16 In der Weißen Burg

»Ich bin neugierig, was die Novizin zu sagen hat. Verratet mir, Egwene al'Vere, wie wärt Ihr mit der Situation umgegangen?«

Egwene schaute von der Schale mit den Nüssen auf, in der einen Hand den eisernen Nussknacker, in der anderen eine dicke Walnuss. Es war das erste Mal, dass eine der anwesenden Aes Sedai sie angesprochen hatte. Und sie hatte schon geglaubt, dass der Dienst als Dienerin bei den drei Weißen sich nur als weitere Zeitverschwendung erweisen würde.

An diesem Nachmittag befand sie sich auf einem kleinen Balkon auf der dritten Ebene der Weißen Burg. Sitzende konnten nicht nur Räume mit großen Fenstern verlangen, sondern auch mit Balkonen, etwas, das für gewöhnliche Schwestern nicht üblich war - auch wenn es nicht gänzlich unbekannt war. Der hier war wie ein kleines Türmchen geformt, eine stabile Steinmauer diente als Brüstung, von der Decke senkte sich eine ähnliche Mauer. Zwischen den beiden befand sich eine großzügige Lücke, und der Ausblick war sehr schön, nach Osten über die sich sanft erhebenden Hügel, die schließlich zu Brudermörders Dolch emporstiegen. An einem klaren Tag hätte man den Dolch in der Ferne durchaus sehen können.

Eine kühle Brise strich über den Balkon, und so hoch oben war sie frisch und unberührt vom Gestank der darunter liegenden Stadt. Zu beiden Seiten des Mauerwerks wuchsen Zankranken mit ihren dreizackigen Blättern und anschmiegsamen Reben, die sich ausbreitenden Ranken bedeckten die Innenseite des Mauerwerks und ließen es beinahe wie eine Ruine in der Tiefe eines Waldes aussehen. Die Pflanzen waren ein größerer Schmuck, als Egwene in den Gemächern einer Weißen erwartet hätte, aber Ferane sagte man einen Hauch Eitelkeit nach. Vermutlich gefiel es ihr, dass ihr Balkon so unverkennbar war, selbst wenn das Protokoll von ihr verlangte, die Reben zurechtzustutzen, um das funkelnde Profil des Turms nicht zu beeinträchtigen.

Die drei Weißen saßen auf Korbstühlen an einem niedrigen Tisch. Egwene saß vor ihnen auf einem Korbhocker, den Rücken der Öffnung zugewandt, sodass sie die Aussicht nicht genießen konnte, während sie für die anderen Nüsse knackte. Diese Arbeit hätte auch jeder Diener oder Küchenhelfer erledigen können. Aber es war auch genau die Art von Beschäftigung, mit der Schwestern die Zeit von Novizinnen füllten, die ihrer Meinung nach zu viel herumlungerten.

Egwene hatte das Nüsseknacken nur für einen Vorwand gehalten. Nachdem man sie den größten Teil einer Stunde ignoriert hatte, waren ihr da Zweifel gekommen, aber jetzt sahen alle drei Frauen sie an. Sie hätte ihrem Instinkt vertrauen sollen.

Ferane hatte die kupferfarbene Haut einer Domani und das dazu passende Temperament, was für eine Weiße seltsam war. Sie war klein, hatte ein apfelförmiges Gesicht und glänzendes schwarzes Haar. Ihr rotbraunes Kleid war hauchdünn, aber schicklich, mit einer breiten weißen Schärpe um die Taille, die zu ihrer Stola passte, die sie im Augenblick trug. Dem Kleid mangelte es nicht an Stickereien, und der Stoff schien vielleicht absichtlich eine Anspielung auf ihre Herkunft als Domani zu sein.

Die anderen beiden, Miyasi und Tesan, trugen beide Weiß, als befürchteten sie, dass sie mit Kleidern anderer Farbe ihre Ajah verraten würden. Diese Idee schien sich in letzter Zeit bei allen Aes Sedai immer mehr durchzusetzen. Tesan mit ihrem dunklen, zu Zöpfen geflochtenen und perlengeschmückten Haar kam aus Tarabon. Die Perlen waren weiß und golden und rahmten ein schmales Gesicht ein, das aussah, als hätte man oben und unten zugegriffen und fest gezogen. Sie erweckte immer den Eindruck, als würde sie sich über etwas Sorgen machen. Aber vielleicht waren das ja auch nur die Zeiten, in denen sie lebten. Das Licht allein wusste, dass sie genug hatten, worüber sie sich Sorgen machen konnten.

Miyasi war da ruhiger; ihr Kopf wurde von einem eisengrauen Haarknoten geschmückt. Ihr Aes Sedai-Gesicht verriet nichts von den vielen Jahren, die sie erlebt haben musste, damit ihr Haar so grau werden konnte. Sie war hochgewachsen und mollig, und sie wollte ihre Walnüsse auf eine ganz bestimmte Weise geschält haben. Keine zerbrochenen Stücke, sondern nur unversehrte Hälften. Egwene zog vorsichtig eine aus der Schale, die sie gerade geknackt hatte, und reichte sie herüber; der kleine braune Klumpen war voller Windungen, wie das Gehirn eines kleinen Tieres.

»Was hattet Ihr noch einmal gefragt, Ferane?«, entgegnete Egwene, knackte die nächste Nuss und warf die Schalen in den Eimer zu ihren Füßen.

Die Weiße bedachte ihre unschickliche Erwiderung kaum mit einem Stirnrunzeln. Langsam gewöhnten sich alle an die Tatsache, dass sich diese »Novizin« nur selten so verhielt, wie es ihrem angeblichen Status zukam. »Ich fragte«, sagte Ferane kühl, »was Ihr anstelle der Amyrlin getan hättet. Betrachtet das als Teil Eures Unterrichts. Ihr wisst, dass der Drache wiedergeboren wurde, und wir wissen auch, dass die Burg ihn kontrollieren muss, damit die Letzte Schlacht wie gewünscht verläuft. Wie würdet Ihr mit ihm umgehen?«

Eine seltsame Frage. Sie klang so gar nicht nach »Unterricht«. Aber Feranes Tonfall ließ es auch nicht wie eine Einladung klingen, sich über Elaida zu beschweren. Dafür lag in dieser Stimme viel zu viel Verachtung für Egwene.

Die anderen beiden Weißen blieben stumm. Ferane war eine Sitzende, und sie ordneten sich ihr unter.

Sie hat gehört, wie oft ich Elaidas Versagen bei Rand erwähne, dachte Egwene und sah Ferane in die schwarzen Augen. Also. Das ist eine Prüfung, nicht wahr? Hier war sorgfältig überlegtes Vorgehen gefragt.

Sie griff nach der nächsten Nuss. »Zuerst würde ich eine Gruppe Schwestern in sein Heimatdorf schicken.«

Ferane hob eine Braue. »Um seine Familie einzuschüchtern?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Egwene. »Um sie auszufragen. Wer ist dieser Wiedergeborene Drache? Ist er ein temperamentvoller Mann, ein Mann voller Leidenschaften? Oder ist er ein bedächtiger Mann, sorgfältig und vorsichtig? Gehörte er zu der Sorte, die ihre Zeit gern allein auf dem Feld verbringt, oder schloss er schnell Freundschaften mit anderen Jungen? Würde man ihn eher in einer Schenke oder einer Werkstatt antreffen?«

»Aber Ihr kennt ihn doch«, mischte sich Tesan ein.

»Das tue ich«, sagte Egwene und knackte eine Nuss. »Aber wir sprechen von einer hypothetischen Situation.« Doch vergesst nie, dass ich den Wiedergeborenen Drachen in der realen Welt persönlich kenne. So wie niemand sonst in der Burg.

»Lasst uns annehmen, dass Ihr Ihr seid«, sagte Ferane. »Und dass er Rand al'Thor ist, Euer Kindheitsfreund.«

»Gut.«

Ferane beugte sich vor. »Dann verratet mir, von den Sorten von Männern, die Ihr eben aufgelistet habt, was passt am besten zu diesem Rand al'Thor?«

Egwene zögerte. »Sie alle«, sagte sie und warf eine zerbrochene Walnuss in eine kleine Schale auf dem Tisch. Miyasi würde sie nicht anrühren, aber die anderen beiden waren da nicht so pingelig. »Wäre ich ich und der Drache Rand, dann würde ich ihn als rationalen Menschen kennen - für einen Mann. Wenn er auch manchmal etwas stur ist. Oder meistens. Was aber viel wichtiger ist, ich wüsste, dass er im Grunde seines Herzens ein guter Mann ist. Also würde ich ihm dann Schwestern schicken, die ihm Führung anbieten.«

»Und wenn er das ablehnt?«, wollte Ferane wissen.

»Dann würde ich Spione schicken und ihn beobachten, um in Erfahrung zu bringen, ob er noch der Mann ist, den ich einst kannte.«

»Und während Ihr wartet und ihn ausspioniert, würde er das Land terrorisieren, überall Schaden anrichten und Armeen unter sein Banner zwingen.«

»Und ist es nicht genau das, was wir von ihm wollen? Ich glaube nicht, dass man ihn hätte daran hindern können, Callandor zu nehmen, selbst wenn wir das gewollt hätten. In Cairhien hat er die Ordnung wiederhergestellt, hat Tear und Illian unter einem Herrscher vereint und vermutlich auch Andors Gunst erworben.«

»Ganz zu schweigen von diesen Aiel, die er bezwungen hat«, sagte Miyasi und griff nach einer Handvoll Nüsse.

Egwene warf ihr einen scharfen Blick zu. »Niemand bezwingt die Aiel. Rand hat sich ihren Respekt erworben. Ich war dabei.«

Miyasi erstarrte, die Hand auf dem halben Weg zur Nussschüssel. Sie schüttelte sich, brach den Blickkontakt, schnappte sich die Schüssel und setzte sich wieder. Eine kühle Brise blies über den Balkon und ließ die Pflanzen rascheln, die diesen Frühling nicht so ergrünten, wie sie sollten, worüber sich Ferane bitter beschwert hatte. Egwene fuhr darin fort, Nüsse zu knacken.

