26 Die Geweihten

Vorwärts und zurück. Adan lag in der Sandgrube und drückte die weinenden Kinder seines toten Sohnes an seine Brust. Sie preßten ihre Gesichter an seinen zerlumpten Mantel. Auch über seine Wangen rollten Tränen, aber er verhielt sich leise und spähte vorsichtig über den Rand hinaus. Mit fünf und sechs Jahren konnte man Maigran und Lewin das Recht zu weinen nicht absprechen. Adan war überrascht, daß er selbst noch Tränen hervorbrachte.

Einige der Wohnwagen brannten. Die Toten lagen noch da, wo sie gefallen waren. Die Pferde hatte man bereits weggetrieben, außer wenigen, die noch an die Wagen geschirrt waren. Die Wagen selbst hatte man geleert und ihre Besitztümer auf dem Boden aufgestapelt. Ausnahmsweise einmal achtete er nicht auf die Dinge in den Kisten, die von den Aes Sedai den Aiel zur Aufbewahrung übergeben worden waren, und die nun im Schmutz herumlagen. Das oder die toten Aiel sah er nicht zum erstenmal, aber diesmal beachtete er das alles nicht. Die Männer mit den Speeren und Bögen und Schwertern, die das Blutbad angerichtet hatten, beluden die leeren Wohnwagen. Mit Frauen. Er beobachtete, wie Rhea, seine Tochter, zusammen mit anderen in einen Wagen gestoßen wurde, wo sie von den lachenden Mördern wie Vieh zusammengesperrt wurden. Die letzten seiner Kinder. Elwin war mit zehn verhungert, während Sorelle mit zwanzig am Fieber starb, das sie im Traum vorhergesehen hatte. Jaren stürzte sich vor einem Jahr, erst neunzehn Jahre alt, von einer Klippe, als er herausfand, daß er die Macht gebrauchen konnte. Und heute morgen Marind.

Er hätte am liebsten geschrien. Er wollte hinausstürmen und sie davon abhalten, sein letztes Kind zu rauben. Sie irgendwie aufhalten. Und wenn er wirklich dort hinausstürmte? Dann würden sie ihn töten und Rhea trotzdem entführen. Dann würden sie vielleicht auch noch die Kinder töten. Einige der Körper, die dort in ihrem eigenen Blut lagen, waren klein.

Maigran klammerte sich an ihn, als ahne sie, daß er daran dachte, sie zu verlassen, und Lewin versteifte sich, als wolle er noch fester zupacken, sei aber zu stolz und fühle sich schon zu alt dazu. Adan strich ihnen über das Haar und hielt ihre Gesichter an seinen Mantel gepreßt. Er zwang sich trotzdem zum Zuschauen, bis die Wagen, umgeben von johlenden Reitern, langsam außer Sicht auf die Berge zurumpelten, die den Horizont verstellten.

Erst dann stand er auf und löste den Griff der Kinder sanft. »Wartet hier auf mich«, sagte er zu ihnen. »Wartet, bis ich zurück bin.« Sie klammerten sich aneinander und blickten ihn mit tränenüberströmten, blassen Gesichtern an. Dann nickten sie unsicher.

Er ging zu einer der Leichen hinüber und drehte sie sanft um. Siedre hätte auch schlafen können. Ihr Gesicht erschien ihm genauso wie jeden Morgen, wenn er neben ihr erwachte. Es überraschte ihn immer wieder, wenn er in ihrem rotgoldenen Haar graue Strähnen entdeckte. Sie war seine Liebe, sein Leben, und sie erschien ihm ewig jung und neu. Er bemühte sich, das Blut nicht anzusehen, das den Vorderteil ihres Kleids durchnäßte, oder die klaffende Wunde unter ihrer Brust.

»Was willst du jetzt machen, Adan? Sag es uns! Was?« Er strich Siedre das Haar aus dem Gesicht. Sie wollte immer einen ordentlichen Eindruck machen. Dann stand er auf und wandte sich langsam um. Vor ihm stand eine Gruppe zorniger, verängstigter Männer. Sulwin war ihr Anführer, ein hochgewachsener Mann mit tiefliegenden Augen. Er hatte sich die Haare lang wachsen lassen, Sulwin, als wolle er verbergen, daß er ein Aiel war. Das hatten einige Männer getan. Aber es hatte weder diese Männer noch die davor beeindruckt, als sie das Lager überfallen hatten.

»Ich werde unsere Toten begraben und weiterziehen, Sulwin.« Sein Blick wanderte zu Siedre zurück. »Was sonst?« »Weiterziehen, Adan? Wie können wir weiterziehen? Wir haben keine Pferde. Wir haben fast kein Wasser mehr und keine Lebensmittel. Alles, was uns geblieben ist, sind Wagenladungen voll mit Sachen, die von den Aes Sedai niemals abgeholt werden. Was ist das alles, Adan? Was ist das, wenn wir unsere Leben dafür hergeben sollen, um all das um die halbe Welt zu schleppen? Etwas, das wir uns nicht einmal zu berühren getrauen. Wir können nicht so weitermachen wie bisher!« »Wir können!« schrie Adan. »Wir werden! Wir haben Beine und wir haben starke Rücken. Wenn nötig, ziehen wir selbst die Wagen. Wir werden unsere Pflicht erfüllen, was auch kommt!« Er war überrascht, als ihm bewußt wurde, daß er die geballte Faust gehoben hatte. Die Faust! Er zitterte, als er sie wieder öffnete und an seiner Seite herabhängen ließ.

Sulwin trat zurück, blieb aber dann doch vor seinen Begleitern stehen. »Nein, Adan. Man erwartet von uns, daß wir einen sicheren Ort finden, und einige von uns haben das auch ernsthaft vor. Mein Großvater hat mir die Geschichten erzählt, die er als Junge hörte, Geschichten von einer Zeit, als wir in Sicherheit lebten und die Menschen zu uns kamen, um uns singen zu hören. Wir wollen einen Ort finden, wo wir sicher sind und wieder singen können.« »Singen?« schimpfte Adan. »Ich habe diese Geschichten auch gehört, daß die Aiel so wundervoll gesungen hätten, aber ihr wißt genauso wenig davon wie ich. Die Lieder sind verloren und die alten Tage sind vergangen. Wir werden unsere Pflicht den Aes Sedai gegenüber nicht aufgeben, um etwas zu suchen, was schon lange und für immer verloren ist.« »Einige von uns werden das aber tun, Adan.« Die anderen hinter Sulwin nickten. »Wir haben vor, diesen sicheren Ort zu finden. Und auch die Lieder. So ist es!« Ein Krachen ließ Adans Kopf herumschnellen. Weitere Anhänger Sulwins entluden einen der Wagen, und eine große, niedrige Kiste war herausgefallen und aufgebrochen. Etwas, das wie eine Tür aus glänzendem, dunkelroten Sandstein aussah, lag drinnen. Auch andere Wagen wurden entladen. Weitere Freunde und Anhänger Sulwins erledigten das. Wenigstens ein Viertel der Menschen, die er sah, arbeiteten hart daran, alles auszuladen bis auf Lebensmittel und Wasser.

»Versuche nicht, uns aufzuhalten«, warnte Sulwin.

Adan entkrampfte erneut seine Faust. »Ihr seid keine Aiel«, sagte er. »Ihr verratet alles. Was ihr auch sein mögt, Aiel seid ihr nicht mehr!« »Wir halten uns genau wie du an den Weg des Blattes, Adan.« »Geht!« schrie Adan. »Geht! Ihr seid keine Aiel! Ihr seid verloren! Verloren! Ich will euch nicht mehr sehen! Geht!« Sulwin und die anderen stolperten beinahe davon.

Sein Herz wurde immer schwerer, als er die Wagen und die im Unrat herumliegenden Toten anblickte. So viele Tote, so viele Verwundete, die dalagen und stöhnten, während man sie verband und tröstete. Sulwin und die anderen Verlorenen verhielten sich beim Ausladen recht vorsichtig. Die Männer mit den Schwertern hatten viele Kisten aufgebrochen, bis ihnen klar wurde, daß sich weder Gold noch Lebensmittel darin befanden. Lebensmittel waren wertvoller als Gold. Adan betrachtete den steinernen Türrahmen, die herumliegenden Steinskulpturen und die eigenartigen Kristallgegenstände, die zwischen den Tonkrügen und anderem standen, für die Sulwins Leute keine Verwendung hatten. Konnte man überhaupt irgend etwas davon gebrauchen? Galt all ihre Treue und Hingabe nur der Erhaltung solchen Krams? Aber selbst wenn es so sein sollte, dann war es eben so. Einiges davon konnte gerettet werden. Er konnte wohl nicht feststellen, was den Aes Sedai am wichtigsten sei, aber einiges konnte gerettet werden.

