18 In die Kurzen Wege

Perrin knöpfte sich die Jacke zu und stand dann noch einen Augenblick lang da, um die Axt zu betrachten, die an der Wand befestigt hing, seit er sie aus der Tür herausgezogen hatte. Ihm paßte der Gedanke überhaupt nicht, sie wieder als Waffe zu tragen, aber er band den Gürtel vom Haken los und legte ihn sich trotzdem an. Den Hammer band er auf seine prall gefüllten Satteltaschen. Alsdann schulterte er Satteltaschen und Deckenrolle, nahm den gefüllten Köcher und holte seinen unbespannten Langbogen aus der Ecke hervor.

Die Hitze und das grelle Licht der aufgehenden Sonne drangen durch die engen Fensteröffnungen. Das zerwühlte Bett war das einzige Anzeichen dafür, daß hier jemand gewohnt hatte. Das Zimmer machte einen verlassenen Eindruck, roch sogar irgendwie leer, obwohl er seinen Körpergeruch noch auf den Bettlaken wittern konnte. Er blieb nirgendwo lange genug, daß ein solcher Raum etwas von seiner Persönlichkeit hätte ausstrahlen können. Niemals lange genug, um Wurzeln zu schlagen, um ein Zimmer zu einem Heim zu machen. Na ja, ich gehe dafür jetzt nach Hause. Er wandte dem unbelebten Zimmer den Rücken zu und ging hinaus.

Gaul hatte vor einem Wandbehang gehockt, der Reiter auf der Jagd nach Löwen zeigte. Nun erhob er sich. Er trug bereits alle seine Waffen, dazu zwei lederne Wasserflaschen, und auf seinen Rücken hatte er neben das reichverzierte Lederfutteral für seinen Bogen noch eine zusammengerollte Decke und einen kleinen Kochtopf geschnallt. Er war allein.

»Die anderen?« fragte Perrin, und Gaul schüttelte den Kopf.

»Zu lange schon vom Dreifachen Land weg. Ich habe dich ja vorgewarnt, Perrin. Diese Länder hier bei euch sind viel zu naß. Es ist, als atme man Wasser statt Luft. Es gibt zu viele Menschen, und sie wohnen zu eng aufeinander. Sie haben mehr als genug von diesen fremdartigen Ländern.« »Ich verstehe schon«, sagte Perrin, aber das, was er wirklich verstand, war die Tatsache, daß es doch keine Rettung geben werde, keine Aielkompanie, um die Weißmäntel von den Zwei Flüssen zu vertreiben. Er behielt seine Enttäuschung für sich. Sie war bitter, nachdem er gehofft hatte, seinem Schicksal doch noch entkommen zu können, aber er hatte sich ja auf alles vorbereitet. Hat keinen Zweck zu weinen, wenn das Eisen reißt; man muß es eben noch einmal schmieden. »Hast du irgendwelche Schwierigkeiten bei dem gehabt, worum ich dich gebeten hatte?« »Keine. Bei jedem Stück, das du haben wolltest, gab ich einem anderen Tairener den Auftrag, es zum Stall am Tor der Drachenmauer zu bringen und niemandem etwas davon zu erzählen. Sie haben sich dort vielleicht gegenseitig angetroffen, aber sie werden glauben, die Sachen seien für mich bestimmt, und sie werden den Mund halten. Das Tor zur Drachenmauer. Da könnte man denken, das Rückgrat der Welt befände sich gleich hinter dem Horizont und nicht hundert Wegstunden oder weiter entfernt.« Der Aiel zögerte. »Das Mädchen und der Ogier machen keine Anstalten, ihre Reisevorbereitungen heimlich zu treiben, Perrin. Sie hat versucht, den Gaukler aufzuspüren, und dann auch noch jedem erzählt, daß sie vorhabe, durch die Kurzen Wege zu reiten.« Perrin kratzte sich im Bart und seufzte schwer. Es war schon beinahe ein Grollen. »Falls sie es auch noch Moiraine erzählt, dann schwöre ich, daß sie sich eine Woche lang nicht mehr wird hinsetzen können.« »Sie kann sehr gut mit diesen Messern umgehen«, meinte Gaul mit unbeteiligter Stimme.