»Es hat den Anschein«, sagte Ferane, »als würdet Ihr ihn einfach Chaos verbreiten lassen, wie er gerade Lust hat.«

»Rand al'Thor ist wie ein Fluss«, erwiderte Egwene. »Ruhig und friedlich, wenn er ungestört ist, aber ein tödlicher, reißender Strom, wenn man ihn in ein zu enges Bett zwängt. Was Elaida mit ihm gemacht hat, entspricht ungefähr dem Versuch, den Manetherendrelle durch eine zwei Fuß breite Schlucht zu zwingen. Das Temperament eines Mannes in aller Ruhe zu ergründen ist nicht dumm, und es ist auch kein Zeichen von Schwäche. Ohne Informationen zu handeln ist Wahnsinn, und die Weiße Burg verdient den Sturm, den sie geweckt hat.«

»Vielleicht«, meinte Ferane. »Aber Ihr habt mir immer noch nicht verraten, wie Ihr mit der Situation umgehen würdet, sobald Ihr Eure Informationen gesammelt habt und die Zeit des Wartens vorbei ist.« Ferane war für ihr Temperament bekannt, aber im Augenblick zeigte ihre Stimme die Kälte, für die die Weißen berüchtigt waren. Es war die Kälte von jemandem, der ohne jedes Gefühl sprach, der an die Logik dachte, ohne äußere Einflüsse zu tolerieren.

Es war nicht die beste Methode, um Probleme zu lösen. Menschen waren viel komplizierter als jedes Regelwerk oder Zahlen. Es gab Zeiten, in denen Logik angebracht war, das stimmte, aber es gab auch Zeiten, in denen Gefühle im Vordergrund standen.

Rand stellte ein Problem dar, über das Egwene sich verboten hatte nachzudenken - sie musste ein Problem nach dem anderen lösen. Aber es sprach auch viel dafür, weit vorauszuplanen. Wenn sie sich keine Gedanken darüber machte, wie sie mit dem Wiedergeborenen Drachen verfahren sollte, würde sie sich schließlich in einer genauso aussichtslosen Situation wie Elaida wiederfinden.

Er war nicht mehr der Mann, den sie kannte. Aber die Wurzeln seiner Persönlichkeit mussten noch dieselben wie früher sein. Während der Monate, die sie zusammen durch die Aiel-Wüste gereist waren, hatte sie oft seinen Zorn erleben können. Während seiner Kindheit war er nicht oft zum Vorschein gekommen, aber jetzt begriff sie, dass er immer unter der Oberfläche gelauert haben musste. Er hatte nicht plötzlich Temperament entwickelt; in den Zwei Flüssen hatte ihn nur nie etwas in Erregung versetzt.

Während der monatelangen Reise schien er mit jedem Schritt härter zu werden. Er stand unter außergewöhnlichem Druck. Wie ging man mit so einem Mann um? Ehrlich gesagt fiel ihr dazu nichts ein.

Aber diese Unterhaltung drehte sich gar nicht darum, wie man mit Rand zu verfahren hatte. Es ging darum, dass Ferane ergründen wollte, welche Art Frau sie war.

»Rand al'Thor sieht sich als Herrscher«, sagte Egwene. »Und ich schätze, das ist er mittlerweile auch. Sollte er den Eindruck haben, dass man ihn in eine bestimmte Richtung drängen will, wird er ungehalten reagieren. Müsste ich mich mit ihm auseinandersetzen, würde ich eine Delegation schicken, die ihn ehrt.«

»Eine aufwendige Prozession?«, fragte Ferane.

»Nein. Aber auch keine dürftige. Eine Gruppe aus drei Aes Sedai, angeführt von einer Grauen, die von einer Grünen und einer Blauen begleitet wird. Dank früherer Bekanntschaften schätzt er die Blauen, und Grüne werden oft als das Gegenteil der Roten betrachtet, ein subtiler Hinweis, dass wir zur Zusammenarbeit bereit sind und ihn nicht dämpfen wollen. Eine Graue, weil man das erwartet, aber auch, weil es bedeutet, dass es um Verhandlungen geht und keine Heere folgen.«

»Eine gute Logik«, sagte Tesan und nickte.

Ferane war nicht so leicht zu überzeugen. »Solche Delegationen sind in der Vergangenheit gescheitert. Ich glaube, dass auch Elaidas Delegation von einer Grauen angeführt wurde.«

»Ja, aber Elaidas Delegation wies einen fundamentalen Fehler auf«, sagte Egwene.

»Und welcher wäre das gewesen?«

»Nun, sie wurde von einer Roten gesandt.« Egwene knackte eine Nuss. »Es fällt mir schwer, in der Erhebung einer Roten zur Amyrlin während der Tage des Wiedergeborenen Drachen eine Logik zu erkennen. Musste das nicht damit enden, dass zwischen ihm und der Burg Feindschaft entsteht?«

»Man könnte auch sagen«, hielt Ferane dagegen, »dass man in diesen von Unheil geplagten Zeiten eine Rote braucht, denn die Roten haben die meiste Erfahrung im Umgang mit Männern, die die Macht lenken können.«

»Mit ihnen ›umgehen‹ zu können ist etwas anderes, als mit ihnen zu ›arbeiten‹«, sagte Egwene. »Man hätte den Wiedergeborenen Drachen nicht frei herumlaufen lassen dürfen, aber seit wann ist die Weiße Burg dazu da, Leute zu entführen und ihnen unseren Willen aufzuzwingen? Stehen wir nicht in dem Ruf, von allen Menschen diejenigen zu sein, die am subtilsten und vorsichtigsten sind? Rühmen wir uns nicht, andere dazu bringen zu können, sich so zu verhalten, wie sie sollten, und sie die ganze Zeit in dem Glauben zu lassen, es wäre ihre eigene Idee gewesen? Wann haben wir in der Vergangenheit Könige in Kisten gesperrt und sie wegen Ungehorsam geschlagen? Warum haben wir von allen Zeiten unter dem Licht ausgerechnet jetzt auf unsere behutsame Vorgehensweise verzichtet und sind stattdessen zu einfachen Schlägern geworden?«

Ferane suchte sich eine Walnuss aus. Die anderen beiden Weißen teilten einen unbehaglichen Blick. »In Euren Worten liegt ein gewisser Sinn«, gestand die Sitzende schließlich ein.

Egwene legte den Nussknacker zur Seite. »Rand al'Thor ist ein guter Mann, jedenfalls in seinem Herzen, aber er braucht Führung. In diesen Tagen hätten wir so geschickt wie noch nie zuvor vorgehen müssen. Man hätte ihn dazu bringen müssen, Aes Sedai vor allen anderen zu vertrauen, sich auf unseren Rat zu verlassen. Man hätte ihm zeigen müssen, welche Weisheit im Zuhören liegt. Stattdessen hat man ihm gezeigt, dass wir ihn wie ein ungehorsames Kind behandeln werden. Selbst wenn er das sein sollte, darf er nicht glauben, dass wir ihn so sehen. Unser Versagen ist dafür verantwortlich, dass er Aes Sedai zu Gefangenen machte, und er hat zugelassen, dass Schwestern mit seinen Asha'man den Bund eingehen mussten.«

Ferane setzte sich steif auf. »Diese Abscheulichkeit sollte besser nicht erwähnt werden.«

»Er hat was?«, sagte Tesan und legte entsetzt eine Hand auf die Brust. Manche Weiße schienen der Welt um sie herum nie irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. »Ferane? Habt Ihr davon gewusst?«

Ferane schwieg.

»Ich ... ich habe dieses Gerücht gehört«, sagte die korpulente Miyasi. »Sollte es der Wahrheit entsprechen, dann muss etwas unternommen werden.«

»Ja«, sagte Egwene. »Leider können wir uns im Augenblick nicht auf al'Thor konzentrieren.«

»Er ist das größte Problem auf der Welt«, sagte Tesan und beugte sich vor. »Wir müssen uns zuerst um ihn kümmern.«

»Nein«, erwiderte Egwene. »Es gibt andere Probleme.«

Miyasi runzelte die Stirn. »Da sich die Letzte Schlacht nähert, sehe ich keine anderen wichtigen Dinge.«

Egwene schüttelte den Kopf. »Wenn wir uns jetzt um Rand kümmern, wären wir wie ein Bauer, der seinen Wagen betrachtet und sich darüber sorgt, dass keine Güter aufgeladen sind, die er verkaufen kann - dabei aber die Tatsache ignoriert, dass die Achse gebrochen ist. Belädt man ihn vor der Zeit, wird man nur den Wagen kaputtmachen und dann schlimmer dastehen als zuvor.«

»Und was genau wollt Ihr damit andeuten?«, fragte Tesan.

Egwene richtete den Blick wieder auf Ferane.

»Ich verstehe«, sagte die Sitzende. »Ihr bezieht Euch auf die Spaltung der Weißen Burg.«

»Kann ein gespaltener Stein ein gutes Fundament für ein Haus sein?«, fragte Egwene. »Kann ein ausgefranstes Seil ein in Panik geratenes Pferd halten? Wie können wir in unserem gegenwärtigen Zustand hoffen, den Wiedergeborenen Drachen lenken zu können?«

»Und warum verstärkt Ihr die Spaltung dann, indem Ihr darauf beharrt, der Amyrlin-Sitz zu sein?«, sagte Ferane. »Ihr widerspricht Eurer eigenen Logik.«

»Und auf meinen Anspruch auf den Amyrlin-Sitz zu verzichten würde die Burg heilen?«

»Es würde helfen.«

Egwene hob eine Braue. »Lasst uns für einen Moment annehmen, dass ich durch den Verzicht auf meinen Anspruch die Rebellen dazu überreden könnte, sich wieder der Weißen Burg anzuschließen und Elaidas Führung zu akzeptieren.« Sie hob die Braue noch ein Stück höher, um anzudeuten, für wie wahrscheinlich sie das hielt. »Würde das die Differenzen beseitigen?«

»Ihr habt gerade gesagt, dass es das würde«, sagte Tesan stirnrunzelnd.

»Ach ja?«, erwiderte Egwene. »Würden dann die Schwestern nicht mehr durch die Gänge eilen, weil sie Angst haben, allein zu sein? Würden sich Gruppen von Frauen verschiedener Ajahs keine feindselige Blicke mehr zuwerfen, wenn sie einander in den Korridoren begegnen? Bei allem nötigen Respekt, würden wir nicht länger das Bedürfnis verspüren, ständig unsere Stolen zu tragen, um zu zeigen, wer wir sind und wo unsere Loyalität liegt?«

Ferane schaute kurz nach unten auf ihre weißbefranste Stola.