Er sah, wie sich Maigran und Lewin an den Rock ihrer Mutter klammerten. Er war froh, daß Saralin am Leben geblieben war und sie weiter aufziehen konnte. Sein letzter Sohn, ihr Mann und der Vater ihrer Kinder, war am Morgen vom allerersten Pfeil durchbohrt worden. Einige von den anderen konnten ebenfalls gerettet werden. Er würde die Aiel retten, was es ihn auch kostete.

Er kniete nieder und nahm Siedre in die Arme. »Wir sind immer noch treu, Aes Sedai«, flüsterte er. »Wie lange werden wir Euch die Treue halten müssen?« Er legte den Kopf auf die Brust seiner toten Frau und weinte.

Tränen standen in Rands Augen. Fast lautlos hauchte er: »Siedre.« Der Weg des Blattes? Das war keine Aiel-Religion. Er konnte einfach nicht klar denken; er konnte beinahe gar nicht denken. Die Lichter wirbelten schneller und schneller. Neben ihm hatte Muradin den Mund zu einem lautlosen Heulen geöffnet. Die Augen des Aiel quollen heraus, als beobachte er den Tod aller Welt. Sie traten nebeneinander einen Schritt vor.

Jonai stand am Rande der Klippe und blickte nach Westen über das im Sonnenschein glänzende Meer. Zweihundert Meilen in dieser Richtung lag Comelle. Hatte Comelle gelegen. Comelle hatte am Abhang der Berge über dem Meer gelegen. Zweihundert Meilen westlich, wo jetzt nur noch die See wogte. Vielleicht wäre alles leichter zu ertragen gewesen, wenn Alnora noch lebte. Ohne ihre Träume wußte er kaum mehr, wohin er ziehen und was er anfangen sollte. Ohne sie war das Leben kaum noch lebenswert. Er fühlte jedes graue Haar auf seinem Kopf, als er sich abwandte, um zurück zu den Wohnwagen zu schlurfen, die eine Meile entfernt warteten. Es waren nun weniger Wagen, und sie sahen langsam abgenutzt aus. Auch weniger Menschen — ein paar tausend, wo es vorher Zehntausende gewesen waren. Aber zu viele für die übriggebliebenen Wagen. Niemand ritt mehr, außer den Kindern, die zu jung zum Laufen waren.

Adan kam ihm am ersten Wagen entgegen. Er war ein hochgewachsener junger Mann mit viel zu mißtrauischem Blick. Jonai erwartete immer noch, Willim zu sehen, wenn er sich nur schnell genug umdrehte. Aber Willim hatte man natürlich schon vor Jahren weggeschickt, als er begonnen hatte, die Macht zu benutzen, gleich, wie sehr er sich selbst dagegen wehrte. Es gab immer noch zu viele Männer auf der Welt, die mit der Macht umgehen konnten. Sie mußten manchmal sogar schon Jungen wegschicken, wenn sie die Anzeichen bemerkten. Sie mußten einfach. Und doch wünschte er sich seine Kinder zurück. Wann war Esole gestorben? So klein war das hastig gegrabene Loch, in das man sie gelegt hatte, nachdem es keine Aes Sedai in der Nähe gegeben hatte, die ihre Schwindsucht hätte heilen können.

»Es sind Ogier da, Vater«, sagte Adan aufgeregt. Jonai vermutete, sein Sohn habe nie geglaubt, daß die Geschichten von den Ogiern die reine Wahrheit seien. »Sie sind vom Norden hergekommen.« Es war eine abgerissene Schar, zu der ihn Adan führte, nicht mehr als fünfzig, mit hohlen Wangen, traurigen Augen und schlapp herunterhängenden behaarten Ohren. Er hatte sich an die ausgezehrten Gesichter und die abgetragene, geflickte Kleidung seiner eigenen Leute gewöhnt, aber die Ogier im gleichen Zustand zu erleben schockierte ihn doch. Aber er hatte Menschen, um die er sich kümmern mußte, und Verpflichtungen den Aes Sedai gegenüber. Wie lange hatte er schon keine Aes Sedai mehr gesehen? Das letzte Mal, kurz nachdem Alnora gestorben war. Für Alnora war es zu spät gewesen. Die Frau hatte die immer noch am Leben Befindlichen geheilt, einige der Sa'Angreal mitgenommen und war ihres Weges gezogen. Sie hatte nur bitter gelacht, als er sie fragte, wo es einen sicheren Ort gebe. Auch ihr Kleid war geflickt und am Saum abgewetzt gewesen. Er war nicht sicher, ob sie geistig noch normal sei. Sie behauptete, einer der Verlorenen sei nur zum Teil gefangen oder vielleicht auch gar nicht. Ishamael berührt die Welt immer noch, hatte sie gesagt. Sie mußte genauso wahnsinnig sein wie die übriggebliebenen männlichen Aes Sedai.

Er riß sich von seinen Erinnerungen los und wandte sich den Ogiern zu, die unsicher auf ihren langen Beinen standen. Seit Alnoras Tod war er zu oft geistesabwesend. Sie hatten Brot und Schüsseln in den Händen. Er erschrak, als ihm klar wurde, daß er sich ärgerte, weil jemand von ihren wenigen Lebensmitteln mitgegessen hatte. Wie viele seiner Leute konnten von dem leben, was fünfzig Ogier vergaßen? Nein. Der Weg sagte ihnen, daß sie teilen mußten. Großzügig geben. Hundert Leute. Zweihundert?

»Ihr habt Chora-Schößlinge«, sagte einer der Ogier. Seine dicken Finger strichen sanft über die dreifingrigen Blätter der beiden Topfpflanzen, die an der Seite eines Wagens festgebunden waren.

»Ein paar«, sagte Adan kurz angebunden. »Sie sterben, aber die alten Leute ziehen zuvor immer neue Schößlinge heran.« Er hatte keine Zeit für Bäume. Er mußte sich um ein ganzes Volk kümmern. »Wie schlimm ist es im Norden?« »Schlimm«, antwortete eine Ogierfrau. »Die Fäule dehnt sich nach Süden aus, und man sieht dort jetzt Myrddraal und Trollocs.« »Ich glaubte, die seien alle tot.« Also dann nicht nach Norden. Sie konnten nicht nach Norden ziehen. Nach Süden? Das Jerenmeer lag zehn Tagesreisen im Süden. Oder befand es sich überhaupt noch dort? Er war müde, so müde.

»Ihr seid aus dem Osten gekommen?« fragte ein anderer Ogier. Er wischte seine Schüssel mit einem Stück Brotrinde aus und schlang sie herunter. »Wie sind die Zustände im Osten?« »Schlimm«, antwortete Jonai. »Allerdings vielleicht nicht so schlimm, was Euch betrifft. Zehn — nein, zwölf Tage ist es her, daß einige Leute ein Drittel unserer Pferde stahlen, bevor wir entkommen konnten. Wir mußten Wagen zurücklassen.« Das tat weh. Zurückgelassene Wagen mit Inhalt. Dinge, die von den Aes Sedai den Aiel anvertraut worden waren, waren nun zurückgelassen worden. Daß es nicht das erstemal geschehen war, machte es noch schlimmer. »Beinahe jeder, den wir treffen, stiehlt Sachen von uns, was ihnen gerade gefällt. Vielleicht werden sie das bei Ogiern nicht machen.« »Vielleicht«, sagte eine Ogierfrau, als könne sie das nicht ganz glauben. Jonai glaubte es vielleicht auch nicht —es gab eben einfach keinen wirklich sicheren Ort. »Wißt Ihr, wo sich irgendein Stedding befindet?« Jonai sah sie mit großen Augen an. »Nein. Nein, das weiß ich nicht. Aber sicher könnt Ihr doch ein Stedding finden, wenn Ihr wollt?« »Wir sind so weit gerannt und so lang«, sagte ein Ogier von hinten her, und ein anderer fügte in ihrem tiefen, grollenden Tonfall hinzu: »Das Land hat sich so verändert.« »Ich glaube, wir müssen bald ein Stedding finden, oder wir werden sterben«, sagte die Ogierfrau. »Ich fühle ein...

Sehnen... in mir. Wir müssen ein Stedding finden. Wir müssen einfach.« »Ich kann Euch nicht helfen«, sagte Jonai traurig. Seine Brust war wie zusammengeschnürt. Das Land hatte sich wirklich bis zur Unkenntlichkeit verändert und veränderte sich immer noch. Die Ebene, über die sie letztes Jahr gezogen waren, konnte durchaus dieses Jahr durch einen Berg ersetzt sein. Also dehnte sich die Fäule aus. Myrddraal und Trollocs trieben immer noch ihr Unwesen. Menschen mit Gesichtern wie die Tiere, Menschen, die nichts mehr von den Da'schain wußten und sie nicht erkannten, stahlen ihre wenigen Güter. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Ogier verloren. Die Aiel verloren. Alles verloren. Der Ring um seine Brust wurde immer enger. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Er sank auf die Knie nieder, krümmte sich und griff nach seiner Brust. Eine Faust hielt sein Herz gefangen und drückte zu.

