46 Um neu geschmiedet zu werden

Nach dem triumphalen Einzug in Tar Valon erschien der Rest des Tages Egwene beinahe wie ein Traum. Sie eilte zur Weißen Burg, und Siuan und Gawyn konnten kaum mit ihr Schritt halten. An der Burg wurde Egwene bereits von einer Gruppe Diener erwartet; die Sitzenden selbst erwarteten sie im Saal.

Die Diener führten sie in einen schmucklosen holzgetäfelten Raum mit zwei mit Leder bezogenen Stühlen. Egwene war noch nie zuvor dort gewesen; anscheinend war es eine Art Wartezimmer in Nähe des Saals. In der Ecke brannte ein kleines Kohlenbecken, und es roch nach Leder.

Kurz darauf trat eine kleine, krötenähnliche Schwester der Braunen namens Lairain ein und instruierte Egwene über die folgende Zeremonie. Die kleine Frau schien die Bedeutung des Augenblicks nicht im Mindesten zu interessieren, und Egwene war ihr noch nie zuvor begegnet. Vermutlich war sie eine der Braunen, die ihr Leben hinter den Regalen der Bibliothek verbrachten und nur einmal jedes Jahrhundert oder so erschienen, um den angehenden Amyrlin Instruktionen vorzuleiern. Egwene hörte sorgfältig zu; sie hatte die Zeremonie schon einmal durchgeführt, aber sie war ziemlich kompliziert.

Sie konnte sich noch immer genau daran erinnern, wie nervös sie an jenem Tag vor vielen Monaten gewesen war, als man sie in Salidar erhoben hatte. Damals war sie noch immer völlig verwirrt über das gewesen, was da mit ihr geschah. Sie? Die Amyrlin?

Dieses Zögern gab es nicht mehr. Im Grunde machte sie sich auch keine Sorgen mehr, bei der Zeremonie Fehler zu machen. Es war nur eine Zeremonie, und die wichtigen Entscheidungen waren bereits getroffen worden. Während sie also Lairain zuhörte, konnte sie Siuan sich vor der Tür mit einer Schwester streiten hören; sie behauptete, dass man Egwene bereits erhoben hatte und die Zeremonie darum überflüssig war. Egwene unterbrach Lairain mit einer Handbewegung und rief Siuan herein.

Siuan streckte den Kopf durch den Türspalt.

»Siuan, ich wurde von den Rebellen erhoben«, sagte Egwene streng. »Diese Frauen verdienen die Gelegenheit, sich ebenfalls für mich zu entscheiden. Ansonsten werde ich nie ihre Loyalität beanspruchen können. Die Zeremonie muss erneut erfolgen.«

Siuan schaute finster drein, nickte aber. »Also gut.«

Lairain öffnete den Mund, um mit ihren Anweisungen fortzufahren, aber Egwene brachte sie mit einer weiteren Handbewegung zum Schweigen, was ihr einen beleidigten Blick einbrachte. »Welche Neuigkeiten habt Ihr, Siuan?«

Siuan öffnete die Tür ein Stück weiter. »Nun. Bryne hat den größten Teil seiner Männer über die Brücken geschafft und die Burgwache von ihren Positionen an den Befestigungen abgelöst, dann hat er sie unterstützt von ein paar Abteilungen seiner Männer losgeschickt, um dabei zu helfen, weitere aufflammende Brände in der Stadt zu löschen. Bei ihrer Flucht haben die Seanchaner einige Häuser in Brand gesteckt, um Verwirrung zu stiften.«

Das erklärte die mangelnden Truppen an der Barrikade - das und das Wissen, dass der Saal fleißig mit der Debatte beschäftigt gewesen war, ob sie Egwene nun erheben sollten oder nicht. Vermutlich war ihnen gar nicht bewusst, wie kurz sie vor einem Krieg gestanden hatten.

»Was wollt Ihr mit den Schwestern aus Eurem Lager machen?«, wollte Siuan wissen. »Sie fangen an, Fragen zu stellen.«

»Befehlt ihnen, sich vor dem Sonnenuntergangstor aufzustellen«, sagte Egwene. »Sie sollen sich nach ihrer Ajah formieren, die Sitzenden in der ersten Reihe. Sobald ich mit der Zeremonie fertig bin, werde ich sie begrüßen und formell ihre Entschuldigung für ihre Rebellion entgegennehmen und sie wieder in der Weißen Burg willkommen heißen.«

»Ihre Entschuldigung entgegennehmen?«, wiederholte Siuan ungläubig.

»Sie haben gegen die Weiße Burg rebelliert, Siuan«, sagte Egwene geduldig. »Welche Gründe sie dafür auch immer hatten, es gibt Grund, sich zu entschuldigen.«

»Aber Ihr wart eine von ihnen!«

»Ich repräsentiere nicht mehr nur sie allein«, sagte Egwene entschieden. »Ich repräsentiere die Weiße Burg. Und die Burg muss wissen, dass die Rebellen die Spaltung bedauern. Sie müssen nicht behaupten, sie wünschten, sie wären geblieben, aber ich halte es durchaus für angebracht, dass sie ihr Bedauern über die Härten zum Ausdruck bringen, die die Spaltung verursacht hat. Ich werde sie von jeder Schuld freisprechen, und wir können mit der Versöhnung beginnen.«

»Ja, Mutter«, sagte Siuan resigniert. Hinter ihr erblickte Egwene Tesan, und die Tarabonerin nickte, als sie die Worte hörte.

