37 Die Macht des Lichts

Min saß stumm da und sah zu, wie sich Rand ankleidete. Er tat es mit angespannten und bedachten Bewegungen, die an die Schritte eines Hochseilartisten oben in der Manege erinnerten. Langsam und methodisch klappten seine Finger die linke Manschette des gestärkten weißen Hemdes hoch. Die rechte Manschette war bereits umgeschlagen; dafür sorgten schon die Diener.

Draußen näherte sich der Abend. Es war noch nicht richtig dunkel, auch wenn die Fensterläden bereits geschlossen waren. Rand griff nach dem Mantel in Schwarz und Gold, schlüpfte zuerst in den einen Ärmel, dann in den anderen. Er knöpfte ihn zu, einen Knopf nach dem anderen. Damit hatte er keine Probleme; er gewöhnte sich daran, alles nur mit einer Hand zu machen. Einen Knopf nach dem anderen. Zuerst den ersten, dann den zweiten, den dritten, den vierten … Min hatte das Gefühl, gleich schreien zu müssen. »Willst du darüber reden?«, fragte sie. Rand wandte sich nicht vom Spiegel ab. »Worüber?«

»Die Seanchaner.«

»Es wird keinen Frieden geben«, sagte er und richtete den Mantelkragen. »Ich habe versagt.« Sein Tonfall war gefühllos und doch irgendwie angespannt.

»Rand, es ist in Ordnung, enttäuscht zu sein.«

»Enttäuschung ist sinnlos«, sagte er. »Zorn ist sinnlos. Keines dieser Gefühle wird etwas an den Tatsachen ändern, und Tatsache ist, dass ich für die Seanchaner keine Zeit mehr verschwenden kann. Wir werden einen Angriff in unserem Rücken riskieren müssen, wenn wir ohne stabile Verhältnisse in Arad Doman zur Letzten Schlacht reiten. Das ist nicht ideal, aber so muss es geschehen.«

Über Rand schimmerte die Luft, das Bild eines Berges erschien. Sichten waren in Rands Nähe so gewöhnlich, dass sich Min normalerweise dazu zwang, sie zu ignorieren, solange sie nicht neu waren - auch wenn sie manchmal Zeit damit verbrachte, sie durchzusehen. Die hier war neu, und sie erregte ihre Aufmerksamkeit. Der riesige Berg wies an der Seite ein zerklüftetes Loch auf. Der Drachenberg? Er war in dunkle Schatten gehüllt, als würden die Wolken hoch am Himmel jedes Licht verschlucken. Das war seltsam; wenn Min den Berg betrachtet hatte, hatte er die Wolken stets hoch überragt.

Der Drachenberg in Schatten. Irgendwann in der Zukunft würde er für Rand wichtig sein. War da ein winziges Licht, das vom Himmel auf die Bergspitze leuchtete?

Die Vision verschwand. Obwohl Min wusste, was einige von ihnen zu bedeuten hatten, verblüffte diese Sicht sie. Sie seufzte, lehnte sich auf dem rot gepolsterten Stuhl zurück. Ihre Bücher lagen vor ihr auf dem Boden verteilt; sie widmete ihren Studien immer mehr Zeit, einerseits, weil sie Rands Ungeduld spürte, andererseits, weil sie nicht wusste, womit sie sich sonst beschäftigen sollte. Die Vorstellung hatte ihr gefallen, auf sich selbst aufpassen zu können. Und sie hatte angefangen, sich als Rands letzte Verteidigungslinie zu betrachten.

Min hatte entdeckt, wie nützlich sie tatsächlich als »Verteidigungslinie« war. Ungefähr so nützlich wie ein Kind! Tatsächlich war sie ein Hindernis gewesen, ein Werkzeug, das Semirhage gegen ihn benutzt hatte. Als Rand einmal vorgeschlagen hatte, sie wegzuschicken, hatte sie ihn deshalb empört ausgeschimpft. Sie wegschicken! Damit sie in Sicherheit war? Das war lächerlich! Sie konnte auf sich selbst aufpassen.

Das hatte sie zumindest geglaubt, jetzt sah sie ein, dass er recht gehabt hatte.

Der Gedanke machte sie krank. Also betrieb sie ihre Nachforschungen und versuchte ihm nicht im Weg zu stehen. Er hatte sich an diesem Tag verändert, als hätte man etwas Strahlendes in ihm einfach abgestellt. Eine Lampe, die erlosch, weil ihr das Öl ausgegangen und nur noch das Gehäuse zurückgeblieben war. Er sah sie nun mit anderen Augen. Aber was sah er? Nur eine Belastung?

Sie erschauderte und versuchte, diesen Gedanken aus dem Kopf zu verbannen.

Rand zog die Stiefel an, schnallte sie zu.

Er stand auf, griff nach dem Schwert, das an seiner Kleidertruhe lehnte. Die schwarze Scheide mit dem aufgemalten roten und goldenen Drachen funkelte im Licht. Welch seltsame Waffe diese Gelehrten doch unter der versunkenen Statue gefunden hatten. Das Schwert fühlte sich so alt an. Trug Rand es heute als eine Art Symbol? Vielleicht als ein Zeichen, dass er in die Schlacht ritt?

»Du gehst auf die Jagd nach ihr, nicht wahr?«, sagte Min plötzlich. »Graendal.«

»Ich muss die Probleme lösen, die ich lösen kann«, sagte Rand, zog das Schwert aus der Scheide und überprüfte die Klinge. Es gab kein Reiherzeichen, aber die prächtige Stahlklinge funkelte im Lampenlicht und zeigte die wellenförmigen Linien des gefalteten Metalls. Rand hatte behauptet, man hätte sie mit der Einen Macht geschmiedet. Er schien Dinge darüber zu wissen, die er für sich behielt.

Rand schob die Klinge zurück in die schwarze Scheide und sah Min an. »Erledige die Probleme, die du erledigen kannst, quäle dich nicht derentwegen, die nicht zu lösen sind. Das hat mir Tarn einmal gesagt. Arad Doman wird allein gegen die Seanchaner bestehen müssen. Das Letzte, was ich für die Menschen hier tun kann, ist, eine der Verlorenen von ihrem Boden zu entfernen.«

»Sie könnte dich erwarten«, sagte Min. »Ist dir der Gedanke gekommen, dass der Junge, den Nynaeve gefunden hat, absichtlich dort wartete? Dass er entdeckt werden sollte, um dich in eine Falle zu locken?«

Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Er war echt. Moghedien wäre vielleicht auf so einen Einfall gekommen, aber nicht Graendal. Sie hätte zu viel Angst, dass man ihre Spur aufnimmt. Wir müssen schnell handeln, bevor sie erfährt, dass sie kompromittiert wurde. Ich muss jetzt zuschlagen.« Min stand auf.

»Kommst du mit?«, fragte Rand überrascht.

Sie errötete. Und wenn es bei Graendal genauso schiefgeht wie bei Semirhage? Was, wenn man mich wieder zum Werkzeug gegen ihn macht?

»ja«, sagte sie, nur um sich selbst zu beweisen, dass sie nicht aufgab. »Natürlich komme ich mit. Glaube ja nicht, du kannst mich zurücklassen!«

»Das würde mir nicht im Traum einfallen«, sagte er tonlos. »Komm.«

Sie hatte mit größerem Widerstand gerechnet.

Vom Nachttisch nahm er die Statuette des Mannes mit der Kugel. Er drehte das Ter’angreal in der Hand, inspizierte es, dann sah er Min an, als würde er Widerspruch erwarten. Sie sagte kein Wort.

Er schob die Statuette in die übergroße Manteltasche, das uralte, mit der Macht geschmiedete Schwert an die Taille gegürtet.

