17 Fragen der Kontrolle

»Ihr solltet vorsichtiger sein«, sagte Sarene. »Wir haben großen Einfluss auf den Amyrlin-Sitz. Vielleicht könnten wir sie dazu überreden, Eure Strafe nicht so schlimm ausfallen zu lassen. Falls Ihr mitarbeitet.«

Semirhages verächtliches Schnauben war noch auf dem Korridor zu hören, wo Cadsuane vor dem Verhörzimmer auf einem bequemen Holzstuhl saß und an einer Tasse lauwarmen Süßblatttee nippte. Der Korridor bestand aus schlichtem Holz und war mit langen weißen und weinroten Teppichen ausgelegt; in prismenähnlichen Lampen an den Wänden flackerte helles Licht.

Sie hatte Gesellschaft - Daigian, Erian und Elza, die dafür zuständig waren, Semirhages Abschirmung aufrechtzuerhalten. Mit Ausnahme von Cadsuane wechselten sich alle Aes Sedai im Lager damit ab. Es war einfach zu gefährlich, diese Pflicht allein den Aes Sedai mit geringerem Status aufzuzwingen, denn man befürchtete, sie könnten ermüden. Die Abschirmung musste stark bleiben. Allein das Licht wusste, was passieren würde, sollte sich Semirhage befreien können.

Cadsuane trank ihren Tee, den Rücken zur Wand gerichtet. Al'Thor hatte darauf bestanden, dass auch »seine« Aes Sedai die Gelegenheit erhielten, Semirhage zu verhören, und nicht nur ihre Leute. Sie war sich nicht sicher, ob das ein Versuch sein sollte, seine Autorität zu beweisen, oder ob er wirklich glaubte, diese Frauen könnten da Erfolg haben, wo sie - bis jetzt - versagt hatte.

Was nun auch zutraf, darum stellte Sarene heute die Fragen. Die Weiße aus Tarabon war eine bedächtige Person und hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie eine der schönsten Frauen war, die in den letzten Jahren die Stola errungen hatten. Ihre Unbekümmertheit kam nicht unerwartet, schließlich gehörte sie zu den Weißen Ajahs, die genauso weltfremd wie die Braunen sein konnten. Sarene wusste auch nicht, dass Cadsuane draußen lauschte, und zwar mit einem kleinen Gewebe aus Geist. Ein einfacher Trick, den Novizinnen oft lernten. Kombiniert mit diesem neuen Trick, die Gewebe umzudrehen, bedeutete das, dass sie lauschen konnte, ohne dass jemand drinnen auch nur etwas von ihrer Anwesenheit ahnte.

Die Aes Sedai auf dem Korridor sahen natürlich, was sie da tat, aber keiner sagte etwas. Obwohl zwei von ihnen - Elza und Erian - zu der Gruppe von Närrinnen gehörten, die dem jungen al'Thor die Treue geschworen hatten, verhielten sie sich in ihrer Gegenwart vorsichtig; sie wussten, was sie von ihnen hielt. Dumme Frauen. Manchmal hatte es den Anschein, als wäre die Hälfte ihrer Verbündeten entschlossen, ihr die Arbeit absichtlich zu erschweren.

Sarene fuhr mit ihrem Verhör fort. Mittlerweile hatten die meisten der Aes Sedai im Herrenhaus es versucht. Braune, Grüne, Weiße und Gelbe - alle hatten versagt. Sie selbst hatte der Verlorenen noch keine Fragen gestellt. Die anderen Aes Sedai betrachteten Cadsuane als eine beinahe mythische Gestalt, eine Reputation, die sie gefördert hatte. Manchmal hatte sie sich Jahrzehnte von der Weißen Burg ferngehalten und dafür gesorgt, dass viele sie für tot hielten. Wenn sie dann wieder auftauchte, sorgte das für Aufsehen. Sie hatte falsche Drachen gejagt, weil es nötig war und weil jeder Mann, den sie gefangen nahm, ihrem Ruf bei den anderen Aes Sedai nutzte.

Ihre ganze Arbeit war auf diese letzten Tage der Welt ausgerichtet. Und das Licht sollte sie blenden, wenn sie sich das jetzt von dem jungen al'Thor ruinieren ließ!

Sie überspielte ihr Stirnrunzeln, indem sie einen Schluck Tee nahm. Langsam verlor sie die Kontrolle, einen Faden nach dem anderen. Einst hätte etwas so Dramatisches wie das Gezänk in der Weißen Burg ihre sofortige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber sie konnte nicht anfangen, an diesem Problem zu arbeiten. Die Schöpfung selbst war in Auflösung begriffen, und ihre einzige Möglichkeit, dagegen etwas zu unternehmen, bestand darin, ihre ganze Mühe auf al'Thor zu konzentrieren.