»Nicht gut genug. Nicht, falls sie mich verpfiffen hat.« Perrin zögerte. Keine Aielkompanie. Der Galgen wartete immer noch. »Gaul, falls mir irgend etwas zustößt und ich es dich wissen lasse, dann bringe bitte Faile fort. Sie will vielleicht nicht weg, aber tu's trotzdem. Bringe sie sicher von den Zwei Flüssen weg. Versprichst du mir das?« »Ich werde mein Bestes geben, Perrin. Ich stehe noch immer in deiner Blutschuld.« Gauls Tonfall deutete Zweifel an, aber Perrin glaubte nicht, daß Failes Messer ausreichen würden, um den Mann davon abzuhalten.

Sie benützten soweit wie möglich Gänge ganz hinten im Stein und enge Treppen, die wohl dazu da waren, damit Diener unauffällig überall hingelangen konnten. Perrin fand es schade, daß die Tairener den Dienern nicht auch noch eigene Flure gebaut hatten. Trotzdem sahen sie nur wenige Menschen in den breiten Gängen mit ihren vergoldeten Lampenhaltern und den kunstvollen Gobelins. Adelige sahen sie überhaupt nicht.

Er machte eine Bemerkung über deren Abwesenheit, und Gaul sagte: »Rand al'Thor hat sie alle zum Herzen des Steins einberufen.« Perrin gab lediglich ein Knurren als Antwort, hoffte aber im stillen, daß auch Moiraine dorthin bestellt worden sei. Er fragte sich, ob Rand ihm auf diese Art helfen wolle, aus dem Stein ungesehen zu entkommen. Was auch immer der Grund sein mochte, er ergriff jedenfalls gern die Gelegenheit.

Sie traten von der letzten schmalen Treppenstufe hinunter auf den eigentlichen Grund des Steins. Von hier aus führten höhlenartige Gänge, so breit wie Straßen, zu den Außentoren. Hier sah man auch keine Wandbehänge mehr. Schwarze Eisenlampen hingen in Eisenklammern hoch droben an den Wänden, erleuchteten die fensterlosen Gänge, und der Boden war mit breiten, groben Steinplatten gepflastert, die schon unzählige Pferdehufe hatten aushalten müssen. Perrin lief nun schneller. Die Stallungen kamen am Ende des großen Tunnels in Sicht, und das breite Tor zur Drachenmauer stand offen. Nur eine Handvoll Verteidiger stand dort Wache. Moiraine konnte sie jetzt nicht mehr abfangen, es sei denn, sie hätte wirklich das Glück des Dunklen Königs gepachtet.

Das Tor zum Stall war ein Mauerbogen von mindestens fünfzehn Schritt Durchmesser. Perrin trat einen Schritt hinein und blieb stehen.

Die Luft war schwer vom Geruch nach Stroh und Heu, nach Weizen und Hafer, nach Leder und Pferdedung. Die Wände entlang zogen sich Boxen mit edlen tairenischen Pferden darin, wie man sie überall schätzte, und weitere Boxen befanden sich im Innenraum. Dutzende von Stallburschen gingen ihrer Arbeit nach, striegelten und kämmten, misteten aus oder reparierten Geschirre. Ohne in der Arbeit innezuhalten, blickte der eine oder andere gelegentlich hinüber zu Faile und Loial, die gestiefelt und reisefertig dastanden. Neben ihnen standen Bain und Chiad, wie Gaul mit Waffen und Decken, Wasserflaschen und Kochtöpfen ausgerüstet.

»Sind sie der Grund, warum du vorhin so gezögert hast?« fragte Perrin leise.

Gaul zuckte die Achseln. »Ich werde mein Bestes tun, aber sie werden sich auf ihre Seite schlagen. Chiad ist eine Goshien.« »Macht ihr Clan einen Unterschied?« »Ihr Clan und der meine tragen eine Blutfehde aus, Perrin, und ich bin ja auch nicht gerade ihre Speerschwester. Vielleicht werden die Wassereide sie zurückhalten. Ich werde jedenfalls nicht den Speertanz mit ihr tanzen, wenn sie mich nicht herausfordert.« Perrin schüttelte den Kopf. Seltsame Leute. Was waren nun wieder Wassereide? Aber er sagte bloß: »Warum sind sie dabei?« »Bain sagt, sie wollten mehr von euren Ländern sehen, aber ich glaube, vor allem der Streit zwischen dir und Faile interessiert sie. Sie mögen Faile, und als sie von dieser Reise hörten, entschlossen sie sich, mit Faile zu gehen anstatt mit dir.« »Na ja, solange sie dazu beitragen, daß Faile sich nicht in Schwierigkeiten bringt.« Er war überrascht, als Gaul den Kopf in den Nacken legte und schallend lachte. Besorgt kratzte er sich am Bart.

