28 Der Turm von Ghenjei

Da es bereits kurz vor Einbruch der Nacht war, blieb ihnen nichts weiter übrig, als hier am Abhang nahe dem Wegetor zu lagern. In zwei verschiedenen Lagern. Darauf bestand Faile.

»Damit ist jetzt Schluß«, sagte Loial in seinem strengsten Baßgrollen zu ihr. »Wir befinden uns nicht mehr in den Kurzen Wegen, und ich habe meinen Eid erfüllt. Jetzt ist Schluß.« Faile setzte ihren stursten Gesichtsausdruck auf, das Kinn angehoben und die Fäuste auf die Hüften gestützt.

»Laß es sein, Loial«, sagte Perrin. »Ich werde mein Lager dort drüben aufschlagen.« Loial sah Faile an, die sich sofort den beiden Aielfrauen zuwandte, nachdem sie Perrins Zustimmung vernommen hatte, und dann schüttelte er das mächtige Haupt und machte Anstalten, sich Perrin und Gaul anzuschließen. Perrin wies ihn mit einer kaum sichtbaren Geste zurück, von der er hoffte, die Frauen hätten sie nicht bemerkt.

Die Entfernung war im Endeffekt aber nicht groß —weniger als zwanzig Schritt. Das Wegetor war ja wohl verschlossen, aber da gab es immer noch die Raben und alles, was mit ihnen zusammenhängen mochte. Er wollte ihnen nahe sein, für den Fall, daß sie ihn brauchten. Falls Faile sich beklagte, sollte sie ruhig. Er war schon so darauf eingestellt, ihren Protest einfach zu überhören, daß es ihn wurmte, als sie nichts sagte.

So ignorierte er statt dessen die Schmerzen in seinem Bein und unter seinen Rippen, sattelte Traber ab und holte ihr Gepäck vom Packpferd herunter. Dann legte er beiden Tieren Fußfesseln an und hängte ihnen Futtersäcke um, in die er ein paar Handvoll Gerste und Hafer verteilt hatte. Hier oben konnten sie ja kaum grasen. Was die möglichen Gefahren betraf... Vorsichtshalber bespannte er seinen Bogen, legte ihn neben den Köcher ans Feuer und holte die Axt aus der Gürtelschlaufe.

Gaul half ihm beim Feuermachen, und dann aßen sie Brot und Käse und Trockenfleisch. Sie aßen schweigend und spülten alles mit Wasser hinunter. Die Sonne sank hinter die Berge und malte die Gipfel und die Wolken rot. Schatten überzogen das Tal, und die Luft wurde kühl.

Perrin klopfte sich die Krümel von den Händen und kramte seinen guten grünen Wollumhang aus den Satteltaschen. Vielleicht hatte er sich doch mehr der Hitze in Tear angepaßt, als er selbst glaubte. Die Frauen drüben aßen nicht so schweigend an ihrem von Schatten überlagerten Feuer. Er hörte Lachen, und ein paar Bruchstücke dessen, was sie sagten, ließen ihm die Ohren heiß werden. Frauen schwatzten aber auch über alles; sie kannten keine Hemmungen. Loial war so weit wie möglich von ihnen abgerückt, so weit eben der Feuerschein reichte, und hatte sich in einem Buch vergraben. Ihnen war wahrscheinlich nicht einmal klar, daß sie den Ogier von einer Verlegenheit in die nächste stürzten. Möglicherweise glaubten sie auch, sie sprächen so leise, daß Loial nichts mehr davon verstünde.

Perrin knurrte in sich hinein und setzte sich gegenüber von Gaul ans Feuer. Der Aiel schien von der Kühle überhaupt keine Notiz zu nehmen. »Kennst du lustige Geschichten?« »Lustige Geschichten? Mir fällt so plötzlich keine ein.« Gauls Blick wanderte hinüber zu dem anderen Feuer, und dann lachte er. »Ich würde schon gern eine erzählen, wenn ich könnte. Die Sonne, erinnerst du dich?« Perrin lachte extra laut, damit man es drüben auch sicher hören konnte. »Ich erinnere mich. Frauen, ha!« Das Gelächter im anderen Lager verstummte einen Moment lang und erhob sich anschließend wieder. Das würde es ihnen schon zeigen. Auch andere Leute konnten lachen. Perrin starrte trübsinnig ins Feuer. Seine Wunden schmerzten.