Adan kniete besorgt neben ihm nieder. »Vater, was ist los? Was ist passiert? Was kann ich tun?« Jonai schaffte es, seinen Sohn am ausgefransten Kragen zu packen und seinen Kopf nahe heranzuziehen. »Bring —die Menschen — nach Süden.« Zwischen Krämpfen, die ihm das Herz aus dem Körper zu reißen schienen, brachte er diese Worte mühsam heraus.

»Vater, du bist derjenige... « »Hör zu. Hör zu! Bringe sie — nach Süden. Bringe — die Aiel — in Sicherheit. Haltet euch an — den Pakt. Behüte —was die Aes Sedai — uns anvertrauten — bis sie — es holen. Der Weg — des Blattes. Du mußt... « Er hatte sich bemüht. Solinda Sedai würde das einsehen. Er hatte es versucht. Alnora.

Alnora. Der Name verschwamm und der Schmerz in Rands Brust löste sich. Kein Sinn. Das ergab keinen Sinn. Wie konnten diese Menschen Aiel sein?

Die Säulen wurden von grellen Lichtwellen überlaufen. Ein Lufthauch erhob sich und wurde zum Wirbel.

Neben ihm öffnete Muradin den Mund weit, um zu schreien. Der Aiel krallte nach seinem Schleier, nach seinem Gesicht. Seine Fingernägel hinterließen lange, blutige Spuren.

Vorwärts.

Jonai eilte durch die verlassenen Straßen und versuchte, die zerstörten Gebäude und die abgestorbenen Chorabäume nicht zu beachten. Alles tot. Wenigstens hatte man die letzten der schon lange stehengelassenen Jomobile weggeschafft. Nachbeben ließen den Boden unter seinen Füßen immer noch erzittern. Er trug Arbeitskleidung, also natürlich den Cadin'sor, obwohl die ihm zugeteilte Arbeit nicht dem entsprach, wofür man ihn ausgebildet hatte. Er war dreiundsechzig, stand in der Blüte seines Lebens, noch nicht alt genug, um graue Haare zu haben, doch er fühlte sich wie ein müder alter Mann.

Niemand stellte ihm eine Frage, als er die Halle der Diener betrat. Es stand einfach niemand mehr unter den mächtigen Säulen am Eingang, der ihn hätte befragen oder begrüßen können. Drinnen liefen viele Menschen umher, die Arme voll mit Papieren oder Schachteln, die Augen ängstlich weit geöffnet, aber niemand beachtete ihn. Es lag ein Hauch von Panik in der Luft und das nahm mit jedem Nachbeben zu. Beunruhigt schritt er durch das Foyer und die breite Treppe hoch. Der silbrigweiße Elstein war verschmutzt. Niemand hatte Zeit, sich darum zu kümmern. Vielleicht war es allen auch gleichgültig.

Er brauchte nicht an die Tür klopfen, die er gesucht hatte. Es war keine der großen, vergoldeten Türen zu einem der Versammlungsräume, sondern eine kleine, unauffällige Seitentür. Er schlüpfte leise hinein, und dann war er froh darüber. Ein halbes Dutzend Aes Sedai stand um den langen Tisch herum und diskutierte. Sie schienen gar nicht zu bemerken, wenn das Gebäude bebte. Es waren alles Frauen.

Er schauderte, als er sich fragte, ob jemals wieder Männer an einer solchen Sitzung teilnehmen würden. Als ihm dann noch bewußt wurde, was auf dem Tisch lag, wurde aus dem Schaudern ein Zittern. Es war ein Kristallschwert — vielleicht als geistiger Brennpunkt für die Verwendung der Macht gedacht, vielleicht auch nur als Zierrat. Das konnte er nicht beurteilen. Jedenfalls lag das Schwert auf der Drachenflagge von Lews Therin Brudermörder, die wie ein Tischtuch ausgebreitet worden war und bis auf den Boden hinabhing. Sein Herz verkrampfte sich. Was hatte das hier zu suchen? Warum hatte man beides nicht zerstört, genau wie die Erinnerung an diesen verfluchten Mann?

»Was nützt schon Eure Weissagung«, schrie Oselle beinahe, »wenn Ihr uns nicht sagen könnt, wann das geschieht?« Ihr langes, schwarzes Haar flog, als sie den Kopf zornig schüttelte. »Der Bestand der Welt hängt davon ab! Die Zukunft! Das Rad selbst!« Deindre blickte sie aber sehr viel ruhiger mit ihren dunklen Augen an. »Ich bin nicht der Schöpfer. Ich kann Euch nur das sagen, was ich in der Zukunft sehe.« »Friede, Schwestern.« Solinda war die ruhigste von allen. Ihr altmodisches Tüllkleid wirkte wie feiner, blauer Dunst. Das rotgoldene Haar, das ihr bis zur Taille reichte, zeigte beinahe den gleichen Farbton wie das seine. Sein Großvater hatte ihr als junger Mann gedient, und doch sah sie jünger aus als er. Sie war eben eine Aes Sedai. »Wir haben keine Zeit mehr, uns zu zanken. Jaric und Haindar werden beide morgen hier ankommen.« »Und das heißt, wir können uns keine Fehler leisten, Solinda.« »Wir müssen wissen... « »Gibt es eine Möglichkeit...?« Jonai hörte nicht mehr hin. Sie würden ihn bemerken, wenn es an der Zeit war. Er war auch nicht der einzige im Raum neben den Aes Sedai. Someschta saß in der Nähe der Tür, den Rücken an die Wand gelehnt, eine aus Ranken und Blättern geformte Gestalt, deren Kopf selbst im Sitzen Jonai noch etwas überragte. Eine rißartige Narbe mit welkbraunen und rußigschwarzen Rändern zog sich über die Wange des Nyms bis hoch unter das grüne Gras seiner Haare, wo sie eine Furche hinterließ. Er blickte Jonai besorgt mit seinen Haselnußaugen an.

Als Jonai ihm zunickte, faßte er sich an die Narbe und runzelte die Stirn. »Kenne ich Euch?« fragte er leise.

»Ich bin dein Freund«, antwortete Jonai traurig. Er hatte Someschta jahrelang nicht mehr gesehen, aber von seinem Zustand gehört. Wie man ihm berichtet hatte, waren die meisten Nym tot. »Als ich ein Kind war, hast du mich auf den Schultern getragen. Erinnerst du dich nicht mehr daran?« »Gesang«, sagte Someschta. »Gab es Gesang dabei? So vieles ist verloren gegangen. Die Aes Sedai behaupten, daß einiges wiedergewonnen werden kann. Du bist eines der Kinder des Drachen, nicht wahr?« Jonai zuckte leicht zusammen. Die Bezeichnung hatte ihm bereits Schwierigkeiten bereitet, obwohl sie der Wirklichkeit überhaupt nicht entsprach. Aber viele Bürger heutzutage glaubten, die Da'schain Aiel hätten ausschließlich dem Drachen gedient und keinen anderen Aes Sedai.

»Jonai?« Er drehte sich um, als Solindas Stimme erklang, und bei ihrer Annäherung sank er auf ein Knie nieder. Die anderen stritten sich noch immer, wenn auch viel leiser als vorher.

»Alles ist vorbereitet, Jonai?« sagte sie.

