11 Adrins Tod

Ich finde, er hat noch eine Tracht Prügel verdient, sagte Lerian. Ihre Finger bewegten sich im komplizierten Muster der Handsprache der Töchter. Er ist wie ein Kind, und wenn ein Kind etwas Gefährliches anfasst, dann bekommt es eben Prügel. Wenn sich ein Kind verletzt, weil man ihm nicht ordentlich beigebracht hat, die Finger von den Messern zu lassen, dann haben die Eltern Schande auf sich geladen.

Die letzte Tracht Prügel scheint ja nichts gebracht zu haben, erwiderte Surial. Er hat sie wie ein Mann und nicht wie ein Kind ertragen, aber er verhält sich nicht anders.

Dann müssen wir es eben noch einmal versuchen, sagte Lerian.

Aviendha ließ ihren Stein auf den Haufen neben dem Wachtposten fallen und drehte sich um. Sie beachtete die Töchter nicht, die den Lagereingang beobachteten, und sie beachteten sie ebenfalls nicht. Sich mit ihr während ihrer Strafe zu unterhalten, würde nur ihre Schande erhöhen, und ihre Speerschwestern würden das nicht tun.

Sie ließ sich auch nicht anmerken, dass sie die Unterhaltung verstand. Natürlich erwartete keiner, dass eine ehemalige Tochter die Handsprache vergaß, aber besser, man hielt sich zurück. Die Handsprache gehörte den Töchtern.

An einem zweiten Haufen wählte Aviendha einen großen Stein aus und ging zurück ins Lager. Sie wusste nicht, ob die Töchter ihre Unterhaltung fortsetzten, da sie ihre Hände nicht mehr sehen konnte. Aber ihre Diskussion ließ sie nicht los. Es ärgerte die Töchter, dass Rand al'Thor ohne Leibwächter zu seinem Treffen mit General Rodel Ituralde gegangen war. Es war nicht das erste Mal, dass er so unvernünftig handelte, und doch schien er nicht lernen zu wollen, wie man es richtig machte. Oder er konnte es einfach nicht. Jedes Mal, wenn er sich ohne Schutz in Gefahr begab, beleidigte er die Töchter genauso schlimm, als hätte er jeder von ihnen ins Gesicht geschlagen.

Möglicherweise schuldete Aviendha ihren Speerschwestern ja ein kleines Toh. Es war ihre Aufgabe gewesen, Rand al'Thor die Bräuche der Aiel beizubringen, und sie hatte offensichtlich versagt. Leider schuldete sie den Weisen Frauen ein viel größeres Toh, obwohl sie den Grund dafür noch immer nicht kannte. Die geringere Pflicht ihren Speerschwestern gegenüber würde warten müssen.

Ihre Arme schmerzten vom Schleppen. Die Steine waren glatt und schwer; man hatte von ihr verlangt, sie aus dem Fluss neben dem Herrenhaus auszugraben. Allein die mit Elayne verbrachte Zeit - als sie gezwungen gewesen war, in Wasser zu baden - hatte ihr die Kraft gegeben, in diesen Fluss zu schreiten. Damit hatte sie keine Schande auf sich geladen. Und wenigstens war es ein kleiner Fluss gewesen - Feuchtländer hätten ihn fälschlicherweise als Bach bezeichnet. Eine winzige Bergquelle, in der man sich die Hände waschen oder einen Wasserschlauch füllen konnte. Alles, das zu groß war, um es mit einem Schritt zu überqueren, war definitiv ein Fluss.

Wie gewöhnlich war der Tag bewölkt, und im Lager herrschte gedrückte Stimmung. Männer, die noch Tage zuvor bei der Ankunft der Aiel umhergeeilt waren, erschienen nun viel lethargischer. Das bedeutete nicht, dass das Lager unordentlich gewesen wäre; Davram Bashere war zwar ein Feuchtländer, aber er war auch ein viel zu erfahrener Kommandant, um so etwas zuzulassen. Doch die Männer bewegten sich langsamer. Aviendha hatte mitbekommen, wie sich einige darüber beschwerten, dass der dunkle Himmel ihrem Gemüt zu schaffen machte. Wie seltsam die Feuchtländer doch waren! Was hatte das Wetter denn mit dem Gemüt zu tun? Sie konnte verstehen, dass man unzufrieden war, weil keine Raubzüge anstanden oder weil eine Jagd ein schlechtes Ergebnis gebracht hatte. Aber weil Wolken den Himmel verdeckten? Wurde der Schatten hier so wenig geschätzt?

Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Sie hatte Steine gewählt, die ihre Muskeln anstrengten. Sonst hätte sie ihre Strafe nicht ernst genommen, und das kam nicht infrage - auch wenn jeder Schritt ihre Ehre schmerzen ließ. Sie musste das ganze Lager durchqueren, wo sie jeder sehen konnte, und eine völlig sinnlose Tätigkeit verrichten! Lieber hätte sie sich allen nackt vor einem Schweißzelt zur Schau gestellt. Lieber wäre sie tausend Sprünge gelaufen oder so hart geschlagen worden, dass sie nicht mehr laufen konnte.

Sie erreichte das Herrenhaus und legte ihren Stein mit einem unterdrückten Seufzen ab. Zwei Soldaten aus Basheres Armee bewachten den Eingang, das Äquivalent zu den beiden Töchtern am anderen Ende von Aviendhas Weg. Als sie sich bückte und einen großen Stein von einem zweiten Haufen an der Wand auswählte, lauschte sie ihrer Unterhaltung.

»Verflucht, es ist heiß«, beschwerte sich einer der Männer.

»Heiß?«, erwiderte der andere und schaute in den bewölkten Himmel. »Du scherzt.«

Der erste Wächter wedelte sich mit der Hand Luft zu, pustete und schwitzte. »Wie kannst du das nicht fühlen?«

»Du musst Fieber haben oder so.«

Der erste Wächter schüttelte den Kopf. »Ich mag nur die Hitze nicht, das ist alles.«

Aviendha nahm ihren Stein und trat den Rückweg quer über den Rasen an. Nach einigem Überlegen war sie zu dem Schluss gekommen, dass man nur ein richtiger Feuchtländer sein konnte, wenn man eine Eigenschaft hatte, die sie alle verband: man musste sich gern beklagen. Während der ersten Monate ihres Aufenthalts bei den Feuchtländern hatte sie das als entehrend empfunden. War es diesem Wächter denn völlig egal, dass er vor seinem Kameraden das Gesicht verlor, indem er allen seine Schwäche zeigte?

Sie waren alle so, selbst Elayne. Wenn man ihr zuhörte, wie sie sich über die Schmerzen, Übelkeit und Einschränkungen ihrer Schwangerschaft beklagte, hätte man glauben können, dass sie dem Tod immer näher kam! Aber wenn sich ausgerechnet Elayne beklagte, dann weigerte sich Aviendha, es als Zeichen der Schwäche zu akzeptieren. Ihre Erstschwester würde sich nicht so ehrlos benehmen.

Also musste darin irgendwo eine verborgene Ehre liegen. Vielleicht enthüllten die Feuchtländer ihren Kameraden ihre Schwächen ja, um Freundschaft und Vertrauen anzubieten. Wenn deine Freunde deine Schwächen kannten, würde ihnen das helfen, sollte man zusammen den Tanz der Speere tanzen. Aber vielleicht war dieses ständige Klagen auch nur die Art der Feuchtländer, Demut zu zeigen, so wie die Gai'schain durch ihre Unterwürfigkeit Ehre bewiesen.

Elayne hatte sie ihre Theorien vorgetragen und nur ein Lachen voller Zuneigung geerntet. War das ein Aspekt der Feuchtländergesellschaft, den ihre Erstschwester nicht mit Außenseitern besprechen durfte? Oder hatte Elayne gelacht, weil sie etwas herausgefunden hatte, das sie nicht hätte herausfinden dürfen?

Was nun auch zutraf, es war offensichtlich eine Methode, Ehre zu zeigen, und das hatte Aviendha zufriedengestellt. Wäre ihr Problem mit den Weisen Frauen doch nur so simpel gewesen! Von Feuchtländern erwartete man, dass sie auf unvorhersehbare, unnatürliche Weise handelten. Aber was sollte sie machen, wenn sich die Weisen Frauen so seltsam verhielten?

Langsam verspürte sie Unmut - nicht wegen der Weisen Frauen, sondern mit sich selbst. Sie war stark und mutig. Natürlich nicht so mutig wie andere; sie konnte nur davon träumen, so mutig wie Elayne zu sein. Trotzdem fielen ihr nur wenige Probleme ein, die sie nicht mit dem Einsatz ihrer Speere, der Einen Macht oder ihrem Verstand hätte lösen können. Und doch hatte sie völlig darin versagt, ihre derzeitige Misere zu entschlüsseln.