Egwene ließ Lairain mit ihren Instruktionen fortfahren, dann wiederholte sie die Worte, die sie zu sagen hatte, und die Gesten, die sie zu vollziehen hatte. Als die Braune fertig war, stand Egwene auf, öffnete die Tür und entdeckte, dass Siuan gegangen war, um ihre Befehle weiterzugeben. Tesan stand mit verschränkten Armen im Korridor und betrachtete Gawyn. Er lehnte ein Stück entfernt an der Wand, die Hand auf dem Schwertknauf ruhend.

»Euer Behüter?«, fragte Tesan.

Egwene sah Gawyn an und wurde gezwungen, sich mit einem verwirrenden Bündel an Gefühlen auseinanderzusetzen. Wut, Zuneigung, Leidenschaft und Bedauern. Welch seltsame Mischung. »Nein«, antwortete sie. Sie starrte Gawyn in die Augen. »Was ich jetzt tue, daran könnt Ihr nicht teilnehmen, Gawyn. Wartet hier.«

Er wollte protestieren, überlegte es sich anders, richtete sich steif auf und verneigte sich. Die Geste wirkte noch anmaßender, als es ein Streit vermocht hätte.

Egwene schnaubte leise - aber laut genug, dass er es hören konnte -, dann ließ sie sich von Tesan in den Saal der Burg führen. Der Saal: ein Ort und eine Gruppe von Frauen. Denn er war beides, so wie der Amyrlin-Sitz eine Person und der Sitz waren, auf dem sie Platz nahm.

Vor der dunklen Holztür zum Saal mit der silbernen Flamme von Tar Valon blieb Egwene mit rebellisch pochendem Herzen stehen. Plötzlich tauchte Siuan mit einem Paar Hausschuhen auf und zeigte auf Egwenes Reitstiefel. Natürlich: der Saalboden war kostbar bemalt. Sie zog die Schuhe an; Siuan nahm die Stiefel. Es gab keinen Grund zur Nervosität! Hier war ich doch schon einmal, dachte sie plötzlich. Nicht nur in Salidar. Bei meiner Prüfung zur Auf genommenen. Ich stand vor dieser Tür, konfrontierte die Frauen dahinter. In meiner Prüfung …

Plötzlich ertönte ein Gong; er erschien laut genug, um die ganze Burg zu erschüttern, donnerte, um alle zu warnen, dass gleich eine Amyrlin erhoben werden würde. Der Gong ertönte erneut, dann noch einmal, die verzierten Türflügel schwangen zurück. Ja, diese Erfahrung unterschied sich völlig von der in dem bescheidenden Holzhaus, in dem sie die Aes Sedai von Salidar erhoben hatten. In vielerlei Hinsicht war ihre Darbietung in Salidar nur eine Probe gewesen.

Die Türflügel verharrten, und Egwene unterdrückte ein Keuchen. Der prächtige Raum mit der Kuppeldecke wies jetzt direkt gegenüber dem Eingang ein hineingesprengtes Loch auf - eine klaffende Lücke. Sie schaute auf den Drachenberg hinaus. Das Gemach war beim Angriff der Seanchaner nicht so schlimm beschädigt worden wie andere; der Schutt war minimal, die Zerstörung reichte kaum über die Außenwand hinaus. Die erhöhte Plattform führte noch immer an der Wand entlang, und die darauf stehenden Stühle waren unbeschädigt. Insgesamt achtzehn, zu Dreiergruppen zusammengestellt, ein jeder lackiert und gepolstert, um die Ajah seiner Benutzerin zu verkünden.

Der Amyrlin-Sitz stand direkt dem Eingang gegenüber, vor dem zerstörten Mauerwerk, die Rückenlehne der weitläufigen Landschaft und dem fernen Drachenberg zugewandt. Wäre der seanchanische Blitz nur ein paar Fuß weiter eingeschlagen, wäre der Sitz zerstört worden. Er war unbeschädigt, wofür man dem Licht danken musste.

Egwene konnte einen Hauch von Farbe riechen. Hatten sie den Sitz in aller Eile umlackiert, damit er wieder alle sieben Farben zeigte? Wenn dem so war, dann hatten sie schnell gearbeitet. Allerdings hatten sie nicht genug Zeit gehabt, um die Sitze der Blauen zu ersetzen.

Egwene sah, dass Saerin, Doesine und Yukiri bei ihren Ajahs saßen. Seaine war auch da und betrachtete Egwene mit ihren so berechnend blickenden blauen Augen. Wie viel Macht hatten diese vier Frauen über die ganzen Geschehnisse gehabt? Die rundgesichtige Suana von den Gelben lächelte ungeniert zufrieden, als sie Egwene betrachtete, und auch wenn die meisten Gesichter den abgeklärten, gefühllosen Ausdruck der Aes Sedai zeigten, spürte Egwene Zustimmung in ihrer Haltung. Oder zumindest fehlende Feindseligkeit. Hinter dieser Entscheidung hatten mehr als nur die vier Jägerinnen der Schwarzen Ajah gestanden.

Saerin stand von ihrem Stuhl im Abschnitt der Braunen auf. »Wer tritt vor den Saal der Burg?«, fragte sie mit weit tragender Stimme.

Egwene zögerte, weil sie noch immer die Sitzenden betrachtete. Ihre Plätze waren in gleichmäßigen Abständen auf der umlaufenden Plattform gruppiert. Zu viele Stühle waren unbesetzt. Es gab nur zwei Grüne Sitzende; Talene war vor Wochen geflohen. Bei den Grauen fehlte Evanellein, die früher am Tag verschwunden war. Velina und Sedore waren ebenfalls weg. Das war nicht gut; beide standen auf Verins Liste von Schwarzen Ajah. Waren sie gewarnt worden? Bedeutete Evanelleins Verschwinden, dass Verin sie übersehen hatte?

