft nicht... « »Sind sie noch am Leben?« schrie Rand.

»Sie leben«, versicherte sie ihm.

Er nickte erschöpft und erleichtert zugleich. Er bemühte sich, die Leiche des Mädchens nicht mehr anzusehen. Drei Tage abgewartet wegen ein paar heimlicher Küsse. Hätte er vor drei Tagen bereits etwas unternommen... Und doch hatte er während dieser drei Tage einiges gelernt, was nützlich werden konnte, wenn er alles richtig verarbeitete und in den Griff bekam. Falls. Wenigstens war er nicht zu spät gekommen, was das Leben seiner Freunde betraf. Wenigstens das hatte er erreicht. »Wie sind die Trollocs hereingekommen? Ich glaube nicht, daß sie wie die Aiel die Mauern hochgeklettert sind. Außerdem war ja noch heller Tag. Wie spät ist es eigentlich?« Er schüttelte den Kopf, um ein wenig klarer denken zu können. »Spielt keine Rolle. Die Trollocs. Wie?« Lan war derjenige, der ihm darauf antwortete: »Acht große Getreideleichter machten diesen Nachmittag im Hafen des Steins fest. Offensichtlich hat niemand daran gedacht, sich zu fragen, wieso vollbeladene Getreideschiffe den Fluß hinunter fuhren« — seine Stimme triefte vor Verachtung — »oder warum sie gerade am Stein festmachten, oder warum die Besatzungen die Luken beinahe bis Sonnenuntergang geschlossen ließen. Dann erschien auch ein Planwagenzug, das war vor etwa zwei Stunden, mit dreißig Wagen, die angeblich die Einrichtung eines Lords vom Land zurücktransportierten, da dieser sich wieder im Stein niederlassen wolle. Als die Planen zurückgeschlagen wurden, steckten auch sie voll Trollocs und Halbmenschen. Falls sie noch aus einer anderen Richtung Verstärkung erhielten, habe ich das bisher nicht erfahren.« Rand nickte wieder, und selbst diese Anstrengung ließ ihn in die Knie gehen. Plötzlich war Lan bei ihm und zog Rands Arm über die eigene Schulter, um ihn zu stützen. Moiraine nahm sein Gesicht in die Hände. Ein Schauer durchlief ihn, nicht die eisige Kälte einer totalen Heilung, aber ein Schauer, die die Ermüdung mit sich nahm, als er verflog. Den größten Teil seiner Erschöpfung jedenfalls. Ein kleiner Teil verblieb, als habe er den ganzen Tag über mit der Hacke auf dem Tabaksfeld geschafft. Er zog seinen Arm von Lans Schultern, da er diese Stütze nun nicht mehr benötigte. Lan beobachtete ihn mißtrauisch, weil er wohl nicht sicher war, ob Rand wieder allein stehen konnte, oder vielleicht auch, weil der Behüter sich nicht im klaren darüber war, wie gefährlich und inwieweit er überhaupt noch normal sei.

»Ich habe absichtlich nicht alle Erschöpfung von Euch genommen«, sagte Moiraine zu ihm. »Ihr müßt unbedingt heute nacht schlafen.« Schlafen. Es gab zuviel zu tun, um einfach zu schlafen. Aber er nickte erneut. Er wollte nicht, daß sie ihn beschattete. Doch dann sagte er: »Lanfear war da. Das hier hatte aber nichts mit ihr zu tun. Das sagte sie, und ich glaube ihr. Ihr scheint nicht überrascht, Moiraine?« Wäre sie von Lanfears Angebot überrascht? Konnte überhaupt irgend etwas sie überraschen? »Lanfear war hier und ich habe mit ihr gesprochen. Sie hat nicht versucht, mich zu töten, und ich habe nicht versucht, sie zu töten. Und Ihr seid gar nicht überrascht.« »Ich bezweifle, daß Ihr in der Lage wärt, sie zu töten. Noch nicht.« Ihr Blick in Richtung Callandor war nicht mehr als ein kurzes Zucken ihrer Augen. »Nicht ohne Hilfe. Und ich bezweifle, daß sie Euch töten will. Wir wissen nur sehr wenig über die Verlorenen und über Lanfear am wenigsten von allen, aber es ist klar, daß sie Lews Therin Telamon liebte. Es wäre sicher vermessen, zu behaupten, Ihr wärt vor ihr sicher, denn es gibt eine Menge Dinge, mit denen sie Euch schaden könnte, ohne Euch gleich umzubringen, aber ich glaube nicht, daß sie versuchen wird, Euch zu töten, solange sie hofft, Lews Therin zurückzugewinnen.« Lanfear wollte ihn haben. Die Tochter der Nacht, deren Name von Müttern benützt wurde, die gerade soweit an ihre Existenz glaubten, um ihre Kinder damit zu erschrecken. Er hatte jedenfalls Angst vor ihr. Es reichte beinahe, ihn zum Lachen zu bringen. Er hatte immer Schuldgefühle, wenn er eine andere Frau ansah als Egwene, und Egwene wollte ihn gar nicht haben, aber zumindest die Tochter-Erbin von Andor wollte ihn küssen, und eine der Verlorenen behauptete, ihn zu lieben. Das reichte doch wirklich beinahe, um einen Mann zum Lachen zu bringen, aber eben doch nur beinahe. Lanfear schien auf Elayne eifersüchtig zu sein. Sie hatte sie eine Schlampe mit hellen Haaren genannt. Wahnsinnig. Reiner Wahnsinn.

»Morgen.« Er schritt langsam weg.

»Morgen?« fragte Moiraine.

»Morgen sage ich Euch, was ich zu unternehmen gedenke.« Einen Teil davon würde er ihr sagen. Wenn er sich Moiraines Gesicht vorstellte, falls er ihr alles sagte, hätte er am liebsten gelacht. Falls ihm selbst überhaupt alles klar war. Lanfear hatte ihm unbewußt den letzten Hinweis gegeben. Nur noch ein weiterer Schritt heute abend. Die Hand, die Callandor hielt, zitterte. Damit konnte er alles vollbringen. Ich bin noch nicht wahnsinnig. Nicht verrückt genug dafür. »Morgen. Eine gute Nacht uns allen, falls das Licht es gestattet.« Morgen würde er damit beginnen, eine andere Art von Blitz zu schleudern. Eine Art von Blitz, die ihn vielleicht retten konnte. Oder töten. Aber wahnsinnig war er jedenfalls noch nicht.

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