Einen Augenblick später sagte Gaul: »Diese Landschaft wirkt eher wie das Dreifache Land als jede andere in den Feuchtländern. Immer noch zuviel Wasser, und die Bäume sind zu groß und auch zu viele, aber es wirkt nicht so fremdartig wie die Orte, die ihr Wälder nennt.« Die Erde hier war sehr schlecht, wo Manetheren im Feuer gestorben war, die verstreuten Bäume waren verkrüppelt, vom Wind abgewandt, mit dicken, kurzen Stämmen, und keiner auch nur dreißig Fuß hoch. Für Perrin war das einer der trübseligsten Flecken Erde, die er je gesehen hatte.

»Ich wünschte, ich könnte eines Tages euer Dreifaches Land kennenlernen, Gaul.« »Vielleicht geht das, wenn wir hier fertig sind.« »Vielleicht.« Das war aber wohl kaum möglich. Eigentlich gar nicht. Er hätte das dem Aielmann sagen können, aber er wollte lieber nicht darüber sprechen, ja, noch nicht einmal darüber nachdenken.

»Und hier stand einst Manetheren? Du stammst von den Bewohnern Manetherens ab?« »Hier war Manetheren«, antwortete Perrin. »Ja, und ich denke schon.« Es war schwer zu glauben, daß in den Bewohnern der kleinen Dörfer und stillen Bauernhöfe der Zwei Flüsse das letzte Blut von Manetheren floß, doch Moiraine hatte das behauptet. Das alte Blut ist stark an den Zwei Flüssen, hatte sie gesagt. »Das war vor langer Zeit, Gaul. Wir sind Bauern und Schäfer, kein großer Staat mehr und auch keine großen Krieger.« Gaul lächelte leicht. »Wenn du meinst. Ich habe dich und Rand al'Thor den Tanz der Speere tanzen sehen, und auch den, den ihr Mat nennt. Aber wenn du meinst.« Perrin rutschte nervös hin und her. Inwieweit hatte er sich geändert, seit sie die Heimat verlassen hatten? Er und Rand und Mat? Nicht seine Augen und das mit den Wölfen oder Rands Gebrauch der Macht. Das meinte er nicht. Wieviel von seinem Innern war überhaupt noch unverändert geblieben? Mat war der einzige von ihnen, der immer noch derselbe zu sein schien, vielleicht sogar in übertriebener Weise. »Weißt du von Manetheren?« »Wir wissen mehr von eurer Welt, als du glaubst. Und weniger, als wir glaubten. Lange bevor ich die Drachenmauer überquerte, habe ich Bücher gelesen, die uns Händler mitbrachten. Ich wußte von ›Schiffen‹ und ›Flüssen‹ und ›Wäldern‹, oder jedenfalls glaubte ich, sie zu kennen.« Bei Gaul klang das, als stammten diese Wörter aus einer fremden Sprache. »So habe ich mir damals einen ›Wald‹ vorgestellt.« Damit deutete er auf die verstreuten Bäume, die so viel kleiner und verkrüppelt waren, wenn man sie mit ihren Artgenossen im Tal verglich. »Etwas zu glauben heißt noch nicht, die Wahrheit zu kennen. Wie steht es mit dem Nachtläufer und den Abkömmlingen des Blattverderbers? Glaubst du, es war nur Zufall, daß sie zu diesem Wegetor hier kamen?« »Nein«, seufzte Perrin. »Ich habe unten im Tal Raben beobachtet. Vielleicht sind es nur Vögel, aber ich kann kein Risiko eingehen nach dieser Begegnung mit den Trollocs.« Gaul nickte. »Es könnten Schattenaugen gewesen sein. Wenn du das Schlimmste annimmst, kann es nur angenehme Überraschungen geben.« »Ich könnte jetzt eine angenehme Überraschung gebrauchen.« Perrin sandte erneut seine Gedanken hinaus, um Wölfe aufzuspüren, doch wieder war nichts von ihnen zu spüren. »Ich kann heute nacht möglicherweise etwas herausfinden. Vielleicht. Falls hier irgend etwas passiert, mußt du mir vermutlich einen Tritt geben, um mich aufzuwecken.« Ihm wurde klar, wie eigenartig das klingen mußte, aber Gaul nickte einfach nur. »Gaul, du hast noch nie meine Augen erwähnt oder sie auch nur besonders beachtet. Keiner der Aiel hat ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt.« Er wußte, daß sie jetzt im Feuerschein golden glühten.