Loial kam auf sie zu. Seine langen Augenbrauen hingen traurig herunter. Seine Manteltaschen quollen beinahe über, aber das war immer so, wenn er verreiste. Die eckigen Umrisse von Büchern waren klar zu erkennen. Wenigstens hinkte er nicht mehr so stark. »Faile wird ungeduldig, Perrin. Ich glaube, sie wird gleich verlangen, daß wir losreiten. Beeil dich bitte. Ihr könntet das Wegetor ohne meine Hilfe nicht einmal finden. Du sollst es auch gar nicht versuchen. Ihr Menschen bringt mich immer dazu, so herumzuhetzen, daß ich den eigenen Kopf nicht finde. Bitte beeil dich.« »Ich werde ihn schon nicht im Stich lassen«, rief Faile herüber. »Selbst wenn er immer noch zu stur ist, mich um einen einfachen Gefallen zu bitten. Sollte seine Haltung unverändert sein, kann er mir immer noch wie ein verirrter Welpe hinterherlaufen. Ich verspreche, ich werde ihn hinter den Ohren kraulen und auf ihn achtgeben.« Die Aielfrauen krümmten sich vor Lachen.

Gaul sprang plötzlich hoch in die Luft und trat in wenigstens zwei Fuß Höhe über dem Boden aus wie ein Pferd, wobei er auch noch einen seiner Speere um sich wirbelte. »Wir werden euch folgen wie Raubkatzen auf der Jagd«, schrie er, »wie jagende Wölfe.« Er landete leichtfüßig. Loial starrte ihn verblüfft an.

Bain andererseits kämmte sich lediglich mit den Fingern durch ihr kurzgeschnittenes, feuerrotes Haar. »Ich habe bei meinem Bettzeug in der Festung auch ein schönes Wolfsfell«, erzählte sie Chiad mit gelangweilter Stimme. »Wölfe kann man so leicht töten.« In Perrins Kehle stieg ein Grollen auf, das die Blicke beider Frauen auf ihn lenkte. Einen Augenblick lang schien Bain noch mehr sagen zu wollen, aber dann runzelte sie die Stirn ob seines gelben Blickes und verstummte, nicht weil sie Angst hatte, sondern aus Mißtrauen.

»Dieser Welpe ist noch nicht stubenrein«, vertraute Faile den Aielfrauen an.

Perrin sah sie einfach nicht an. Statt dessen ging er hinüber zu der Box, in der sein brauner Hengst stand. Er war genauso hochgewachsen wie die tairenischen Pferde, aber breiter in den Schultern und an den Flanken. Er winkte einen Stallburschen zur Seite, warf Traber das Zaumzeug über und führte ihn selbst hinaus. Die Stallburschen hatten das Pferd natürlich regelmäßig bewegt, aber die enge Box hatte ihm wohl Lust auf die schnelle Gangart gemacht, die Perrin mit ihm nun anschlug und die ihm den Namen verliehen hatte. Perrin beruhigte ihn mit der Routine eines Mannes, der schon viele Pferde beschlagen hatte. Es machte keinerlei Schwierigkeiten, den an beiden Enden hochstehenden Sattel anzulegen und Satteltaschen sowie Deckenrolle dahinter festzumachen.

Gaul sah mit ausdruckslosem Gesicht zu. Er setzte sich auf kein Pferd, wenn es nicht unbedingt sein mußte, und dann ritt er keinen Schritt weiter, als nötig war. Bei den Aiel war es immer dasselbe. Perrin konnte das nicht verstehen. Vielleicht waren sie einfach stolz darauf, lange Strecken laufen zu können. Für sie schien es von größerer Bedeutung zu sein, aber er war sich sicher, daß sie es selbst nicht richtig erklären konnten.

Natürlich mußte auch das Packpferd beladen werden, doch das ging schnell, da alles, was Gaul herbestellt hatte, sauber aufgestapelt bereitlag. Proviant und Wasserschläuche. Hafer und Weizen für die Pferde. Nichts von alledem konnte man in den Kurzen Wegen finden. Dazu noch ein paar andere Dinge, wie Fußfesseln, Medikamente für die Pferde — für alle Fälle —, eine Reserveschachtel Zunder und ähnliches.

In den Hängekörben des Packpferdes befanden sich vor allem Lederflaschen wie die, in denen die Aiel Wasser mit sich führten, aber sie waren etwas größer und mit Lampenöl gefüllt. Sobald diese an ihren langen Stöcken festgeschnallt waren, war alles fertig.