Sie erreichte die andere Seite des Lagers und legte ihren Stein ab, rieb sich die Hände sauber. Die Töchter standen reglos und nachdenklich da. Aviendha ging zu dem anderen Haufen und nahm einen länglichen Stein mit kantigem Rand. Er war drei Handspannen breit, und die glatte Oberfläche drohte ihr aus den Fingern zu rutschen. Sie musste mehrmals umgreifen, bevor sie einen guten Halt gefunden hatte. Sie ging zurück über das zertrampelte Wintergras, vorbei an den saldaeanischen Zelten in Richtung Herrenhaus.

Elayne wäre bestimmt der Ansicht gewesen, dass sie das Problem nicht richtig durchdacht hatte. Wo andere Leute nervös waren, war Elayne ruhig und nachdenklich. Manchmal ging es Aviendha auf die Nerven, wie gern ihre Erstschwester über die Dinge redete, bevor sie sich zu einer Handlung entschloss. Ich muss mehr wie sie sein. Ich darf nicht vergessen, dass ich keine Tochter des Speers mehr bin. Ich kann nicht mit erhobener Waffe irgendwo reinstürmen.

Sie musste Probleme auf Elaynes Weise angehen. Nur so würde sie ihre Ehre zurückgewinnen, und erst dann konnte sie Rand al'Thor für sich beanspruchen und ihn genauso zu einem Teil von sich machen, wie Elayne oder Min es getan hatten. Sie konnte ihn durch den Bund fühlen; er war in seinem Zimmer, aber er schlief nicht. Er trieb sich hart an und schlief zu wenig.

Der Stein rutschte in ihren Fingern, und beinahe wäre sie gestolpert, als sie ihn neu fasste und mit ihren müden Armen fester hielt. Ein paar von Basheres Soldaten passierten sie und musterten sie verständnislos, und sie errötete. Obwohl die Männer vermutlich gar nicht wussten, dass sie bestraft wurde, war sie vor ihnen entehrt worden.

Wie würde Elayne diese Situation lösen? Die Weisen Frauen waren wütend auf sie, weil sie nicht »schnell genug lernte«. Gleichzeitig gaben sie ihr aber keinen Unterricht. Sie stellten bloß diese Fragen. Fragen über ihre Einschätzung der Situation, Fragen über Rand al'Thor oder über die Weise, wie Rhuarc die Besprechung mit dem Car'a'carn gemeistert hatte.

Aviendha konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Fragen eine Prüfung darstellten. Gab sie die falschen Antworten? Und wenn es so war, warum zeigte ihr keiner die richtigen Antworten?

Die Weisen Frauen hielten sie nicht für weich. Was blieb da noch übrig? Was würde Elayne sagen? Aviendha wünschte sich ihre Speere zurück, dann hätte sie auf etwas einstechen können. Angreifen, sich mit einem anderen messen, ihre Wut loswerden.

Nein, dachte sie energisch. Ich werde lernen, das wie eine Weise Frau zu erledigen. Ich werde meine Ehre zurückgewinnen!

Sie erreichte das Haus und warf den Stein auf den Haufen, wischte sich die Stirn ab; Hitze und Kälte zu ignorieren, wie Elayne sie gelehrt hatte, verhinderte nicht, dass sie bei einer solch harten Arbeit schwitzte.

»Adrin?«, fragte der eine Türwächter seinen Kameraden. »Beim Licht, du siehst nicht gut aus. Wirklich nicht.«

Aviendha sah zur Tür. Der Wächter, der sich über die Hitze beschwert hatte, lehnte am Türpfosten und hielt sich die Stirn. Er sah wirklich nicht gut aus. Aviendha umarmte Saidar. Sie war nicht besonders gut im Heilen, aber vielleicht konnte sie ja ...

Plötzlich griff der Mann nach oben und kratzte sich die Schläfen. Er verdrehte die Augen, seine Finger rissen Furchen in die Haut. Aber statt Blut spuckten die Wunden eine schwarze, holzkohleähnliche Substanz aus. Selbst aus dieser Entfernung konnte Aviendha die intensive Hitze spüren.

Der andere Mann keuchte entsetzt auf, als sein Freund Bahnen aus schwarzem Feuer in sein Gesicht grub. Brodelnder Teer sickerte zischend hervor. Seine Kleidung fing Feuer, und die Hitze ließ sein Fleisch schrumpfen.