Min eilte hinter ihm her. Er sah die beiden Töchter an, die die Tür bewachten. »Ich ziehe in die Schlacht«, sagte er zu ihnen. »Bringt nicht mehr als zwanzig mit.«

Die Töchter tauschten kurz Handsignale aus, dann lief eine voraus und die andere folgte Rand, als er durch den Korridor ging. Min eilte mit klopfendem Herzen an seine Seite, ihre Stiefel polterten laut über die Bodenfliesen. Er war schon zuvor auf diese ungestüme Weise losgeeilt, um gegen die Verlorenen zu kämpfen, aber für gewöhnlich nahm er sich mehr Zeit, um einen Plan zu schmieden. Sammael hatte er monatelang in die richtige Position gebracht, bevor er in Illian zuschlug. Für Graendal hatte er kaum einen Tag gehabt, um Entscheidungen zu treffen!

Min überprüfte ihre Messer und vergewisserte sich, dass sie sicher in ihren Ärmeln steckten, aber das war bloß eine nervöse Angewohnheit. Rand erreichte das Ende des Korridors und schritt die Stufen hinunter, schnell, aber nicht eilig, mit unbewegter Miene. Und doch erschien er wie ein Gewittersturm, irgendwie von einem inneren Druck erfüllt und auf ein einzelnes Ziel konzentriert. Wie sehr sie sich doch wünschte, er würde einfach die Geduld verlieren und explodieren, so wie früher! Damals hatte er sie zur Verzweiflung gebracht, aber er hatte ihr nie Angst gemacht. Nicht so, wie er es jetzt tat, mit diesem eiskalten Blick, der ihr verschlossen blieb, dieser Gefahr, die er ausstrahlte. Seit dem Zwischenfall mit Semirhage sprach er davon, das zu tun, was »auch immer nötig war«, ganz egal, was es kostete, und Min wusste genau, dass er rasend vor Wut sein musste, weil es ihm nicht gelungen war, die Seanchaner zu einem Bündnis zu bewegen. Wozu würde ihn die Kombination aus Scheitern und Entschlossenheit nur verleiten?

Unten an der breiten Treppe wandte sich Rand an einen Diener. »Holt Nynaeve Sedai und Lord Ramshalan. Bringt sie ins Wohnzimmer.«

Lord Ramshalan? Der Mann aus Lady Chadmars ehemaligem Kreis? »Rand«, sagte Min ganz ruhig, als sie die letzte Stufe verließ, »was hast du vor?«

Rand schwieg. Er durchquerte die weiße Marmorhalle und betrat das Wohnzimmer, das in dunklen Rottönen ausgestattet war, um einen Kontrast zu dem weißen Fußboden zu bieten. Er setzte sich nicht, sondern blieb mit hinter dem Rücken gehaltener Hand dort stehen und studierte die Karte von Arad Doman an der Wand, die auf seine Anweisung dort aufgehängt worden war. Die alte Karte hatte ein kostbares Ölgemälde ersetzt und schien überhaupt nicht in den Raum zu passen.

Neben einem kleinen See im Südosten war mit Tinte ein schwarzer Punkt markiert. Rand hatte ihn selbst an dem Morgen nach Kerbs Tod angebracht. Er markierte Natrins Hügel.

»Das war früher eine Festung«, sagte Rand gedankenverloren.

»Die Stadt, in der sich Graendal verbirgt?«, fragte Min und trat an seine Seite.

Er schüttelte den Kopf. »Es handelt sich nicht um eine Stadt. Ich habe Späher ausgeschickt. Es ist ein einzelner Bau, den man vor langer Zeit errichtete, um die Verschleierten Berge zu beobachten und sich gegen Überfälle der Manetheren durch die Pässe zu schützen. Seit den Trolloc-Kriegen hat man ihn nicht mehr für militärische Zwecke benutzt; man musste ja keine Angst haben, dass die Einwohner von den Zwei Flüssen, die sich nicht einmal mehr an den Namen Manetheren erinnern, zu einer Invasion aufbrechen.«

Min nickte. »Andererseits ist Arad Doman von einem Schafhirten aus den Zwei Flüssen erobert worden.«

Einst hätte ihn das lächeln lassen. Sie vergaß immer, dass er so etwas nicht mehr tat.

»Vor ein paar Jahrhunderten holte sich der König von Arad Doman Natrins Hügel im Namen des Throns zurück«, fuhr Rand fort. Er hatte die Augen vor Konzentration zusammengekniffen. »Seit einiger Zeit war er von einer unbedeutenden Adelsfamilie von der Halbinsel von Toman besetzt gewesen, die versucht hatte, ihr eigenes Königreich zu gründen. So etwas geschieht gelegentlich auf der Ebene von Almoth. Dem König gefiel der Ort, und ihm diente die Festung als Palast.

Er verbrachte dort viel Zeit, tatsächlich sogar so viel Zeit, dass mehrere seiner Kaufmannsfeinde in Bandar Eban zu viel Macht erlangten. Der König stürzte, aber seine Nachfolger benutzten die Festung ebenfalls, und sie wurde ein beliebter Rückzugsort für die Krone, wenn sich der König entspannen wollte. Während der letzten hundert Jahre kam diese Praxis langsam zum Erliegen, bis der Ort vor etwa fünfzig Jahren an einen entfernten Cousin des Königs übergeben wurde. Seitdem wird er von dieser Familie benutzt. Bei der Bevölkerung ist Natrins Hügel größtenteils in Vergessenheit geraten.«

»Nur bei Alsalam nicht?«, fragte Min.

Rand schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bezweifle, dass er überhaupt davon wusste. Die ganze Geschichte hat mir der königliche Archivar erzählt, und der musste stundenlang suchen, um den Namen der Familie herauszufinden, die an dem Ort lebt. Schon seit Monaten gibt es keinen Kontakt mehr zu den Familienmitgliedern, allerdings besuchen sie gelegentlich die Städte. Die wenigen Bauern in der Gegend erzählen, dass anscheinend jemand Neues in dem Palast lebt, auch wenn keiner weiß, was aus den vorherigen Besitzern geworden ist. Es scheint sie zu überraschen, dass sie zuvor nie darüber nachgedacht haben, wie seltsam das eigentlich doch ist.«

Er nickte. »Das ist genau die Art von Ort, den sich Graendal als Ausgangsbasis aussuchen würde. Es ist ein Schmuckstück - eine vergessene Festung voller Schönheit und Macht, uralt und majestätisch. Nahe genug bei Bandar Eban, damit sie sich darin einmischen kann, Arad Doman zu beherrschen, aber abgelegen genug, um es gut verteidigen zu können. Ich habe in meiner Suche nach ihr einen Fehler gemacht - ich bin davon ausgegangen, dass sie ein wunderschönes Herrenhaus mit einem großen Garten wählt. Ich hätte es erkennen müssen; sie will sich nicht nur mit Schönheit umgeben, sondern auch mit Prestige. Eine prächtige Festung für Könige passt genauso gut zu ihr wie ein elegantes Herrenhaus. Vor allem, da diese hier mittlerweile mehr Palast als eine Trutzburg ist.«

Schritte, die sich der Tür näherten, erregten Mins Aufmerksamkeit, und ein paar Sekunden später führte ein Diener Nynaeve und den geckenhaften Ramshalan mit seinem Spitzbart und schmalen Schnurrbart ins Zimmer. Heute trug er winzige Glöckchen an den Bartspitzen und einen schwarzen Schönheitsflecken aus Samt auf der Wange, der ebenfalls die Form eines Glöckchens hatte. Das locker sitzende Gewand aus grüner und blauer Seide wies weite Ärmel auf und gab den Blick auf das darunter befindliche weiße Rüschenhemd frei. Min interessierte sich nicht dafür, was die Mode diktierte; der Mann sah einfach lächerlich aus. Wie ein zerzauster Pfau.