Perrin schob den unbespannten Bogen unter den Sattelgurt und schwang sich in Trabers Sattel, die Leine des Packpferdes in der Hand. Und dann mußte er kochend vor Wut warten.

Loial saß bereits auf seinem riesigen, zottigen Gaul, der größer war als jeder andere im Stall. Trotzdem erschien er unter dem Ogier, dessen lange Beine fast bis auf den Boden baumelten, beinahe wie ein Pony. Es hatte eine Zeit gegeben, da war der Ogier fast genauso ungern auf ein Pferd gestiegen wie die Aiel, aber nun fühlte er sich auf diesem Riesenpferd wie zu Hause. Doch Faile nahm sich Zeit, untersuchte ihre glänzend schwarze Stute, als habe sie sie noch nie gesehen, obwohl Perrin genau wußte, daß sie das Pferd ausgiebig geritten hatte, bevor sie es kurz nach ihrem Einzug im Stein kaufte. Das Tier hieß Schwalbe und war ein schönes Pferd aus tairenischer Zucht mit schlanken Fesseln und stolz geschwungenem Hals, mit einem tänzelnden Schritt, der sowohl auf Schnelligkeit wie auch auf Ausdauer schließen ließ. Für Perrins Gefühl war sie lediglich zu leicht beschlagen; die Hufeisen würden nicht viel durchhalten. Und nun versuchte sie ihn wieder zu ärgern, indem sie den Abritt verzögerte.

Als Faile endlich mit ihrem engen Hosenrock aufstieg, ritt sie näher an Perrin heran. Sie war eine gute Reiterin, die immer mit ihrem Pferd im Einklang schien. »Warum kannst du mich nicht darum bitten, Perrin?« fragte sie leise. »Du hast versucht, mich davon abzuhalten, mit dem Menschen zu kommen, zu dem ich gehöre. Deshalb bist du jetzt mit dem Bitten an der Reihe. Kann denn etwas so Einfaches so schwer sein?« Der Stein dröhnte wie eine ungeheure Glocke. Der Fußboden des Stalles wölbte sich; die Decke bebte und wäre fast eingestürzt. Traber bäumte sich wiehernd auf. Sein Kopf zuckte in Panik hin und her. Perrin konnte sich mit Mühe gerade noch im Sattel halten. Stallburschen rappelten sich vom Boden hoch und rannten verzweifelt von Pferd zu Pferd. Die Tiere schlugen aus und versuchten, aus den Boxen zu steigen. Loial hing am Hals seines riesigen Reittiers, und nur Faile saß sicher und elegant im Sattel ihrer wild tänzelnden und wiehernden Stute.

Rand. Perrin wußte, daß Rand dahintersteckte. Der Sog des Ta'veren riß an ihm. Es war, als zögen sich zwei Strudel in einem Fluß gegenseitig an. Er hustete, da überall Staub in der Luft hing, und schüttelte heftig den Kopf. Es kostete ihn ungeheure Mühe, nicht abzusteigen und in den Stein zurückzurennen. »Wir reiten!« schrie er, während neue Beben die Festung erschütterten. »Wir reiten sofort, Loial! Jetzt!« Faile schien ebenfalls ihre Verzögerungstaktik aufgeben zu wollen. Sie gab ihrer Stute die Fersen zu spüren; die stob hinaus neben Loials Pferd, ihre beiden Packpferde wurden mitgerissen, und so galoppierten sie auf das Tor zur Drachenmauer zu. Die Verteidiger blickten sich kurz um und sprangen zur Seite. Ein paar krabbelten sogar auf allen vieren davon. Es war ihre Pflicht, Menschen am Betreten des Steins, nicht aber jemanden am Verlassen zu hindern. Doch vermutlich konnten sie gar nicht klar genug denken, um sich in diesem Moment derartige Gedanken zu machen. Die Bebenwellen klangen gerade erst ab, und der Stein über ihnen ächzte noch.

Perrin mit seinem eigenen Packpferd folgte gleich dahinter. Er wünschte, das Reittier des Ogiers sei etwas schneller, oder er könne Loial einfach abhängen und dem Sog davonlaufen, der ihn zurückzog, dem Sog des Ta'veren zum Ta'veren hin. Zusammen galoppierten sie durch die Straßen Tears auf die aufgehende Sonne zu. Sie verlangsamten ihr Tempo kaum einmal, höchstens um Karren und Kutschen auszuweichen. Männer in engen Mänteln und Frauen mit Schichten von Schürzen starrten ihnen nach, halb betäubt noch von dem Beben. Manchmal konnten sie ihnen nur mit knapper Not ausweichen.