»Alles, Aes Sedai. Solinda Sedai... « Er zögerte und atmete tief durch. »Solinda Sedai, einige von uns wollen hierbleiben. Wir könnten auch so noch dienen.« »Wißt Ihr, was mit den Aiel in Tzora geschehen ist?« Er nickte, und sie seufzte. Dann streckte sie die Hand aus und strich ihm wie einem Kind über das kurzgeschnittene Haar. »Natürlich habt Ihr es erfahren. Ihr Da'schain habt mehr Mut als... Zehntausend Aiel hakten sich unter, bildeten eine lebende Kette und sangen. Sie versuchten, einen Wahnsinnigen daran zu erinnern, wer sie waren und wer er gewesen war, versuchten, ihn mit ihren Körpern und mit einem Lied umzustimmen. Jaric Mondoran tötete sie. Er stand da, blickte sie an, als stellten sie für ihn ein Rätsel dar, tötete sie, und sie rückten lediglich in den Reihen auf, schlossen die Lücken und sangen. Man hat mir berichtet, daß er dem letzten Aiel mehr als eine Stunde gelauscht hat, bevor er ihn vernichtete. Und dann brannte Tzora. Eine riesige Flamme verschlang Stein und Metall und Fleisch. Ein Glasklumpen befindet sich heute, wo vorher die zweitgrößte Stadt der Welt stand.« »Viele Menschen hatten Zeit, um zu fliehen, Aes Sedai. Die Da'schain haben ihnen diese Zeit erkauft. Wir haben keine Angst.« Ihre Hand verkrampfte sich in sein Haar, daß es schmerzte. »Die Bürger sind auch bereits aus Paaren Disen geflohen, Jonai. Außerdem werden die Da'schain noch eine große Rolle spielen. Wenn Deindre nur weit genug voraussehen könnte, um zu sagen, was es sein wird. Auf jeden Fall will ich hier etwas retten, und dieses Etwas seid Ihr.« »Wie Ihr meint«, sagte er zögernd. »Wir werden das behüten, was Ihr uns anvertraut habt, bis Ihr es wieder braucht.« »Selbstverständlich. Die Dinge, die wir Euch gaben.« Sie lächelte ihn an und löste ihren Griff aus seinem Haar. Dann strich sie es auch noch glatt und faltete schließlich die Hände. »Ihr werdet diese... Dinge... in Sicherheit bringen, Jonai. Bleibt in Bewegung, zieht immer weiter, bis Ihr einen sicheren Ort findet, wo Euch niemand etwas antun kann.« »Wie Ihr befehlt, Aes Sedai.« »Wie steht es mit Coumin, Jonai? Hat er sich beruhigt?« Er sah keine Möglichkeit, ihr die Antwort zu verschweigen, obwohl er sich am liebsten die Zunge abgebissen hätte. »Mein Vater versteckt sich irgendwo in der Stadt. Er versuchte uns... zum Widerstand zu überreden. Er wollte nicht auf uns hören, Aes Sedai. Er wollte nicht hören. Er hat irgendwo eine alte Schocklanze gefunden, und nun... « Er konnte nicht weitersprechen. Er erwartete, daß sie nun zornig werde, aber in ihren Augen glitzerten Tränen.

»Haltet Euch an den Pakt, Jonai. Und wenn die Da'schain alles andere verlieren, dann sorge trotzdem dafür, daß sie sich an den Weg des Blattes halten. Versprich es mir.« »Natürlich, Aes Sedai«, sagte er erschrocken. Der Pakt und die Aiel, das war einfach nicht zu trennen. Den Weg des Blattes zu verlassen würde bedeuten, sich selbst aufzugeben. Coumin war ein Abtrünniger. Man sagte, er sei schon als Junge anders gewesen als die anderen und kaum noch ein Aiel, aber niemand wußte, warum.

»Geht nun, Jonai. Ich will Euch morgen weit weg von Paaren Disen wissen. Und denkt daran — bleibt immer in Bewegung. Behütet die Aiel.« Er verbeugte sich im Knien, aber sie wandte sich bereits wieder der Diskussion zu. »Können wir Kodam und seinen Leuten vertrauen, Solinda?« »Wir müssen, Oselle. Sie sind jung und unerfahren, aber kaum vom Verderben berührt, und... Und wir haben keine andere Wahl.« »Dann tun wir eben, was sein muß. Das Schwert muß warten. Someschta, wir haben eine Aufgabe für den letzten der Nym, wenn Ihr sie erfüllen wollt. Wir haben schon zuviel von Euch verlangt, und nun müssen wir noch mehr verlangen.« Während der Nym sich erhob, dienerte Jonai sich aus dem Raum. Someschtas Kopf berührte die Decke. Sie waren bereits so in ihre Pläne versunken, daß keine mehr auf ihn achtete. Trotzdem verzichtete er nicht auf diese letzte Ehrenbezeugung. Er glaubte nicht, daß er sie jemals wiedersehen würde.

Er rannte aus der Halle der Diener und aus der Stadt hinaus bis zu dem Ort, an dem ihn die große Versammlung erwartete. Tausende von Wagen erstreckten sich in zehn Reihen beinahe vier Meilen weit. Die einen Wagen waren mit Lebensmitteln und Wasserfässern beladen, andere mit den verpackten Sachen, die ihnen von den Aes Sedai anvertraut worden waren — Angreal und Sa'Angreal und Ter'Angreal — alles Dingen, die davor bewahrt werden mußten, in die Hände von Männern zu fallen, die durch die Benützung der Einen Macht dem Wahnsinn verfallen waren. Einst hätte es genügend andere Verkehrsmittel gegeben, um dies alles zu befördern, Jo-Mobile und Springer, Schweber und riesige Scho-Flieger. Nun mußten die mühsam aufgetriebenen Pferde und Planwagen ausreichen. Zwischen den Wagen standen die Menschen, ausreichend, um eine ganze Stadt zu bevölkern. Vielleicht waren dies alle Aiel, die noch auf der Welt am Leben geblieben waren.

Hunderte kamen ihm entgegen, Männer und Frauen, die Abgeordneten, die wissen wollten, ob die Aes Sedai einigen das Bleiben gestattet hätten. »Nein«, sagte er zu ihnen. Einige runzelten die Stirn und zögerten, doch er fügte hinzu: »Wir müssen gehorchen. Wir sind Da'schain Aiel, und wir unterstehen den Aes Sedai.« Langsam gingen sie auseinander und zu ihren Wagen zurück. Er glaubte, zu verstehen, daß Coumins Name erwähnt wurde, aber davon durfte er sich nicht beeinflussen lassen. Er eilte zum eigenen Wagen, der an der Spitze einer der inneren Reihen stand. Sämtliche Pferde tänzelten nervös wegen der immer wiederkehrenden Erdstöße.

Seine Söhne saßen bereits auf dem Bock. Willim, der Fünfzehnjährige, hielt die Zügel, und neben ihm saß der zehnjährige Adan. Beide grinsten aufgeregt. Die kleine Esole lag oben auf der Plane, die ihre Habseligkeiten und —was wichtiger war — die ihnen von den Aes Sedai übergebenen Dinge — bedeckte, und spielte mit einer Puppe. Es gab keinen Platz zum Mitfahren, außer für die ganz Jungen und die ganz Alten. Hinter dem Kutschbock standen gut gesichert Blumentöpfe mit einem Dutzend Chora-Schößlingen, die er einpflanzen wollte, wenn sie einen wirklich sicheren Ort gefunden hatten. Vielleicht war das närrisch, aber es gab keinen Wagen, der nicht ein paar dieser Schößlinge mitgeführt hätte. Es war etwas aus einer längst vergangenen Zeit und gleichzeitig das Symbol einer hoffentlich besseren Zukunft. Die Menschen brauchten etwas Hoffnung und solche Sinnbilder.

Alnora wartete neben dem Gespann. Ihr schwarzes, glänzendes Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern und erinnerte ihn an die Zeit, als er sie kennengelernt hatte. Damals war sie noch ein Mädchen gewesen. Doch nun waren ihre Augen von Sorgenfalten umgeben.

Er brachte ein schwaches Lächeln zuwege, um die Sorge in seinem eigenen Herzen zu verbergen. »Alles wird gut werden, Frau meines Herzens.« Sie antwortete nicht, und er fügte hinzu: »Hast du geträumt?« »Nicht von der nahen Zukunft«, murmelte sie. »Alles wird gut, alles wird gut und alle möglichen Dinge werden gelingen.« Ihr Lächeln wirkte zittrig, und sie berührte ihn an der Wange. »Wenn ich bei dir bin, weiß ich, daß alles gut wird, Mann meines Herzens.« Jonai hob die Arme und winkte. Die nächsten winkten ebenfalls und so durchlief das Startsignal die Reihen. Schwerfällig setzten sich die Wagen in Bewegung, und die Aiel verließen Paaren Disen.

Rand schüttelte den Kopf. Zuviel. Die Erinnerungen drängten sich. Die Luft schien von Wetterleuchten erfüllt. Der Wind wirbelte den körnigen Staub auf. Muradin hatte mit seinen Fingernägeln tiefe Furchen in sein Gesicht gerissen. Jetzt begann er, seine Augen auszukratzen. Vorwärts.

Coumin kniete in seiner Arbeitskleidung am Rand des gepflügten Ackers. Die weichen Schnürstiefel, Hose und Wams waren im gleichen Graubraun gehalten. Er kniete in einer langen Reihe, die den ganzen großen Acker umgab: immer zehn Da'schain Aiel, jeweils eine Armlänge voneinander entfernt, und dann kam ein Ogier. Er konnte auch den nächsten Acker noch überblicken, der ebenfalls lebendig gesäumt wurde. Dahinter saßen die Soldaten mit ihren Schocklanzen auf gepanzerten Jo-Mobilen. Ein Schweber brummte auf Patrouille über sie hinweg — eine tödliche, schwarze Metallwespe, in der zwei Männer saßen. Er war sechzehn, und die Frauen hatten entschieden, daß seine Stimme nun tief genug war, um am Aussaatsingen teilzunehmen.