»Die Welt verändert sich«, sagte Gaul leise. »Rhuarc und Jheram, mein Clanhäuptling, und auch die Weisen Frauen bemühten sich, ihre Gefühle zu verbergen, aber sie hatten kein gutes Gefühl dabei, als sie uns über die Drachenmauer schickten, um Ihn, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, zu suchen. Ich glaube aber, die Veränderungen werden anders sein, als wir sie uns vorgestellt hatten. Ich weiß nicht, wie sie aussehen werden, aber eben anders. Der Schöpfer hat uns in das Dreifache Land gesandt, um uns zu formen und für unsere Sünde zu bestrafen. Aber wofür sind wir geformt worden?« Er schüttelte plötzlich reumütig den Kopf. »Colinda, die Weise Frau der Heiße-Quellen-Septime, sagt mir immer, daß ich für einen Steinhund entschieden zuviel nachdenke, und Bair, die älteste unter den Weisen Frauen der Shaarad, hat mir gedroht, daß sie mich nach Rhuidean schickt, wenn Jheram stirbt, ob ich will oder nicht. Und außerdem, Perrin, welche Rolle spielt denn schon die Augenfarbe bei einem Mann?« »Ich wünschte nur, daß alle so dächten.« Die Fröhlichkeit am anderen Lagerfeuer schien mittlerweile erloschen. Eine der Aielfrauen — Perrin konnte nicht erkennen, welche — übernahm mit dem Rücken zum Feuer die erste Wache, während sich die anderen Schlafen gelegt hatten. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Das Einschlafen sollte ihm leicht fallen, und dann würde er auch den Traum finden, den er brauchte. Er streckte sich neben dem Feuer aus und zog seinen Umhang über sich. »Denk daran: Gib mir einen Tritt, damit ich aufwache, falls es notwendig ist.« Der Schlaf umfing ihn bereits, als Gaul nickte, und der gewünschte Traum kam sofort.

Es war heller Tag, und er stand allein in der Nähe des Wegetors. Es stand da wie eine mit schwungvollen Friesen bedeckte Mauer, die überhaupt nicht an diesen Berghang paßte. Außer dem Tor gab es kein Anzeichen dafür, daß je eines Menschen Fuß diesen Hang betreten hatte. Der Himmel war strahlend blau, und eine leichte Brise vom Tal her brachte die Witterung von Hirschen und Kaninchen, Wachteln und Tauben mit sich, tausend ausgeprägte Gerüche, dazu Wasser, Erde und Bäume. Es war der Wolfstraum.

Einen Augenblick lang überwältigte ihn das Gefühl, ein Wolf zu sein. Er hatte Pfoten und... Nein! Er fuhr mit beiden Händen an seinem Körper entlang und war erleichtert, daß es wirklich sein eigener, menschlicher Körper war, gekleidet in Wams und Umhang wie immer. Und auch den breiten Gürtel trug er, an dem normalerweise seine Axt hing, doch hatte er statt dessen den Schaft des Hammers durch die Halteschlaufe gesteckt.

Er runzelte die Stirn deswegen, und zu seiner Überraschung flackerte einen Moment lang das Bild der Axt dort, wenn auch durchscheinend und geisterhaft. Doch dann hing mit einem Schlag wieder der Hammer dort. Er leckte sich die Lippen und hoffte, es werde so bleiben. Die Axt war vielleicht die wirksamere Waffe, aber er zog doch den Hammer vor. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß so etwas schon einmal vorgekommen sei, eine Veränderung innerhalb des Traums, aber er wußte eben zu wenig von dieser eigenartigen Welt. Falls man es überhaupt eine Welt nennen konnte. Es war der Wolfstraum, und hier geschahen nun einmal eigenartige Dinge, aber in einem normalen Traum war das ja auch nicht viel anders.

Als hätte es der bloße Gedanke ausgelöst, verdunkelte sich plötzlich ein Teil des Himmels über den Bergen und wurde zum Fenster in eine andere Wirklichkeit. Rand stand da, mitten im Sturm, lachte wild, ja sogar verrückt, die Arme erhoben, und mit dem Wind flogen kleine goldene und rote Gestalten um ihn herum, so wie die seltsame Gestalt auf dem Drachenbanner. Verborgene Augen beobachteten Rand, und Perrin konnte nicht feststellen, ob Rand von diesem Beobachter wußte. Das eigenartige ›Fenster‹ verschwand von einem Augenblick zum anderen und wurde durch ein neues weiter oben ersetzt, in dem Nynaeve und Elayne vorsichtig durch eine wahnwitzige Szenerie verzerrter, schattenhafter Gebäude schlichen, auf der Suche nach einem gefährlichen Tier. Perrin war völlig unklar, woher er wußte, daß es gefährlich war, doch es war so. Auch dieses Fenster verschwand, und ein neuer dunkler Fleck breitete sich am Himmel aus. Mat war zu sehen, der an einer Straßengabelung stand. Er warf eine Münze und ging dann den einen Weg entlang weiter, doch plötzlich trug er einen Hut mit breitem Rand und ging an einem Stock, der obenauf eine kurze Schwertklinge aufwies. Ein neues Fenster, und diesmal blickten Egwene und eine Frau mit langem, weißem Haar ihn verblüfft an, während im Hintergrund die Weiße Burg Stein um Stein zerbröckelte. Dann waren auch sie verschwunden.