Nach der Mauer, die die Innenstadt abriegelte, machten die Pflastersteine den schlammigen, ungepflasterten Straßen der Maule Platz; aus den Schuhen und Mänteln wurden bloße Füße und nackte Oberkörper über Pumphosen, die von breiten Schärpen gehalten wurden. Die Menschen sprangen aber ebenso hastig zur Seite, denn Perrin ließ Traber genauso schnell weitergaloppieren, bis sie auch die äußere Mauer passiert hatten und sich zwischen verstreuten Bauernhäusern und Hecken befanden — und außerhalb der Reichweite des Sogs des Ta'veren. Erst dann ließ er Traber im Schritt gehen, und er selbst atmete fast genauso schwer wie das Tier.

Loials Ohren waren noch steif vom Schreck. Faile leckte sich die Lippen und blickte von dem Ogier zu Perrin hinüber. Ihr Gesicht war weiß. »Was ist geschehen? War das... er?« »Ich weiß nicht«, log Perrin. Ich muß weg, Rand. Das weißt du doch. Du hast mir in die Augen geschaut, als ich es dir sagte, und du hast geantwortet, ich müsse tun, was ich für richtig halte.

»Wo sind Bain und Chiad?« fragte Faile. »Sie werden jetzt bestimmt eine Stunde brauchen, um uns einzuholen. Ich wünschte, sie würden reiten. Ich habe ihnen angeboten, Pferde für sie zu kaufen, aber sie schienen richtiggehend beleidigt. Na ja, die Pferde müssen sich jetzt sowieso abkühlen.« Perrin hielt sich zurück und sagte ihr nicht, daß sie nicht allzuviel von den Aiel wisse. Er sah die Stadtmauer hinter ihnen und den Stein, der alles wie ein Berg überragte. Er entdeckte sogar die schlangenähnliche Gestalt auf dem Banner, das über der Festung flatterte, und die Vögel, die es umkreisten. Keiner der anderen konnte das sehen. Er hatte kein Problem, die drei Menschen auszumachen, die mit langen, lockeren Schritten auf sie zuliefen. Er glaubte nicht, daß er so laufen könnte, jedenfalls nicht lange, aber die Aiel mußten den ganzen Weg vom Stein her so schnell gerannt sein, denn sonst lägen sie viel weiter zurück.

»Ach, so lange müssen wir nicht warten«, sagte er.

Faile blickte mit gerunzelter Stirn zur Stadt zurück. »Sind sie das etwa? Bist du sicher?« Fast klang es, als sei die Frage an Perrin gerichtet gewesen. Ihn überhaupt zu fragen kam natürlich schon einer Anerkennung gleich, daß er zu ihrer Gesellschaft gehöre. »Er gibt mit seinen guten Augen ständig an«, erklärte sie Loial, »aber sein Gedächtnis ist nicht sehr gut. Manchmal glaube ich, er würde sogar vergessen, am Abend eine Kerze anzuzünden, wenn ich ihn nicht daran erinnerte. Ich schätze, er hat irgendeine arme Familie entdeckt, die vor dem Erdbeben oder was auch immer davonrennt, oder?« Loial rutschte nervös im Sattel herum, seufzte tief und knurrte etwas von Menschen, was Perrin für wenig schmeichelhaft hielt. Faile bemerkte natürlich nichts.

Ein paar Minuten später starrte Faile aber dann doch Perrin erstaunt an, als die drei Aiel ihnen so nahe waren, daß auch sie sie nicht mehr übersehen konnte. Doch sie sagte nichts. In dieser Laune war sie nicht bereit zuzugeben, daß er in irgendeiner Hinsicht recht gehabt hatte, nicht einmal, wenn er behauptet hätte, der Himmel sei blau. Die Aiel waren nicht einmal außer Atem, als sie schließlich neben den Pferden stehenblieben.

»Schade, daß der Lauf nicht ein bißchen länger war.« Bain und Chiad lächelten, und beide warfen Gaul einen Seitenblick zu.