»Mein Lord hat nach mir gerufen?«, sagte Ramshalan und verneigte sich extravagant vor Rand.

Rand wandte sich nicht von der Karte ab. » Ramshalan, ich habe ein Rätsel für Euch«, sagte er. »Ich will wissen, was Ihr davon haltet.«

»Bitte, mein Lord, zögert nicht!«

»Dann verratet mir eines: wie kann ich einen Gegner überrumpeln, von dem ich weiß, dass er klüger als ich ist?«

»Mein Lord.« Ramshalan verneigte sich ein zweites Mal, als sorgte er sich, dass es Rand beim ersten Mal nicht bemerkt hatte. »Sicherlich wollt Ihr mich foppen! Es gibt niemanden, der intelligenter ist als Ihr!«

»Ich wünschte, das wäre so«, sagte Rand leise. »Ich stehe einigen der geschicktesten Kontrahenten gegenüber, die je gelebt haben. Meine derzeitige Gegnerin kennt sich auf eine Weise mit dem Verstand anderer Menschen aus, mit der ich nicht einmal ansatzweise mithalten kann. Wie soll ich sie also besiegen? Sie wird in dem Augenblick verschwinden, indem ich sie bedrohe, wird sich zu einem der Dutzend anderen Zufluchtsorte begeben, die sie mit Sicherheit erschaffen hat. Sie wird sich mir nicht stellen und kämpfen, aber sollte ich ihre Festung mit einem Überraschungsangriff vernichten, gehe ich das Risiko ein, dass sie vorher verschwinden kann, und ich werde nie erfahren, ob ich sie erledigt habe.«

»In der Tat ein Problem, mein Lord«, sagte Ramshalan. Er erschien verwirrt.

Rand nickte wie in Gedanken versunken. »Ich muss ihr in die Augen sehen, muss ihr in die Seele sehen und wissen, dass sie es ist, der ich gegenüberstehe, und nicht irgendeine Täuschung. Das muss mir gelingen, ohne dass ich sie vertreibe. Aber wie? Wie kann ich einen Feind töten, der so viel klüger ist, als ich es bin, einen Feind, den man unmöglich überraschen kann, der mir aber auch nicht entgegentreten will?«

Ramshalan erschien überfordert. »Ich … mein Lord, wenn Euer Gegner so schlau ist, wäre es dann vielleicht nicht angebracht, Ihr bittet jemanden um Hilfe, der noch schlauer ist?«

Rand drehte sich zu ihm um. »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Ramshalan. Vielleicht habe ich das ja gerade getan.«

Der Mann plusterte sich auf. Er glaubt, dass Rand ihn genau dafür hält und ihn deshalb zu sich befohlen hat!, wurde Min klar. Sie musste ihr Lächeln durch eine erhobene Hand und die Neigung ihres Kopfes verbergen.

»Wenn Ihr so einen Feind hättet, Ramshalan, was würdet Ihr tun?«, wollte Rand wissen. »Ich werde ungeduldig. Gebt mir eine Antwort.«

»Ich würde ein Bündnis mit ihm eingehen, mein Lord«, sagte Ramshalan, ohne auch nur eine weitere Sekunde zu zögern. »Eine so mächtige Person wäre besser ein Freund statt ein Feind, würde ich sagen.«

Narr, dachte Min. Wenn dein Feind so geschickt und skrupellos ist, dann wird dieses Bündnis mit dem Dolch eines Meuchelmörders in deinem Rücken enden.

»Noch so ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Rand leise. »Aber ich denke noch immer über Eure erste Bemerkung nach. Ihr sagtet, dass ich Verbündete brauche, die klüger sind als ich, und das ist wahr. Also ist die Zeit für Euren Aufbruch gekommen.«

»Mein Lord?«

»Ihr werdet mein Botschafter sein«, sagte Rand und schwenkte die Hand. Plötzlich durchschnitt ein Wegetor auf der anderen Seite des Raumes die Luft und schnitt den kostbaren Teppich am Boden entzwei. »Zu viele der Blutgeborenen der Domani verbergen sich, sind über das ganze Land verteilt. Ich würde sie ja als meine Verbündeten nehmen, aber es würde so viel von meiner Zeit kosten, jeden persönlich aufzusuchen. Glücklicherweise habe ich ja Euch, der in meinem Namen gehen kann.«

Die Vorstellung schien Ramshalan zu erregen. Das Tor gab den Blick auf riesige Kiefern frei, und die Luft auf der anderen Seite war kühl und frisch. Min drehte sich um und sah Nynaeve an, die wieder Blau und Weiß trug. Die Aes Sedai verfolgte das Gespräch nachdenklich, und Min konnte ihrer Miene die gleichen Gefühle ablesen, die auch sie bewegten. Was hatte Rand nur vor?

»Hinter diesem Wegetor findet Ihr einen Hügel«, sagte Rand, »der zu einem uralten Palast führt, den eine unbedeutende Kaufmannsfamilie bewohnt. Das ist der erste von vielen Orten, an die ich Euch schicken werde. Geht in meinem Namen und besucht jene, die die Festung beherrschen. Findet heraus, ob sie bereit sind, mich zu unterstützen, oder ob sie überhaupt von mir gehört haben. Bietet ihnen eine Belohnung für ihre Loyalität; da Ihr Euch als so klug erwiesen habt, überlasse ich es Euch, die Bedingungen festzusetzen. Ich habe keine Lust, mich mit solchen Verhandlungen aufzuhalten.«

»Ja, mein Lord!«, sagte der Mann, und seine Brust schien noch weiter anzuschwellen, auch wenn er das Wegetor besorgt betrachtete; wie die meisten Leute misstraute er der Einen Macht, vor allem, wenn sie von einem Mann gelenkt wurde. Wenn es ihm gelegen kam, würde dieser Mann seine Loyalität so schnell wechseln, wie er es bei Lady Chadmars Sturz getan hatte. Was dachte sich Rand nur dabei, einen solchen Gecken zu Graendal zu schicken?

»Geht«, meinte Rand.

Ramshalan machte ein paar zögernde Schritte auf das Wegetor zu. »Äh, mein Lord Drache, könnte ich vielleicht eine Eskorte haben?«

»Es ist nicht nötig, die Leute dort zu alarmieren oder in Angst zu versetzen«, sagte Rand und schaute wieder auf die Karte. Das Tor entließ weiter kalte Luft. »Geht schnell und kehrt zurück, Ramshalan. Ich werde das Wegetor geöffnet halten, bis Ihr wieder da seid. Meine Geduld ist nicht grenzenlos, und es gibt viele, an die ich mich für diese Mission wenden könnte.«

»Ich …« Der Mann schien die Risiken zu kalkulieren. »Natürlich, Lord Drache.« Er nahm einen tiefen Atemzug und passierte das Portal mit unbehaglichen Schritten, wie eine Hauskatze, die in eine Pfütze trat. Plötzlich verspürte Min Mitleid mit dem Mann.

Auf dem Boden liegende Kiefernadeln knirschten, als Ramshalan den Wald betrat. Eine Brise fuhr durch die Bäume; wenn man in der Bequemlichkeit des Herrenhauses stand, war es ein seltsamer Laut. Rand, der noch immer auf die Karte starrte, ließ das Wegetor geöffnet.