Egwene beugte sich vor und fuhr fort. »Von allen Frauen in der Weißen Burg wisst Ihr doch sicherlich am besten, wie wichtig es ist, dass die Ajahs zusammenarbeiten. Wir können nicht darauf verzichten, dass sich Frauen mit verschiedenen Fähigkeiten und Interessen in Ajahs organisieren. Aber ergibt es irgendeinen Sinn, wenn wir darauf verzichten, miteinander zusammenzuarbeiten?«

»Diese ... bedauerlichen Spannungen haben nicht die Weißen zu verantworten«, sagte Miyasi mit leisem Schnauben. »Das waren jene, die ihren außer Kontrolle geratenen Gefühlen folgten.«

»Dafür ist die derzeitige Führung verantwortlich«, sagte Egwene. »Eine Führung, die uns lehrt, dass es völlig in Ordnung ist, Schwestern unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu dämpfen und Behüter hinzurichten, bevor ihre Aes Sedai überhaupt vor Gericht gestellt wurden. Dass nichts daran falsch ist, einer Schwester die Stola abzunehmen und sie zu einer Aufgenommenen zu degradieren, dass nichts daran falsch ist, eine ganze Ajah aufzulösen. Und was ist damit, ohne den Rat des Saals ein so gefährliches Unternehmen wie die Entführung und Gefangennahme des Wiedergeborenen Drachen zu befehlen? Kommt es so unerwartet, dass Schwestern so verängstigt und besorgt sind? Ist nicht alles, was mit uns passiert ist, völlig logisch?«

Die drei Weißen schwiegen.

»Ich werde mich nicht unterwerfen«, sagte Egwene. »Nicht, solange das an der Spaltung nichts ändert. Ich werde auch weiterhin behaupten, dass Elaida nicht die Amyrlin ist. Ihre Handlungen haben es bewiesen. Ihr wollt beim Kampf gegen den Dunklen König helfen? Nun, Euer erster Schritt liegt darin, sich nicht um den Wiedergeborenen Drachen zu kümmern. Euer erster Schritt sollte sein, den Schwestern der anderen Ajahs die Hand zu reichen.«

»Warum wir?«, wollte Tesan wissen. »Wir sind nicht für die Taten der anderen verantwortlich.«

»Und Euch kann man keinen Vorwurf machen?«, fragte Egwene und ließ etwas von ihrer Wut durchschimmern. Wollte denn keine ihrer Schwestern wenigstens ein Mindestmaß an Verantwortung akzeptieren? »Die Weißen hätten sehen müssen, wo dieser Weg hinführt. Ja, Siuan und die Blauen waren nicht fehlerlos - aber Ihr hättet erkennen müssen, welchen Fehler man mit ihrem Sturz begeht, um dann Elaida zu erlauben, die Blauen aufzulösen. Außerdem glaube ich, dass mehrere Mitglieder Eurer Ajah einen wesentlichen Anteil daran hatten, Elaida zur Amyrlin zu machen.«

Miyasi zuckte leicht zusammen. Die Weißen wurden nicht gern an Alviarin und ihr Scheitern als Elaidas Behüterin der Chronik erinnert. Anstatt sich gegen Elaida zu wenden, weil sie eine Weiße verstoßen hatte, hatten sie sich scheinbar wegen der von ihr verursachten Schande gegen die eigene Schwester gewandt.

»Ich finde noch immer, dass das eine Aufgabe für die Grauen ist«, meinte Tesan, aber sie hörte sich deutlich weniger überzeugend an als noch Augenblicke zuvor. »Ihr solltet mit ihnen sprechen.«

»Das habe ich«, erwiderte Egwene. Langsam verlor sie die Geduld. »Manche sprechen nicht mit mir und schicken mich zur Buße. Andere sagen, dass diese Zerwürfnisse nicht ihre Schuld sind, aber nach einiger Überredung haben sie sich bereiterklärt, zu tun, was sie können. Die Gelben sind sehr verständnisvoll gewesen, und ich glaube, sie fangen an, die Probleme der Burg als Wunde zu betrachten, die geheilt werden muss. Ich arbeite noch immer an einigen Braunen Schwestern - sie scheinen von den Problemen eher fasziniert als beunruhigt zu sein. Ich habe mehreren von ihnen befohlen, in den historischen Aufzeichnungen nach Beispielen von Zerwürfnissen zu suchen, in der Hoffnung, dass sie auf die Geschichte von Renala Merlon stoßen. Der Zusammenhang sollte offensichtlich sein, und vielleicht sehen sie dann ja ein, dass unsere Probleme gelöst werden können.

Ironischerweise haben sich die Grünen als die stursten erwiesen. In vielerlei Hinsicht können sie sich wie die Roten benehmen, was einen wirklich aufbringen kann, denn sie sollten nun wirklich dazu bereit sein, mich als jemanden zu akzeptieren, der sich ihnen angeschlossen hätte. Damit bleiben nur die Blauen übrig, die man verbannt hat, und die Roten. Ich bezweifle, dass Schwestern dieser Ajah meinen Vorschlägen zugänglich sein werden.«

Ferane lehnte sich nachdenklich zurück, und Tesan saß mit drei vergessenen Walnüssen in der Hand da und starrte Egwene an. Miyasi kratzte ihr eisengraues Haar, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen.

Hatte sie zu viel preisgegeben? Aes Sedai ähnelten auf erstaunliche Weise Rand al'Thor; sie erfuhren nicht gern, dass sie manipuliert worden waren.

»Ihr seid schockiert«, sagte sie. »Was denn, seid ihr der Ansicht, ich sollte wie die meisten einfach still dasitzen und die Hände in den Schoß legen, während die Burg wankt? Dieses weiße Kleid wurde mir aufgezwungen, und ich werde nicht akzeptieren, was es repräsentiert, aber ich werde es benutzen. Eine Frau im Weiß der Novizinnen ist eine der wenigen, die im Moment von einem Ajah-Quartier ins andere kann. Jemand muss die Arbeit übernehmen, die Burg zu heilen, und ich bin die beste Wahl. Davon abgesehen ist es meine Pflicht.«

»Wie ... vernünftig von Euch«, sagte Ferane. Ihre alterslose Stirn war in Falten gelegt.

»Danke«, erwiderte Egwene. Machten sie sich Sorgen, dass sie ihre Grenzen überschritten hatte? Waren sie zornig, dass sie Aes Sedai manipuliert hatte? Waren sie entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie erneut bestraft wurde?

Ferane beugte sich vor. »Sagen wir, wir würden den Wunsch verspüren, an der Einheit der Burg zu arbeiten. Welchen Weg würdet Ihr vorschlagen?«

Egwene verspürte eine Woge der Aufregung. In den vergangenen Tagen hatte sie nur Rückschläge davongetragen. Diese dämlichen Grünen! Sie würden sich in der Tat sehr dumm vorkommen, sobald man sie als Amyrlin akzeptiert hatte.

»Suana von der Gelben Ajah wird Euch drei bald dazu einladen, mit ihr zu essen«, sagte Egwene. Zumindest würde Suana diese Einladung aussprechen, sobald sie sie dazu gedrängt hatte. »Willigt ein und nehmt Eure Mahlzeit an einem öffentlichen Ort ein, vielleicht in einem der Burggärten. Lasst Euch dabei sehen, wie Ihr die Gesellschaft der anderen genießt. Ich werde versuchen, als Nächstes eine Braune Schwester dazu zu bringen, Euch einzuladen. Lasst die anderen Schwestern dabei zusehen, wie Ihr Euch mit anderen Ajahs trefft.«

»Das ist einfach«, sagte Miyasi. »Das kostet nur wenig Mühe, weist aber ausgezeichnetes Potenzial für einen zukünftigen Gewinn auf.«

»Wir werden sehen«, sagte Ferane. »Ihr dürft Euch zurückziehen, Egwene.«

Es gefiel ihr nicht, auf diese Weise entlassen zu werden, aber dagegen ließ sich nichts machen. Immerhin hatte die Frau ihr den Respekt erwiesen, sie mit Namen anzusprechen. Egwene stand auf und nickte Ferane dann sehr vorsichtig zu. Tesan und Miyasi zeigten keine offensichtliche Reaktion, aber ihre Augen weiteten sich doch. Mittlerweile war es in der Burg allgemein bekannt, dass Egwene niemals einen Knicks machte. Und ungeheuerlicherweise neigte Ferane den Kopf, nur einen Hauch, und erwiderte damit die Geste.

»Egwene al'Vere, solltet Ihr Euch entscheiden, die Weißen zu wählen«, sagte die Sitzende, »dann sollt Ihr wissen, dass Ihr hier willkommen seid. Für eine so junge Person war Eure Logik heute erstaunlich.«

Egwene unterdrückte ein Lächeln. Vor vier Tagen hatte Bennae Nalsad ihr beinahe einen Platz bei den Braunen angeboten, und sie war noch immer überrascht, mit welchem Nachdruck Suana ihr die Gelben hatte schmackhaft machen wollen. Beinahe hätten sie es geschafft, dass sie es sich noch einmal anders überlegte - aber das lag hauptsächlich an den Schwierigkeiten, die sie im Augenblick mit den Grünen hatte. »Danke«, sagte sie. »Aber Ihr dürft nicht vergessen, dass die Amyrlin alle Ajahs repräsentieren muss. Unsere Diskussion war allerdings vergnüglich. Ich hoffe, dass Ihr mir in der Zukunft erneut gestatten werdet, mich zu Euch zugesellen.«

Damit zog sich Egwene zurück und ließ zu, dass sie breit grinste, als sie Feranes stämmigen Behüter zunickte, der auf dem Balkon Wache stand. Ihr Lächeln dauerte so lange an, bis sie den Sektor der Weißen verließ und Katerine sah, die im Korridor auf sie wartete. Die Rote gehörte nicht zu den beiden, die man Egwene früher am Tag zugeteilt hatte, und in der Burg sprach man davon, dass sich Elaida immer stärker auf Katerine verließ, jetzt, da ihre Behüterin der Chroniken in einer geheimnisvollen Mission unterwegs war.

Katerines scharf geschnittenes Gesicht trug ebenfalls ein Lächeln. Das war kein gutes Zeichen. »Hier«, sagte sie und hielt einen Holzbecher mit einer klaren Flüssigkeit. Es war Zeit für Egwenes Nachmittagsdosis Spaltwurzel.

Egwene schnitt eine Grimasse, nahm aber den Becher und trank ihn leer. Sie wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab und ging dann langsam weiter.

»Und wo genau wollt Ihr hin?«, wollte Katerine wissen.