Er gab nicht einen Laut von sich.

Aviendha schüttelte ihr Entsetzen ab und webte sofort ein einfaches Muster Luft, mit dem sie den anderen Wächter in Sicherheit zog. Sein Freund war mittlerweile ein pulsierender Hügel aus schwarzem Teer, aus dem an einigen Stellen geschwärzte Knochen ragten. Es gab keinen Kopf mehr. Die Hitze war so stark, dass Aviendha zurückweichen musste und den Wächter mit sich zog.

»Wir ... wir werden angegriffen!«, flüsterte der Mann. »Machtlenker!«

»Nein«, sagte Aviendha, »das ist etwas viel Schlimmeres. Holt Hilfe!«

Er schien viel zu entsetzt zu sein, um sich bewegen zu können, aber sie versetzte ihm einen heftigen Stoß, und er lief los. Der Teer schien sich nicht weiter auszubreiten, was ein Segen war, aber er hatte bereits den Türrahmen entzündet. Er hätte das ganze Gebäude in Brand stecken können, bevor sich dort drinnen überhaupt jemand der Gefahr bewusst geworden wäre.

Aviendha webte Luft und Wasser und wollte die Flammen löschen. Aber sobald sich ihre Gewebe dem Feuer näherten, erbebten sie und fingen an, ihre Konsistenz zu verlieren. Sie lösten sich nicht auf, aber irgendwie widerstand ihnen dieses Feuer.

Sie wich einen weiteren Schritt vor diesem zügellosen, flammenden Inferno zurück. Schweiß brannte auf ihrer Stirn, und sie musste den Arm heben, um das Gesicht vor der Hitze zu schützen. Der mannshohe Teerklumpen begann im dunklen Rot und grellen Weiß extrem heißer Kohlen zu glühen, bis seine Konturen fast nicht mehr zu erkennen waren. Bald waren nur noch Andeutungen von Schwarz zu sehen. Das Feuer breitete sich über die Vorderseite des Gebäudes aus. Drinnen ertönten Schreie.

Aviendha schüttelte sich, dann knurrte sie und webte Erde und Luft, riss Stücke aus dem Boden, schleuderte sie ins Feuer, versuchte es zu ersticken. Ihr Gewebe konnte die Hitze nicht herausziehen, aber das hielt sie nicht davon ab, mit Geweben Dinge ins Feuer zu werfen. Grasbewachsene Erdklumpen zischten, fahle Grashalme verkohlten aufblitzend zu Asche. Aviendha arbeitete weiter, schwitzte durch die Anstrengung und die Temperatur. In der Ferne hörte sie Leute - vermutlich die Wächter - nach Eimern rufen.

Eimer? Natürlich! Im Dreifachen Land war Wasser viel zu kostbar, um bei der Brandbekämpfung benutzt zu werden. Man nahm Dreck oder Sand. Aber hier würde man Wasser nehmen. Aviendha machte mehrere Schritte zurück, suchte den Fluss, der am Haus vorbeifloss. Nur mühsam konnte sie seine Oberfläche ausmachen, auf der sich die roten und gelben Flammen spiegelten. Die gesamte Vorderfront des Hauses brannte bereits! Drinnen lenkte jemand die Macht - Aes Sedai oder Weise Frauen. Hoffentlich würden sie hinten aus dem Gebäude entkommen. Das Feuer hatte den Eingangskorridor erreicht, und die abzweigenden Zimmer verfügten über keine anderen Ausgänge.

Aviendha webte eine massive Säule aus Luft und Wasser, zapfte eine Fontäne aus kristallklarer Flüssigkeit aus dem Fluss und holte sie zu sich. Die Wassersäule wogte in der Luft hin und her wie die Kreatur auf Rands Banner, ein glasiger, sich schlängelnder Drachen, der sich auf die Flammen stürzte. Dampf explodierte in einer Wolke, die Aviendha einhüllte.

Die Hitze war gewaltig, der Dampf verbrühte ihre Haut, aber sie wich nicht zurück. Sie holte noch mehr Wasser, schleuderte die dicke Säule auf den dunklen Hügel, den sie durch den Dampf kaum sehen konnte.