»Also gut«, sagte Nynaeve nach ein paar Minuten mit verschränkten Armen. »Was soll das werden?«

»Wie würdest du sie schlagen, Nynaeve?«, fragte Rand. »Sie wird sich nicht zu einem Kampf mit mir verlocken lassen, so wie Rahvin oder Sammael. Sie wird sich auch nicht leicht in eine Falle locken lassen. Graendal versteht die Menschen besser als sonst jemand. Sie mag ja verdorben sein, aber sie ist schlau, und man sollte sie nicht unterschätzen. Torhs Margin hat diesen Fehler gemacht, wie ich mich erinnere, und ihr kennt ja sein Schicksal.«

Min runzelte die Stirn. »Wer?«, fragte sie und sah Nynaeve an. Die Aes Sedai zuckte bloß mit den Schultern.

»Ich glaube, er ist unter dem Namen Torhs der Gebrochene in die Geschichte eingegangen«, sagte Rand.

Erneut schüttelte Min den Kopf. Nynaeve schloss sich ihr an. Keine von ihnen kannte sich besonders gut in Geschichte aus, das stimmte schon, aber Rand tat so, als müssten sie den Namen kennen. Seine Miene verhärtete sich, dann errötete er leicht und wandte sich von ihnen ab. »Die Frage bleibt bestehen«, sagte er mit leiser, aber angespannter Stimme. »Wie würdest du sie bekämpfen, Nynaeve?«

»Ich habe keine Lust, deine Spielchen mitzumachen, Rand al’Thor«, erwiderte Nynaeve empört. »Du hast dich ja offensichtlich bereits zu einer Vorgehensweise entschieden. Was fragst du also mich?«

»Weil das, was ich zu tun beabsichtige, mir Angst machen sollte«, sagte er. »Aber das tut es nicht.«

Min erschauderte. Rand nickte den Töchtern zu, die an der Tür standen. Mit geschmeidigen Bewegungen durchquerten sie den Raum, sprangen durch das Tor und breiteten sich im Wald aus, wo sie schnell aus der Sicht verschwanden. Alle zwanzig machten zusammen weniger Lärm als Ramshalan allein.

Min wartete. Die Sonne war auf der anderen Torseite nicht zu sehen, aber sie warf ihr spätnachmittägliches Licht auf den im Schatten liegenden Waldboden. Wenige Augenblicke später kam Nandera in Sicht und nickte Rand zu. Alles sauber.

»Kommt«, sagte Rand und ging zum Tor. Min schloss sich ihm an, allerdings erreichte Nynaeve es vor ihr.

Sie traten auf einen Teppich aus braunen Kiefernadeln, denen man den langen Schlummer unter dem verschwundenen Winterschnee ansehen konnte. Die Brise ließ Äste aneinanderreihen, und die Bergluft war viel kühler, als der Wind hatte erahnen lassen. Min wünschte sich, einen Umhang zu haben, aber jetzt war keine Zeit, um zurückzugehen und einen zu holen. Rand ging zielstrebig durch den Wald, und Nynaeve eilte an seine Seite und redete leise auf ihn ein.

Aber sie würde nichts Vernünftiges aus ihm herausbekommen, nicht, wenn er in dieser Stimmung war. Sie würden einfach abwarten müssen, was er ihnen enthüllte. Gelegentlich entdeckte Min einige der Aiel zwischen den Bäumen, aber immer nur kurz, wenn sie sich offensichtlich nicht die Mühe machten, sich zu verbergen. Sie hatten sich zweifellos gut an das Leben in den Feuchtlanden gewöhnt. Wie konnten in der Wüste aufgewachsene Menschen nur so instinktiv wissen, wie man sich in einem Wald verbarg?

Ein kleines Stück weiter endeten die Bäume. Min beeilte sich, zu Rand und Nynaeve aufzuschließen, die beide am Grat eines sanft in die Tiefe führenden Hangs stehen geblieben waren. Von hier aus konnte man über den Wald hinweg sehen, und in der Tiefe standen die Bäume wie ein grünes und braunes Meer. Die Kiefern strebten am Ufer eines kleinen Bergsees auseinander, der sich in einer dreieckigen Senke befand.

Auf einem Hügel erhob sich ein eindrucksvolles Bauwerk aus weißem Stein über dem Wasser. Rechteckig und groß war es in der Form mehrerer aufeinandergestapelter Türme erbaut, von denen jeder etwas kleiner als der darunter befindliche war. Das verlieh dem Palast eine elegante Form - wehrhaft und zugleich schlossartig. »Das ist ja wunderschön«, sagte Min atemlos.

»Er wurde in einem anderen Zeitalter erbaut«, sagte Rand. »In einer Zeit, als Menschen noch immer glaubten, dass die Majestät einer Struktur ihr Stärke verleiht.«

Der Palast war ein gutes Stück entfernt, aber nicht so weit weg, dass Min die Männer entgangen wären, die auf den Zinnen mit ihren Hellebarden patrouillierten und deren Harnische das späte Sonnenlicht reflektierten. Eine späte Jagdgruppe ritt soeben durch eines der Tore, einen prächtigen Hirschbock auf dem Packpferd festgeschnallt, während in der Nähe eine Gruppe Arbeiter auf einen umgestürzten Baum einhieb; vermutlich, um Feuerholz zu machen. Zwei Dienerinnen in Weiß trugen an über die Schultern gelegten Stangen Eimer vom See heran, und in vielen Fenstern an der Gebäudeseite flackerten Lichter. Es war ein von Leben erfüllter Besitz, der in einem einzigen massiven Gebäude untergebracht war.

»Glaubst du, Ramshalan hat hergefunden?«, sagte Nynaeve mit verschränkten Armen und bemühte sich offensichtlich, nicht beeindruckt auszusehen.

»Das kann sogar ein Narr wie er nicht übersehen«, sagte Rand und kniff die Augen zusammen. Er trug noch immer die Statuette in der Tasche. Min wünschte sich, er hätte das Ding zurückgelassen. Wie er ständig daran herumfummelte, bereitete ihr Unbehagen. Wie er sie liebkoste.

»Also hast du Ramshalan in den Tod geschickt«, sagte Nynaeve. »Was soll das bringen?«

»Sie wird ihn nicht töten«, erwiderte Rand.

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Das ist einfach nicht ihre Art. Nicht, wenn sie ihn gegen mich benutzen kann.«

»Du erwartest doch wohl nicht, dass sie ihm die Geschichte abnimmt, die du ihm erzählt hast«, meinte Min. »Dass du ihn bloß geschickt hast, um die Loyalität der Domani-Adligen auf die Probe zu stellen?«

Rand schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich hoffe, dass sie einen Teil dieser Geschichte glaubt, aber ich rechne nicht damit. Es war mein Ernst, was ich über sie sagte, Min - sie ist schlauer als ich. Und ich fürchte, dass sie mich viel besser kennt als ich sie. Sie wird Ramshalan unter Zwang setzen und aus ihm unsere ganze Unterhaltung herausholen. Und dann findet sie eine Möglichkeit, diese Unterhaltung gegen mich zu verwenden.«

»Wie?«, fragte Min.

»Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich täte es. Sie wird sich schon etwas Schlaues einfallen lassen, dann wird sie Ramshalan mit einem sehr subtilen Zwang infizieren, den ich unmöglich voraussehen kann. Mir wird nur die Wahl bleiben, ihn in meiner Nähe zu behalten und zu beobachten, was er tut, oder ihn fortzuschicken. Aber natürlich wird sie auch daran denken, und was auch immer ich mache, wird ihre anderen Pläne in Bewegung setzen.«

»Bei dir hört sich das so an, als könntest du nicht gewinnen«, sagte Nynaeve stirnrunzelnd. Ihr schien die kühle Luft überhaupt nicht aufzufallen. Rand auch nicht. Wie auch immer dieser »Trick« funktionierte, Kälte und Hitze zu ignorieren, Min war nie dahintergekommen. Sie behaupteten, es hätte nichts mit der Einen Macht zu tun, aber wenn dem so war, warum waren dann Rand und die Aes Sedai die Einzigen, die ihn zustande brachten? Die Aiel schienen sich ebenfalls nicht an der Kälte zu stören, aber die zählten nicht. Sie schienen sich nie für die Anliegen normaler Menschen zu interessieren, auch wenn sie bei den unbedeutendsten Dingen sehr empfindlich reagieren konnten.