Die Soldaten faszinierten ihn, ob es nun Menschen oder Ogier waren, so, wie eine bunte Giftschlange. Sie töteten. Der Großvater seines Vaters — Charn — behauptete, einst habe es keine Soldaten gegeben, doch Coumin glaubte ihm nicht. Wenn es keine Soldaten gab, wer würde dann die Nachtreiter und die Trollocs davon abhalten, alle zu töten? Natürlich behauptete Charn auch, damals habe es noch keine Myrddraal und Trollocs gegeben. Keine Verlorenen, keine Schattenabkömmlinge. Er hatte viele Geschichten auf Lager, die angeblich aus einer Zeit vor den Soldaten, den Nachtreitern und den Trollocs stammten, als angeblich der Dunkle Herr der Gräber noch irgendwo gefangen lag und keiner seinen Namen und überhaupt die Bezeichnung ›Krieg‹ kannte. Coumin konnte sich eine solche Welt nicht vorstellen. Der Krieg war schon alt gewesen, als er geboren wurde.

Charns Geschichten gefielen ihm schon, obwohl er sie nicht glauben konnte, aber einige brachten dem alten Mann doch finstere Mienen und Schelte ein. Beispielsweise wenn er behauptete, früher einer der Verlorenen gedient zu haben. Und nicht nur irgendeiner, nein, auch noch Lanfear selbst! Da könnte er gleich behaupten, Ishamael gedient zu haben. Wenn Charn schon Geschichten erfand, wünschte sich Coumin, er würde erzählen, wie er Lews Therin, dem großen Führer selbst, gedient habe. Sicher, dann würde jeder fragen, wieso er jetzt dem Drachen nicht mehr diente, aber das wäre immer noch besser als dieser Zustand jetzt. Coumin gefiel es nicht, wie die Bürger Charn anblickten, wenn er sagte, Lanfear sei nicht immer böse gewesen.

Eine Bewegung am Ende des Ackers sagte ihm, daß sich einer der Nym näherte. Die große Gestalt, die selbst die Ogier noch um Kopf, Schultern und Brust überragte, trat hinaus auf den Ackerboden, der bereits die Saat enthielt, und Coumin mußte gar nicht hinsehen, um zu wissen, daß in seinen Fußstapfen grüne Sprossen emporschossen. Es war Someschta, von ganzen Schmetterlingswolken umgeben, die ihn weiß und gelb und blau umschwärmten. Aufgeregtes Geplappere machte sich unter den versammelten Stadtbewohnern und Grundbesitzern breit, die neugierig weiter draußen standen. Auf jedem Feld stand jetzt ein Nym bereit.

Coumin fragte sich, ob er Someschta auf Charns Geschichten ansprechen solle. Er hatte sich schon einmal mit ihm unterhalten, und Someschta war alt genug, um zu wissen, ob Charn die Wahrheit sagte. Die Nym waren älter als jeder andere. Manche behaupteten, die Nym seien unsterblich oder lebten zumindest solange, wie es Pflanzen gab. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzugrübeln, ob er einem Nym Fragen stellen solle.

Wie es der Brauch war, begann der Ogier. Er stand auf und sang. Sein Grollen in tiefstem Baß klang, als sänge die Erde selbst. Die Aiel erhoben sich, und die menschlichen Stimmen erklangen mit ihrem eigenen Lied. Selbst die tiefsten Stimmen unter ihnen lagen noch eine Oktave höher als die der Ogier. Und doch harmonierten die beiden Gesänge. Dann nahm Someschta die beiden Melodien auf und verwob sie in seinem Tanz. Er glitt mit langen, schwingenden Schritten über den Acker, die Arme weit gespreizt. Schmetterlinge umschwärmten ihn und landeten auf seinen Fingerspitzen.

Coumin hörte im Hintergrund die Gesänge an den anderen Äckern, hörte die Frauen rhythmisch in die Hände klatschen, um die Männer anzufeuern. Es war der Rhythmus und der Herzschlag neuen Lebens, doch dieses Wissen war fern und lag in einem Winkel seines Hinterkopfes. Das Lied berauschte ihn und sog ihn in sich auf. Er selbst war es, den Someschta in die Erde und um die Samen herum verwob. Es waren aber keine Samen mehr. Zemaisschößlinge bedeckten den ganzen Acker, und sie waren überall dort größer, wo sie der Fuß des Nyms berührt hatte. Keine Krankheit würde diese Pflanzen gefährden, kein Insekt sie kahlfressen. Aus den besungenen Samen würden Pflanzen wachsen, mehr als zwei Männer groß. Sie würden die Silos der Stadt füllen. Dafür war er geboren worden, um dieses und viele weitere Lieder zu singen, um Samen zu besingen. Er bedauerte es nicht, daß ihn die Aes Sedai mit zehn Jahren abgelehnt hatten, weil sie sagten, ihm fehle der Funke. Es wäre wunderbar gewesen, zum Aes Sedai ausgebildet zu werden, aber diese Augenblicke jetzt wogen alles auf.

Das Lied verklang langsam. Die Aiel ließen es gemeinsam ausklingen. Someschta tanzte noch ein paar Schritte weiter, nachdem die letzten Stimmen verklungen waren, denn es schien, als liege immer noch ein Hauch des Liedes in der Luft, solange er sich bewegte. Dann blieb er stehen, und es war vorüber.

Coumin war überrascht, als er bemerkte, daß die Stadtbewohner verschwunden waren. Er hatte allerdings keine Zeit, darüber nachzudenken, warum sie weg waren und wohin. Die Frauen kamen lachend heran, um die Männer zu beglückwünschen. Jetzt war er selbst einer dieser Männer und kein Junge mehr. Wenngleich sich die Frauen bei ihm noch nicht entschieden haben zu schienen: die einen küßten ihn auf den Mund, während die anderen emporfaßten und ihm über das kurzgeschnittene rote Haar strichen.

Da wurde er des Soldaten gewahr, der nur wenige Schritt entfernt stand und sie beobachtete. Er hatte seine Schocklanze und den Tarnumhang irgendwo liegen lassen, trug aber noch seinen Helm. Wie ein riesiger Insektenkopf sah dieser aus. Die ›Beißwerkzeuge‹ verbargen sein Gesicht, obwohl er das schwarze Schockvisier hochgeschoben hatte. Als sei ihm gerade klar geworden, daß er immer noch wie ein Fremdkörper wirkte, nahm der Soldat nun den Helm ab. Ein junger Mann wurde so enthüllt, der höchstens vier oder fünf Jahre älter war als Coumin. Der feste Blick aus seinen braunen Augen traf Coumin, und der Junge schauderte. Das Gesicht mochte ja nur vier oder fünf Jahre älter wirken, doch diese Augen... Auch der Soldat war bestimmt mit zehn Jahren ausgewählt worden, um seine Ausbildung zu beginnen. Coumin war froh, daß den Aiel diese Auswahl erspart blieb.

Einer der Ogier, Tomada, kam herüber. Seine behaarten Ohren zeigten fragend nach vorn. »Habt Ihr Neuigkeiten, Krieger? Ich sah Erregung unter den Jo-Mobilen, während wir sangen.« Der Soldat zögerte. »Ich denke, ich kann es Euch sagen, obwohl es noch unbestätigt ist. Es wurde berichtet, daß Lews Therin die Gefährten heute morgen bei Sonnenaufgang zu einem Angriff auf den Shayol Ghul führte. Die Verbindung ist wohl gestört, doch im Bericht hieß es, der Riß sei versiegelt und die meisten der Verlorenen befänden sich drinnen. Vielleicht auch alle.« »Dann ist alles vorbei.« Tomada atmete auf. »Endlich vorbei, das Licht sei gepriesen.« »Ja.« Der Soldat blickte sich um. Mit einem Mal wirkte er verloren. »Ich... denke schon. Ich glaube... « Er sah seine Hände an und ließ sie dann wieder fallen. Er machte einen innerlich erschöpften Eindruck. »Die Leute hier konnten es kaum erwarten, mit dem Feiern zu beginnen. Wenn die Nachricht sich als richtig erweist, wird das tagelang so gehen. Ob sie wohl... ? Nein, sie werden nicht wollen, daß sich Soldaten ihnen anschließen. Wie ist es mit Euch?« »Heute abend vielleicht«, sagte Tomada. »Aber wir müssen noch drei weitere Städte besuchen, bevor unsere Runde geschafft ist.« »Natürlich. Ihr habt noch Arbeit zu verrichten. Das bleibt Euch wenigstens.« Der Soldat sah sich wieder um. »Es gibt immer noch Trollocs. Obwohl die Verlorenen gefangen sind, bleiben noch die Trollocs. Und die Nachtreiter.« Er nickte vor sich hin und ging zurück zu den Jo-Mobilen.