Die Hitze war so schlimm! Aviendha taumelte zurück, biss die Zähne zusammen, arbeitete weiter. Plötzlich gab es eine Explosion, als eine weitere Wassersäule aus dem Fluss schoss und in das Feuer krachte. Zusammen mit ihrer Säule wurde nun beinahe der ganze Fluss umgeleitet. Aviendha blinzelte. Die andere Säule wurde von Geweben gesteuert, die sie nicht sehen konnte, aber sie bemerkte eine Gestalt an einem Fenster oben im ersten Stock, die die Hand ausstreckte und sich sichtlich konzentrierte. Naeff, einer von Rands Asha'man. Es hieß, er sei besonders stark mit Luft.

Das Feuer hatte sich zurückgezogen; nur der Teerhügel stand noch da und strahlte intensive Hitze aus, die Wand daneben und der Eingang hatten sich in ein klaffendes, schwarzes Loch verwandelt. Aviendha schleuderte weiter Wasser gegen die verkohlte schwarze Masse, obwohl langsam eine extreme Müdigkeit in ihr aufstieg. So viel Wasser zu bewegen erforderte von ihr, die Macht bis zur Grenze ihrer Kapazität zu lenken.

Bald hörte das Wasser auf zu zischen. Aviendha schränkte den Strom ein, ließ ihn schließlich nur noch tröpfeln. Der Boden um sie herum war eine nasse, geschwärzte Masse, die durchdringend nach feuchter Asche roch. Holzstücke und Holzkohle trieben in schlammigen Pfützen, und die Löcher, die sie in die Erde gegraben hatte, bildeten kleine Teiche. Zögernd ging sie los und betrachtete den Klumpen, der die Überreste des unglücklichen Soldaten darstellte. Er war glasig und schwarz wie Obsidian und funkelte feucht. Aviendha hob eine angesengte Latte auf - von der Macht ihrer Wassersäule von der Wand gerissen - und stieß dagegen. Die Masse war hart und fest.

»Verflucht!«, brüllte jemand. Aviendha sah auf. Rand al'Thor schritt durch das zerbrochene Loch, das jetzt die Vorderseite des Herrenhauses bildete. Er starrte in den Himmel und drohte mit der Faust. »Ich bin es, den ihr wollt! Ihr bekommt euren Krieg noch früh genug!«

»Rand«, sagte Aviendha zögernd. Soldaten liefen auf dem Rasen herum und sahen besorgt aus, als rechneten sie mit einer Schlacht. Verwirrte Diener spähten aus den Fenstern. Der ganze Zwischenfall mit dem Feuer hatte keine fünf Minuten gedauert.

»Ich halte euch auf!«, donnerte Rand, was Soldaten wie Diener Angstrufe ausstoßen ließ. »Hört ihr mich? Ich komme euch holen! Verschwendet eure Macht nicht! Ihr werdet sie gegen mich brauchen!«

»Rand!«, rief Aviendha.

Er erstarrte, dann sah er wie benommen auf sie herunter. Sie erwiderte seinen Blick und konnte seinen Zorn fühlen, so wie sie noch eben die Flammen gespürt hatte. Ruckartig drehte er sich um, ging zurück ins Haus und stieg die geschwärzten Stufen hinauf.

»Beim Licht!«, sagte eine nervöse Stimme. »Geschieht so etwas oft, wenn er in der Nähe ist?«

Aviendha drehte sich um. Ein junger Mann in einer unbekannten Uniform stand da und sah zu. Er war schlank, hatte hellbraunes Haar und kupferfarbene Haut - sie erinnerte sich nicht an seinen Namen, war sich aber ziemlich sicher, dass er einer der Offiziere war, die Rand nach seiner Begegnung mit Rodel Ituralde mitgebracht hatte.

Sie wandte sich wieder den Trümmern zu, hörte, wie in der Ferne Soldaten Befehle riefen. Bashere war eingetroffen und übernahm das Kommando, brüllte Männern zu, das Lager zu sichern, obwohl er sie vermutlich nur beschäftigen wollte. Das war nicht der Beginn eines Angriffs. Da hatte der Dunkle König nur wieder einmal die Welt berührt, so wie Fleisch, das verdarb, Käfer und Ratten, die aus dem Nichts kamen, und Männer, die seltsame Krankheiten dahinrafften.