»Du sagst, wir können nicht gewinnen?«, fragte Rand. »Ist es das, was wir versuchen? Zu gewinnen?«

Nynaeve hob eine Braue. »Beantwortest du keine Fragen mehr?«

Rand sah sie an. Min stand auf der anderen Seite von ihm, also konnte sie seine Miene nicht sehen, dafür sah sie aber, dass Nynaeve alle Farbe aus dem Gesicht verlor. Es war ihre eigene Schuld. Spürte sie denn nicht, wie angespannt Rand war? Vielleicht kam Mins Frösteln ja gar nicht von der Kälte. Sie trat näher an ihn heran, aber er legte nicht den Arm um sie, wie er es früher getan hätte. Als er sich endlich von Nynaeve abwandte, sackte die Aes Sedai ein Stück in sich zusammen, als hätte sein Blick sie angehoben.

Eine Weile schwieg Rand, also warteten sie stumm auf dem Hügelkamm, während die ferne Sonne dem Horizont entgegenwanderte. Die Schatten wurden länger, Finger, die sich von der Sonne fortstreckten. Unten an der Festungsmauer fingen ein paar Stallburschen damit an, Pferde spazieren zu führen, damit sie etwas Auslauf bekamen. Weitere Lichter flammten in den Fenstern der Festung auf. Wie viele Menschen hatte Graendal wohl dort? Es musste Dutzende sein, wenn nicht sogar Hunderte.

Ein Krachen im Unterholz ließ Min zusammenzucken; es wurde von Flüchen begleitet. Dann brach der Lärm abrupt ab.

Ein paar Augenblicke später erschien eine kleine Gruppe Aiel und führte einen zerzausten Ramshalan herbei, dessen kostbare Kleidung voller Kiefernadeln und von Ästen zerrissen war. Er klopfte sich ab, dann machte er einen Schritt auf Rand zu.

Die Töchter hielten ihn fest. Er sah sie verständnislos an, legte den Kopf schief. »Mein Lord Drache?«

»Ist er infiziert?«, wollte Rand von Nynaeve wissen. »Mit was?«

»Graendals Berührung.«

Nynaeve stellte sich vor den Adligen und sah ihn einen Moment lang an. Dann zischte sie und sagte: »Ja. Er unterliegt einem schweren Zwang. Da sind viele Gewebe. Nicht so schlimm wie bei dem Kerzenmacherlehrling, vielleicht aber auch nur viel geschickter.«

»Mein Lord Drache, ich muss schon sagen«, ereiferte sich Ramshalan, »was geht hier vor? Die Lady des Schlosses dort unten war sehr freundlich - sie ist eine Verbündete, mein Lord. Ihr habt nichts von ihr zu befürchten! Ich muss schon sagen, sie ist ausgesprochen edel.«

»Ist sie das?«, fragte Rand leise. Die Sonne ging hinter den fernen Bergen unter, und es wurde dunkel. Abgesehen vom Abendlicht kam die einzige Beleuchtung aus dem noch immer geöffnet stehenden Wegetor hinter ihnen. In ihm leuchtete Lampenschein, ein einladendes Portal zurück in die Wärme, fort von diesem Ort aus Schatten und Kälte.

Rands Stimme klang so hart. Schlimmer, als Min sie je zuvor gehört hatte.

»Rand«, sagte sie und berührte seinen Arm. »Lass uns zurückgehen.«

»Ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte er, ohne sie anzusehen.

»Denk noch länger darüber nach«, erwiderte Min. »Hol dir zumindest einen Rat ein. Wir können Cadsuane fragen oder…«

»Cadsuane hat mich in eine Kiste gesperrt, Min«, sagte er sehr leise. Sein Gesicht lag im Schatten, aber als er sich ihr zuwandte, spiegelte sich das Licht aus dem offenen Wegetor in seinen Augen. Orangefarben und rot. Ein wütender Unterton lag in seiner Stimme. Ich hätte Cadsuane nicht erwähnen dürfen, wurde ihr klar. Der Name dieser Frau gehörte zu den wenigen Dingen, die ihm noch immer ein Gefühl entlocken konnten.

»Eine Kiste, Min«, flüsterte er. »Auch wenn Cadsuanes Kiste unsichtbare Wände hatte, hat sie mich genauso eingesperrt wie die andere Kiste, die mich gefangen hielt. Ihre Zunge war eine viel schmerzvollere Rute als alle anderen, die je meine Haut trafen. Das erkenne ich jetzt.«

Er wich vor ihrer Berührung zurück.

»Was soll das alles?«, verlangte Nynaeve zu wissen. »Du hast diesen Mann ausgeschickt, damit er einen Zwang auferlegt bekommt, obwohl du wusstest, was das aus ihm macht? Ich werde nicht zusehen, wie sich noch ein Mann deswegen quält und stirbt! Zu was auch immer sie ihn gezwungen hat, ich werde es nicht entfernen! Wenn du deswegen stirbst, dann ist das deine eigene Schuld.«

»Mein Lord?«, fragte Ramshalan. Das wachsende Entsetzen in seiner Stimme erfüllte Min mit Unbehagen.

Die Sonne ging endgültig unter; Rand war nur noch eine Silhouette. Die Festung war ein schwarzer Umriss mit Laternen in den Löchern ihrer Mauern. Rand trat an das Ende des Hügelkamms und nahm den Zugangsschlüssel aus der Tasche. Er fing an, ein leichtes Glühen von sich zu geben, ein rotes Schimmern, das aus seinem Herzen kam. Nynaeve sog scharf die Luft ein.

»Keine von euch war dabei, als Callandor mich im Stich ließ«, sagte er in die Nacht hinein. »Das ist zweimal passiert. Einmal, als ich damit die Toten zum Leben erwecken wollte, aber ich erhielt bloß eine leblose Marionette. Einmal, als ich mit ihm die Seanchaner vernichten wollte, aber damit richtete ich bei meinen eigenen Heeren genauso viel Tod und Vernichtung an wie bei ihren.

Cadsuane hat mir gesagt, dass das zweite Scheitern an einem Fehler in Callandor selbst lag. Ihr müsst wissen, es kann nicht von einem einzelnen Mann kontrolliert werden. Es funktioniert nur, wenn er in einer Kiste ist. Callandor ist eine sorgfältig konstruierte verführerische Leine, die mich dazu verleiten soll, mich freiwillig zu ergeben.«

Die Kugel des Zugangsschlüssels erstrahlte plötzlich in einer hellen, augenscheinlich kristallinen Farbe. In Scharlachrot, und das Zentrum leuchtete grell. Als hätte jemand einen glühenden Stein in einen Teich voller Blut geworfen.