»Dann hätten wir diesen Steinhund in Grund und Boden gelaufen«, sagte Chiad, als wolle sie den Satz der anderen Frau beenden. »Deshalb schwören die Steinhunde einen Eid, niemals zu fliehen. Steinknochen und Steinköpfe sind zu schwer zum Laufen.« Gaul schien nicht gekränkt, aber Perrin bemerkte, wie er dastand: immer ein Auge auf Chiad gerichtet. »Weißt du, warum man so oft Töchter des Speers als Kundschafterinnen einsetzt, Perrin? Weil sie so weit laufen können. Und das rührt daher, daß sie Angst haben, irgendein Mann könne sie heiraten wollen. Eine Tochter rennt hundert Meilen, um das zu vermeiden.« »Sehr klug von ihnen«, sagte Faile schnippisch. »Braucht ihr eine Ruhepause?« fragte sie die Aielfrauen und blickte überrascht drein, als sie verneinten. Dann wandte sie sich Loial zu: »Bist du bereit weiterzureiten? Gut. Such dieses Wegetor, Loial. Wir sind schon zu lange hier. Wenn du einen verirrten Welpen zu lange in deiner Nähe läßt, glaubt er, du würdest ihn annehmen, und das ist nicht gut.« »Faile«, protestierte Loial, »geht das nicht ein wenig zu weit?« »Ich gehe so weit, wie ich muß, Loial. Das Wegetor?« Mit herabhängenden Ohren atmete Loial hörbar aus, und dann wandte er sein Pferd in Richtung Osten. Perrin ließ ihm und Faile ein Dutzend Schritt Vorsprung, bevor er mit Gaul folgte. Er mußte sich an ihre Regeln halten, aber er würde schon in bezug auf deren Auslegung mit ihr mithalten.

Die Bauernhöfe wurden immer seltener. Es waren auch nur enge, kleine, aus rohem Naturstein gebaute Häuschen, in die Perrin noch nicht einmal Tiere eingesperrt hätte. Auch die Hecken wurden seltener und schließlich sah man weder Häuser noch Hecken so weit im Osten von Tear, sondern nur noch welliges, hügeliges Grasland. Gras, soweit das Auge blicken konnte, und nur hier und da ein Busch auf irgendeinem Hügelkamm.

Auch Pferde standen an den grünen Hängen, manchmal ein Dutzend zusammen und manchmal auch Herden von hundert oder mehr Tieren aus der berühmten Tairener Zucht. Ob es nur wenige Tiere waren oder viele, immer standen sie unter der Aufsicht eines oder zweier barfüßiger Jungen, die ohne Sattel mitritten. Die Jungen trugen Peitschen mit langen Griffen und benützten sie, um die Pferde beieinander zu halten oder sie irgendwohin zu treiben. Sie ließen routiniert die Peitschen knallen, um Ausreißer zur Ordnung zu rufen. Dabei berührte die Peitsche nicht einmal die Haut der Tiere. Sie hielten die ihnen anvertrauten Herden fern von den Fremden, ließen die Tiere, wenn notwendig, ein Stück zurücktraben, aber sie beobachteten den Ritt der eigenartigen Gesellschaft —zwei berittene Menschen und ein Ogier, dazu drei der wilden Aiel, von denen man behauptete, sie hätten den Stein erobert — mit der forschen Neugier der Jugend.

Es war ein erfreulicher Anblick für Perrin. Er mochte Pferde. Ein Teil des Grundes, aus dem er die Lehre bei Meister Luhhan angetreten hatte, war der, daß er auf diese Weise Gelegenheit hatte, mit Pferden zu arbeiten. Aber in Emondsfeld gab es nicht viele davon und schon gar keine so schönen wie die hier.