Und er widersetzte sich jedem ihrer Versuche, ihm zu helfen. Schritt für Schritt verwandelte er sich in einen Mann, dessen Inneres aus Stein war, unbeweglich und völlig unflexibel. Eine gefühllose Statue konnte nicht gegen den Dunklen König antreten.

Verdammter Junge! Und jetzt war da Semirhage, die ihr ebenfalls weiterhin trotzte. Es juckte ihr in den Fingern, jetzt da reinzugehen und die Frau anzugehen, aber schon Merise hatte die Fragen gestellt, die sie auch gestellt hätte, und war gescheitert. Wie lange würde ihre Reputation intakt bleiben, wenn sie sich als genauso unnütz erwies wie die anderen? Sarene sprach weiter.

»Ihr solltet die Aes Sedai nicht so behandeln«, sagte Sarene ganz ruhig.

»Aes Sedai?« Semirhage kicherte. »Schämt ihr euch eigentlich nicht, euch so zu bezeichnen? Als würde sich ein Welpe als Wolf ausgeben!«

»Wir mögen nicht alles wissen, das gebe ich gern zu, aber ...«

»Ihr wisst gar nichts!«, erwiderte Semirhage. »Ihr seid Kinder, die mit dem Spielzeug ihrer Eltern spielen.«

Cadsuane tippte mit dem Zeigefinger gegen ihre Teetasse. Wieder überraschte sie die Ähnlichkeiten, die sie und Semirhage teilten - und erneut bereiteten ihr diese Übereinstimmungen tiefes Unbehagen.

Eine schlanke Dienerin kam die Treppe mit einem Teller Bohnen und gedünsteten Radieschen hinauf; Semirhages Mittagessen. War es schon so weit? Sarene verhörte die Verlorene jetzt seit drei Stunden, und sie hatte sich die ganze Zeit im Kreis gedreht. Die Dienerin kam näher, und Cadsuane bedeutete ihr, eintreten zu dürfen.

Einen Augenblick später krachte das Tablett zu Boden. Bei dem Laut sprang Cadsuane auf die Füße und umarmte Saidar, wäre um ein Haar ins Zimmer gestürzt. Semirhages Stimme ließ sie zögern.

»Das esse ich nicht«, sagte die Verlorene, die wie immer die Kontrolle hatte. »Ich habe diesen Fraß satt. Du wirst mir etwas Vernünftiges bringen.«

»Wenn wir das tun, werdet Ihr dann unsere Fragen beantworten?«, ertönte Sarenes Stimme - die offensichtlich jeden Vorteil zu nutzen bereit war.

»Vielleicht«, erwiderte Semirhage. »Wir werden sehen, ob ich dann in Stimmung bin.«

Schweigen trat ein. Cadsuane sah die anderen Frauen im Korridor an, die alle bei dem Lärm aufgesprungen waren, obwohl sie die Stimmen nicht hören konnten. Sie bedeutete ihnen, sich wieder hinzusetzen.

»Geht und holt etwas anderes«, sagte Sarene im Zimmer zu der Dienerin. »Und schickt jemanden, der das sauber macht.« Die Tür öffnete und schloss sich schnell, als die Dienerin davonhuschte.

Sarene sprach weiter. »Die nächste Frage wird entscheiden, ob Ihr diese Mahlzeit esst oder nicht.« Trotz der energischen Stimme konnte Cadsuane eine gewisse Hast in Sarenes Tonfall hören. Das plötzlich zu Boden fallende Tablett hatte sie überrascht. Sie waren alle so nervös in der Nähe der Verlorenen. Sie waren nicht ehrerbietig, aber sie behandelten Semirhage mit einem gewissen Respekt. Wie konnten sie auch nicht? Sie war eine Legende. Man trat nicht vor eine derartige Kreatur - eines der bösartigsten Wesen, das je gelebt hatte -, ohne nicht zumindest eine gewisse Ehrfurcht zu verspüren.

Eine gewisse Ehrfurcht ...

»Das ist unser Fehler«, flüsterte Cadsuane. Sie blinzelte, dann drehte sie sich um und öffnete die Tür.