»Ich sehe eine andere Antwort für meine Probleme«, fuhr Rand fort, und seine Stimme war noch immer beinahe ein Flüstern. »Bei Callandors Versagen ging ich beide Male leichtsinnig mit meinen Gefühlen um. Ich ließ zu, dass mich mein Temperament antrieb. Ich kann nicht von Wut getrieben töten, Min. Ich muss diese Wut in meinem Inneren festhalten; ich muss sie lenken, so wie ich die Eine Macht lenke, jeder Tod muss beabsichtigt sein. Mit Vorsatz geschehen.«

Min konnte nicht sprechen. Konnte ihre Ängste nicht in Worte fassen, konnte nicht die richtigen Worte finden, um ihn aufzuhalten. Trotz des flüssigen Lichts in seiner Hand blieben seine Augen in der Dunkelheit verborgen. Das Licht schleuderte Schatten von seiner Gestalt fort, als wäre er das Zentrum einer lautlosen Explosion. Min wandte sich Nynaeve zu; die Aes Sedai sah mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffnetem Mund zu. Auch sie fand keine Worte.

Min wandte sich wieder Rand zu. Als er so kurz davor gestanden hatte, sie mit seiner eigenen Hand zu töten, hatte sie ihn nicht gefürchtet. Aber da hatte sie auch gewusst, dass nicht Rand derjenige war, der ihr wehtat, sondern Semirhage.

Aber dieser Rand, dessen Hand in Flammen stand und dessen Augen so konzentriert und zugleich so leidenschaftslos blickten, jagte ihr eine entsetzliche Angst ein.

»Ich habe es schon zuvor getan«, flüsterte er. »Ich sagte, ich töte keine Frauen, aber das war eine Lüge. Ich ermordete eine Frau, lange bevor ich Semirhage gegenübertrat. Ihr Name war Liah. Ich tötete sie in Shadar Logoth. Ich tötete sie und nannte es Gnade.«

Er wandte sich der Palastfestung unter ihnen zu.

»Vergebt mir, dass ich auch das hier eine Gnade nenne«, sagte er, aber er schien damit nicht Min zu meinen.

Vor ihm in der Luft formte sich ein unbeschreiblich grelles Licht, und Min schrie auf und wich zurück. Die Luft selbst schien sich zu verzerren, als würde sie sich angsterfüllt vor Rand zurückziehen. Um ihn herum flog kreisförmig Staub in die Höhe, und die von dem strahlenden Licht erhellten Bäume ächzten; die Kiefernadeln rasselten wie hunderttausend Insekten, die übereinander krochen. Min konnte Rand nicht länger sehen, da war nur noch eine lodernde, blendende Macht aus reinem Licht. Angehäufte pure Macht, die mit ihrer nicht fassbaren Energie die Härchen auf ihren Armen aufrichtete. In diesem Augenblick glaubte sie begreifen zu können, was die Eine Macht tatsächlich war. Sie war hier, genau vor ihr, verkörpert in dem Mann Rand al’Thor.

Und dann entließ er sie mit einem Laut wie einem Seufzen. Eine Säule unbefleckter Helligkeit schoss aus ihm hervor und brannte sich ihren Weg durch den stummen Nachthimmel, erhellte die Bäume unter ihr. Sie bewegte sich so schnell wie ein Fingerschnippen und traf die Mauer der fernen Festung. Die Steine leuchteten auf, als atmeten sie die Kraft der Energie ein. Die ganze Festung glühte auf, verwandelt in lebendiges Licht, in einen erstaunlichen, spektakulären Palast aus unverfälschter Energie. Es war wunderschön.

Und dann war er einfach verschwunden. Aus der Landschaft - und dem Muster - gebrannt, als hätte er niemals dort gestanden. Die ganze Festung, Hunderte Quadratfuß aus Stein, und jeder, der darin gelebt hatte.

Etwas traf Min, etwas wie eine Schockwelle. Es war kein greifbarer Windstoß und es ließ sie nicht stolpern, aber es verdrehte ihr Inneres. Der noch immer von dem Zugangsschlüssel in Rands Hand beleuchtete Wald schien sich auszudehnen und zu erbeben. Als stöhnte die Welt selbst voller Agonie.

Sie schnellte zurück, trotzdem konnte Min noch immer diese Anspannung fühlen. In diesem Augenblick hatte es den Anschein, als hätte die Substanz der Welt selbst kurz vor der Zerstörung gestanden.

»Was hast du getan?«, flüsterte Nynaeve.

Rand gab keine Antwort. Min konnte sein Gesicht wieder erkennen, jetzt, da die gewaltige Säule aus Baalsfeuer verschwunden war und nur den glühenden Zugangsschlüssel zurückgelassen hatte. Er war in Ekstase, sein Mund klaffte weit auf, und er hielt den Zugangsschlüssel vor sich in die Höhe wie eine Siegestrophäe. Oder als würde er ihn anbeten.

Dann biss er die Zähne zusammen, und er riss die Augen weit auf und zog die Lippen zurück, als stünde er unter großem Druck. Das Licht blitzte einmal auf und verschwand sofort. Alles wurde dunkel. Die plötzliche Dunkelheit ließ Min blinzeln. Das mächtige Bild von Rand schien sich in ihr Sichtfeld gebrannt zu haben. Hatte er wirklich getan, was sie glaubte, dass er getan hatte? Hatte er eine ganze Festung mit Baalsfeuer weggebrannt?

Die vielen Menschen. Männer, die von der Jagd zurückkehrten … Frauen, die Wasser trugen … Soldaten auf den Mauern … die Stallburschen davor …

Sie waren weg. Aus dem Muster gebrannt. Getötet. Tot für alle Ewigkeit. Der Schrecken des Ganzen ließ Min zurücktaumeln, und sie stemmte sich mit dem Rücken gegen einen Baum, um sich aufrecht zu halten.

So viele Leben, beendet in einem Augenblick. Tot. Vernichtet. Von Rand.

Von Nynaeve ging ein Licht aus, und Min sah, wie die Aes Sedai vom sanften Schein einer Lichtkugel über ihrer Hand beleuchtet wurde. In ihren Augen schien ein eigenes Feuer zu lodern. »Rand al’Thor, du bist völlig außer Kontrolle!«, verkündete sie.

»Ich tue, was getan werden muss«, sagte er und sprach nun aus den Schatten. Er klang erschöpft. »Überprüfe ihn, Nynaeve. «

»Was?«

»Den Narren«, sagte Rand. »Ist ihr Zwang noch da? Ist Graendals Berührung fort?«

»Ich hasse, was du gerade getan hast, Rand«, knurrte Nynaeve. »Nein. ›Hass‹ trifft es nicht annähernd. Ich verabscheue, was du getan hast. Was ist nur mir dir geschehen?«

»Überprüfe ihn!«, flüsterte Rand in gefährlichem Tonfall. »Lass uns erst feststellen, ob meine Sünden etwas anderes erreicht haben als meine eigene Verdammnis, bevor du mich verurteilst.«

Nynaeve atmete tief durch, dann musterte sie Ramshalan, der noch immer von mehreren Töchtern gehalten wurde. Sie berührte seine Stirn und konzentrierte sich. »Er ist weg«, sagte sie. »Ausgelöscht.«

»Dann ist sie tot«, sagte Rand aus der Dunkelheit.

Beim Licht!, dachte Min und begriff, was er getan hatte. Er hat Ramshalan nicht als Kurier oder als Lockvogel benutzt. Er hat den Mann dazu benutzt, um den Nachweis zu erbringen, dass Graendal tot ist. Baalsfeuer brannte einen vollständig aus dem Muster, sorgte dafür, dass die letzten Handlungen der betreffenden Person niemals erfolgt waren. Ramshalan würde sich daran erinnern, Graendal besucht zu haben, aber ihr Zwang existierte nicht mehr. In gewisser Weise war sie getötet worden, bevor Ramshalan sie besucht hatte.

Min berührte ihren Hals, wo die Schwellungen von Rands Hand noch nicht wieder verblasst waren.

»Ich verstehe nicht«, sagte Ramshalan. Seine Stimme war beinahe ein Quieken.