Die Selbstzufriedenheit in ihrem Tonfall ließ Egwene zögern. Stirnrunzelnd drehte sie sich um. »Mein nächster Unterricht ...«

»Für Euch wird es keinen weiteren Unterricht mehr geben«, sagte Katerine. »Jedenfalls nicht von der Art, wie Ihr ihn erhalten habt. Alle sind sich einig, dass Eure Fähigkeiten mit Geweben für eine Novizin beeindruckend sind.«

Egwene begriff es nicht. Wollte man sie wieder zur Aufgenommenen erheben? Sie bezweifelte, dass Elaida ihr mehr Freiheiten zugestehen würde, und sie verbrachte nur selten Zeit in ihrem Zimmer, also würde der zusätzliche Platz nicht wichtig sein.

»Nein«, sagte Katerine und spielte mit den Fransen ihrer Stola. »Man hat entschieden, dass Ihr mehr Demut lernen müsst. Die Amyrlin hat von Eurer albernen Weigerung gehört, vor den Schwestern einen Knicks zu machen. Ihrer Meinung nach ist das das letzte Symbol Eurer trotzigen Natur, also sollt Ihr eine neue Art von Unterricht erhalten.«

Egwene verspürte einen Anflug von Furcht. »Was für ein Unterricht?«, fragte sie mit beherrschter Stimme.

»Arbeit«, erwiderte Katerine.

»Ich erledige bereits meine Arbeit, genau wie die Novizinnen.«

»Ihr versteht nicht«, sagte Katerine. »Von jetzt an werdet Ihr nur noch Hausarbeit erledigen. Ihr habt Euch sofort in der Küche zu melden - Ihr werdet dort jeden Nachmittag arbeiten. Am Abend werdet Ihr die Böden schrubben. Am Morgen meldet Ihr Euch beim Burgmeister zur Arbeit in den Gärten. Das wird Euer Leben sein, jeden Tag die gleichen drei Aktivitäten - jede von ihnen fünf Stunden lang -, bis Ihr Euren dummen Stolz aufgebt und lernt, den Euch Höhergestellten den nötigen Respekt zu erweisen.«

Das war das Ende von Egwenes Freiheit, so gering sie auch sein mochte. In Katerines Augen funkelte Schadenfreude.

»Ah, Ihr habt es begriffen. Schluss mit den Besuchen in Schwesterngemächern, um ihre Zeit mit dem Üben von Geweben zu verschwenden, die Ihr bereits gemeistert habt. Schluss mit der Faulheit; jetzt werdet Ihr stattdessen arbeiten. Wie findet Ihr das?«

Es war nicht der Gedanke an schwere Arbeit, der Egwene Sorgen bereitete - sie hatte nichts gegen die Hausarbeiten, die sie jeden Tag verrichtete. Es war der mangelnde Kontakt mit den anderen Schwestern, der sie vernichten würde. Wie sollte sie die Weiße Burg wieder vereinen? Beim Licht! Das war eine Katastrophe.

Sie biss die Zähne zusammen und bezwang ihre Gefühle. Dann erwiderte sie Katerines Blick und sagte: »Gut. Lasst uns gehen.«

Katerine blinzelte. Offensichtlich hatte sie einen Wutanfall erwartet oder zumindest eine Auseinandersetzung. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Egwene wandte ihre Schritte der Küche zu und ließ das Quartier der Weißen hinter sich zurück. Sie durfte sie nicht wissen lassen, wie effektiv diese Bestrafung war.

Unterwegs kämpfte sie ihre Panik nieder; die höhlenartigen Gänge in den Tiefen der Burg waren mit in Haltern steckenden, langen und geschmeidigen Lampen versehen, die an Schlangenköpfe erinnerten, die winzige Flammen zur Decke spuckten. Sie konnte damit fertig werden. Sie würde damit fertig werden. Sie würden sie nicht brechen.

Vielleicht sollte sie ein paar Tage lang arbeiten und dann so tun, als hätte man ihr Demut eingebläut. Sollte sie den Knicks machen, den Elaida forderte? Eigentlich war das nur eine Kleinigkeit. Ein Knicks, und sie könnte sich wieder um ihre wichtigeren Pflichten kümmern.

Nein. Nein, damit würde es nicht aufhören. Ich würde in dem Augenblick verlieren, in dem ich das erste Mal einen Knicks mache.

Nachzugeben würde Elaida beweisen, dass man ihren Willen brechen konnte. Den Knicks zu machen wäre der Anfang in den Abstieg in die Vernichtung. Danach würde Elaida verlangen, dass sie die Aes Sedai mit ihrem Ehrentitel ansprach. Die falsche Amyrlin würde sie zurück an die Arbeit schicken, in dem Wissen, dass es schon einmal funktioniert hatte. Würde sie sich dann auch beugen? Wie lange würde es wohl dauern, bevor sie jegliche Glaubwürdigkeit verspielt hatte und in die Fliesen der Burgkorridore getrampelt worden war?

Sie konnte sich nicht beugen. Die Prügelstrafen hatten ihr Verhalten nicht beeinflussen können; der Arbeitseinsatz durfte sie ebenfalls nicht verändern.

Drei Stunden Arbeit in der Küche konnten ihre Stimmung kaum aufhellen. Laras, die derbe Herrin der Küchen, hatte ihr befohlen, einen der kaminähnlichen Öfen zu schrubben. Es war eine schmutzige Arbeit, die Nachdenken nicht förderte. Nicht, dass es viele Auswege aus ihrer Situation gegeben hätte.

Egwene hockte sich auf die Fersen, hob den Arm und fuhr sich über die Stirn. Nun war auch der Ärmel voller Ruß. Sie seufzte leise; Mund und Nase wurden von einem feuchten Tuch geschützt, um nicht zu viel Asche einzuatmen. Ihr Atem fühlte sich heiß und stickig an, auf ihrer Haut klebte der Schweiß. Die Tropfen, die sich von ihrem Gesicht lösten, waren ebenfalls mit Ruß geschwärzt. Durch das Tuch konnte sie den dumpfen Geruch der Asche riechen, die zahllose Male verbrannt worden war.

Der Kaminofen war eine rechteckige Konstruktion aus gebrannten roten Ziegeln. An beiden Seiten offen war er groß genug, dass man hineinkriechen konnte - was Egwene auch tun musste. Auf der Innenseite des Abzugs hatten sich dunkle Krusten gebildet, die man abschrubben musste, damit sie den Kamin nicht irgendwann verstopften oder sich lösten und ins Essen fielen. Draußen im Speisesaal konnte sie Katerine und Lirene plaudern und lachen hören. Gelegentlich steckten die Roten den Kopf durch die Tür, um sie zu überprüfen, aber ihre eigentliche Aufpasserin war Laras, die auf der anderen Seite des Raumes Töpfe spülte.

Für diese Arbeit war Egwene in ein Arbeitskleid geschlüpft. Einst war es weiß gewesen, aber Novizinnen hatten es speziell zum Ofenreinigen benutzt, und der Ruß hatte sich im Stoff festgesetzt. Überall wies er graue Flecken auf, wie Schatten.

Sie rieb sich das Kreuz, ließ sich wieder auf Hände und Knie nieder und kroch tiefer in den Kamin. Mit einem kleinen Holzkratzer stocherte sie Ascheklumpen aus den Spalten zwischen den Ziegeln, dann sammelte sie sie auf und warf sie in Messingeimer, deren Ränder weiß und grau mit Asche gepudert waren. Ihre erste Aufgabe hatte darin bestanden, sämtlichen losen Ruß herauszugraben und in die Eimer zu füllen. Ihre Hände waren von der Arbeit so schwarz geworden, dass sie Angst hatte, sie selbst durch gründliches Schrubben nicht mehr sauber zu bekommen. Ihre Knie schmerzten, und sie bildeten ein seltsames Gegengewicht zu ihrem Hintern, der noch immer von den Morgenprügeln schmerzte.

Sie arbeitete weiter, kratzte an den geschwärzten Ziegeln herum. Eine Laterne, die sie an der Ecke des Kamins platziert hatte, sorgte für schwaches Licht. Es hatte sie in den Fingern gejuckt, die Eine Macht zu benutzen, aber die Roten draußen würden mitbekommen, dass sie die Macht lenkte. Außerdem hatte sie entdeckt, dass die Nachmittagsdosis Spaltwurzel uncharakteristisch stark gewesen war, sodass sie kaum mehr als ein Tröpfeln hätte lenken können. Tatsächlich war sie stark genug gewesen, um sie schläfrig zu machen, was die Arbeit noch viel schwerer machte.

Sollte ihr Leben von jetzt an so aussehen? Gefangen in einem Kamin, um Ziegel abzukratzen, die nie jemand zu Gesicht bekam, abgeschnitten von der Welt? Sie konnte Elaida nicht entgegentreten, wenn sie jeder vergessen hatte. Sie hustete leise, und der Laut hallte durch das Kamininnere.

Sie brauchte einen Plan. Ihre einzige Möglichkeit schienen die Schwestern zu sein, die versuchten, die Schwarzen Ajah zu entlarven. Aber wie sollte sie sie besuchen? Ohne den Unterricht durch die Schwestern konnte sie ihren Roten Aufpassern nicht entkommen, indem sie die Domänen anderer Ajahs betrat. Konnte sie sich irgendwie während der Arbeit wegschleichen? Sollte man ihre Abwesenheit entdecken, würde sie möglicherweise in einer noch schlimmeren Situation enden.

Aber sie konnte nicht zulassen, dass ihr Leben von dieser unwürdigen Arbeit bestimmt wurde! Die Letzte Schlacht nahte, der Wiedergeborene Drache streifte frei umher, und die Amyrlin säuberte auf Händen und Knien irgendwelche Kamine! Wütend kratzte sie weiter. Der Ruß war so lange festgebacken, dass er den Stein wie eine funkelnde schwarze Patina bedeckte. Sie würde niemals alles abbekommen. Sie musste nur dafür sorgen, dass alles sauber genug war, dass sich nichts davon lösen würde.

Ein Schatten bewegte sich an der anderen Kaminöffnung vorbei. Augenblicklich griff Egwene nach der Quelle - aber natürlich war nichts zu finden. Nicht, solange die Spaltwurzel ihren Verstand vernebelte. Aber da war definitiv jemand vor dem Kamin, der sich bückte und mit leisen Bewegungen ...

Egwene packte den Kratzer fester und griff mit der anderen Hand langsam nach der Bürste, mit der sie die Asche aufgewischt hatte. Dann fuhr sie herum.

Laras erstarrte, spähte in den Kamin. Die Herrin der Küchen trug eine große weiße Schürze, die ebenfalls mit ein paar Rußflecken beschmutzt war. Ihr dickes rundes Gesicht hatte seinen Anteil an Wintern gesehen; ihr Haar fing an grau zu werden, tiefe Falten gingen von ihren Augen aus. Wie sie sich so vorbeugte, bildeten ihre Wangen ein zweites, drittes und viertes Kinn, und sie hielt sich mit den dicken Fingern an der Kaminöffnung fest.