Perrin atmete tief durch. Er hatte so etwas schon zuvor gesehen, natürlich in diesem Wolfstraum, und er glaubte, daß diese Visionen auf gewisse Weise die Realität zeigten oder zumindest eine reale Bedeutung hatten. Was sie aber auch bedeuten mochten — die Wölfe sahen sie nicht. Moiraine hatte angedeutet, daß der Wolfstraum sich in der gleichen Welt abspiele, die sie Tel'aran'rhiod nannte. Danach war nichts mehr aus ihr herauszubekommen gewesen. Er hatte auch gehört, wie Egwene und Elayne über Träume sprachen, einmal jedenfalls, aber Egwene wußte sowieso schon zuviel über ihn und die Wölfe, vielleicht genauso viel wie Moiraine. Er konnte einfach nicht mit jemandem darüber sprechen; noch nicht einmal mit ihr.

Es gab einen Menschen, mit dem er darüber hätte sprechen können. Er wünschte, er könne Elyas Machera wiederfinden, den Mann, der ihn mit den Wölfen in Kontakt gebracht hatte. Elyas mußte viel über solche Dinge wissen. Als er an diesen Mann dachte, bildete er sich ein, er höre seinen eigenen Namen, den der Wind ihm zuraunte, aber dann lauschte er bewußt und es war doch nur der Wind. Es war ein einsamer, verlorener Laut. Nur er befand sich hier, niemand sonst.

»Springer!« rief er und im Geist noch einmal Springer! Der Wolf war tot, aber nicht hier. Wenn Wölfe starben, kamen sie in den Wolfstraum und warteten dort darauf, wiedergeboren zu werden. Für die Wölfe bedeutete es allerdings noch mehr. Sie schienen sich sogar im wachen Zustand des Traums bewußt zu sein. Das eine war für sie genauso real — oder beinahe genauso real — wie das andere. »Springer!« Springer! Aber Springer kam nicht.

Das war alles unsinnig. Er hatte einen Grund, hierherzukommen, und nun mußte er vorankommen. Aber wenn er zu Fuß hinunterging, wo er die Raben beobachtet hatte, würde das Stunden dauern.

Er tat einen Schritt vorwärts, seine Umgebung verschwamm, und er setzte den Fuß neben einem kleinen Bach wieder auf den Boden, der hier gerade an einer Schierlingstanne und einer niedrigen Bergweide vorbeifloß. Über ihm ragten wolkenumkränzte Gipfel auf. Einen Moment lang blickte er sich erstaunt um. Er befand sich am anderen Ende des Tals, weit vom Wegetor entfernt.

Er befand sich tatsächlich genau an jenem Punkt, den er hatte erreichen wollen, dem Ort, von dem die Raben hergekommen waren und auch der Pfeil, der den ersten Bussard getötet hatte. So etwas war bisher noch nie vorgekommen. Lernte er einfach immer mehr darüber, wie man mit diesem Wolfstraum umgehen konnte — Springer hatte gesagt, er wisse einfach nicht genug —, oder war es diesmal anders als sonst?

Beim nächsten Schritt war er vorsichtiger, aber es war auch nur ein einziger Schritt. Es gab kein Anzeichen eines Schützen oder der Raben, keine Spur, keine herumliegende Feder, keine Witterung. Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte. Es konnte ja gar kein Anzeichen geben, außer, sie hätten sich ebenfalls in der Traumwelt befunden. Aber wenn er im Traum Wölfe fand, konnten die ihm behilflich sein, ihre Brüder und Schwestern in der wirklichen Welt aufzuspüren, und die wiederum wären in der Lage, ihm zu sagen, ob sich Schattenwesen in den Bergen aufhielten. Vielleicht würden sie seinen Ruf vernehmen, wenn er weiter nach oben stieg?