Von den Roten Schwestern war ebenfalls keine anwesend. Egwene erinnerte sich unvermittelt, dass Duhara die Burg vor Wochen verlassen hatte - niemand kannte den Grund, aber einige hatten behauptet, Elaida hätte sie auf eine Mission geschickt. Vielleicht erledigte sie Geschäfte der Schwarzen Ajah. Die anderen beiden roten Sitzenden, Javindhra und Pevara, waren auf geheimnisvolle Weise verschwunden.

Damit blieben elf Sitzende übrig. Den alten Burggesetzen zufolge nicht genug, um eine Amyrlin zu erheben - aber die hatte Elaidas Auflösung der Blauen Ajah geändert. Weniger Sitzende bedeutete auch, dass weniger Frauen benötigt wurden, um eine Amyrlin zu erheben, und jetzt waren nur noch elf von ihnen erforderlich. Es würde eben reichen müssen. Wenigstens war jede zurzeit in der Burg anwesende Sitzende über das Ereignis informiert worden; es geschah nicht geheim wie damals Elaidas Erhebung. Und Egwene konnte sich einigermaßen sicher sein, dass keine Schwarze Sitzende für sie aufstehen würde.

Saerin räusperte sich, sah Egwene unsicher an und rief erneut: »Wer tritt vor den Saal der Burg?«

Tesan beugte sich vor, als wollte sie Egwene die richtige Erwiderung zuzischen. Aber Egwene hinderte sie, indem sie die Hand hob.

Da gab es etwas, das Egwene in Betracht gezogen hatte, etwas Dreistes. Aber es war angebracht. Das wusste sie. Sie konnte es fühlen. »Die Rote Ajah ist in Ungnade?«, fragte sie Tesan leise.

Die Weiße nickte; ihre vielen Zöpfe strichen über ihre Wange. »Um die Roten braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen«, sagte sie mit ihrem hellen tarabonischen Akzent. »Nach Elaidas Verschwinden haben sie sich in ihr Quartier zurückgezogen. Die Sitzenden hier hatten Sorge, dass die Roten schnell neue Sitzende wählen und sie herschicken würden. Ich glaube, ein paar … kurze und bündige Botschaften vom Saal der Burg reichten aus, um sie einzuschüchtern.«

»Und Silviana Brehon? Ist sie noch immer eingekerkert?«

»Soweit ich weiß ja, Mutter«, sagte Tesan, vergaß sich kurz und benutzte den Titel, obwohl Egwene noch nicht formell vom Saal erhoben worden war. »Sorgt Euch nicht. Leane wurde freigelassen. Wir haben sie nach draußen zu den anderen Rebellen gebracht, die Eure Vergebung erwarten.«

Egwene nickte nachdenklich. »Lasst Silviana sofort herbringen, in den Saal den Burg.«

Tesan runzelte die Stirn. »Mutter, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist…«

»Tut es einfach«, zischte Egwene, dann wandte sie sich dem Saal zu. »Jemand, der ergeben im Licht wandelt«, verkündete sie mit fester Stimme.

Saerin entspannte sich. »Wer tritt vor den Saal der Burg?«

»Jemand, der bescheiden im Licht wandelt«, erwiderte Egwene. Sie starrte jede Sitzende nacheinander an. Eine feste Hand. Sie würde streng sein müssen. Sie brauchten Führung.

»Wer tritt vor den Saal der Burg?«, kam Saerin zum Ende.

»Jemand, der auf den Ruf des Saals hin kommt«, sagte Egwene, »ergeben und bescheiden im Licht wandelt und nur darum bittet, den Willen des Saals annehmen zu dürfen.«

Die Zeremonie ging weiter, jede Sitzende entblößte sich bis zur Taille, um zu beweisen, dass sie eine Frau war. Egwene tat das Gleiche und errötete kaum bei dem Gedanken an Gawyn, der offensichtlich geglaubt hatte, sie würde ihn zu der Zeremonie mitnehmen.

»Wer erhebt sich für diese Frau?«, fragte Saerin, nachdem sich die Sitzenden wieder angekleidet hatten. Egwene musste bis zur Taille nackt bleiben, und die Brise, die durch die zerstörte Wand eindrang, fühlte sich kühl auf ihrer Haut an. »Und verpflichtet sich ihr, Herz für Herz, Seele für Seele, Leben für Leben?«

Yukiri, Seaine und Suana standen schnell auf. »Ich verpflichte mich ihr«, verkündete jede von ihnen.

Beim ersten Mal war Egwene bei dieser Zeremonie entsetzt gewesen. Bei jedem Schritt hatte sie befürchtet, einen Fehler zu machen. Schlimmer noch, sie hatte befürchtet, dass sich alles als Fehler oder List herausstellte.

Die Furcht war verschwunden. Als die rituellen Fragen gestellt wurden - als Egwene drei Schritte vortrat und auf dem glatten Boden niederkniete, der aufgrund Elaidas Befehl nur mit sechs Farben neu gestrichen worden war, die alle der Flamme von Tar Valon entsprangen -, durchschaute sie den Pomp und betrachtete den Kern des Geschehens. Diese Frauen wurden von schrecklicher Angst beherrscht. So wie damals die Frauen in Salidar. Der Amyrlin-Sitz war eine Macht der Stabilität, und sie griffen danach.

Warum hatte man gerade Egwene gewählt? Anscheinend beide Male aus dem gleichen Grund. Weil sie die Einzige war, auf die sich alle hatten verständigen können. Da waren lächelnde Gesichter in der Gruppe. Aber es war das Lächeln von Frauen, die es geschafft hatten, Rivalinnen vom Sitz fernzuhalten. Entweder das oder das Lächeln von Frauen, die erleichtert waren, dass irgendjemand vortrat und die Führung übernahm. Und vielleicht lächelten einige auch, weil sie sich nicht auf den Sitz setzen mussten. In jüngerer Vergangenheit war er voller Gefahren, Zwietracht und zwei dramatischen Tragödien gewesen.