Tomada zeigte natürlich weiter keine Erregung, aber Coumin war genauso überwältigt wie der junge Soldat. Der Krieg war vorüber? Wie würde die Welt ohne Krieg aussehen? Mit einemmal mußte er unbedingt mit Charn sprechen.

Bevor er noch die Stadt erreichte, hörte er bereits den Lärm der Feiern. Gelächter und Gesang schlugen ihm entgegen. Die Glocken im Rathausturm begannen jubilierend zu läuten. Die Menschen tanzten auf den Straßen — Männer, Frauen und Kinder. Coumin schob sich suchend zwischen ihnen durch. Charn hatte sich entschlossen, in einer der Schenken zu bleiben, wo die Aiel hier wohnten, anstatt mit zum Besingen zu kommen. Selbst die Aes Sedai konnten nicht mehr viel gegen die Schmerzen in seinen altersgeschwächten Knien unternehmen. Aber sicher war er jetzt auch draußen auf der Straße.

Plötzlich knallte etwas auf Coumins Mund und seine Beine gaben nach. Er rappelte sich auf die Knie hoch, bevor ihm überhaupt klar war, daß er am Boden lag. Die Hand, die er an den Mund hob, war blutig. Er blickte sich um und sah einen der Stadtbewohner, der sich mit wutverzerrtem Gesicht über ihn beugte und seine Faust rieb. »Warum habt ihr das getan?« fragte er ihn mühsam.

Der Mann fauchte ihn an: »Die Verlorenen sind tot. Tot, hörst du? Lanfear wird Euch nicht mehr beschützen. Wir werden alle von Euch ausrotten, die den Verlorenen dienten, während sie vorgaben, auf unserer Seite zu stehen. Wir werden mit Euch allen machen, was wir mit diesem verrückten alten Mann gemacht haben.« Eine Frau zog den Mann am Arm weg. »Komm schon, Tomada. Komm und halte deinen närrischen Mund! Willst du, daß die Ogier dich abführen?« Mit einemmal vorsichtig, ließ sich der Mann von ihr fortziehen, zurück in die Menschenmenge.

Coumin kämpfte sich hoch und rannte los, ohne auf das Blut zu achten, das ihm über das Kinn lief.

In der Schenke war es leer und still. Nicht einmal der Wirt war da, oder die Köchin und ihre Gehilfinnen. Coumin rannte durch das Haus und rief: »Charn? Charn? Charn!« Vielleicht auf dem Hinterhof? Charn saß gern unter den Gewürzapfelbäumen hinter der Schenke und erzählte von den Zeiten, als er noch jung gewesen war.

Coumin rannte zum Hinterausgang hinaus, stolperte und fiel auf die Nase. Sein Fuß war an einem herumliegenden Stiefel hängengeblieben. Es war einer von Charns guten roten Stiefeln, die er die ganze Zeit über trug, da er nicht mehr am Besingen teilnahm. Coumin blickte instinktiv nach oben.

Charns weißhaariger Körper hing an einem Seil, das man über einen Firstbalken geworfen hatte. Der eine Fuß war bloß, wo er offensichtlich seinen Stiefel selbst abgetreten hatte. Die Finger einer Hand waren zwischen Hals und Seil eingeklemmt. Er hatte wohl versucht, sich gegen den Tod zu wehren, solange es ging.

»Warum?« fragte Coumin laut. »Wir sind Da'schain. Warum?« Es war niemand da, der die Frage beantworten konnte. Er preßte den Stiefel an seine Brust, kniete auf dem grasbewachsenen Boden und blickte zu Charns Leichnam empor, während der fröhliche Lärm über ihm zusammenschlug.

Rand bebte. Das Licht von den Säulen her war wie ein schimmernder, blauer Vorhang, der ihm schier die Nerven aus der Haut riß. Der Wind heulte — ein enormer Luftwirbel, der alles in sich hineinsog. Muradin hatte es geschafft, den Schleier anzulegen, doch über dessen Rand hinweg starrten leere und blutige Augenhöhlen. Der Aiel kaute heftig. Blutiger Schleim tropfte ihm auf die Brust. Vorwärts.

Charn schritt ganz an der Seite der breiten, belebten Straße entlang, unter dem Blätterdach der Chorabäume, deren dreifingrige Blätter Frieden und Zufriedenheit im Schatten der silbrigen Gebäude verbreiteten, die den Himmel zu berühren schienen. Eine Stadt ohne Chorabäume würde ihm so eintönig wie eine Steppe vorkommen. Jo-Mobile summten leise durch die Straßen, und ein großer, weißer Scho-Flieger schoß über den Himmel. Er beförderte bestimmt Bürger nach Comelle oder Tzora oder in eine der anderen Städte. Er selbst benützte nur selten einen Scho-Flieger. Falls er weit weg mußte, reiste er gewöhnlich in Begleitung einer Aes Sedai durch die Kurzen Wege. Doch heute abend würde er nach M'jinn fliegen. Heute feierte er seinen fünfundzwanzigsten Namenstag, und an diesem Tag wollte er Nallas neuesten Heiratsantrag endlich annehmen. Er fragte sich, ob sie wohl überrascht sei. Er hatte sie ein Jahr lang vertröstet, weil er sich nicht niederlassen wollte. Ihre Heirat würde bedeuten, daß er zu Zorelle Sedai wechseln müßte, der auch Nalla diente, aber Mierin Sedai hatte schließlich ihre Einwilligung gegeben.

Er kam um eine Ecke und sah gerade noch den dunklen, breitschultrigen Mann mit dem modischen Spitzbart, doch es war schon zu spät. Die Schulter des Mannes traf ihn voll, er stürzte hart zu Boden, fiel auf den Rücken, und sein Kopf knallte auf das Pflaster des Gehwegs, so daß er nur noch Sterne sah. Betäubt lag er da.

»Paßt nächstens besser auf!« fuhr ihn der Bärtige an. Dann zog er das ärmellose Wams zurecht und schlenkerte die Spitzenmanschetten in die richtige Lage. Sein schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, war hinten zusammengebunden. Auch das war gerade groß in Mode. So imitierte man im Grunde die Aiel, auch wenn man nicht auf den Pakt eingeschworen war.

Die blonde Frau an seiner Seite legte ihm eine Hand auf den Arm. Ihr Kleid aus weißem Tüll schien durch ihre Verlegenheit irgendwie noch durchscheinender zu werden. »Jom, sieh mal sein Haar an. Er ist ein Aiel, Jom.« Charn faßte nach seinem Kopf, um festzustellen, ob er eine Platzwunde habe. Die Finger fuhren durch das kurzgeschnittene rotgoldene Haar. Er zupfte an dem Pferdeschwanz in seinem Nacken. Alles in Ordnung. Eine Schwellung, sonst nichts, dachte er.

»Tatsächlich.« Der Ärger des Mannes machte Zerknirschtheit Platz. »Vergebt mir, Da'schain. Ich sollte besser aufpassen, nicht Ihr. Laßt mich Euch aufhelfen.« Er hatte sich schnell auf die neue Situation eingestellt und half nun Charn, auf die Beine zu kommen. »Geht es Euch gut? Laßt mich einen Springer rufen, der Euch an Euer Ziel bringt.« »Ich bin unverletzt, Bürger«, sagte Charn sanftmütig. »Es war auch wirklich mein eigener Fehler.« Das stimmte; er hätte nicht so hetzen müssen. Dem Manne hätte glatt etwas passieren können. »Habe ich Euch weh getan? Bitte, vergebt mir.« Der Mann öffnete den Mund und wollte protestieren. Das taten die Bürger immer. Sie glaubten wohl, die Aiel bestünden aus Glas. Doch bevor der Mann ein Wort herausbringen konnte, bebte der Boden unter ihren Füßen. Auch die Luft war plötzlich in Bewegung, schwappte in Wellen über sie. Der Mann sah sich nervös um und zog seinen modischen Tarnumhang enger um sich und seine Begleiterin zusammen, so daß ihre Köpfe körperlos über der Straße zu schweben schienen. »Was war das, Da'schain?« Andere, denen Charns Haar ebenfalls aufgefallen war, versammelten sich nun um sie und stellten ängstlich die gleichen Fragen, doch er beachtete sie nicht. Er dachte gar nicht daran, daß er sich unhöflich ihnen gegenüber verhielt. Er schob sich einfach zwischen den Menschen durch, den Blick auf die Scharom gerichtet: die weiße Kugel, tausend Fuß im Durchmesser, die ebenso hoch über den blauen und silbernen Kuppeln des Collam Daan schwebte.