Egwene entspannte sich. Warum war sie sich so sicher gewesen, dass sich jemand anschlich? Es war nur Laras, die sie kontrollieren kam.

Aber warum war die Frau so leise? Mit zusammengekniffenen Augen spähte Laras zur Seite. Dann hob sie einen Finger an die Lippen. Egwene fühlte, wie die Anspannung wieder von ihr Besitz ergriff. Was ging hier vor?

Laras bewegte sich rückwärts aus dem Kamin und bedeutete Egwene, ihr zu folgen. Die Herrin der Küchen bewegte sich anmutig und viel leiser, als sie für möglich gehalten hätte. In anderen Teilen der Küche arbeiteten Hilfsköche und Küchenjungen, aber niemand war direkt zu sehen. Egwene kroch aus dem Kamin, schob den Kratzer in den Gürtel und wischte sich die Hände am Kleid ab. Dann zog sie das Tuch vom Gesicht und atmete die süße rußfreie Luft. Sie tat einen tiefen Atemzug und kassierte einen bösen Blick von Laras, dem ein weiterer Finger an die Lippen folgte.

Egwene nickte und folgte Laras durch die Küche. Wenige Augenblicke später standen sie in einer Speisekammer, in der der Duft von getrocknetem Getreide und alterndem Käse in der Luft hing. Hier wichen die Fliesen beständigeren Ziegeln. Laras schob ein paar Säcke zur Seite und hob ein Stück des Bodens an. Es handelte sich um eine hölzerne Falltür, deren Oberseite mit schmalen Ziegeln besetzt war, um sie wie einen Teil des Bodens aussehen zu lassen. Sie enthüllte einen kleinen Raum mit Felswänden, groß genug für eine Person, auch wenn es für einen hochgewachsenen Mann etwas eng gewesen wäre.

»Ihr wartet dort bis zum Einbruch der Nacht«, sagte Laras leise. »Ich kann Euch jetzt nicht rausschaffen, nicht, wenn es in der Burg so hektisch zugeht wie auf einem Hühnerhof, auf dem der Fuchs umgeht. Aber spät in der Nacht wird der Abfall herausgeschafft, und ich verstecke Euch unter den Mädchen, die ihn abladen. Ein Hafenarbeiter bringt Euch dann zu einem kleinen Boot und rudert Euch über den Fluss. Ich habe Freunde bei der Wache; sie werden wegschauen. Sobald Ihr die andere Seite erreicht habt, seid Ihr auf Euch gestellt. Ich rate Euch ab, zurück zu diesen Narren zu gehen, die Euch zu ihrer Marionette gemacht haben. Findet einen Ort, an dem Ihr Euch verstecken könnt, bis das alles vorbei ist, dann kommt zurück und seht, ob Euch diejenige wieder aufnimmt, die dann das Sagen hat. Unwahrscheinlich, dass das Elaida sein wird, so wie die Dinge laufen ...«

Egwene blinzelte überrascht.

»Nun«, sagte die dicke Frau. »Hinein mit Euch.«

»Ich ...«

»Keine Zeit für Geplauder!«, sagte Laras, als wäre sie nicht die Einzige, die hier redete. Offensichtlich war sie nervös, so wie sie sich ständig umsah und mit dem Fuß auftippte. Aber offensichtlich hatte sie so etwas schon zuvor getan. Warum war eine einfache Köchin der Weißen Burg so geschickt in verstohlenen Unternehmungen, hatte mühelos einen Plan, Egwene aus der befestigten und belagerten Stadt zu schaffen? Und warum hatte sie überhaupt ein Versteck in der Küche? Beim Licht! Wie hatte sie das überhaupt erschaffen?

»Sorgt Euch nicht um mich«, sagte Laras und musterte Egwene. »Ich komme schon zurecht. Ich halte das Küchenpersonal von Eurer Arbeitsstelle fern. Diese Aes Sedai sehen nur ungefähr jede halbe Stunde nach Euch - und da sie vor einer Minute da waren, wird es eine Weile dauern, bis sie wieder da sind. Wenn sie es dann tun, kann ich Unwissenheit vorschützen, und alle werden glauben, dass Ihr Euch aus der Küche geschlichen habt. Wir haben Euch bald aus der Stadt, und keiner wird etwas merken.«

»Ja«, sagte Egwene, die endlich ihre Stimme wiederfand, »aber warum?« Sie hätte angenommen, dass Laras nicht darauf versessen war, noch einem Flüchtling zu helfen, nicht, nachdem sie schon Min und Siuan bei der Flucht geholfen hatte.

Laras erwiderte ihren Blick; die Entschlossenheit in ihren Augen war so unumstößlich wie die einer jeden Aes Sedai. Egwene hatte diese Frau offenbar übersehen! Wer war sie wirklich?

»Ich werde nicht dabei helfen, den Willen eines Mädchens zu brechen«, sagte Laras ernst. »Diese Prügelstrafen sind beschämend! Diese dummen Aes Sedai. All die Jahre habe ich loyal gedient, das habe ich wirklich, aber jetzt hat man mir befohlen, Euch so hart zu schinden, wie ich kann, und das auf unbestimmte Zeit. Nun, ich erkenne, wenn ein Mädchen nicht länger unterrichtet und stattdessen niedergeknüppelt werden soll. Das lasse ich nicht zu, nicht in meiner Küche. Das Licht soll Elaida verbrennen, wenn sie tatsächlich glaubt, sie könnte so etwas tun! Mir ist egal, ob sie Euch hinrichtet oder zur Novizin macht. Aber dieser Versuch, Euren Geist zu brechen, ist nicht akzeptabel!«

Die Frau stemmte beide Hände in die Hüften, eine Mehlwolke flog aus ihrer Schürze. Seltsamerweise ertappte sich Egwene dabei, ernsthaft über das Angebot nachzudenken. Sie hatte Siuans Rettungsangebot abgelehnt, aber wenn sie jetzt floh, würde sie ins Rebellenlager zurückkehren, nachdem sie aus eigener Kraft entkommen war. Das wäre viel besser, als gerettet zu werden. Sie konnte all dem hier entkommen, den ewigen Schlägen, der sinnlosen Schinderei.

Um was zu tun? Draußen zu sitzen und zuzusehen, wie die Burg in sich zusammenbrach?

»Nein«, sagte sie. »Euer Angebot ist sehr großzügig, aber ich kann das nicht annehmen. Es tut mir leid.«

Laras runzelte die Stirn. »Also jetzt hört genau zu ...«

»Laras«, unterbrach Egwene sie, »diesen Ton schlägt man nicht gegenüber einer Aes Sedai an, auch die Herrin der Küchen nicht.«

Laras zögerte. »Dummes Mädchen. Ihr seid keine Aes Sedai.«

»Akzeptiert es oder lasst es, ich kann trotzdem nicht gehen. Wenn Ihr also nicht vorhabt, mich selbst in dieses Loch zu stecken - und mich fesselt und knebelt, damit ich nicht schreie, und mich persönlich über den Fluss schafft -, schlage ich vor, dass Ihr mich zurück an die Arbeit lasst.«

»Aber warum?«

Egwene schaute zurück in Richtung Kamin. »Weil jemand sie bekämpfen muss.«

»So könnt Ihr aber nicht kämpfen.«

»Jeder Tag ist eine Schlacht. Jeder Tag, an dem ich mich nicht beuge, bedeutet etwas. Selbst wenn es allein Elaida und ihre Roten erfahren, bedeutet es etwas. Nur eine Kleinigkeit, aber immer noch mehr, als ich von draußen erreichen könnte. Kommt. Ich muss noch zwei Stunden arbeiten.«

Sie drehte sich um und verließ die Speisekammer. Eine zögernde Laras schloss die Falltür zu ihrem Versteck und folgte ihr dann. Jetzt machte sie beim Gehen viel mehr Lärm, strich an Theken vorbei, trat lautstark auf. Seltsam, dass sie so leise sein konnte, wenn sie nur wollte.

Rotes Tuch blitzte auf, wie das Blut eines toten Hasen im Schnee, eilte durch die Küche. Egwene erstarrte, als Katerine sie erspähte. Die Aes Sedai trug ein Kleid mit einem blutroten Rock und gelbem Besatz. Ihre Lippen waren verkniffen, die Augen ganz schmal. Hatte sie gesehen, wie sich Laras und Egwene verdrückten?

Laras erstarrte.

»Ich verstehe jetzt, was ich falsch gemacht habe«, sagte Egwene gedankenschnell zu der Herrin der Küchen und blickte zu einem zweiten Herd, der in der Nähe der Speisekammer stand. »Danke, dass Ihr es mir gezeigt habt. Ich werde besser aufpassen.«

»Macht das«, erwiderte Laras und streifte ihre Bestürzung ab. »Sonst erlebt Ihr, wie eine richtige Bestrafung aussieht, nicht wie diese halbherzigen Streicheleinheiten, die die Oberin der Novizinnen verteilt. Jetzt schert Euch wieder zurück an die Arbeit.«

Egwene nickte und eilte zu der Feuerstelle zurück. Katerine hob die Hand, um sie aufzuhalten. Egwenes Herz trommelte verräterisch.

»Das ist nicht nötig«, sagte Katerine. »Die Amyrlin will, dass die Novizin sie heute Abend bedient. Ich habe der Amyrlin gesagt, dass ein Tag Arbeit wohl niemandem den Kopf zurechtrückt, der so verstockt wie dieses Mädchen ist, aber sie besteht darauf. Vermutlich bekommt Ihr Eure erste Chance, Eure Demut zu beweisen, Kind. Ich schlage vor, Ihr ergreift sie.«

Egwene schaute auf ihr schmutziges Kleid und die geschwärzten Hände.

»Geht schon, lauft. Wascht Euch. Die Amyrlin lässt man nicht warten.«

Sich zu waschen erwies sich als beinahe genauso schwierig, wie die Feuerstelle zu reinigen. Der Ruß hatte sich so tief in ihre Hände eingegraben wie in das Kleid. Egwene verbrachte den größten Teil einer Stunde in einer Wanne voll lauwarmem Wasser und versuchte sich herzurichten. Die Fingernägel waren vom Abkratzen der Ziegel zerbrochen, und anscheinend wusch sie jedes Mal, wenn sie ihr Haar ausspülte, einen ganzen Eimer voll Rußflocken aus.