Damals in Salidar hatte Egwene die Frauen für Närrinnen gehalten. Jetzt war sie erfahrener und hoffentlich auch weiser. Ihr war bewusst, dass sie keine Närrinnen gewesen waren. Sie waren Aes Sedai - die ihre Furcht durch übertriebene Vorsicht zu verbergen versucht hatten. Und zugleich durch Unverschämtheit. Die jemanden auserwählt hatten, bei dem es ihnen egal war, ihn scheitern zu sehen. Die ein Risiko eingegangen waren, sich selbst dabei aber nicht in direkte Gefahr gebracht hatten.

Diese Frauen hier taten das Gleiche. Sie versteckten ihre Furcht hinter glatten Gesichtern und beherrschten Gesten. Als für die Sitzenden der Augenblick kam, sich für Egwenes Unterstützung zu erheben, war sie nicht überrascht, dass alle elf aufstanden. Nicht eine einzige Stimme, die sich gegen sie aussprach. Bei dieser Zeremonie würden keine Füße gewaschen werden.

Nein, sie war nicht überrascht. Die Frauen wussten, dass es keine andere Möglichkeit gab, nicht mit einem Heer auf ihrer Schwelle, nicht, wo Elaida so gut wie tot war. Aes Sedai taten immer so, als hätte es niemals Streit gegeben, das war eben ihre Art. Es musste Einigkeit erzielt werden.

Saerin erschien überrascht, dass niemand sitzen geblieben war, wenn auch nur um zu beweisen, dass man sie nicht unter Druck setzen konnte. Tatsächlich schien mehr als eine der Sitzenden davon überrascht zu sein, und Egwene hätte sich keineswegs gewundert, wenn sie ihre Entscheidung so schnell aufzustehen nun bereuten. Als einzige Person sitzen zu bleiben konnte einem eine gewisse Macht verschaffen, denn es hätte Egwene gezwungen, ihr die Füße zu waschen und um die Erlaubnis zu bitten, ihr dienen zu dürfen. Natürlich hätte das die Frau auch in den Mittelpunkt gerückt und ihr die Abneigung der neuen Amyrlin eingebracht.

Langsam nahmen die Frauen wieder ihre Plätze ein. Egwene brauchte keine Anleitung, und man bot ihr auch keine an. Sie stand auf und ging durch den Saal, ihre Füße glitten lautlos über den Stein mit der aufgemalten Flamme. Eine Windböe fuhr durch den Raum, zupfte an Stolen und strich über Egwenes nackte Haut. Es sagte etwas über die Stärke dieses Saals, dass sie sich entschieden hatten, trotz des schwindelerregenden Ausblicks in der gegenüberliegenden Wand hier zusammenzutreten.

Saerin traf vor dem Sitz mit Egwene zusammen. Die Altaranerin fing an, Egwenes Oberteil vorsichtig zuzuknöpfen, dann hob sie ehrfürchtig die Stola der Amyrlin vom Sitz. Es handelte sich um die mit den sieben Farben, die man von dort hervorgeholt hatte, wo auch immer Elaida sie hingeworfen hatte. Saerin musterte Egwene einen Moment lang und wog die Stola in den Händen, als wollte sie ihren Wert ermessen.

»Seid Ihr sicher, dass Ihr diese Last tragen wollt, Kind?«, fragte sie kaum hörbar. Das gehörte nicht zu der Zeremonie.

»Ich trage sie bereits, Saerin.« Egwenes Erwiderung war beinahe ein Flüstern. »Elaida warf sie weg, als sie versuchte, sie auseinanderzuschneiden und nach Belieben zu teilen. Ich hob sie auf und trug sie seitdem. Ich würde sie bis in den Tod tragen. Und das werde ich auch tun.«

Saerin nickte. »Ich glaube, darum verdient Ihr sie auch«, sagte sie. »Ich bezweifle, dass auch nur etwas in der Geschichte sich mit den kommenden Tagen vergleichen lässt. Die Gelehrten der Zukunft werden auf unsere Tage zurückblicken und sie schwieriger, erschöpfender für Geist, Körper und Seele einschätzen als die Zeit des Wahnsinns oder der Zerstörung der Welt selbst.«

»Dann ist es gut, dass die Welt uns hat, nicht wahr?«, fragte Egwene.

Saerin zögerte, nickte dann aber. »Vermutlich ja.« Sie hob die Stola und legte sie Egwene auf die Schultern. »Ihr werdet im Glanz des Lichts zum Amyrlin-Sitz erhoben!«, verkündete sie, und die anderen Sitzenden stimmten ein, »auf dass die Weiße Burg ewig bestehen möge. Egwene al’Vere, die Hüterin der Siegel, die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz!«

Egwene drehte sich um und sah die Frauen an, dann setzte sie sich. Und es kam ihr so vor, als kehrte sie nach einer sehr langen Reise nach Hause zurück. Die Welt duckte sich unter der Hand des Dunklen Königs, aber in dem Moment, in dem sie auf diesem Sitz Platz nahm, fühlte sie sich etwas besser an, ein kleines bisschen sicherer.

Die Frauen stellten sich in der Reihenfolge ihres Alters vor Egwene auf, Saerin ganz am Ende. Eine nach der anderen machte einen tiefen Knicks, erbat ihre Erlaubnis zu dienen, küsste ihren Großen Schlangenring und trat dann zur Seite. Während dies geschah, bemerkte Egwene, dass Tesan endlich zurückgekehrt war. Sie warf einen verstohlenen Blick in den Raum, um sich zu vergewissern, dass jeder bekleidet war, dann führte sie einen Augenblick später vier Wächter mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust in den Raum. Egwene unterdrückte ein Seufzen. Anscheinend brachte man Silviana in Ketten.