Semirhage stand in der Mitte des kleinen Raumes. Man hatte ihr wieder die Fesseln aus Luft angelegt, die Gewebe waren vermutlich in dem Moment gewebt worden, in dem sie das Tablett hingeworfen hatte. Der Messingteller lag auf dem Boden, die Bohnensoße drang in die alten Holzbohlen. Das Zimmer hatte kein Fenster; früher war es ein Vorratsraum gewesen, den man in eine Zelle für die Verlorene verwandelt hatte. Sarene - das dunkle Haar zu perlengeschmückten Zöpfen geflochten, das wunderschöne Gesicht überrascht durch die Störung - saß vor Semirhage auf einem Stuhl. Ihr breitschultriger Behüter Vitalien stand blass in der Ecke.

Semirhages Kopf war nicht gefesselt, und ihr Blick glitt über Cadsuane.

Cadsuane hatte sich festgelegt; jetzt musste sie der Frau gegenübertreten. Glücklicherweise brauchte das, was sie vorhatte, nicht viel Raffinesse. Alles fiel zurück auf eine Frage. Vorausgesetzt, Cadsuane hätte sich selbst gegenübergestanden, wie hätte sie ihren Widerstand gebrochen? Die Lösung war einfach, jetzt, da sie ihr eingefallen war.

»Ah«, sagte sie sachlich. »Ich sehe, das Kind will sein Essen nicht. Sarene, löst Eure Gewebe.«

Semirhage hob die Brauen und wollte etwas Höhnisches bemerken, aber als Sarene ihre Luft-Gewebe auflöste, packte Cadsuane sie bei den Haaren und trat ihr mit einer lässigen Bewegung die Beine unter dem Körper weg.

Vielleicht hätte sie auch die Macht benutzen können, aber es fühlte sich richtig an, es mit den Händen zu machen. Sie bereitete ein paar Gewebe vor, auch wenn sie sie vermutlich nicht brauchte. Semirhage war zwar groß, aber von schlankem Wuchs, und sie war schon immer eher kräftig als dünn. Außerdem schien die Verlorene völlig verblüfft darüber, wie man sie behandelte.

Cadsuane stemmte ein Knie in den Rücken der Frau, dann stieß sie ihr Gesicht in das weggeworfene Essen. »Iss«, sagte sie. »Ich halte nichts von vergeudetem Essen, Kind, vor allem nicht in solchen Zeiten.«

Semirhage sprudelte ein paar Worte hervor, von denen Cadsuane annahm, dass es sich um Flüche handelte, auch wenn sie sie nicht verstehen konnte. Die Bedeutung war vermutlich im Dunkel der Zeit verschollen gegangen. Bald verstummten die Flüche, und Semirhage schwieg. Sie wehrte sich nicht. Das hätte Cadsuane an ihrer Stelle auch nicht getan; damit hätte sie nur das Bild beschädigt, das andere von ihr hatten. Semirhages Macht als Gefangene rührte von der Furcht und dem Respekt her, den die Aes Sedai ihr entgegenbrachten. Das musste man ändern.

»Euren Stuhl, bitte«, sagte sie zu Sarene.

Die schockiert aussehende Weiße stand auf. Sie hatten alle versucht, so weit zu gehen, wie es unter al'Thors Vorgaben möglich war, aber jeder dieser Versuche hatte Achtung verraten. Sie behandelten Semirhage als gefährliche Macht und würdigen Gegner. Damit stärkten sie aber nur ihr Ego.

»Wirst du essen?«, fragte Cadsuane.

»Ich werde dich umbringen«, sagte Semirhage ganz ruhig. »Als Erste, vor allen anderen. Sie werden sich deine Schreie anhören müssen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Cadsuane. »Sarene, bittet die drei Schwestern draußen herein.« Nachdenklich hielt sie inne. »Mir sind da eben ein paar Dienerinnen aufgefallen, die Zimmer putzen. Bringt sie mir auch.«

Sarene nickte und eilte aus dem Raum. Cadsuane setzte sich auf den Stuhl, dann webte sie Ströme aus Luft und hob damit Semirhage auf. Elza und Erian spähten ins Zimmer; sie sahen sehr neugierig aus. Dann traten sie ein. Sarene folgte ihnen. Ein paar Augenblicke später kam Daigian mit fünf Dienern: drei Domani mit Schürzen, einem dürren Mann, dessen Finger ganz braun vom Anstreichen der Holzwände waren, und einem jungen Pagen. Ausgezeichnet.

Als sie eintraten, legte sich Cadsuane die Verlorene mit ihren Strömen aus Luft übers Knie. Und dann fing sie an, ihr mit der Hand den Hintern zu versohlen.