Dennoch war sie froh für die Gelegenheit. Sie hatte nur selten Zeit zum Baden; für gewöhnlich kam sie gerade zu einer hektischen Katzenwäsche. Während sie sich in dem kleinen, graugefliesten Raum schrubbte, dachte sie über ihren nächsten Schritt nach.

Sie hatte eine Gelegenheit zur Flucht ausgeschlagen. Das bedeutete, dass sie mit Elaida und ihren Roten arbeiten musste, die einzigen Schwestern, die sie zu Gesicht bekam. Aber konnte man sie dazu bringen, ihre Fehler einzusehen? Sie wünschte, sie könnte die ganze Bande zur Buße schicken und sie endlich los sein.

Aber nein. Sie war die Amyrlin; sie repräsentierte alle Ajahs, die Roten eingeschlossen. Sie konnte sie nicht behandeln, wie Elaida die Blauen behandelt hatte. Sie standen ihr am feindseligsten gegenüber, aber das machte sie nur zu einer größeren Herausforderung. Mit Silviana schien sie ein paar kleine Fortschritte zu machen, und hatte Lirene Doirellin nicht sogar zugegeben, dass Elaida ein paar ernste Fehler gemacht hatte?

Vielleicht waren die Roten nicht die Einzigen, die sie beeinflussen konnte. Man begegnete ständig anderen Schwestern im Korridor. Wenn eine davon auf sie zukam, um mit ihr zu sprechen, konnten die Roten sie wohl kaum fortschleppen. Sie würden einen gewissen Anstand zeigen, und das würde Egwene Gelegenheit geben, einen gewissen Kontakt zu anderen Schwestern zu pflegen.

Aber wie sollte sie mit Elaida umgehen? War es klug, die falsche Amyrlin weiterhin in dem Glauben zu lassen, dass sie so gut wie gebrochen war? Oder war der Augenblick gekommen, Stellung zu beziehen?

Am Ende des Bades fühlte sich Egwene wesentlich sauberer und vor allem selbstbewusster. Ihr Krieg hatte eine ernsthafte Wendung zum Schlimmeren genommen, aber noch konnte sie kämpfen. Eilig bürstete sie sich das feuchte Haar, schlüpfte in ein frisches Novizinnenkleid - wie gut sich der weiche, saubere Stoff doch auf ihrer Haut anfühlte! - und begab sich zu ihren Aufpasserinnen.

Sie eskortierten sie hinauf zu den Gemächern der Amyrlin. Egwene passierte mehrere Gruppen von Schwestern, und sie hielt sich ihretwegen bewusst aufrecht. Die Aufpasserinnen führten sie durch den Roten Sektor des Turms, die Bodenfliesen nahmen das schwarzrote Muster an. Hier waren mehr Menschen unterwegs, Frauen mit ihren Stolen, Dienerschaft mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust. Aber keine Behüter; das erschien Egwene stets seltsam, da sie in anderen Teilen der Burg allgegenwärtig waren.

Ein langer Aufstieg und ein paar Biegungen später erreichten sie Elaidas Gemächer. Unbewusst kontrollierte Egwene ihre Röcke. Während des Weges war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie Elaida stumm gegenübertreten musste, genau wie beim letzten Mal. Ihren Zorn noch weiter zu schüren würde nur zu weiteren Einschränkungen führen. Sie würde sich nicht vor ihr erniedrigen, aber sie würde Elaida auch nicht absichtlich beleidigen. Sollte die Frau glauben, was sie wollte.

Eine Dienerin öffnete die Tür und führte Egwene ins Speisezimmer. Sie rang um Fassung, als sie sah, was sie erwartete. Sie war davon ausgegangen, nur Elaida zu bedienen, oder vielleicht auch Meidani. Nicht einen Augenblick lang hätte sie gedacht, dass der Raum voller Frauen sein würde. Es waren fünf, eine von jeder Ajah, ausgenommen die Roten und die Blauen. Und jede der Frauen war eine Sitzende. Yukiri war da, genau wie Doesine, beide heimliche Jägerinnen der Schwarzen Ajah. Ferane war da, allerdings erschien sie überrascht, Egwene zu sehen; hatte die Weiße zuvor nichts von der Abendgesellschaft gewusst, oder hatte sie es einfach nur nicht erwähnt?

Rubinde von der Grünen Ajah saß neben Shevan von der Braunen, eine Schwester, die sie schon lange hatte treffen wollen. Shevan gehörte zu jenen, die für die Verhandlungen mit den Rebellen waren, und Egwene hoffte, sie veranlassen zu können, etwas mehr dabei zu helfen, die Burg von innen heraus zu einen.

Elaida war die einzige Rote Schwester am Tisch. Lag das daran, dass sämtliche Rote Sitzende die Burg verlassen hatten? Vielleicht war sie auch einfach nur der Ansicht, dass das Gleichgewicht auch so hergestellt war, da sie sich noch immer als Rote betrachtete, auch wenn es nicht richtig war.

Der Tisch war lang; Kristallpokale reflektierten das Licht von den Bronzekandelabern an der Wand. Jede Frau trug ein kostbares Gewand in der Farbe ihrer Ajah. Es roch nach saftigem Braten und dampfenden Karotten. Es wurde geplaudert. Freundschaftlich, wenn auch gezwungen. Angespannt. Keiner wollte hier sein.

Doesine nickte Egwene quer durch das Zimmer zu, beinahe respektvoll. Das war ein deutlicher Hinweis. »Ich bin hier, weil Ihr sagtet, dass diese Art Dinge wichtig sind«, schien es zu besagen. Elaida saß am Kopf der Tafel. Ihr rotes Gewand wies lange Ärmel auf, die genau wie das Oberteil mit granatapfelrotem Besatz geschmückt waren. Sie lächelte zufrieden. Diener eilten hin und her, gossen Wein ein und brachten Speisen. Warum hatte Elaida die Sitzenden zum Essen eingeladen? War das ein Versuch, die Zerwürfnisse in der Burg überwinden zu wollen? Hatte Egwene sie falsch eingeschätzt?

»Ah, gut«, sagte Elaida, als sie Egwene bemerkte. »Ihr seid endlich da. Kommt her, Kind.«

Egwene gehorchte, und als sie den Raum durchquerte, wurden auch die letzten Sitzenden auf sie aufmerksam. Einige schien ihre Anwesenheit zu verwirren, andere waren neugierig. Schlagartig wurde ihr etwas klar.

Dieser eine Abend konnte mühelos alles zerstören, wofür sie gearbeitet hatte.

Wenn die Aes Sedai hier miterlebten, wie sie Elaida unterwürfig bediente, würde sie in ihren Augen an Integrität verlieren. Die Amyrlin hatte verkündet, dass sie gezähmt worden war - aber sie hatte allen das Gegenteil bewiesen. Wenn sie sich hier ihrem Willen beugte, auch nur ein kleines bisschen, würde man das als Beweis ansehen.

Sollte das Licht diese Frau verbrennen! Warum hatte sie so viele der Schwestern eingeladen, die Egwene zu beeinflussen versucht hatte? War das bloß ein Zufall?

Egwene gesellte sich zu der falschen Amyrlin am Kopf der Tafel, und ein Diener reichte ihr eine Kristallkaraffe mit funkelndem roten Wein. »Ihr werdet meinen Pokal gefüllt halten«, sagte Elaida. »Wartet dort, aber kommt nicht zu nah. Ich habe keine Lust, den Ruß von Eurer nachmittäglichen Bestrafung riechen zu müssen.«

Egwene biss sich auf die Zunge. Den Ruß riechen? Nach einer Stunde schrubben? Wohl kaum. Von der Seite konnte sie die Zufriedenheit in Elaidas Blick erkennen, als sie von ihrem Wein trank. Dann wandte sich die Amyrlin Shevan zu, die rechts von ihr saß. Die Braune war eine schmächtige Frau mit knorrigen Armen und einem kantigen Gesicht, wie eine aus Stöcken zusammengebundene Frau. In ihren Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck, als sie ihre Gastgeberin musterte.

»Sagt mir, Shevan«, meinte Elaida. »Beharrt Ihr noch immer auf diesen albernen Gesprächen mit den Rebellen?«

»Man muss diesen Schwestern Gelegenheit zur Schlichtung geben.«

»Sie hatten ihre Gelegenheit«, erwiderte Elaida. »Ehrlich, ich hätte mehr von einer Braunen erwartet. Ihr benehmt euch verbissen, ohne auch nur mit einem Hauch von Verständnis, wie die wirkliche Welt funktioniert. Selbst Meidani ist da meiner Meinung, und sie ist eine Graue! Ihr wisst, wie sie sind.«

Shevan wandte den Kopf, anscheinend beunruhigter als zuvor. Warum hatte Elaida sie eingeladen, wenn sie sie und ihre Ajahs doch nur beleidigen wollte? Als Nächstes wandte die Rote ihre Aufmerksamkeit Ferane zu und beschwerte sich bei ihr über eine Sitzende der Weißen, die sich ebenfalls ihren Bemühungen widersetzte, die Gespräche zu beenden. Dabei hob sie den Pokal in Egwenes Richtung und klopfte mit dem Finger dagegen. Sie hatte kaum einen Schluck genommen.

Egwene holte tief Luft und schenkte nach. Die anderen hatten sie auch schon zuvor bei der Arbeit gesehen - für Ferane hatte sie sogar Walnüsse geknackt. Das würde ihren Ruf schon nicht ruinieren, nicht, solange Elaida sie irgendwie zwang, sich zu erniedrigen.

Aber was sollte diese Abendgesellschaft? Elaida schien nicht den geringsten Versuch zu unternehmen, die Ajahs einander näherzubringen. Wenn überhaupt, vergrößerte sie die Kluft noch, so wie sie jene heruntermachte, die nicht ihrer Meinung waren. Gelegentlich ließ sie sich von Egwene nachschenken, aber es war nie mehr Platz als für einen oder zwei Schlucke.

Langsam dämmerte es Egwene. Bei diesem Essen ging es gar nicht darum, mit den Ajahs zusammenzuarbeiten. Elaida wollte die Sitzenden so lange unter Druck setzen, bis sie sich so verhielten, wie sie es ihrer Meinung nach sollten. Und Egwene war lediglich da, um als Trophäe vorgezeigt zu werden! Hier ging es nur darum, den anderen zu beweisen, welche Macht Elaida doch hatte - sie konnte jemanden nehmen, den andere zur Amyrlin gemacht hatten, sie in ein Novizinnengewand stecken und jeden Tag zur Buße schicken.