Er richtete den Blick auf den höchsten Berg seiner Umgebung, gerade unterhalb der Wolkendecke, und trat vor. Die Welt verschwamm, und dann stand er weit oben am Hang, die weißen Wolkenkissen keine fünf Spannen über seinem Kopf. Unwillkürlich mußte er lachen. Das machte Spaß. Von hier aus konnte er das gesamte Tal überblicken.

»Springer!« Keine Antwort.

Er sprang auf den nächsten Berg hinüber, rief, wieder umsonst, und von da aus zum nächsten, immer weiter nach Osten auf die Zwei Flüsse zu. Springer antwortete nicht.

Und was noch beunruhigender war: Perrin konnte auch keine anderen Wölfe in der Nähe fühlen. Doch im Wolfstraum gab es immer Wölfe. Immer.

Von Gipfel zu Gipfel sprang er in ständig verschwimmender Bewegung, rief, suchte. Die Hänge lagen einsam unter ihm, nur von Hirschen und anderem Wild belebt. Es gab allerdings gelegentlich Anzeichen dafür, daß hier Menschen gewesen waren. Uralte Anzeichen. Zweimal sah er riesige in Stein gehauene menschliche Figuren, die beinahe einen gesamten Berghang bedeckten, und an einem anderen Ort waren seltsam eckige Buchstaben zwei Spannen hoch in eine Steilwand eingehauen worden, die ein wenig zu glatt und senkrecht wirkte. Die Gesichter der Steinfiguren waren fast vollständig verwittert gewesen, und weniger gute Augen als die seinen hätten die Buchstaben möglicherweise ebenfalls für Risse und Anzeichen von Verwitterung gehalten. Die Felsen und Schründe machten Platz für die Sandhügel, große, wogenartige Erhebungen, die nur spärlich mit dürrem Gras und Dornbüschen bewachsen waren. Einst, vor der Zerstörung der Welt, waren sie der Strand eines großen Meeres gewesen. Und mit einemmal sah er einen anderen Mann, der auf dem Gipfel eines dieser sandigen Hügel stand.

Er war zu weit entfernt, um ihn klar erkennen zu können — einfach ein großer, dunkelhaariger Mann, aber ganz eindeutig kein Trolloc oder anderes Schattenwesen. Er trug ein blaues Wams und auf dem Rücken einen Bogen und beugte sich über etwas, das vom Unterholz verborgen auf dem Boden lag oder stand. Es war etwas Vertrautes an ihm.

Der Wind frischte auf, und Perrin konnte eine schwache Witterung aufnehmen. Es war ein kalter Geruch — anders ließ es sich nicht beschreiben. Kalt und nicht eindeutig menschlich. Plötzlich hielt er den eigenen Bogen in der Hand, hatte einen Pfeil aufgelegt, und das Gewicht des gefüllten Köchers zog an seinem Gürtel.

Der andere Mann blickte auf und sah Perrin. Einen Herzschlag lang zögerte er, doch dann wandte er sich um und wurde zu einem verschwommenen Schemen, das über die Hügel forthuschte. Perrin sprang hinunter auf den Hügel, wo eben noch der Mann gestanden hatte. Er betrachtete das, was den Kerl so beschäftigt hatte: den halb abgehäuteten Kadaver eines Wolfs. Ein toter Wolf in einem Wolfstraum. Das war undenkbar. Was konnte hier einen Wolf töten? Es mußte etwas schrecklich Böses gewesen sein. Er machte sich ohne nachzudenken an die Verfolgung.

Der, den er suchte, rannte in meilenlangen Schritten davon, und er bekam ihn kaum einmal richtig zu sehen. Aus dem Hügelland hinaus, über den verfilzten Westwald mit seinen weit verstreuten Bauernhöfen, über bestellte Äcker, über ein Netzwerk eingezäunter Felder und kleiner Dickichte und schließlich an Wachhügel vorbei. Es war schon eigenartig, dieses Dorf mit seinen strohgedeckten Häusern auf dem Hügel völlig menschenleer zu sehen. Auch die Bauernhöfe wirkten verlassen. Doch vor allem beobachtete er den Mann, der vor ihm floh. Er hatte sich schon so an diese Verfolgungsjagd gewöhnt, daß es ihn nicht mehr überraschte, als er nach einem langen Schritt plötzlich am Südufer des Tarenflusses stand und mit dem nächsten bereits kahle Hügel erreichte, auf denen weder Baum noch Gras wuchs. Nach Nordosten rannte er, über Bäche und Straßen und Dörfer und Flüsse, nur auf den Mann vor sich konzentriert. Die Landschaft wurde eben und steppenartig, von Hecken unterbrochen, aber er sah nichts mehr von dem Mann. Dann glitzerte etwas weit vor ihm im Sonnenschein: ein metallener Turm. Sein Opfer hielt geradewegs darauf zu und verschwand. Zwei lange Sätze brachten Perrin dorthin.