Mierin hatte gesagt, daß heute der große Tag sei. Sie meinte, sie habe eine neue Quelle der Einen Macht entdeckt. Mit ihrer Hilfe könnten weibliche und männliche Aes Sedai die gleiche Quelle benützen und nicht, wie bisher, voneinander getrennte Hälften. Ohne diese Trennung könnten Männer und Frauen gemeinsam noch viel Größeres vollbringen. Und heute wollte sie zusammen mit Beidomon zum erstenmal diese Kraftquelle anzapfen. Zum letztenmal mußten Männer und Frauen verschiedene Hälften der Wahren Quelle benützen, um sich eine neue zu erschließen. Heute.

Etwas, das wie ein kleiner, weißer Splitter wirkte, wirbelte auf einem Strahl schwarzen Feuers von der Scharom weg und senkte sich täuschend langsam und wie zufällig herab. Dann schossen mit einemmal hundert schwarze Feuerstrahlen aus der riesigen, weißen Kugel. Die Scharom brach wie ein Ei auseinander und begann, in einem obsidianschwarzen Inferno herabzufallen. Dunkelheit breitete sich über den Himmel. Die unnatürliche Nacht verschlang die Sonne. Es war, als sei die Schwärze der Lichtschein dieser Flammen. Überall schrien die Menschen voller Angst auf.

Beim ersten Feuerstrahl bereits rannte Charn los in Richtung Collam Daan, aber es war ihm klar, daß er zu spät kommen würde. Er hatte geschworen, den Aes Sedai zu dienen, und nun kam er zu spät. Beim Laufen liefen ihm die Tränen über die Wangen.

Rand blinzelte, um die schwarzen Flecken vor seinen Augen loszuwerden, und hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Er hatte immer noch das Bild im Kopf, wie diese riesige Kugel in schwarzem Feuer brannte und vom Himmel stürzte. Habe ich wirklich gesehen, wie das Schlupfloch in das Gefängnis des Dunklen Königs gebohrt wurde? Wirklich? Er stand am Rande der Reihe von gläsernen Säulen und blickte Avendesora an. Ein Chora-Baum. Eine Stadt ohne Choras ist nur eine Steppe. Und nun gibt es nur noch einen. Die Säulen funkelten im blauen Schein der Nebelkuppel über ihm, aber nun kam das Licht nicht mehr aus ihrem Inneren, sondern war bloße Reflektion. Von Muradin war nichts zu sehen. Er glaubte nicht, daß der Aiel aus dem gläsernen Wald entkommen sei. Oder jemals entkommen würde.

Plötzlich fiel ihm etwas unten zwischen den Zweigen des Baums des Lebens auf. Eine Gestalt pendelte dort langsam hin und her. Es war ein Mann, der an einem um seinen Hals geschlungenen Seil hing, das man an einem Pfahl befestigt hatte. Den Pfahl hatte man einfach über zwei kräftige Äste gelegt.

Er brüllte auf und rannte zum Baum. Gleichzeitig griff er nach Saidin. Im Lauf erschien plötzlich das feurige Schwert in seiner Hand, und er sprang hoch und hackte damit auf das Seil ein. Gleichzeitig krachten Mat und er mit dumpfem Aufschlag auf die staubigen, weißen Pflastersteine. Der Pfahl rollte weg und klapperte neben ihnen herunter. Erst jetzt sah Rand, daß es kein einfacher Pfahl war, sondern ein ganz eigenartiger Speer mit schwarzem Schaft und einer kurzen Schwertklinge anstelle der üblichen Spitze. Die Klinge war leicht gekrümmt und einseitig geschliffen. Aber Rand war das gleich, und wäre er auch aus Gold und Cuendillar gewesen und mit Saphiren und Rubinen besetzt.

Er ließ Schwert und Macht fahren, riß das Seil von Mats Hals und preßte ein Ohr auf den Brustkorb des Freundes. Nichts. Verzweifelt riß er Mats Wams und Hemd auf und zerriß dabei den Lederriemen, an dem ein silbernes Medaillon hing. Er warf das Medaillon zur Seite und horchte noch einmal. Nichts. Kein Herzschlag. Tot. Nein! Ihm wäre nichts passiert, wenn ich ihn mir nicht hierher hätte folgen lassen! Ich kann ihn nicht tot zurücklassen!

Er knallte seine Faust, so hart er nur konnte, auf Mats Brustkorb, und wieder horchte er. Nichts. Ein weiterer Schlag, dann Horchen. Ja. Da war es. Ein ganz schwacher Herzschlag. Eindeutig. So schwach und so langsam. Und er wurde bereits wieder schwächer. Aber Mat war immer noch am Leben, trotz der breiten, blau angelaufenen Schwellung um seinen Hals. Vielleicht konnte man sein Leben erhalten.

Rand atmete so tief ein, wie er nur konnte, preßte seinen Mund auf den Mats und blies ihm den Atem ein. Wieder. Noch einmal. Dann sprang er auf, setzte sich auf Mats Brust und hob ihn am Bund seiner Hose hoch, bis sich die Hüften ein Stück über dem Boden befanden. Hoch und runter, dreimal, und dann zurück zur Mund-zu-Mund-Beatmung. Er hätte genauso die Macht benützen können; vielleicht hätte er damit mehr ausgerichtet. Doch er mußte an das Mädchen im Stein denken, und das hielt ihn davon ab. Er wollte Mat am Leben halten. Am Leben, und nicht als bloße Puppe, die mit Hilfe der Macht bewegt wurde. Damals in Emondsfeld hatte er einmal beobachtet, wie Meister Luhhan einen Jungen wiederbelebt hatte, den er leblos im Weinquellenbach treibend vorgefunden hatte.

Also beatmete er Mat, wuchtete ihn hoch, blies und wuchtete und betete.

Plötzlich zuckte Mat und hustete. Rand kniete sich neben ihn und Mat legte beide Hände an seinen Hals, rollte sich auf die Seite und sog schmerzhaft röchelnd Luft in die gequälte Lunge.

Mat berührte das Stück Seil an seiner Seite mit einer Hand und schauderte. »Diese verdammten — Ziegenabkömmlinge«, grollte er heiser. »Sie versuchten — mich —umzubringen.« »Wer?« fragte Rand und blickte sich mißtrauisch um. Halbfertige Paläste um den riesigen, mit seltsamen Gegenständen übersäten Platz, starrten ihn aus leeren Fensterhöhlen an. Rhuidean war doch sicher menschenleer bis auf sie! Nun ja, vielleicht war Muradin noch irgendwo am Leben.

»Die Leute — auf der anderen Seite — dieser — verflixten Tür.« Mat schluckte, was ihm offensichtlich Scherzen bereitete, setzte sich auf und atmete krampfhaft durch. »Hier gibt es nämlich auch so eine, Rand.« Es klang, als habe man seine Kehle mit einem Reibeisen bearbeitet.

»Du konntest durchgehen? Haben sie dir Fragen beantwortet?« Das könnte sich als nützlich erweisen. Er brauchte unbedingt weitere Antworten. Tausend Fragen und viel zu wenige Antworten.

»Keine Antworten«, sagte Mat heiser. »Sie sind Betrüger. Und sie versuchten, mich umzubringen.« Er nahm das Medaillon in die Hand. Es zeigte einen silbernen Fuchskopf und war so groß, daß es fast seine Handfläche bedeckte. Dann verzog er das Gesicht und steckte es in die Tasche. »Wenigstens habe ich auch etwas von ihnen.« Er zog den eigenartigen Speer zu sich herüber und fuhr mit den Fingern an dem schwarzen Schaft entlang. Die ganze Länge entlang zog sich eine Zeile einer fremdartigen Kursivschrift, links und rechts beendet von jeweils einem in Metall eingearbeiteten Vogel, der noch schwärzer war als das Holz. Rand glaubte, es seien Raben. Auf der Klinge war ein weiteres solches Vogelpaar eingraviert. Mit rauhem, trockenen Lachen stand Mat auf, wobei er sich auf den Speer stützte. Die Schwertklinge endete gerade auf Kopfhöhe. Er dachte nicht daran, das Hemd zuzubinden oder die Knöpfe am Wams wieder zu schließen. »Ich behalte auch den. Ihr Scherzartikel, aber ich behalte ihn trotzdem.« »Wieso Scherz?« Mat nickte. »Was darauf steht.