Nachdem sie Egwenes Ring geküsst hatten, kehrten die Sitzenden auf ihre Plätze zurück. Die Zeremonie war noch nicht ganz beendet, aber der wichtigste Teil war erledigt. Egwene war endlich und endgültig die Amyrlin. Auf diesen Augenblick hatte sie so lange gewartet.

Jetzt war die Zeit für ein paar Überraschungen gekommen.

»Nehmt der Gefangenen die Ketten ab«, befahl Egwene.

Zögernd gehorchten die Soldaten außerhalb des Raumes; Eisen klirrte. Die Sitzenden sahen sich verwirrt an.

»Silviana Brehon!«, rief Egwene und stand auf. »Ihr dürft vor den Amyrlin-Sitz treten.«

Die Soldaten traten zur Seite und gestatteten Silviana den Zutritt. Ihr rotes Gewand war einst sehr kostbar gewesen, aber man hatte sie während der von Elaida angeordneten Gefangenschaft nicht gut behandelt. Das schwarze Haar, das sie normalerweise als Knoten trug, war nur flüchtig geflochten. Das Kleid war zerknittert und schmutzig an den Knien. Und doch war ihr kantiges Gesicht ruhig und gelassen.

Überraschenderweise kniete sie vor Egwene nieder, nachdem sie den Raum durchquert hatte. Egwene senkte die Hand und ließ sich von der Frau den Ring küssen.

Die Sitzenden sahen verwirrt zu, denn Egwene hatte die Zeremonie unterbrochen. »Mutter«, fragte Yukiri schließlich. »Ist das der beste Zeitpunkt, um ein Urteil zu fällen?«

Egwene zog die Hand von der knienden Silviana zurück und sah Yukiri direkt an, dann richtete sie den Blick auf die anderen Sitzenden. »Ihr alle habt große Schande auf Euch geladen«, verkündete sie.

Aes Sedai mit starren Gesichtern hoben die Brauen. Sie erschienen wütend. Aber dazu hatten sie kein Recht! Ihre Wut war nichts verglichen mit der, die Egwene verspürte.

» Das da!«, sagte Egwene und zeigte auf die zerstörte Wand. »Dafür tragt Ihr die Verantwortung.« Sie zeigte auf die noch immer kniende Silviana. »Dafür tragt ihr die Verantwortung. Ihr tragt dafür die Verantwortung, wie sich unsere Schwestern in den Korridoren begegnen, und Ihr tragt die Verantwortung dafür, dass Ihr die Spaltung der Burg solange untätig zugelassen habt. Viele von Euch tragen die Verantwortung dafür, dass es überhaupt erst zu der Spaltung gekommen ist!

Ihr seid eine Schande. Die Weiße Burg - seit dem Zeitalter der Legenden der Stolz des Lichts und die Macht für Stabilität und Wahrheit - ist Euretwegen beinahe vernichtet worden.«

Augen quollen hervor, ein paar der Frauen rangen nach Luft. »Elaida …«, fing eine an.

»Elaida war verrückt, und Ihr alle habt das gewusst!«, sagte Egwene streng. Sie stand hoch aufgerichtet da und starrte alle nieder. »Das habt Ihr diese ganzen letzten Monate gewusst, als sie unabsichtlich daran arbeitete, uns zu vernichten. Beim Licht, viele von Euch haben das vermutlich sogar gewusst, als Ihr sie erhoben habt!

Es hat schon zuvor närrische Amyrlin gegeben, aber keine hätte es beinahe geschafft, die ganze Burg niederzureißen! Ihr kontrolliert die Amyrlin. Ihr sollt sie davon abhalten, solche Dinge zu tun! Ihr habt ihr erlaubt, eine ganze Ajah aufzulösen? Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht? Wie konntet Ihr nur zulassen, dass die Burg so tief sinkt? Und ausgerechnet auch noch dann, wo der Wiedergeborene Drache auf der Welt wandelt!

Ihr hättet Elaida in dem Augenblick absetzen müssen, in dem Ihr von ihrem katastrophalen Versuch erfuhrt, Rand al’Thor gefangen zu nehmen. Ihr hättet sie absetzen müssen, als Ihr saht, wie ihr kleinlicher Zank die Ajahs aufeinander hetzte. Und erst recht hättet Ihr sie absetzen müssen, als sie sich weigerte, das Nötige zu tun, um die Burg wieder zu vereinen!«

Egwene betrachtete die Reihen der Schwestern, starrte eine nach der anderen an, erwiderte jeden Blick, bis ihr Gegenüber ihn senkte. Keine der Frauen wagte es, ihren Blick lange zu erwidern. Schließlich sah sie Scham hinter ihren maskenhaften Zügen durchschimmern. Wie es sich wohl auch gehörte!

»Keine von Euch wollte sich ihr widersetzen«, stieß Egwene hervor. »Ihr wagt es, Euch als Saal der Burg zu bezeichnen? Ihr, die man eingeschüchtert hat? Ihr, die viel zu viel Angst hattet, um das Nötige zu tun? Ihr, die viel zu sehr mit Euren Streitereien und politischen Spielchen beschäftigt wart, um zu erkennen, was wirklich nötig gewesen wäre?«

Egwene schaute auf Silviana hinunter. »Nur eine Frau in diesem Raum war bereit, für das einzutreten, von dem sie wusste, dass es richtig ist. Nur eine Frau hat es gewagt, sich Elaida entgegenzustellen, und sie hat den Preis dafür bezahlt. Und Ihr glaubt, ich hätte diese Frau herbringen lassen, um mich an ihr zu rächen? Seid Ihr wirklich so blind, dass Ihr glaubt, ich würde die einzige Person in der ganzen Burg bestrafen, die in den vergangenen Monaten so etwas wie Anstand gezeigt hat?«

Jetzt schauten alle zu Boden. Selbst Saerin wollte ihren Blick nicht erwidern.