»Wie bekämpft man eine Widersacherin, die schlauer als man selbst ist?«, flüsterte Rand. »Die Antwort ist einfach. Man lässt sie glauben, dass man sich ihr gegenüber an den Tisch setzt und ihr Spiel spielen will. Dann schlägt man sie so hart ins Gesicht, wie man kann. Ihr habt mir gut gedient, Ramshalan. Ich vergebe Euch, dass Ihr vor Lord Vivian und Lord Callswell damit geprahlt habt, Ihr könntet mich nach Belieben manipulieren.«

Ramshalan zuckte entsetzt zusammen, und die Töchter ließen ihn auf die Knie fallen. »Mein Lord!«, stammelte er. »Ich hatte an dem Abend zu viel getrunken und …«

»Pst«, sagte Rand. »Wie schon gesagt habt Ihr mir heute gut gedient. Ich lasse Euch nicht hinrichten. Zwei Tagesmärsche weiter südlich werdet Ihr ein Dorf finden.«

Und damit drehte sich Rand um; Min kam es so vor, als wäre er nur ein Schatten, der durch den Wald huschte. Er ging zum Wegetor und trat hindurch. Min eilt ihm nach, und Nynaeve schloss sich ihr an. Die Töchter kamen zuletzt und ließen Ramshalan wie betäubt im Wald kniend zurück. Als die letzte Tochter das Tor hinter sich gelassen hatte, schloss sich das Portal und schnitt Ramshalans Wimmern in der Finsternis ab.

»Was du da getan hast, ist eine Abscheulichkeit, Rand al’Thor«, sagte Nynaeve, sobald das Tor geschlossen war. »In diesem Palast haben allem Anschein nach Dutzende, vielleicht Hunderte von Menschen gelebt!«

»Von denen jeder Einzelne von Graendals Zwang in einen Schwachsinnigen verwandelt worden war«, erwiderte Rand. »Sie ließ niemals jemanden in ihre Nähe, ohne vorher dessen Verstand zu zerstören. Der Junge, den sie als Arbeiter in diesen Kerker schickte, hat nur den Bruchteil der Qualen erlitten, den die meisten ihrer Schoßtiere erfahren. Sie raubt ihnen die Fähigkeit zu denken oder zu handeln - sie können nur noch auf die Knie fallen und sie anhimmeln, vielleicht auf ihren Befehl hin Besorgungen erledigen. Ich habe ihnen einen Gefallen getan.«

»Einen Gefallen?«, fragte Nynaeve. »Rand, du hast Baalsfeuer benutzt! Sie wurden aus der Existenz gebrannt!«

»Wie ich bereits sagte«, erwiderte Rand leise. »Ein Gefallen. Manchmal wünsche ich mir, denselben Segen erleben zu dürfen. Gute Nacht, Nynaeve. Schlaf so gut du kannst, denn unsere Zeit in Arad Doman hat ihr Ende gefunden.«

Min sah ihm hinterher, wollte ihm nachlaufen, hielt sich aber zurück. Sobald er den Raum verlassen hatte, ließ sich Nynaeve auf einen der weinroten Stühle sinken, seufzte und stützte den Kopf in die Hände.

Min wäre ihrem Beispiel am liebsten gefolgt. Bis zu diesem Augenblick war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie ausgelaugt sie sich fühlte. So erging es ihr in letzter Zeit oft in Rands Gegenwart, selbst wenn er nicht in so schreckliche Aktivitäten wie an diesem Abend verwickelt war.

»Ich wünschte, Moiraine wäre hier«, murmelte Nynaeve leise und erstarrte dann, als wäre sie überrascht, diese Worte gesagt zu haben.

»Wir müssen etwas tun, Nynaeve«, sagte Min.

Nynaeve nickte gedankenverloren. »Vielleicht.«

»Was soll das denn heißen?«

»Nun, und wenn er recht hat?«, fragte die Aes Sedai. »Auch wenn er ein wollköpfiger Narr ist, was ist, wenn er wirklich so sein muss, um zu siegen? Der alte Rand hätte niemals eine Festung voller Menschen vernichten können, um eine der Verlorenen zu töten.«

»Natürlich hätte er das nicht«, erwiderte Min. »Da hat er es sich mit dem Töten nicht so leicht gemacht! Nynaeve, diese vielen Leben …«

»Und wie viele Menschen würden heute noch leben, wäre er von Anfang an so skrupellos vorgegangen?« Nynaeve wandte den Blick ab. »Wenn er dazu fähig gewesen wäre, seine Anhänger wie Ramshalan heute in die Gefahr zu schicken? Wenn er dazu fähig gewesen wäre, einfach zuzuschlagen, ohne sich darum zu sorgen, wer dabei den Tod findet? Hätte er seine Truppen in Graendals Festung geschickt, hätten sich ihre Anhänger fanatisch gewehrt, und sie wären trotzdem gestorben. Und sie wäre entkommen.

Möglicherweise ist es das, was er sein muss. Min, die Letzte Schlacht steht so gut wie unmittelbar bevor. Die Letzte Schlacht! Können wir es wagen, einen Mann in den Kampf gegen den Dunklen König zu schicken, der nicht bereit ist, alles Nötige für das zu opfern, was getan werden muss?«

Min schüttelte den Kopf. »Können wir es wagen, ihn so zu schicken, wie er jetzt ist, mit diesem Ausdruck in seinen Augen? Nynaeve, er hat kein Mitgefühl mehr. Das Einzige, was ihn noch interessiert, ist der Sieg über den Dunklen König.«

»Aber ist es nicht genau das, was wir von ihm erwarten?«

»Ich …« Min hielt inne. »Der Sieg wird kein Sieg sein, wenn Rand genauso schlimm wie die Verlorenen wird … Wir …«

»Ich verstehe«, sagte Nynaeve plötzlich. »Soll mich das Licht verbrennen, aber das tue ich, und du hast recht. Mir gefallen nur die Antworten nicht, die mir diese Schlussfolgerungen geben.«

»Welche Schlussfolgerungen?«

Nynaeve seufzte. »Dass Cadsuane recht hatte.« Und beinahe unhörbar fügte sie hinzu: »Was für eine unerträgliche Frau.« Sie stand auf. »Komm mit. Wir müssen sie finden und herausbekommen, welche Pläne sie verfolgt.«

Min stand auf. »Bist du sicher, dass sie überhaupt Pläne hat? Vielleicht ist sie ja nur noch deshalb bei uns, um dabei zuzusehen, wie er ohne sie scheitert.«

»Sie hat Pläne. Wenn es eines gibt, worauf wir uns bei dieser Frau verlassen können, dann, dass sie Pläne schmiedet.

Wir müssen sie nur davon überzeugen, uns daran teilhaben zu lassen.«

»Und wenn sie das nicht tut?«

»Das wird sie«, sagte Nynaeve und schaute zu der Stelle, an der Rands Wegetor den Teppich zerschnitten hatte. »Das wird sie, sobald wir ihr von heute Abend erzählen. Diese Frau kann ich nicht ausstehen, und ich vermute, dass sie dieses Gefühl erwidert, aber keine von uns kann Rand allein bewältigen.« Sie schürzte die Lippen. »Ich mache mir Sorgen, dass wir ihn nicht einmal zusammen bewältigen. Komm schon.«

Min schloss sich ihr an. Rand »bewältigen«? Das war noch so ein Problem. Nynaeve und Cadsuane waren so damit beschäftigt, ihn zu bewältigen, dass sie einfach nicht begriffen, dass es möglicherweise viel besser sein würde, ihm zu helfen. Rand lag Nynaeve am Herzen, aber sie betrachtete ihn als ein Problem, das gelöst werden musste, und nicht als einen Mann in Not.