›Solchermaßen wird unser Vertrag niedergeschrieben. Solchermaßen wird die Vereinbarung geschlossen. Der Gedanke ist der Pfeil der Zeit. Die Erinnerung wird niemals verblassen. Worum gebeten wurde, das wurde gegeben. Der Preis wurde bezahlt.‹ Ein netter Scherz, nicht wahr? Ich werde ihnen den eigenen Witz in den Hals stopfen, bis sie ersticken, wenn ich eine Gelegenheit dazu bekomme. Ich gebe ihnen ihr ›Gedanke‹ und ›Erinnerung‹ zurück.« Er zuckte ein wenig zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Licht, mein Kopf tut vielleicht weh! Es dreh sich alles, so wie tausend Bruchstücke von Träumen, und jeder davon ist wie eine Nadel. Glaubst du, Moiraine wird etwas dagegen tun, wenn ich sie darum bitte?« »Da bin ich sicher«, antwortete Rand bedächtig. Mat mußte starke Schmerzen haben, wenn er Hilfe bei einer Aes Sedai suchte. Er betrachtete wieder den dunklen Speerschaft. Der größte Teil der Inschrift war durch Mats Hand verdeckt, doch nicht alles. Was da auch stehen mochte, davon hatte er keine Ahnung. Woher wußte Mat das? Rhuideans leere Fensterhöhlen starrten ihn an. Wir verbergen noch so manches Geheimnis, schienen sie ihm sagen zu wollen. Mehr als du ahnst. Schlimmeres, als du ahnst. »Gehen wir zurück, Mat. Es ist mir gleich, ob wir mitten in der Nacht durch das Tal gehen müssen. Wie du ja sagtest, wird es nachts wenigstens kühler. Ich will nicht länger hier bleiben.« »Das kommt mir entgegen«, sagte Mast hustend. »Solange wir noch einmal einen Schluck Wasser aus diesem Brunnen trinken können... « Rand paßte seinen Schritt dem Mats an. Der ging zuerst ziemlich langsam und stützte sich bei jedem Schritt auf den Speer wie auf einen Wanderstock. Er blieb einmal kurz stehen, um die beiden Figuren zu betrachten, den Mann und die Frau mit den Kristallkugeln, aber dann ging er weiter. Noch nicht. Das hatte noch lange Zeit, falls er vom Glück begünstigt war.

Als sie den Platz hinter sich hatten, wirkten die unvollendeten Paläste an den Straßen bedrohlich. Ihre gezackten Spitzen hätten Mauern einer gewaltigen Festung sein können. Rand griff nach Saidin, obwohl er keine reale Bedrohung entdecken konnte. Doch er fühlte sie — als bohrten sich mörderische Blicke in seinen Rücken. Rhuidean lag friedlich und menschenleer da. Im blauen Glühen des Nebeldaches gab es keine Schatten. Der Staub auf der Straße wurde vom Wind aufgewirbelt... Der Wind. Es wehte überhaupt kein Wind.

»Ach, seng mich«, knurrte Mat. »Ich glaube, wir haben Probleme, Rand. Das habe ich nun davon, daß ich in deiner Nähe bleibe. Du bringst mich jedesmal in Schwierigkeiten.« Die Wellen im Staub schlugen schneller empor. Staubkämme vereinigten sich zu dickeren Wellen und bebten erwartungsvoll.

»Kannst du schneller gehen?« fragte Rand.

»Lehen? Blut und Asche, ich kann laufen!« Er nahm den Speer schräg vor die Brust und rannte schleppend los.

Rand lief neben ihm und ließ wieder das Schwert erscheinen. Er wußte wohl nicht, was er gegen Staubwogen ausrichten sollte und was das Schwert überhaupt nützen könne. Es war ja nur Staub. Nein, das ist es, verdammt noch mal, nicht! Es ist eine dieser Blasen. Das Böse des Dunklen Königs, das durch das Muster dringt und verfluchte Ta'veren sucht. Ich weiß schon, was das ist.

Rund um sie herum bebte der Staub, ballte sich zusammen und lagerte sich in immer dickeren Schichten ab. Plötzlich richtete sich genau vor ihnen im trockenen Bassin des Brunnens eine aus Staub geformte Gestalt auf, die Gestalt eines Mannes, düster und ohne fest umrissene Züge, aber mit Fingern wie scharfe Klauen. Stumm sprang sie auf die beiden zu.

Rand bewegte sich instinktiv — ›Der Mond erhebt sich aus dem Wasser‹ — und die aus der Macht gefertigte Klinge durchschnitt diese dunkle Gestalt. Innerhalb eines Wimpernschlags befand sich an deren Stelle nur noch eine dichte Staubwolke, die sich langsam auf das Pflaster senkte.

Doch die eine Gestalt wurde durch andere ersetzt. Von allen Seiten her stürmten schwarze, gesichtslose Gestalten auf sie ein. Jede sah anders aus als die nächste, doch alle hatten sie diese scharfen Klauen. Rand tanzte zwischen ihnen den Tanz der Schwerter. Seine Klinge webte komplizierte Muster in der Luft und hinterließ überall im blauen Schein schimmernde Staubkörner. Mat benützte seinen Speer wie einen Bauernspieß. Er wirbelte ihn durch die Luft, daß er kaum noch sichtbar war, und er setzte auch die Schwertklinge an der Spitze ein, als habe er nie etwas anderes getan. Die Geschöpfe starben, oder verwandelten sich vielmehr wieder in den Staub, aus dem sie geboren worden waren, doch es waren sehr viele und sie waren schnell. Rand lief Blut über das Gesicht und die alte Wunde an seiner Seite brannte so sehr, daß er fürchten mußte, sie werde wieder aufbrechen. Auch Mats Gesicht war rot von Blut. Es rann ihm bis über die Brust. Zu viele und zu schnell.

Du vollbringst noch nicht einmal den zehnten Teil dessen, wozu du bereits jetzt fähig bist. Das hatte Lanfear zu ihm gesagt. Er lachte, während er eine Fechtposition nach der anderen einnahm, während er den Tanz des Todes tanzte. Von einer der Verlorenen zu lernen! Aber warum nicht, wenn auch nicht auf die Art, die sie im Sinn hatte. Ja, er würde es versuchen. Er griff nach der Macht, verwob Stränge des Elements Luft und jagte einen Luftwirbel in jede der schwarzen Gestalten mitten hinein. Sie explodierten zu Staubwolken. Er hustete. Soweit er nur blicken konnte, senkte sich dichter Staub auf den Boden.

Hustend und schwer atmend stützte sich Mat auf seinen Speer mit dem dunklen Schaft. »Hast du das getan?« keuchte er und wischte sich Blut aus den Augen. »Wurde auch Zeit. Wenn du so was tun kannst, warum hast du es, verdammt noch mal, nicht gleich getan?« Rand fing wieder an zu lachen. Weil ich nicht auf die Idee kam. Weil ich gar nicht wußte, wie, bis ich es versuchte. Doch das Lachen gefror ihm in der Kehle. Der Staub fiel auf den Boden und bildete sofort neue Wellen. Die Bewegung durchlief den Staubteppich, soweit er sehen konnte. »Renn!« sagte er. »Wir müssen hier raus. Renn!« Seite an Seite hasteten sie auf den Nebel zu, hackten im Vorbeilaufen auf den Staub ein, wo er sich bedrohlich verdichtete, traten nach Staubwehen, taten alles, damit sich keine neuen Gestalten dieser Art bilden konnten. Rand sandte nach allen Seiten Windhosen aus, die wild durch den Staub wirbelten. Doch der verdichtete sich sofort wieder, noch bevor er den Boden erreichte. So rannten sie weiter, in den Nebel hinein und hindurch, und standen plötzlich in der Dämmerung, tiefe, scharf umrissene Schatten in ihrer Umgebung.

Die alte Wunde brannte höllisch, doch Rand fuhr herum, bereit, alles einzusetzen: Blitze, Feuer, was auch immer. Doch nichts drang durch den Nebel hinter ihnen. Vielleicht war der Nebel wie eine Mauer, die diese dunklen Gestalten zurückhielt. Vielleicht hielt er sie dort drinnen fest. Vielleicht... Er wußte es nicht. Es war ihm eigentlich auch gleichgültig, solange ihm nur diese — Dinge — nicht folgten.

»Seng mich«, knurrte Mat heiser, »wir waren die ganze Nacht über dort drinnen. Die Sonne geht schon bald auf. Ich hatte keine Ahnung, daß es so lange dauerte.« Rand blickte zum Himmel auf. Die Sonne stand noch hinter den Bergen. Ihre zerklüfteten Gipfel waren von rückwärts strahlend beleuchtet. Lange Schatten zogen sich über die Talsohle. Er wird bei Sonnenaufgang aus Rhuidean kommen und Euch mit Banden aneinanderfesseln, die Ihr nicht zerreißen könnt. Er wird Euch zurückbringen, und er wird Euch vernichten.

»Gehen wir zurück zum Lager oben«, sagte er leise. »Sie werden schon auf uns warten.« Auf mich.

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