Silviana schaute zu ihr hoch.

»Ihr habt Eure Pflicht getan, Silviana«, sagte Egwene. »Und Ihr habt sie gut getan. Erhebt Euch.«

Die Frau stand auf. Ihre Augen waren von mangelndem Schlaf gerötet, sie sah abgezehrt aus, und Egwene vermutete, dass ihr das Stehen große Mühe bereitete. Hatte jemand beim Chaos der letzten Tage überhaupt daran gedacht, ihr etwas zu essen oder Wasser zu bringen?

»Silviana«, sagte Egwene, »eine neue Amyrlin ist erhoben worden. Und ich schäme mich zuzugeben, dass es durch ähnliche Machenschaften geschah wie bei Elaidas Erhebung. Von den sieben Ajahs waren nur fünf anwesend. Von den Blauen weiß ich, dass sie mich unterstützen würden, wären sie hier. Aber die Roten haben nicht einmal die Gelegenheit erhalten, ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung kundzutun.«

»Dafür gibt es gute Gründe, Mutter«, sagte Silviana.

»Das mag schon sein«, erwiderte Egwene, »aber es ist beinahe eine Garantie, dass meine Amtszeit von Spannungen zwischen mir und den Roten erfüllt sein wird. Sie werden Feindseligkeit sehen, wo keine besteht, und ich werde die Kraft Hunderter Frauen verlieren. Frauen, die dringend benötigt werden.«

»Ich … ich wüsste nicht, wie man das verhindern sollte, Mutter«, sagte Silviana ehrlich.

»Ich schon«, sagte Egwene. »Silviana Brehon, ich möchte Euch zu meiner Behüterin der Chroniken machen. Keiner soll mir nachsagen, dass ich die Roten zurückgewiesen habe.«

Silviana blinzelte überrascht. Ein paar der Sitzenden keuchten auf, auch wenn Egwene nicht erkennen konnte, wer es war.

Sie sah Silviana tief in die Augen. Noch vor kurzer Zeit hatte diese Frau sie quer über den Tisch gelegt und sie aufgrund Elaidas Befehl geschlagen. Aber jetzt kniete Silviana vor ihr; das hatte sie gemacht, ohne dass man es ihr befohlen hatte. Sie hatte die Autorität des Saals, Egwene zu erheben, akzeptiert. Akzeptierte sie auch Egwene selbst?

Das Angebot würde sie auf einen schwierigen und gefährlichen Weg führen. Die Roten konnten es durchaus als Verrat betrachten. Wie würde sich Silviana entscheiden? Egwene segnete den Trick, der sie am Schwitzen hinderte, denn ihr war klar, dass ihr sonst die Schweißtropfen die Schläfen herabgelaufen wären.

»Es wäre mir eine Ehre, Mutter«, sagte Silviana und kniete abermals nieder. » Eine wirkliche Ehre.«

Egwene stieß die Luft aus. Die Aufgabe, die von Gräben getrennten Ajahs wieder zu vereinen, würde sehr schwierig sein - aber wenn die Roten sie als Feind betrachteten, würde es so gut wie unmöglich sein. Mit Silviana auf ihrer Seite hätte sie eine Botschafterin, die die Roten nicht ablehnen würden. Hoffentlich.

»Das wird eine schwierige Zeit für die Rote Ajah, Tochter«, sagte Egwene. »Es lag stets in ihrer Natur, die Männer gefangen zu nehmen, die die Macht lenken können, aber Berichten zufolge ist Saidin gereinigt worden.«

»Es wird immer verbrecherische Machtlenker geben, Mutter«, sagte Silviana. »Und man kann Männern nicht vertrauen.«

Eines Tages müssen wir über diese letzte Einstellung hinauswachsen, dachte Egwene. Aber im Augenblick enthält sie genug Wahrheit, um sie so stehen zu lassen. »Ich habe nicht gesagt, dass Euer Daseinszweck verschwindet, nur dass er sich verändern wird. Ich sehe in der Zukunft große Dinge für die Rote Ajah - eine umfassendere Vision, eine Erneuerung der Pflicht. Es freut mich, Euch an meiner Seite zu haben, um dabei zu helfen, sie leiten zu können.«

Egwene wandte sich wieder an die anderen Sitzenden, die in staunendem Schweigen zusahen. »Ich würde Euch allen Befehlen, Buße zu tun«, fuhr sie fort, »aber ich weiß, dass zumindest einige von Euch hinter den Kulissen versucht haben, den Sturz der Weißen Burg zu verhindern. Ihr habt nicht genug getan, aber Ihr habt etwas getan. Davon abgesehen bin ich der Meinung, dass die Bußen, die wir uns sooft abverlangen, lächerlich sind. Was bedeutet einer Aes Sedai schon körperlicher Schmerz?«

Egwene holte tief Luft. »Und ich selbst bin auch nicht ohne Schuld. Ich teile etwas von Eurer Schande, denn diese Katastrophen geschahen während meiner Amtszeit. Ich schlug mich auf die Seite der Rebellen und ließ zu, dass sie mich erhoben, weil das die einzige Möglichkeit war. Aber diese Entscheidung macht mich zur Mitschuldigen.