»Ja«, sagte Aviendha, um die Frage des Mannes zu beantworten, »so etwas geschieht oft. Öfter in der Nähe des Car'a'carn als an anderen Orten. Gab es bei Euren Männern ähnliche Geschehnisse?«

»Ich habe Geschichten gehört«, sagte er. »Aber ich wollte sie nicht glauben.«

»Nicht alle Geschichten sind Übertreibungen.« Sie betrachtete die geschwärzten Überreste des Türwächters. »Das Gefängnis des Dunklen Königs ist schwach.«

»Verfluchte Asche«, sagte der junge Mann und wandte sich ab. »Wo habt Ihr uns nur da reingezogen, Rodel?« Er schüttelte den Kopf und ging.

Basheres Offiziere fingen an, Befehle zu geben, teilten Männer ein, um aufzuräumen. Würde Rand jetzt aus dem Haus ausziehen? Nach dem Erscheinen von Blasen des Bösen wollten die Menschen oft weg. Aber Aviendhas Bund mit Rand verriet ihr keine Dringlichkeit. Tatsächlich ... hatte es den Anschein, als hätte er sich wieder zur Ruhe begeben. Die Stimmungen des Mannes wurden genauso sprunghaft wie Elaynes während ihrer Schwangerschaft.

Sie schüttelte den Kopf und fing an, verbranntes Holz einzusammeln, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Mehrere Aes Sedai kamen aus dem Gebäude und inspizierten den Schaden. Die ganze Vorderseite war mit schwarzen Streifen übersät, und das schwarze Loch, das sich nun dort befand, wo zuvor der Eingang gewesen war, maß mindestens fünfzehn Schritte. Eine der Frauen musterte Aviendha anerkennend. Es war Merise. »Eine Schande«, sagte sie.

Aviendha richtete sich auf, ein Stück verkohltes Holz in der Hand. Ihre Kleidung war noch immer klatschnass. Bei diesen Wolken, die die Sonne verdeckten, würde es lange dauern, bis sie wieder trocken war. »Eine Schande?«, wiederholte sie. »Wegen dem Haus?« Lord Tellaen, der Besitzer, hockte auf einem Schemel im Eingang, jammerte leise vor sich hin, fuhr sich über die Stirn und schüttelte unablässig den Kopf.

»Nein«, sagte Merise. »Es ist eine Schande mit Euch, Kind. Euer Geschick mit Geweben ist beeindruckend. Hätten wir Euch in der Weißen Burg gehabt, wärt Ihr mittlerweile eine Aes Sedai. Euer Weben ist zwar teilweise etwas grob, aber Ihr würdet schnell lernen, das zu bereinigen, wenn Euch Schwestern unterrichteten.«

Ein deutlich hörbares Schnauben ließ Aviendha herumfahren. Melaine stand hinter ihr. Die blonde Weise Frau hatte die Arme unter der Brust verschränkt, und ihrem leicht vorgewölbten Bauch war deutlich das in ihr wachsende Kind anzusehen. Melaine war offensichtlich nicht amüsiert. Wie hatte diese Frau nur in ihre Nähe gelangen können, ohne dass sie es bemerkte? Ihre Erschöpfung machte sie sorglos.

Melaine und Merise starrten einander einen langen Moment an, dann fuhr die hochgewachsene Aes Sedai mit rauschenden grünen Röcken herum und begab sich zu einer Gruppe Diener, denen die Flammen den Fluchtweg versperrt hatten, erkundigte sich, ob jemand Geheilt werden musste. Melaine sah ihr nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Eine unerträgliche Frau!«, murmelte sie. »Wenn man bedenkt, was wir einst von ihnen hielten!«

»Weise Frau?«, fragte Aviendha.

»Ich bin stärker als die meisten Aes Sedai, Aviendha, und du bist viel stärker, als ich es bin. Du verstehst und kontrollierst Gewebe auf eine Weise, die die meisten von uns beschämt. Andere lernen nur mühsam das, was dir nur so zufliegt. ›Euer Weben ist etwas grob‹, sagte sie! Ich bezweifle, dass auch nur eine der Aes Sedai, ausgenommen vielleicht Cadsuane Sedai, das zustande gebracht hätte, was du mit dieser Wassersäule gemacht hast. Um Wasser so weit zu bewegen, musstest du den Druck des Flusses selbst benutzen.«

»Das habe ich getan?«, fragte Aviendha und blinzelte.

Melaine musterte sie, dann schnaubte sie wieder, dieses Mal aber leise und auf sich selbst gemünzt. »Ja, das hast du getan. Du hast ein so großes Talent, Kind.«

Das Lob ließ Aviendha beinahe vor Stolz platzen; Weise Frauen lobten nur selten, dafür meinten sie es dann aber immer ehrlich.