Der Ogier betrachtete die Landschaft mit anderen Augen. Er knurrte in sich hinein, und je weiter sie über die grasbewachsenen Hügel ritten, desto lauter wurde sein Grollen. Schließlich brach es mit Gewalt aus ihm heraus: »Weg! Alles weg, und wofür? Gras. Das war einst ein Ogierhain. Wir haben hier keine großen Werke vollbracht, nichts, was man mit Manetheren oder der Stadt, die ihr Caemlyn nennt, vergleichen könnte, aber doch genug, um hier einen Hain anzulegen. Bäume aller Arten aus allen Ländern und Orten. Die Großen Bäume, die hundert Spannen hoch und mehr in den Himmel aufragen. Alle wurden hingebungsvoll gehegt, um mein Volk an das Stedding zu erinnern, das sie verlassen hatten, um für die Menschen Dinge zu bauen. Die Menschen glauben immer, es sei die Arbeit unserer Steinmetzen, die wir so schätzen, aber das ist nur eine Nebensache, die wir während des langen Exils erlernten, nach der Zerstörung der Welt. Die Bäume sind es, die wir lieben! Die Menschen dachten, Manetheren stelle unseren größten Triumph dar, doch wir wußten: es war der Hain dort und nicht die Gebäude. Nun ist er verschwunden. Wie dieser hier. Weg — für immer dahin.« Loial musterte die kahlen Hügel, auf denen lediglich Gras und Pferde zu sehen waren, mit einem harten Gesichtsausdruck, und seine Ohren legten sich eng an den Kopf. Er roch nach... Zorn. In den meisten Sagen wurden die Ogier als friedlich bezeichnet, als beinahe genauso unkriegerisch wie das Fahrende Volk, aber ein paar, wenn auch nur wenige der Erzähler hatten sie auch unerbittliche Feinde genannt. Perrin hatte Loial zuvor nur ein einziges Mal richtig wütend erlebt. Vielleicht war er es auch letzte Nacht gewesen, als er diese Kinder verteidigte. Als er Loials Gesicht ansah, fiel ihm eine alte Redensart ein: ›den Ogier zu ärgern und die Berge über dem eigenen Kopf einstürzen lassen‹. Jeder glaubte, es bedeute, etwas völlig Unmögliches unternehmen zu wollen, aber Perrin war der Meinung, die Bedeutung habe sich im Laufe der Jahre verschoben. Anfangs hatte es vielleicht geheißen: ›Ärgere den Ogier, und du läßt die Berge über dem eigenen Kopf zusammenstürzen‹. Schwer vorstellbar, aber irgendwie konnte Perrin das nachempfinden. Er wollte lieber nie erleben, daß Loial — der sanfte, ungeschickte Loial mit der breiten Nase, die immer in einem Buch steckte — wirklich einmal auf ihn wütend war.

Loial hatte die Führung übernommen, sobald sie das Gebiet des verschwundenen Ogierhains erreichten. Er hielt sich ein wenig mehr in Richtung Süden. Es gab keine besonderen Merkmale, aber er war sich der Richtung wohl ziemlich sicher, und mit jedem Schritt ihrer Pferde wurde er noch sicherer. Die Ogier konnten ein Wegetor spüren, irgendwie, und es finden wie eine Biene den Stock. Als Loial schließlich abstieg, reichte ihm das Gras gerade ein wenig über Kniehöhe. Man sah in der Nähe nur ein Dickicht, etwas höher als in dieser Landschaft üblich, mit stark belaubten Sträuchern etwa von der Größe des Ogiers. Er riß die Sträucher bedauernd heraus und legte sie zur Seite. »Vielleicht können die Pferdehüter das gebrauchen. Wenn es getrocknet ist, gibt es ordentliches Feuerholz.« Und dort stand das Wegetor.

Es war so an den Abhang angebaut, daß es eher wie eine graue Mauer wirkte denn ein Tor, aber nicht wie irgendeine Mauer, sondern wie die eines Palastes mit Fresken in Form von Ranken und Blättern, die so fein gearbeitet waren, als lebten sie genau wie die Sträucher davor. Mindestens dreitausend Jahre lang hatte es dort gestanden, aber die Oberfläche wies keinerlei Anzeichen von Verwitterung auf. Diese Blätter hätten im nächsten Moment im Wind rascheln können, so echt wirkten sie.

Einen Moment lang betrachteten sie es schweigend, bis Loial tief durchatmete und seine Hand auf das einzige Blatt legte, das sich von den anderen auf dem Wegetor unterschied. Es war das dreifingrige Blatt des Avendesora, des sagenhaften Lebensbaumes. Bis zu dem Augenblick, als es von seiner riesigen Hand berührt wurde, schien es wie die anderen ein Teil der Verzierungen zu sein, doch es drehte sich ganz leicht.

Faile schluckte hörbar, und selbst die Aiel murmelten nervös irgend etwas. In der Luft lag etwas Bedrückendes, aber man konnte nicht feststellen, woher das rührte.

Vielleicht ging es von ihnen allen gemeinsam aus.

Jetzt schienen sich die Steinblätter nicht mehr in einer verborgenen Brise zu regen. Statt dessen kam ein Schimmer von Grün, von Leben, über sie. In der Mitte öffnete sich langsam ein Spalt, und die beiden Türflügel des Wegetores schwangen heraus. Sie enthüllten nicht den dahinterliegenden Hügel, sondern ein mattes Leuchten, in dem sich schwach ihre Spiegelbilder zeigten.