Tragt Eure Schande, Sitzende, aber tragt sie mit Entschlossenheit. Lasst Euch nicht von ihr zerbrechen. Die Zeit der Genesung hat begonnen, und es ist sinnlos geworden, noch länger mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ihr habt versagt. Aber Ihr seid alles, was wir haben. Wir alle sind alles, was die Welt hat.«

Die Frauen fingen an aufzuschauen.

»Kommt«, sagte Egwene und ging durch den Raum. Silviana fiel an ihrer Seite in den Schritt ein. »Lasst uns die Rebellen begrüßen.«

Sie passierten die Korridore der Burg, die noch immer nach Rauch rochen und an einigen Stellen mit Trümmern übersät waren. Egwene bemühte sich, die Blutflecken zu ignorieren.

Die Sitzenden folgten ihr, trotz ihrer Strafpredigt nach ihren Ajahs versammelt. Es würde noch viel Arbeit kosten, sie wieder zu heilen.

»Mutter«, sagte Silviana leise, während sie gingen, »ich kann nur vermuten, dass Ihr bei den Rebellen schon eine Behüterin habt. Wollt Ihr uns beide behalten?« Ihre angespannte Stimme verriet, was sie von einem so unkonventionellen Arrangement hielt.

»Nein«, sagte Egwene. »Meine frühere Behüterin wurde hingerichtet, weil sie der Schwarzen Ajah angehörte.«

Silviana wurde blass. »Ich verstehe.«

»Wir können diese Dinge nicht totschweigen, Silviana. Kurz vor meiner … Rettung kam eine sehr wichtige Besucherin zu mir. Sie war eine Schwarze, und sie verriet mir die Namen von weiteren Schwarzen Schwestern. Ich habe jede von ihnen, die sich unter den Rebellen befand, durch den Eidstab bestätigen lassen.«

»Durch den Eidstab?«, rief Silviana aus.

»Ja«, erwiderte Egwene, als sie eine Treppe betraten. »Eine Verbündete in der Weißen Burg gab ihn mir letzte Nacht. Allerdings kommt mir gerade der Gedanke, dass wir den Raum mit den Ter’angrealen verlegen müssen. Und den Ort geheim und ständig mit Schutzgeweben umgeben halten müssen. Es wird nicht lange dauern, bis jede Schwester mit genug Kraft das Gewebe für das Schnelle Reisen kennt, und ich würde es vielen von ihnen durchaus zutrauen - einschließlich denen, denen ich vertraue -, sich gelegentlich das eine oder andere Angreal auszuborgen.«

»Ja, Mutter«, sagte Silviana. Dann fügte sie mit leiser Stimme hinzu: »Ich vermute, ich werde mich daran gewöhnen müssen, dass sich viele Dinge verändern werden.«

»Das fürchte ich auch«, sagte Egwene. »Da ist nicht zuletzt die Notwendigkeit, eine fähige Oberin der Novizinnen auszusuchen, die mit Hunderten neuer Initiierten fertig wird - von denen viele das übliche Alter hinter sich gelassen haben. Ich habe bereits damit begonnen, jede Frau zur Ausbildung zuzulassen, die eine Begabung im Machtlenken zeigt, ganz egal, welchen Alters. Ich vermute, dass es nicht lange dauert, bis die Weiße Burg vor Novizinnen aus allen Nähten platzt.«

»Dann werde ich schnell Vorschläge für meine Nachfolgerin erarbeiten, Mutter«, sagte Silviana.

Egwene nickte zufrieden. Zweifellos würden Romanda und Lelaine außer sich sein, wenn sie entdeckten, dass Egwene Silviana gewählt hatte, aber je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel es ihr. Nicht nur, weil Silviana eine Rote war, sondern weil sie so fähig war. Saerin wäre eine gute Wahl gewesen, aber viele hätten sie als Egwenes Führerin und vielleicht die eigentliche Macht hinter dem Sitz betrachtet. Die Wahl einer Blauen hätte bei dem gegenwärtigen Zustand der Burg für neuen Unfrieden gesorgt. Und davon abgesehen würde es einer Amyrlin, die den Rebellen angehört hatte - das würde keiner vergessen, was auch immer Egwene sagen oder tun würde -, nur bei den Bemühungen zur Aussöhnung helfen können, eine Loyalistin zu Behüterin zu haben.

Es dauerte nicht lange, bis sie den Großen Platz der Burg auf der Ostseite des Gebäudes erreicht hatten. Genau wie sie befohlen hatte, standen die Frauen nach Ajahs aufgestellt dort. Egwene hatte diesen Ort ausgewählt, weil dort eine hohe Treppe mit einem breiten Absatz zum Turm hinaufführte. Dort blieb sie stehen und wandte der mit prächtigen Schnitzereien versehenen Tür den Rücken zu. Es war der perfekte Ort, um vor einer Menge eine Ansprache zu halten.

Außerdem befand man sich dort genau zwischen den beiden Flügeln, die während des Angriffs in der vergangenen Nacht den größten Schaden davongetragen hatten. Vom Ostflügel stieg noch immer Rauch auf; die Kuppel war eingestürzt, eine der Wände war zusammengebrochen. Aber aus diesem Blickwinkel war der Turm selbst relativ unbeschädigt, keines der klaffenden Löcher war direkt zu sehen.

Egwene konnte die Gesichter sehen, die sich an den unteren Fenstern drängten. Aes Sedai und Novizinnen beobachteten sie. Anscheinend hatte Egwene Gelegenheit, auch die Mehrheit der verbliebenen Bewohner der Weißen Burg anzusprechen. Sie erschuf ein Gewebe, um ihre Stimme zu verstärken. Kein Brüllen, aber laut genug, dass man sie sowohl hinten wie auch vorn hören konnte.