»Aber du willst einfach nicht lernen«, fuhr Melaine fort. »Es ist nicht mehr viel Zeit! Ich will dir eine Frage stellen. Was hältst du von Rand al'Thors Plan, diese Kaufmannshäuptlinge der Domani zu entführen?«

Aviendha blinzelte wieder; sie war so müde, dass es ihr schwerfiel, vernünftig nachzudenken. Zuerst einmal widersprach es überhaupt dem gesunden Menschenverstand, dass die Domani Kaufleute als Anführer benutzten. Wie sollte ein Kaufmann Leute anführen können? Mussten sich Kaufleute nicht auf ihre Waren konzentrieren? Es war albern. Würden die Feuchtländer denn niemals aufhören, sie mit ihren seltsamen Sitten zu verwirren?

Und warum fragte Melaine sie das ausgerechnet jetzt?

»Sein Plan scheint gut zu sein, Weise Frau«, sagte Aviendha. »Aber es gefällt den Speeren nicht, als Entführer benutzt zu werden. Ich finde, der Car'a'carn hätte es besser so ausgedrückt, dass man den Kaufleuten Schutz anbietet, erzwungenen Schutz. Es hätte den Häuptlingen besser gefallen, wenn man ihnen gesagt hätte, dass sie beschützen sollen und nicht entführen.«

»Sie würden das Gleiche tun, ganz egal wie man es nennt.«

»Aber es ist wichtig, wie man Dinge nennt«, meinte Aviendha. »Es ist nicht unehrlich, wenn beide Definitionen zutreffen.«

Melaines Augen funkelten, und Aviendha entdeckte den Hauch eines Lächelns in ihren Mundwinkeln. »Wie fandest du die Besprechung sonst?«

»Rand al'Thor scheint noch immer der Ansicht zu sein, dass der Car'a'carn wie ein König der Feuchtländer Entscheidungen treffen kann. Das ist meine Schuld. Ich habe es nicht auf die richtige Weise erklärt.«

Melaine winkte ab. »Da hast du keine Schande auf dich geladen. Wir wissen doch alle, wie stur der Car'a'carn ist. Die Weisen Frauen haben es auch versucht, und keine konnte ihn vernünftig ausbilden.«

Also. Auch das war nicht der Grund für die Schande, die sie den Weisen Frauen gemacht hatte. Was war es dann? Aviendha unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und zwang sich dazu fortzufahren. »Trotzdem muss er daran erinnert werden. Immer wieder. Rhuarc ist ein weiser und geduldiger Mann, aber das trifft nicht auf alle Clanhäuptlinge zu. Ich weiß, dass sich einige fragen, ob es die richtige Entscheidung war, Rand al'Thor zu folgen.«

»Das stimmt«, sagte Melaine. »Aber sieh dir an, was aus den Shaido wurde.«

»Ich habe nicht gesagt, dass sie recht haben, Weise Frau.« Ein paar Soldaten versuchten zögernd, den glasigen schwarzen Hügel vom Boden zu lösen. Anscheinend war er mit der Erde verschmolzen. Aviendha senkte die Stimme. »Es ist falsch von ihnen, den Car'a'carn anzuzweifeln, aber sie reden miteinander. Rand al'Thor muss erkennen, dass sie nicht eine Beleidigung nach der anderen endlos schlucken werden. Vielleicht wenden sie sich nicht gegen ihn wie die Shaido, aber es würde mich nicht überraschen, sollte etwa Timolan einfach ins Dreifache Land zurückkehren und den Car'a'carn seiner Arroganz überlassen.«

Melaine nickte. »Mach dir da mal keine Sorgen. Wir sind uns dieser ... Möglichkeit bewusst.«

Das bedeutete, dass man Weise Frauen losgeschickt hatte, um Timolan, den Häuptling der Miagoma Aiel, zu beschwichtigen. Es würde nicht das erste Mal sein. Wusste Rand al'Thor eigentlich, wie sehr sich die Weisen Frauen hinter seinem Rücken bemühten, die Loyalität der Aiel aufrechtzuerhalten? Vermutlich nicht. Er sah sie alle als homogene Gruppe, die ihm verschworen war und benutzt werden konnte. Das war eine von Rands größten Schwächen. Er konnte nicht begreifen, dass Aiel genauso wenig wie andere Menschen auch gern als Werkzeuge benutzt wurden. Die Clans waren viel weniger miteinander verbunden, als er glaubte. Seinetwegen hatte man Blutfehden hintangestellt. Konnte er denn nicht begreifen, wie unglaublich das war? Sah er denn nicht, wie zerbrechlich diese Allianz auch weiterhin war?