Zuerst hielt Semirhage durch. Dann fing sie an zu fluchen. Dann fing sie an, Drohungen auszustoßen. Cadsuane machte weiter, langsam, aber sicher tat ihr die Hand weh. Semirhages Drohungen verwandelten sich in Wut- und Schmerzgeheul. Währenddessen kam die Dienerin mit dem Essen zurück, was Semirhages Schande noch verstärkte. Die Aes Sedai sahen fassungslos zu.

»Nun«, sagte Cadsuane ein paar Augenblicke später und unterbrach Semirhages schmerzliches Gejammer. »Willst du essen?«

»Ich finde jeden, den du je geliebt hast«, stieß die Verlorene mit Tränen in den Augen hervor. »Ich werde sie sich einander gegenseitig füttern lassen, während du zusiehst. Ich ...«

Cadsuane schnalzte nur mit der Zunge und machte weiter. Die kleine Menschenmenge in dem Zimmer sah in erstauntem Schweigen zu. Semirhage fing an zu weinen - nicht vor Schmerzen, sondern wegen der Demütigung. Das war der Schlüssel. Man konnte Semirhage nicht durch Schmerzen oder Versprechungen besiegen - aber ihren Ruf zu zerstören, das würde in ihrer Vorstellung viel schlimmer sein als jede andere Strafe. Cadsuane hätte genauso empfunden.

Nach ein paar weiteren Minuten senkte sie die Hand und löste die Gewebe, die Semirhage reglos hielten. »Willst du essen?«

»Ich ...«

Sie hob die Hand, und Semirhage sprang ihr förmlich vom Schoß und warf sich zu Boden, aß die Bohnen.

»Sie ist ein Mensch«, sagte Cadsuane und sah die anderen an. »Nur ein Mensch, so wie jeder von uns. Sie hat Geheimnisse, aber jeder Junge kann ein Geheimnis haben, das er nicht verraten will. Vergesst das nicht.«

Sie stand auf und ging zur Tür. Neben Sarene, die fasziniert zusah, wie die Verlorene die Bohnen vom Boden aß, blieb sie kurz stehen. »Vielleicht solltet Ihr eine Haarbürste mit Euch tragen«, fügte sie hinzu. »Das kann ganz schön anstrengend für die Hände sein.«

Sarene lächelte. »Ja, Cadsuane Sedai.«

Und was, dachte Cadsuane und verließ das Zimmer, machen wir jetzt mit al'Thor?

»Mein Lord«, sagte Grady und rieb sich das verwitterte Gesicht. »Ich glaube, Ihr versteht das nicht richtig.«

»Dann erklärt es mir«, sagte Perrin. Er stand auf einem Hügel und betrachtete die gewaltige Ansammlung an Flüchtlingen und Soldaten. Nicht zueinander passende Zelte verschiedenster Machart - braune Aielzelte mit einer Spitze, große bunte aus Cairhien, ganz normale mit zwei Spitzen - wuchsen in die Höhe, als sich die Leute auf die Nacht vorbereiteten.

Wie gehofft hatten die Shaido Aiel nicht die Verfolgung aufgenommen. Sie hatten Perrins Armee sich zurückziehen lassen, allerdings berichteten seine Späher, dass sie nun auf die Stadt zurückten, um sie zu untersuchen. Das bedeutete, dass er etwas Zeit gewonnen hatte. Zeit, um sich auszuruhen, Zeit, um wegzuhumpeln, Zeit, um den größten Teil der Flüchtlinge mit Wegetoren fortzuschaffen, wie er hoffte.

Beim Licht, das war wirklich eine große Gruppe. Tausende und Abertausende von Menschen, ein Albtraum an Koordination und Versorgung. Die letzten paar Tage waren von einem endlosen Strom an Beschwerden, Einwänden, Urteilen und Papieren erfüllt gewesen. Wo fand Balwer nur dieses ganze Papier? Es schien viele der Leute, die zu Perrin kamen, zufriedenzustellen. Dekrete und die Beilegung von Disputen schienen für sie unendlich offizieller zu sein, wenn sie auf einem Stück Papier standen. Balwer meinte, Perrin würde ein eigenes Siegel brauchen.

Die Arbeit war eine Ablenkung gewesen, was gut war. Aber Perrin wusste, dass er seine Probleme nicht lange zur Seite schieben konnte. Rand lockte ihn nach Norden. Er musste zur Letzten Schlacht marschieren. Alles andere war unwichtig.

Andererseits war es genau diese Zielstrebigkeit, die alles außer seinem Ziel ignorierte, die während seiner Jagd nach Faile zu einer Quelle ständigen Ärgers geworden war. Irgendwie musste er ein Gleichgewicht finden. Er musste sich entscheiden, ob er diese Menschen führen wollte, musste mit dem Wolf in sich Frieden schließen, der Bestie, die wütete, wenn er in die Schlacht zog.