Der Turm war volle zweihundert Fuß hoch und vierzig Fuß im Durchmesser. Er glänzte wie polierter Stahl. Es hätte auch eine massive Säule aus Metall sein können. Perrin lief zweimal ganz herum, ohne eine Öffnung zu entdecken. Nicht einmal ein Sprung war zu sehen, ja, nicht einmal ein Kratzer! Aber die Witterung war da, dieser kalte, unmenschliche Gestank. Hier endete die Spur. Der Mann, falls er überhaupt einer war, mußte auf irgendeine Weise nach innen gelangt sein. An ihm lag es nun, diesen Weg ebenfalls zu finden.

Halt! Es war lediglich ein starkes Gefühl, zu dem Perrins Verstand dieses Wort hinzufügte. Halt!

Er drehte sich um, und ein mächtiger grauer Wolf mit beinahe weißer Schnauze und vielen Narben landete neben ihm, als sei er aus dem Himmel herabgesprungen. Das war auch gut möglich. Springer hatte immer die Adler um ihre Fähigkeit beneidet, fliegen zu können, und in dieser Welt konnte er das tatsächlich auch. Der Blick aus gelben Augen traf auf einen anderen aus ebenfalls gelben Augen.

»Warum soll ich hierbleiben, Springer? Er hat einen Wolf getötet.«

Menschen haben Wölfe getötet und Wölfe Menschen. Warum packt dich diesmal der Zorn so heiß an der Kehle?

»Ich weiß nicht«, sagte Perrin bedächtig. »Vielleicht, weil es hier geschah. Ich wußte nicht, daß es auch hier möglich ist, einen Wolf zu töten. Ich glaubte die Wölfe in der Traumwelt in Sicherheit.«

Du jagst den Schlächter, Junger Bulle. Er ist körperlich hier, und er kann töten.

»Körperlich? Du meinst, er träumt nicht nur? Wie kann er sich denn körperlich hier befinden?«

Ich weiß nicht. Es ist etwas, woran wir uns von früheren Zeiten her noch schwach erinnern und das nun wie so vieles andere wiederkehrt. Es sind Schattenwesen in den Traum eingedrungen. Geschöpfe von Herzfang. Es gibt keine Sicherheit.

»Er ist jedenfalls jetzt drinnen.« Perrin betrachtete den glatten Metallturm. »Wenn ich herausfinde, wie er dort hineingekommen ist, kann ich ihm ein Ende bereiten.«

Närrischer Welpe. Du gräbst das Nest von Erdwespen aus. Dieser Ort ist böse. Alle wissen das. Und du willst das Böse ins Böse hinein verfolgen. Der Schlächter kann töten!

Perrin schwieg. Da war etwas sehr Endgültiges an den Gefühlen, denen sein Verstand das Wort ›töten‹ zugeordnet hatte. »Springer, was geschieht mit einem Wolf, der in der Traumwelt getötet wird?« Der Wolf schwieg ebenfalls eine Weile lang. Wenn wir hier sterben, sterben wir endgültig, Junger Bulle. Ich weiß nicht, ob für dich dasselbe gilt, aber ich glaube schon.

»Ein gefährlicher Ort, Bogenschütze. Der Turm von Ghenjei ist ein schlechter Aufenthaltsort für Menschen.« Perrin wirbelte herum und hatte den Bogen schon halb hochgerissen, bevor er die Frau sah, die ein paar Schritt von ihm entfernt stand. Ihr goldenes Haar hing ihr zu einem dicken Zopf zusammengeflochten bis zur Hüfte hinunter, beinahe so, wie es die Frauen der Zwei Flüsse trugen. Allerdings war der Zopf noch kunstvoller geflochten. Ihre Kleidung war von eigenartigem Zuschnitt. Sie trug ein kurzes, weißes Wams und Pumphosen aus einem dünnen, blaßgelben Material, die an ihren Knöcheln über den Stiefeletten endeten. Ihr dunkler Umhang schien etwas zu verbergen, das wie Silber an ihrer Seite glitzerte.