Aber er war nicht nur von Geburt Feuchtländer, er war auch keine Weise Frau. Wenige Aiel sahen die Arbeit, die die Weisen Frauen auf Dutzenden verschiedenen Gebieten verrichteten. Wie einfach war Aviendha doch das Leben erschienen, als sie noch eine Tochter gewesen war! Damals hätte sie es maßlos verblüfft, hätte sie erfahren, was da alles hinter ihrem Rücken vorging.

Melaine starrte das beschädigte Gebäude an. »Das Relikt eines Relikts«, sagte sie, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Und wenn er uns verbrannt und zerstört zurücklässt, so wie diese Bretter? Was wird dann aus den Aiel? Schleppen wir uns zurück ins Dreifache Land und machen so weiter wie zuvor? Viele werden nicht gehen wollen. Diese Länder können so viel bieten.«

Das Gewicht dieser Worte ließ Aviendha blinzeln. Sie hatte kaum darüber nachgedacht, was wohl geschehen würde, nachdem der Car'a'carn mit ihnen fertig war. Sie konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt, darauf, ihre Ehre zurückzugewinnen und da zu sein, um Rand al'Thor in der Letzten Schlacht zu beschützen. Aber eine Weise Frau konnte nicht nur an das Jetzt oder das Morgen denken. Sie musste an die vor ihnen liegenden Jahre und die Zeiten denken, die ihnen der Wind bringen würde.

Das Relikt eines Relikts. Er hatte die Aiel als ein Volk zerbrochen. Was würde aus ihnen werden?

Melaine musterte sie wieder; ihre Miene wurde weicher. »Geh zu den Zelten und ruh dich aus, Kind. Du siehst aus wie ein Sharadan, der drei Tage auf dem Bauch über den Sand gekrochen ist.«

Aviendha sah auf ihre Arme herab, entdeckte die Ascheflocken von dem Brand. Ihre Kleidung war nass und schmutzig, und sie vermutete, dass ihr Gesicht genauso dreckig war. Ihre Arme schmerzten vom Steineschleppen. Sobald sie sich ihrer Erschöpfung bewusst wurde, schien sie wie ein Windsturm über sie hereinzubrechen. Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich, aufrecht stehen zu bleiben. Sie würde sich nicht dadurch entehren, dass sie zusammenbrach! Aber sie wandte sich wie befohlen ab, um zu gehen.

»Oh, eines noch, Aviendha«, rief Melaine. »Wir reden morgen über deine Strafe.«

Entsetzt drehte sie sich um.

»Weil du mit den Steinen nicht fertig geworden bist«, sagte Melaine und betrachtete wieder die Zerstörungen. »Und weil du nicht schnell genug lernst. Geh.«

Aviendha seufzte. Eine weitere Runde Fragen, eine weitere unverdiente Strafe. Es gab also einen Zusammenhang. Aber wie sah er aus?

Im Moment war sie zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Sie wollte bloß noch in ihr Bett und ertappte sich dabei, wie sie verräterischerweise an die weiche, luxuriöse Matratze im Palast von Caemlyn dachte. Sie verbannte diese Gedanken. Wenn man so tief schlief, an Kissen und weiche Decken geschmiegt, dann war man viel zu entspannt, um aufzuwachen, wenn jemand einen in der Nacht ermorden wollte! Wie hatte sie sich nur von Elayne dazu überreden lassen können, in diesen weichgefederten Todesfallen zu schlafen?

Als sie diesen Gedanken verdrängte, kam ihr noch ein anderer - ein verräterischer. Der Gedanke an Rand al'Thor, der sich in seinem Zimmer ausruhte. Sie konnte zu ihm gehen ...

Nein! Nicht, bevor sie ihre Ehre zurückgewonnen hatte. Sie würde nicht als Bittstellerin zu ihm gehen. Sie würde als eine Frau mit Ehre zu ihm gehen. Vorausgesetzt, sie würde je entdecken, was sie falsch machte.

Sie schüttelte den Kopf und marschierte zu dem Aiellager auf der anderen Seite des Rasens.

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