»Man sagt«, murmelte Loial, »daß einst die Wegetore wie Spiegel schimmerten, und diejenigen, die durch die Wege gingen, schritten durch Sonnenschein und Himmel. Davon kann man jetzt nicht mehr viel sehen. Genauso verschwunden wie der Hain.« Perrin zog schnell eine der Laternen an ihrer langen Stange aus dem Gepäck und entzündete sie. »Es ist zu heiß hier draußen«, sagte er. »Ein bißchen Schatten wäre schon gut.« Er trieb Traber langsam, auf das Tor zu. Er glaubte, Faile noch einmal nach Luft schnappen zu hören.

Der braune Hengst scheute, als er sich seinem eigenen, matten Spiegelbild näherte, aber Perrin trieb ihn weiter. Langsam, erinnerte er sich. Man mußte das ganz langsam in Angriff nehmen. Die Nase des Pferdes berührte zögernd die seines Spiegelbilds. Dann verschmolzen beide miteinander. Perrin näherte sich seiner eigenen Persönlichkeit, berührte... Eiskalt glitt es ihm über die Haut, hüllte ihn Haar um Haar ein, und die Zeit dehnte sich.

Die Kälte verflog wie eine geplatzte Seifenblase, und er befand sich inmitten endloser Schwärze. Der Schein seiner Laterne schmiegte sich eng um ihn. Traber und das Packpferd wieherten ängstlich.

Gaul schritt gelassen hindurch und begann damit, eine weitere Laterne anzuzünden. Hinter ihm befand sich, was wie eine Rauchglasscheibe aussah. Sie konnten dort draußen die anderen sehen, Loial, der gerade wieder auf sein Pferd stieg, Faile, die ihre Zügel raffte, doch alle bewegten sich ganz, ganz langsam. Die Zeit verlief innerhalb der Wege anders.

»Faile ist sauer auf dich«, sagte Gaul, als die Laterne brannte. Der zusätzliche Lichtschein brachte nicht viel. Die Dunkelheit saugte das Licht auf, verschluckte es. »Sie scheint zu glauben, daß du irgendeine Abmachung gebrochen hast. Bain und Chiad... Paß auf, daß du nicht mit ihnen allein bist. Sie wollen dir Failes wegen eine Lektion erteilen, und wenn sie das fertigbringen, wirst du nicht mehr so einfach auf deinem Pferd sitzen können wie jetzt.« »Ich habe gar nichts versprochen, Gaul. Ich tue, wozu sie mich durch ihre Tricks gezwungen hat. Wir müssen früh genug Loial folgen, wie sie das haben will, aber solange ich kann, werde ich die Führung übernehmen.« Er deutete auf einen breiten, weißen Strich unter Trabers Hufen. Er war an einzelnen Stellen unterbrochen und verwittert, doch zeigte er ihren Weg deutlich an, bevor er wenige Schritte weiter in der Schwärze verschwand. »Das führt uns zum ersten Wegweiser. Dort müssen wir auf Loial warten, denn nur er kann lesen, was darauf steht, und entscheiden, über welche Brücke wir reiten müssen. Aber bis dorthin kann Faile durchaus einmal uns folgen.« »Brücke«, murmelte Gaul nachdenklich. »Das Wort kenne ich. Gibt es hier drinnen denn Wasser?« »Nein. Es ist nicht diese Art von Brücke. Sie sieht wohl genauso aus, aber... Vielleicht kann Loial es dir erklären.« Der Aielmann kratzte sich am Kopf. »Weißt du auch genau, was du tust, Perrin?« »Nein«, gab Perrin zu. »Aber das muß Faile ja nicht unbedingt wissen.« Gaul lachte. »Es macht Spaß, so jung zu sein, oder, Perrin?« Perrin runzelte die Stirn. Er war nicht sicher, ob Gaul sich nun über ihn lustig machte oder nicht. So hielt er Traber weiter im Schritt und zog das Packpferd an der Leine hinterher. Den Laternenschein würde man in zwanzig oder dreißig Schritt Entfernung vom Tor nicht mehr sehen können. Er wollte vollständig außer Sicht sein, wenn Faile durchkam. Sie sollte ruhig glauben, er habe sich entschieden, ohne sie weiterzureiten. Wenn sie sich eine Weile Sorgen machte, bevor sie sich am Wegweiser wiedertrafen, würde ihr das durchaus guttun.

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