Und so begleitete Min die Aes Sedai aus dem Haus. Sie betraten den dunklen Hof - Nynaeve erschuf eine Lichtkugel - und eilten zur Rückseite, am Stall vorbei zum Haus des Torhüters. Unterwegs begegneten sie Alivia; die ehemalige Damane sah enttäuscht aus. Vermutlich hatten Cadsuane und die anderen sie wieder abgewiesen - Alivia verbrachte viel Zeit mit dem Versuch, die Aes Sedai dazu zu bewegen, ihr neue Gewebe beizubringen.

Schließlich erreichten sie das Haus des Torhüters. Das heißt, es war einmal das Haus des Torhüters gewesen, bis Cadsuane ihn dazu gebracht hatte auszuziehen. Es war ein einstöckiges, gelb angemaltes Holzgebäude mit Strohdach. Zwischen den Fensterläden drang Licht nach draußen.

Nynaeve klopfte an die stabile Eichentür; kurz darauf öffnete Merise. »Ja, Kind?«, fragte die Grüne, als wollte sie Nynaeve absichtlich provozieren.

»Ich muss mit Cadsuane sprechen«, knurrte Nynaeve.

»Cadsuane Sedai hat im Moment nichts mit Euch zu schaffen«, sagte Merise und machte Anstalten, die Tür wieder zu schließen. »Kommt morgen zurück, vielleicht hat sie ja dann Zeit für Euch.«

»Rand al’Thor hat soeben einen Palast voller Menschen mit Baalsfeuer aus der Existenz gebrannt«, sagte Nynaeve laut genug, damit es auch jeder im Haus hören konnte. »Ich war dabei.«

Merise erstarrte.

»Lasst sie rein«, ertönte Cadsuanes Stimme von drinnen. Zögernd öffnete Merise die Tür. Cadsuane saß auf ein paar Kissen auf dem Boden; Amys, Bair, Melaine und Sorilea waren ebenfalls anwesend. Das vordere Zimmer, das zugleich das Hauptzimmer war, war mit einem einfachen braunen Teppich ausgelegt, der größtenteils von den sitzenden Frauen verdeckt wurde. Hinten brannte ein Feuer in dem grauen Kamin, dessen Holz beinahe verbraucht war. In der Ecke stand ein Hocker, auf dem eine Kanne Tee abgestellt war.

Nynaeve schenkte den Weisen Frauen kaum einen Blick. Sie drängte sich ins Haus, und Min folgte ihr zögernd.

»Erzählt uns alles, Kind«, sagte Sorilea. »Wir konnten von hier aus spüren, wie sich die Welt verbog, aber wir wussten nicht, was da passiert war. Wir hielten es für das Werk des Dunklen Königs.«

»Ich erzähle es Euch«, sagte Nynaeve, holte dann aber tief Luft. »Aber ich will an Euren Plänen teilhaben.«

»Wir werden sehen«, meinte Cadsuane. »Schildert es uns.«

Min setzte sich auf einen Hocker auf der anderen Seite des Raumes, während Nynaeve in allen Einzelheiten von Natrins Hügel berichtete. Die Weisen Frauen hörten mit schmalen Lippen zu. Cadsuane nickte nur gelegentlich. Merise schenkte mit entsetztem Gesichtsausdruck Tee aus der Kanne auf dem Hocker nach - dem Duft nach zu urteilen war es schwarzer Tremaiking -, dann hängte sie sie wieder über das Feuer. Nynaeve kam zum Ende, noch immer stehend.

Oh, Rand, dachte Min. Das muss dich innerlich doch zerreißen. Aber sie konnte ihn durch den Bund fühlen; seine Gefühle erschienen sehr kalt.

»Es war sehr klug von Euch, damit zu uns zu kommen, Kind«, sagte Sorilea. »Ihr dürft Euch zurückziehen.«

Nynaeves Augen weiteten sich vor Wut. »Aber …«

»Sorilea«, sagte Cadsuane mit ruhiger Stimme und unterbrach Nynaeve. »Dieses Kind könnte uns nützlich sein. Sie steht dem Jungen noch immer nahe; er vertraute ihr genug, um sie heute Abend mitzunehmen.«

Sorilea sah die anderen Weisen Frauen an. Bair und Melaine nickten beide. Amys erschien nachdenklich, erhob aber keine Einwände.

»Vielleicht«, sagte Sorilea. »Aber kann sie gehorsam sein?«

»Nun?«, wandte sich Cadsuane an Nynaeve. Alle schienen Min zu ignorieren. »Könnt Ihr?«

Nynaeves Augen waren noch immer vor Wut weit aufgerissen. Beim Licht, dachte Min. Nynaeve? Sie soll Cadsuane und den anderen gehorchen? Gleich wird sie explodieren!

Nynaeve zog an ihrem Zopf; sie griff so fest zu, dass sich ihre Knöchel weiß verfärbten. »Ja, Cadsuane Sedai«, sagte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Das kann ich.«

Die Weisen Frauen schienen überrascht, sie diese Worte sagen zu hören, aber Cadsuane nickte bloß, als hätte sie diese Erwiderung erwartet. Wer hätte damit gerechnet, dass Nynaeve so … nun, vernünftig sein konnte?

»Setzt Euch, Kind«, sagte Cadsuane und machte eine einladende Geste. »Wollen wir doch einmal sehen, ob Ihr tatsächlich Befehle befolgen könnt. Ihr könntet die Einzige aus der derzeitigen Ernte sein, aus der sich vielleicht noch etwas machen lässt.« Das ließ Merise erröten.

»Nein, Cadsuane«, meinte Amys. »Nicht die Einzige. Egwene hat viel Ehre.«

Die anderen Weisen Frauen nickten.

»Wie sieht der Plan aus?«, fragte Nynaeve.

»Eure Aufgabe sieht Folgendes vor …«, fing Cadsuane an.

»Wartet«, sagte Nynaeve. »Meine Aufgabe? Ich will alles hören.«

»Ihr werdet alles hören, wenn wir bereit sind, es Euch zu sagen«, sagte Cadsuane knapp. »Und lasst mich meine Entscheidung nicht bereuen, mich für Euch einzusetzen.«

Nynaeve presste mühsam und mit loderndem Blick die Lippen aufeinander. Aber sie fauchte sie nicht an.

»Eure Aufgabe besteht darin«, fuhr Cadsuane fort, »Perrin Aybara zu finden.«

»Was soll das bringen?«, fragte Nynaeve und fügte dann hinzu: »Cadsuane Sedai.«

»Das ist unsere Sache«, erwiderte Cadsuane. »Er war noch vor kurzem im Süden unterwegs, aber wir können nicht genau entdecken, wo. Der junge al’Thor weiß vielleicht, wo er steckt. Findet es für uns heraus, und vielleicht erkläre ich Euch den Grund.«

Nynaeve nickte zögernd, und die anderen wandten sich der Diskussion zu, wie viel Baalsfeuer das Muster vertragen konnte, bevor es sich völlig auflöste. Nynaeve hörte schweigend zu und versuchte offensichtlich, mehr über Cadsuanes Plan herauszufinden, obwohl es nicht viele Anhaltspunkte gab.

Min hörte nur mit halbem Ohr zu. Wie auch immer dieser Plan aussah, jemand würde auf Rand aufpassen müssen. Seine heutige Tat würde ihn innerlich zerstören, auch wenn er das Gegenteil behauptete. Es gab genügend andere, die sich darüber sorgten, was er in der Letzten Schlacht tun würde. Es war ihre Aufgabe, ihn lebendig und bei geistiger Gesundheit, mit intakter Seele, zu dieser Letzten Schlacht zu bringen.

Irgendwie.

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