Wieder fühlte Egwene Zorn in sich aufsteigen. Warum schaffte es Elaida nur immer wieder, ihre Gefühle in Aufruhr zu bringen? Suppenteller wurden entfernt und Platten voll dampfender, gebutterter Karotten gebracht; ein Hauch von Zimt lag in der Luft. Sie hatte nicht zu Abend essen können, aber ihr war sowieso viel zu übel, um Hunger zu verspüren.

Nein, dachte sie und stählte sich. Ich werde das nicht vorzeitig beenden, nicht wie beim letzten Mal. Ich werde es aushalten. Ich bin stärker als sie. Ich bin stärker als ihr Wahnsinn.

Die Unterhaltung wurde fortgesetzt. Elaida traktierte die anderen mit beleidigenden Bemerkungen, manchmal mit Absicht, manchmal einfach auch nur so. Die anderen lenkten das Gespräch von den Rebellen auf den so seltsam bewölkten Himmel. Schließlich erwähnte Shevan das Gerücht, dass die Seanchaner tief im Süden mit Aiel zusammenarbeiten sollten.

»Schon wieder die Seanchaner?« Elaida seufzte. »Ihr müsst Euch um sie keine Sorgen machen.«

»Meine Quellen besagen da anderes, Mutter«, erwiderte Shevan steif. »Ich glaube, wir müssen genau aufpassen, was sie im Schilde führen. Ich habe das Kind hier von ein paar Schwestern über ihre Erfahrungen mit ihnen ausfragen lassen, die sehr umfassend waren. Ihr solltet die Dinge hören, die sie mit Aes Sedai anstellen.«

Elaida lachte hell und amüsiert. »Sicherlich wisst Ihr doch, wie gern das Kind übertreibt!« Sie warf Egwene einen Blick zu. »Habt Ihr für Euren Freund wieder Lügen verbreitet, diesen närrischen al'Thor? Was hat er Euch befohlen, über die Invasoren zu sagen? Sie arbeiten für ihn, oder etwa nicht?«

Egwene gab keine Antwort.

»Sprecht«, sagte Elaida und gestikulierte mit ihrem Pokal. »Sagt diesen Frauen, dass Ihr Lügen verbreitet habt. Gesteht, oder ich erlege Euch schon wieder eine Buße auf, Mädchen.«

Die Buße, die sie fürs Schweigen erhalten würde, würde Elaidas Zorn über ihren Widerspruch vorzuziehen sein. Schweigen war der Pfad zum Sieg.

Aber als Egwene den langen Mahagonitisch betrachtete, der mit weißem Meervolk-Porzellan und flackernden roten Kerzen gedeckt war, entdeckte sie fünf Augenpaare, die sie musterten. Sie konnte ihre Fragen deutlich sehen. Allein und unter vier Augen hatte sie mutig zu ihnen gesprochen, aber würde sie ihre Behauptungen in Gegenwart der mächtigsten Frau auf der Welt aufrechterhalten? Eine Frau, die ihr Leben in der Hand hielt?

War sie die Amyrlin? Oder war sie bloß ein Mädchen, das sich für sie ausgab?

Das Licht soll dich verbrennen, Elaida, dachte sie und erkannte zähneknirschend, dass sie sich geirrt hatte. Schweigen würde nicht zum Sieg führen, nicht in Gegenwart dieser Frauen. Dir wird nicht gefallen, wie das hier weitergeht.

»Die Seanchaner arbeiten nicht für Rand«, sagte sie dann. »Und sie bedeuten eine ernste Gefahr für die Weiße Burg. Ich habe keine Lügen verbreitet. Etwas anderes zu behaupten würde die Drei Eide verletzen.«

»Ihr habt die Drei Eide nicht abgelegt«, sagte Elaida streng und wandte sich ihr zu.

»Das habe ich sehr wohl«, erwiderte Egwene. »Ich habe keinen Eidstab gehalten, aber es ist nicht der Stab, der meine Worte wahr macht. Die Worte des Eides habe ich in meinem Herzen gesprochen, und für mich sind sie darum viel teurer, denn ich habe nichts, das mich dazu zwingt, mich daran zu halten. Und bei diesem Eid, der mich leitet, sage ich Euch erneut, dass ich eine Träumerin bin, und ich habe Geträumt, dass die Seanchaner die Weiße Burg angreifen werden.«

In Elaidas Augen blitzte es kurz auf, und sie umklammerte ihre Gabel so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Egwene erwiderte ihren Blick, und schließlich lachte Elaida. »Ah, ich sehe schon, so stur wie eh und je. Ich werde Katerine sagen müssen, dass sie recht hatte. Ihr werdet für Eure Übertreibungen Buße tun, Kind.«

»Diese Frauen wissen, dass ich nicht lüge«, sagte Egwene beherrscht. »Und jedes Mal, wenn Ihr darauf beharrt, dass ich es doch tue, erniedrigt Ihr Euch in ihren Augen. Selbst wenn Ihr meinem Traum keinen Glauben schenkt, müsst Ihr doch zugeben, dass die Seanchaner eine Bedrohung sind. Sie leinen Frauen an, die die Macht lenken können, benutzen sie mit einem verdrehten Ter'angreal als Waffen. Ich habe den Kragen an meinem Hals gespürt. Manchmal fühle ich ihn noch immer. In meinen Träumen. Meinen Albträumen.«

Stille kehrte in den Raum ein.

»Ihr seid ein albernes Kind«, sagte Elaida in dem offensichtlichen Versuch vorzugeben, dass Egwene keine Bedrohung darstellte. Sie hätte lieber die Blicke der anderen studieren sollen. Dann hätte sie die Wahrheit erkannt. »Nun, Ihr zwingt mich dazu. Ihr werdet vor mir niederknien, Kind, und um Vergebung bitten. Sofort. Sonst lasse ich Euch einsperren. Allein. Ist es das, was Ihr wollt? Glaubt aber ja nicht, dass die Prügelstrafen dann aufhören. Ihr werdet Eure tägliche Buße ableisten, nur dass man Euch danach wieder in Eure Zelle wirft. Und jetzt kniet nieder und bittet um Vergebung.«

Die Sitzenden sahen einander an. Jetzt gab es kein Zurückweichen mehr. Egwene wünschte sich, es wäre nie so weit gekommen. Aber das war es nun einmal, und Elaida hatte den Kampf gewollt.

Es war Zeit, ihn ihr zu geben. »Und wenn ich mich Euch nicht beuge?«, fragte sie und erwiderte ihren Blick. »Was dann?«

»Ihr werdet knien, auf die eine oder andere Weise«, knurrte Elaida und umarmte die Quelle.

»Ihr wollt die Macht gegen mich einsetzen?«, fragte Egwene beherrscht. »Müsst Ihr darin Zuflucht suchen? Habt Ihr keine Autorität, ohne die Macht zu lenken?«

Elaida hielt inne. »Ich habe durchaus das Recht, jemanden zu disziplinieren, der nicht den nötigen Respekt zeigt.«

»Und so werdet Ihr mich zum Gehorsam zwingen. Wollt Ihr das mit jedem in der Burg machen, Elaida? Eine Ajah stellt sich Euch entgegen und wird aufgelöst. Eine Schwester erregt Euer Missfallen, und Ihr wollt ihr das Recht nehmen, Aes Sedai zu sein. Bevor das sein Ende findet, werdet Ihr jede Schwester dazu zwingen, sich Euch zu beugen.«

»Unsinn!«

»Ach ja? Habt Ihr ihnen denn schon von Eurer Idee mit dem neuen Eid erzählt? Von jeder Schwester auf den Eidstab geschworen, ein Eid, der Amyrlin zu gehorchen und sie zu unterstützen?«

»Ich ...!«

»Bestreitet das. Bestreitet, dass Ihr das gesagt habt. Lassen die Eide zu, dass Ihr das tut?«

Elaida erstarrte. Gehörte sie zu den Schwarzen, dann konnte sie es abstreiten, ob sie nun auf den Eidstab geschworen hatte oder nicht. In jedem Fall konnte Meidani bestätigen, was Egwene gerade gesagt hatte.

»Das war nur so dahergesagt«, entgegnete Elaida. »Reine Spekulation, laut ausgesprochene Gedanken.«

»In Spekulation liegt oft Wahrheit. Ihr habt den Wiedergeborenen Drachen in eine Kiste gesperrt; soeben habt Ihr mir das Gleiche angedroht, vor all diesen Zeuginnen. Das Volk nennt ihn einen Tyrannen, aber Ihr seid diejenige, die unsere Gesetze missachtet und durch Angst herrscht.«

Elaida riss die Augen weit auf, ließ ihren Zorn erkennen. Sie erschien ... ungläubig. So als könnte sie einfach nicht begreifen, wieso aus der Disziplinierung einer störrischen Novizin die Debatte mit einer Gleichgestellten geworden war. Egwene sah, wie sie anfing, einen Strom Luft zu weben. Das musste verhindert werden. Ein Knebel aus Luft würde dieser Debatte ein Ende bereiten.

»Macht schon«, sagte sie ruhig. »Bringt mich mit der Macht zum Schweigen. Solltet Ihr als Amyrlin nicht dazu fähig sein, einen Kontrahenten mit Worten zum Gehorsam zu bewegen, statt auf Gewalt zurückzugreifen?«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die zierliche Yukiri von den Grauen bei dieser Bemerkung nickte.

Wütend ließ Elaida den Strom Luft fallen. »Ich muss keine Novizin widerlegen«, fauchte sie. »Die Amyrlin erklärt sich nicht vor einer wie Euch.«

»›Die Amyrlin versteht die kompliziertesten Bekenntnisse und Debatten‹«, zitierte Egwene aus der Erinnerung. »›Und doch ist sie am Ende die Dienerin von allen, selbst des niedrigsten aller Arbeiter.‹« Das hatte Balladare Arandaille gesagt, die erste Amyrlin, die man aus der Braunen Ajah erhoben hatte. Sie hatte das in ihren letzten Aufzeichnungen vor ihrem Tod niedergeschrieben; diese Aufzeichnungen waren eine Erklärung für ihre Herrschaft und ihre Taten während der Kavarthenkriege gewesen. Arandaille war der Ansicht gewesen, dass eine Amyrlin nach dem Ende einer Krise die moralische Verpflichtung hatte, sich dem einfachen Volk zu erklären.