»Schwestern«, sagte sie, »Töchter. Man hat mich auf die angemessene Weise zur Amyrlin erhoben. Beide Seiten dieses Konflikts haben mich erwählt. Beide sind den vorgeschriebenen Verfahrensweisen gefolgt, und beide akzeptieren mich jetzt als ihre Amyrlin. Die Zeit ist gekommen, sich wieder zu vereinen.

Ich werde nicht so tun, als hätte unsere Spaltung nicht stattgefunden. Wir von der Weißen Burg neigen manchmal viel zu schnell dazu, die Tatsachen zu vergessen, die wir nicht hören wollen. Diese Ereignisse kann man nicht verbergen, nicht vor uns, die wir sie erlebt haben. Wir waren entzweit. Wir hätten beinahe Krieg gegeneinander geführt. Wir haben Schande über uns gebracht.

Ihr Rebellen vor mir habt etwas Schreckliches getan. Ihr habt die Burg gespalten und eine rivalisierende Amyrlin erhoben. Zum ersten Mal in der Geschichte haben Aes Sedai Truppen gegen andere Aes Sedai aufgestellt. Ich habe diese Truppen angeführt. Diese Schande ist mir bewusst.

Ob notwendig oder nicht, es ist eine Schande. Und darum brauche ich Euer Schuldeingeständnis. Ihr müsst die Verantwortung für Eure Verbrechen übernehmen, selbst die, die im Namen eines übergeordneten Wohls geschahen.«

Egwene betrachtete die auf dem Hof versammelten Aes Sedai. Falls ihr Befehl, sich in Rängen aufzustellen - und dann auf sie zu warten - ihnen ihre Einstellung nicht klargemacht hatte, dann würden das vielleicht ihre Worte tun.

»Ihr seid nicht ruhmreich hergekommen«, sagte Egwene zu ihnen. »Ihr seid nicht siegreich hergekommen. Denn es gibt keinen Sieg, und es hätte auch keinen Sieg geben können, wenn Schwester gegen Schwester gekämpft hätte und Behüter andere Behüter getötet hätten.« Sie bemerkte, dass Siuan ganz vorn stand und ihren Blick über die Distanz erwiderte. Leane war auch da; sie sah mitgenommen von ihrer langen Gefangenschaft aus, aber sie stand aufrecht da.

»Auf beiden Seiten wurden Fehler gemacht«, sagte Egwene. »Und wir werden alle hart daran arbeiten müssen, um das wieder in Ordnung zu bringen, was wir getan haben. Schmiede behaupten, dass man kein Schwert flicken kann, wenn es einmal zerschmettert wurde. Es muss von Grund auf neu geschmiedet werden, man muss das Eisen zu Schlacke schmelzen und es dann von neuem bearbeiten und formen.

Die folgenden Monate werden wir uns neu formen. Wir wurden gebrochen, dann fast bis zu den Wurzeln ausgerissen. Die Letzte Schlacht rückt näher, und vor ihrem Eintreffen will ich dafür sorgen, dass wir wieder ein mit Kraft geschmiedetes Schwert sind, unversehrt und ungebrochen! Ich werde Euch viele Forderungen stellen. Sie werden schwer sein. Sie werden Euch bis an die Grenze dessen treiben, was Ihr glaubt ertragen zu können. Ich werde diese Brandlöcher nehmen und sie stopfen! Es wird Anpassungen geben müssen, denn es gibt zu viele Sitzende für den Saal, ganz zu schweigen von den fünf Anführerinnen der Ajahs, die übrig sind. Einige von Euch werden zurücktreten und sich demütig vor jenen verbeugen müssen, die sie verabscheuen.

Diese Tage werden eine Prüfung für Euch sein! Ich werde Euch dazu zwingen, mit jenen zu arbeiten, die Ihr noch vor Stunden als Eure Feinde betrachtet habt. Ihr werdet an der Seite jener marschieren, die Euch verschmäht oder verletzt haben oder Euch hassen.

Aber wir sind stärker als unsere Schwächen. Die Weiße Burg steht, und wir stehen mit ihr! Wir werden wieder vereint sein! Wir werden eine Versammlung sein, von der man Geschichten erzählt! Wenn ich mit Euch fertig bin, wird man nicht schreiben, dass die Weiße Burg schwach war. Angesichts unserer Siege wird man unsere Spaltung vergessen. Man wird sich an uns nicht als die Weiße Burg erinnern, die sich gegeneinander wandte, sondern als die Weiße Burg, die im Angesieht des Schattens mit aller Kraft Widerstand leistete. Diese Tage werden zur Legende werden!«

Jubel ertönte, größtenteils von Novizinnen und Soldaten, da die Aes Sedai selbst viel zu reserviert für diese Art von Benehmen waren. Größtenteils jedenfalls. Ein paar der jüngeren stimmten ein, gefangen vom Augenblick. Glücklicherweise kam dieser Jubel von beiden Seiten. Egwene ließ sie einen Augenblick lang schreien, dann hob sie die Arme und brachte sie zum Schweigen.

»Es soll sich im ganzen Land verbreiten!«, rief sie. »Davon soll gesprochen werden, man soll sich darauf verlassen können, man soll sich daran erinnern. Die Weiße Burg steht vereint. Und niemand, weder Mann, Frau noch Schöpfung des Schattens, wird uns je wieder entzweit sehen!«

Dieses Mal war der Jubel beinahe ohrenbetäubend, und überraschenderweise stimmten mehr Aes Sedai darin ein. Egwene senkte die Hände.

Sie hoffte, dass sie auch noch in den kommenden Monaten jubelten. Denn vor ihnen lag viel Arbeit.

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