Sie bewegte sich, und das metallische Glitzern war nicht mehr zu sehen. »Ihr habt scharfe Augen, Bogenschütze. Das habe ich schon beim erstenmal gewußt, als ich Euch sah.« Wie lange hatte sie ihn schon beobachtet? Es war beschämend für ihn, daß sie sich unbemerkt an ihn hatte anschleichen können. Zumindest hätte ihn Springer warnen sollen. Der Wolf lag im kniehohen Gras, die Schnauze auf den Vorderpfoten, und beobachtete ihn.

Die Frau kam ihm irgendwie bekannt vor, aber andererseits war er sicher, daß er sie nicht vergessen hätte, wenn er ihr schon einmal begegnet wäre. Wer war sie, daß sie sich im Wolfstraum aufhielt? Oder war das tatsächlich auch Moiraines Tel'aran'rhiod? »Seid Ihr eine Aes Sedai?« »Nein, Bogenschütze«, lachte sie. »Ich kam nur gegen alle Vorschriften her, um Euch zu warnen. Selbst in der Menschenwelt ist es schwer, den Turm von Ghenjei wieder zu verlassen, wenn man ihn einmal betreten hat. Hier ist es beinahe unmöglich. Ihr habt den Mut des Bannerträgers, doch man sagt auch, daß dessen Mut sich kaum von Leichtsinn unterscheidet.« Unmöglich, ihn wieder zu verlassen? Dieser Bursche, den Springer den Schlächter nannte, war auf jeden Fall hineingegangen. Warum würde er das tun, wenn er ihn nicht mehr verlassen könnte? »Springer hat auch behauptet, es sei gefährlich. Der Turm von Ghenjei? Was ist das?« Sie riß die Augen auf und sah Springer an, der immer noch lang ausgestreckt auf dem Gras lag und Perrin beobachtete. »Ihr könnt mit Wölfen sprechen? Das ist etwas, was nur noch aus Legenden bekannt ist. Deshalb also seid Ihr hier. Ich hätte es wissen sollen. Der Turm? Das ist ein Tor, Bogenschütze, ein Tor zum Reich der Aelfinn und der Eelfinn.« Sie sagte das so, als müsse er diese Bezeichnungen kennen. Als er sie verständnislos anblickte, sagte sie: »Habt Ihr jemals ein Spiel gespielt, das bei uns ›Schlangen und Füchse‹ hieß?« »Das kennen doch alle Kinder. Jedenfalls an den Zwei Flüssen. Aber sie geben es auf, wenn sie alt genug sind, um zu begreifen, daß man bei diesem Spiel nicht gewinnen kann.« »Außer, man bricht die Regeln«, sagte sie. »›Mut gibt Kraft, Feuer blendet, Musik betäubt und Eisen das Spiel wendet‹.« »Das stammt aus dem Spiel. Ich verstehe nicht. Was hat das mit diesem Turm zu tun?« »So gewinnt man gegen die Schlangen und Füchse. Das Spiel soll an alte Ereignisse erinnern. Es spielt keine Rolle, solange Ihr euch von den Aelfinn und den Eelfinn fernhaltet. Sie sind nicht auf die Art böse, wie es der Schatten ist, aber sie unterscheiden sich derart von der Menschheit, daß sie fast genauso gefährlich sind. Man kann ihnen nicht trauen, Bogenschütze. Bleibt vom Turm von Ghenjei weg. Meidet die Welt der Träume, wenn es möglich ist. Düstere Wesen treiben sich hier herum.« »Wie der Mann, den ich verfolgt habe? Der Schlächter?« »Das ist ein passender Name für ihn. Dieser Schlächter ist nicht alt, Bogenschütze, aber das Böse in ihm ist uralt.« Sie schien sich leicht auf etwas Unsichtbares zu stützen. Vielleicht war es das silberne Ding, das er nie ganz zu Gesicht bekommen hatte. »Ich scheine Euch eine ganze Menge zu erzählen. Ich weiß auch nicht, warum ich überhaupt damit angefangen habe. Aber natürlich: Seid Ihr ein Ta'veren, Bogenschütze?« »Wer seid Ihr?« Sie schien ja eine Menge über den Turm und den Wolfstraum zu wissen. Aber sie war überrascht darüber, daß ich mit Springer sprechen kann. »Ich glaube, ich habe Euch schon einmal irgendwo getroffen.« »Ich habe schon zu viele Verbote übergangen, Bogenschütze.« »Verbote? Was für Verbote?« Ein Schatten fiel hinter Springer auf den Boden, und Perrin fuhr herum. Er ärgerte sich, daß er sich schon wieder hatte überraschen lassen. Doch es war niemand zu sehen. Er hatte aber deutlich den Schatten eines Mannes wahrgenommen, über dessen Schultern die Griffe zweier Schwerter ragten. Etwas an dieser Vorstellung reizte sein Erinnerungsvermögen.