Shevan nickte beifällig. Das Zitat war eher obskur; Egwene segnete Siuans beharrliche Ausbildung in der Weisheit der früheren Amyrlins. Vieles davon stammte aus den geheimen historischen Aufzeichnungen, aber darunter waren auch ein paar vielsagende Erklärungen von Frauen wie Balladere gewesen.

»Was faselt Ihr da für einen Unsinn?«, kreischte Elaida.

»Was wolltet Ihr eigentlich mit Rand al'Thor machen, nachdem Ihr ihn gefangen genommen hattet?«, fragte Egwene und ignorierte die Bemerkung.

»Ich verstehe nicht ...«

»Ihr antwortet nicht mir, sondern ihnen.« Egwene deutete mit dem Kopf auf die anderen Frauen am Tisch. »Habt Ihr Euch erklärt, Elaida? Wie sahen Eure Pläne aus? Oder wollt Ihr dieser Frage genauso wie meinen anderen Fragen ausweichen?«

Elaidas Wangen röteten sich, aber mit einiger Mühe brachte sie sich wieder unter Kontrolle. »Ich hätte ihn hier in der Burg gut abgeschirmt sicher untergebracht, bis es Zeit für die Letzte Schlacht gewesen wäre. Das hätte ihn daran gehindert, in so vielen Nationen all dieses Leid und Chaos anzurichten. Das war das Risiko wert, ihn zu erzürnen.«

»›Er soll die Leben der Menschen aufbrechen, wie der Pflug die Erde aufbricht, und alles, was gewesen ist, soll von der Glut seiner Augen vereinnahmt werden‹«, zitierte Egwene. »›Die Kriegsposaunen sollen ihm nachklingen, die Raben sollen sich an seiner Stimme nähren, und er soll eine Krone aus Schwertern tragen‹.«

Die Amyrlin runzelte verwirrt die Stirn.

»Der Karaethon-Zyklus, Elaida. Als Ihr Rand wegsperren wolltet, um ihn ›sicher‹ unterzubringen, hatte er sich da schon Illian genommen? Trug er da schon das, was er als Krone der Schwerter bezeichnen sollte?«

»Nun, nein.«

»Und wie sollte er Eurer Meinung nach die Prophezeiungen erfüllen, wenn er in der Weißen Burg versteckt werden sollte? Wie sollte er Kriege auslösen, was er den Prophezeiungen zufolge tun muss? Wie sollte er die Nationen zerbrechen und sie an sich binden? ›Er wird sein Volk mit dem Schwert des Friedens töten‹ und ›Er wird die Neun Monde fesseln, sodass sie ihm dienen‹, wie sollte er das alles vollbringen, wenn er weggesperrt ist? Steht nicht in den Prophezeiungen, dass er frei sein wird? Sprechen sie nicht vom ›Chaos, das ihm nachfolgt‹? Wie soll das alles passieren, wenn er in Ketten gehalten wird?«

»Ich ...«

»Eure Logik ist erstaunlich«, sagte Egwene kalt. Das ließ Ferane schmal lächeln; vermutlich war sie gerade in ihrer Meinung bestärkt worden, dass Egwene gut in die Weiße Ajah passen würde.

»Pah, Eure Fragen sind bedeutungslos. Die Prophezeiungen hätten sich erfüllt. Etwas anderes ist unmöglich.«

»Also sagt Ihr, dass Euer Versuch, ihm Fesseln anzulegen, scheitern musste.«

»Nein, nicht im Mindesten«, erwiderte Elaida schon wieder knallrot. »Wir sollten uns nicht länger mit diesem ... Das habt nicht Ihr zu entscheiden. Nein, wir sollten über Eure Rebellen sprechen, und was sie der Weißen Burg angetan haben!«

Ein guter Themenwechsel, ein Versuch, sie in die Defensive zu treiben. Elaida war nicht völlig inkompetent. Bloß arrogant.

»Ich sehe, dass sie sich bemühen, die Kluft zwischen uns zu heilen«, sagte Egwene. »Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Wir können nicht ändern, was Ihr mit Siuan gemacht habt, selbst wenn die, die auf meiner Seite sind, eine Methode entdeckt haben, sie von ihrer Dämpfung zu Heilen. Wir können nur nach vorn blicken und unser Bestes versuchen, die Narben zu glätten. Was tut Ihr, Elaida? Gespräche verweigern, die Sitzenden unter Druck setzen, damit sie sich zurückziehen? Ajahs beleidigen, die nicht die Euren sind?«

Doesine von den Gelben stimmte leise murmelnd zu. Das ließ Elaidas Kopf herumfahren, und einen Augenblick lang war sie still, als würde sie erkennen, dass sie die Kontrolle über die Debatte verloren hatte. »Es reicht.«

»Feigling«, sagte Egwene.

Elaida riss die Augen weit auf. »Wie könnt Ihr es wagen!«

»Ich sage die Wahrheit, Elaida«, erwiderte Egwene leise. »Ihr seid ein Feigling und ein Tyrann. Ich würde Euch auch als Schattenfreundin bezeichnen, aber vermutlich wäre es dem Dunklen König peinlich, mit jemandem wie Euch in Verbindung gebracht zu werden.«

Elaida stieß einen schrillen Schrei aus, webte blitzartig die Macht und rammte Egwene gegen die Wand, schlug ihr die Karaffe aus der Hand. Sie zerbrach direkt neben dem Teppich auf dem Holzboden und spritzte einen Schwall blutähnlicher Flüssigkeit quer über den Tisch und die Hälfte der dort Sitzenden, beschmutzte das weiße Tischtuch mit einem roten Flecken.

»Du nennst mich Schattenfreundin?«, brüllte Elaida. »Du bist hier die Schattenfreundin. Du und die Rebellen da draußen, die mich von dem abhalten wollen, was getan werden muss.«

Gewebte Luft stieß Egwene erneut gegen die Wand, und sie fiel zu Boden, landete in Scherben der zerbrochenen Karaffe und schnitt sich die Arme auf. Ein Dutzend peitschender Schläge trafen sie und zerschnitten ihre Kleidung. Blut rann ihre Arme hinunter und spritzte dann durch die Luft, um an der Wand zu landen, während Elaida weiter auf sie einprügelte.

»Elaida, hört auf!«, sagte Rubinde und stand mit raschelndem grünen Kleid auf. »Habt Ihr den Verstand verloren?«

Keuchend fuhr Elaida herum. »Führt mich nicht in Versuchung, Grüne!«

Die Peitschenschläge regneten weiter auf Egwene herab. Stumm ertrug sie sie. Mühsam stand sie auf. Sie konnte fühlen, wie ihre Arme und ihr Gesicht bereits anschwollen. Aber sie sah Elaida ganz ruhig an.

»Elaida!«, brüllte Ferane und stand auf. »Ihr verletzt das Burggesetz! Ihr könnt die Macht nicht benutzen, um eine Novizin zu bestrafen!«

»Ich bin das Burggesetz!«, wütete Elaida. Sie zeigte auf die Schwestern. »Ihr macht Euch über mich lustig. Ich weiß, dass Ihr das tut. Hinter meinem Rücken. Wenn Ihr mich seht, erweist Ihr mir Respekt, aber ich weiß genau, was Ihr sagt, was Ihr flüstert. Ihr undankbaren Närrinnen! Nach allem, was ich für Euch getan habe! Glaubt Ihr, ich würde Euch ewig ertragen? Nehmt Euch die hier zum Beispiel!«

Sie drehte sich wieder um und zeigte auf Egwene, stolperte dann aber fassungslos zurück. Egwene stand da und sah sie weiterhin nur ganz ruhig an. Elaida keuchte leise auf und hob eine Hand zur Brust, während die Peitschenschläge weitergingen. Alle konnten die Gewebe sehen, und alle konnten sehen, dass Egwene nicht schrie, obwohl sie nicht mit Luft geknebelt war. Blut tropfte von ihren Armen, die Schläge ließen ihren Körper zucken, und doch fand sie keinen Grund zum Schreien. Stattdessen segnete sie leise die Weisen Frauen der Aiel für ihre Weisheit.

»Und wofür werde ich als Beispiel dienen, Elaida?«, fragte sie mit ruhiger Stimme.

Die Schläge trafen sie weiter. Oh, wie es schmerzte! In ihren Augenwinkeln formten sich Tränen, aber sie hatte sich schon schlechter gefühlt. Viel schlechter. Sie fühlte es jedes Mal, wenn sie daran dachte, was diese Frau der Institution antat, die sie liebte. Der wahre Schmerz kam nicht von den Wunden, sondern durch die Weise, wie sich Elaida vor den Sitzenden benahm.

»Beim Licht!«, flüsterte Rubinde.

»Ich wünschte, ich würde hier nicht gebraucht, Elaida«, sagte Egwene leise. »Ich wünschte, die Burg hätte in Euch eine großartige Amyrlin. Ich wünschte, ich könnte zurücktreten und Eure Herrschaft akzeptieren. Ich wünschte, Ihr würdet sie verdienen. Bereitwillig würde ich der Hinrichtung entgegensehen, wenn das bedeuten würde, eine kompetente Amyrlin zu hinterlassen. Die Weiße Burg ist wichtiger als ich. Könnt Ihr das Gleiche sagen?«

»Du willst hingerichtet werden!«, bellte Elaida, die ihre Sprache wiederfand. »Nun, das wird aber nicht passieren! Der Tod ist zu gut für dich, Schattenfreundin! Ich werde dafür sorgen, dass man dich prügelt, dass alle sehen können, wie du ausgepeitscht wirst, bis ich mit dir fertig bin! Und erst dann wirst du sterben!« Sie wandte sich den Dienern zu, die an der Seite des Raumes standen und ungläubig starrten. »Holt Soldaten! Ich will, dass die da in die tiefste Zelle geworfen wird, die es in der Burg gibt! Lasst in der ganzen Stadt verkünden, dass Egwene al'Vere eine Schattenfreundin ist, die die Gnade der Amyrlin zurückgewiesen hat!«

Die Diener liefen los. Und noch immer trafen die Peitschenschläge, aber Egwene wurde taub. Sie schloss die Augen und fühlte sich leicht schwindlig - am linken Arm, wo die tiefsten Schnitte waren, hatte sie viel Blut verloren.

Die Situation war eskaliert, genau wie sie befürchtet hatte. Sie hatte sich für ihr Schicksal entschieden.

Aber sie fürchtete nicht um ihr Leben. Stattdessen fürchtete sie um die Weiße Burg. Als sie sich gegen die Wand lehnte und ihre Gedanken verschwammen, überfiel sie Trauer.

Ihre Schlacht aus dem Inneren der Burg heraus hatte endgültig ein Ende gefunden.

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