»Er hat recht«, sagte die Frau hinter ihm. »Ich sollte gar nicht mit Euch sprechen.« Als er sich ihr wieder zuwenden wollte, war sie weg. Soweit er blicken konnte, sah er nur Grasland und vereinzelte Hecken. Und den silbrig schimmernden Turm.

Er sah Springer fragend an, und der hob endlich den Kopf von seinen Pfoten. »Mich wundert nur, wie du das aushältst«, knurrte Perrin. »Was hältst du von ihr?« Von ihr? Eine ›sie‹? Springer stand auf und sah sich um.

Wo?

»Ich habe doch mit ihr gesprochen. Genau hier. Gerade eben.«

Du hast mit dem Wind geplaudert, Junger Bulle. Es war keine ›sie‹ hier. Niemand außer dir und mir.

Perrin kratzte sich gereizt im Bart. Sie war hiergewesen. Er hatte keine Selbstgespräche geführt. »Hier können eben eigenartige Sachen geschehen«, sagte er sich. »Sie hat dir zugestimmt, Springer. Sie hat gesagt, ich solle mich von diesem Turm fernhalten.« Sie ist klug. Es lag jedoch ein wenig Zweifel in diesem Gedanken. Springer glaubte immer noch nicht, daß es diese ›sie‹ gegeben hatte.

»Ich bin schrecklich weit von dem abgekommen, was ich eigentlich erreichen wollte«, stellte Perrin fest. Er erklärte, warum er im Gebiet der Zwei Flüsse oder in den Bergen Wölfe gesucht hatte, erzählte Springer von den Raben und den Trollocs in den Kurzen Wegen.

Als er fertig war, schwieg Springer noch eine ganze Weile. Den buschigen Schwanz hielt er gesenkt und steif. Schließlich... Meide deine alte Heimat, Junger Bulle. Das Bild, dem Perrins Verstand den Begriff ›Heimat‹ zuordnete, zeigte ein Land mit einem Wolfsrudel darin. Es gibt dort jetzt keine Wölfe mehr. Diejenigen, die sich dort aufhielten und nicht flohen, sind tot. Dort wandelt der Schlächter durch den Traum.

»Ich muß nach Hause, Springer. Ich muß.«

Sei vorsichtig, Junger Bulle. Der Tag der Letzten Jagd nähert sich. Wir werden in der Letzten Jagd miteinander laufen.

»Das werden wir«, sagte Perrin traurig. Es wäre schön, wenn er nach seinem Tod hierherkommen könnte. Es schien ihm, daß er bereits jetzt ein halber Wolf sei. »Ich muß jetzt gehen, Springer.«

Möge deine Jagd reichhaltig sein, Junger Bulle, und ich wünsche dir eine ›sie‹, die dir viele Welpen schenkt.

»Leb wohl, Springer.« Er öffnete die Augen und nahm den trüben Lichtschein von ausglühenden Kohlen am Abhang wahr. Gaul hockte gerade außerhalb des Lichtscheins und blickte in die Nacht hinaus. Im anderen Lager war Faile wach und hatte ihre Wache übernommen. Der Mond hing über den Bergen und verwandelte die Wolken in perlgraue Schatten. Perrin schätzte, daß er etwa zwei Stunden geschlafen hatte.

»Ich werde eine Weile die Wache übernehmen«, sagte er und warf seinen Umhang beiseite. Gaul nickte und ließ sich auf dem Fleck nieder, an dem er sich befand. »Gaul?« Der Aiel hob den Kopf. »Die Lage an den Zwei Flüssen könnte noch schlimmer sein, als ich glaubte.« »Das ist oftmals der Fall«, antwortete Gaul ruhig. »So ist das Leben.« Dann legte der Aiel gelassen den Kopf hin und schlief ein.

Der Schlächter. Wer war das? Was war er? Schattenwesen am Wegetor, Raben in den Verschleierten Bergen und dieser Mann, den man den Schlächter nannte, an den Zwei Flüssen. Das konnte kein Zufall sein, so sehr er sich das auch wünschte.

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