Aber bevor er auch nur irgendetwas davon in Angriff nehmen konnte, musste er diese Flüchtlinge nach Hause schaffen. Und das erwies sich als Problem. »Ihr konntet Euch doch jetzt ausruhen, Grady«, sagte er.

»Die Erschöpfung ist nur ein Teil davon, mein Lord«, erwiderte Grady. »Obwohl ich mich ehrlich gesagt immer noch so fühle, als könnte ich eine Woche lang schlafen.«

Er sah müde aus. Grady war ein robuster Mann mit dem Gesicht eines Bauern und dem dazu passenden Temperament. Dieser Mann würde seine Pflicht erfüllen, da hatte Perrin nicht die geringsten Zweifel; tatsächlich vertraute er ihm da mehr als den meisten Adeligen, die er kennengelernt hatte. Aber auch Grady konnte nur bis zu einem gewissen Punkt angetrieben werden. Was stellte das mit einem Mann an, so oft die Macht lenken zu müssen? Grady hatte tiefe Tränensäcke unter den Augen, und trotz seiner Bräune war er blass. Obwohl er doch ein junger Mann war, zeigte sich bereits das erste Grau in seinem Haar.

Beim Licht, ich habe diesen Mann zu sehr beansprucht, dachte Perrin. Ihn und Neald. Eine weitere Auswirkung seiner Verbissenheit, wie ihm nun klar wurde. Was er Aram angetan hatte, wie er allen in seiner Umgebung erlaubt hatte, ohne Führung zu handeln ... Ich muss das in Ordnung bringen. Ich muss eine Möglichkeit finden, das alles zu regeln.

Gelang ihm das nicht, würde er es möglicherweise gar nicht bis zur Letzten Schlacht schaffen.

»Es ist Folgendes, mein Lord.« Grady rieb sich wieder das Kinn und betrachtete das Lager. Die verschiedenen Kontingente - Mayener, Alliandres Wache, die Männer von den Zwei Flüssen, die Aiel, die Flüchtlinge aus den verschiedenen Städten - kampierten alle separat, in ihren eigenen Kreisen. »Das sind einige tausend Menschen, die in ihre Heimat gebracht werden müssen. Jedenfalls die, die gehen wollen. Viele sagen, dass sie sich hier bei Euch sicherer fühlen.«

»Den Wunsch können sie sich sparen. Sie gehören zu ihren Familien.«

»Und was ist mit denen, deren Familien in den von den Seanchanern besetzten Ländern leben?« Grady zuckte mit den Schultern. »Vor dem Einzug der Invasoren wären viele dieser Leute gern zurückgekehrt. Aber jetzt ... nun, man redet darüber, dort zu bleiben, wo es Essen und Schutz gibt.«

»Wir können noch immer die wegschicken, die gehen wollen. Wir kommen schneller ohne sie voran.«

Grady schüttelte den Kopf. »Darum geht es ja, mein Lord. Euer Mann Balwer hat uns die Zahlen gegeben. Ich kann ein Wegetor erschaffen, das breit genug für zwei Männer ist, die gleichzeitig hindurchschreiten. Wenn man davon ausgeht, dass sie dafür eine Sekunde brauchen ... Nun, es würde Stunden dauern, sie alle hindurchzuschicken. Ich kenne die Zahl nicht, aber er hat behauptet, dass es die Arbeit von Tagen wäre. Und er meinte, seine Schätzungen wären vermutlich zu optimistisch. Mein Lord, ich könnte ein Wegetor kaum eine Stunde geöffnet halten, so erschöpft bin ich.«

Perrin unterdrückte ein Knurren. Er würde sich Balwers Zahlen selbst ansehen müssen, aber er hatte das beunruhigende Gefühl, dass der Mann recht haben würde.

»Dann marschieren wir weiter«, sagte er. »Nach Norden. Und jeden Tag lassen wir Euch und Neald Wegetore machen und ein paar der Leute nach Hause schaffen. Aber erschöpft euch nicht dabei.«

Grady nickte; seine Augen lagen vor Müdigkeit tief in ihren Höhlen. Vielleicht würde es besser sein, noch ein paar Tage zu warten, bevor man damit anfing. Perrin nickte dem Mann zu, und er begab sich im Laufschritt zurück ins Lager. Perrin blieb oben auf dem Hügel stehen und inspizierte die verschiedenen Teile des Lagers, in denen sich die Leute auf das Abendessen vorbereiteten. Die Wagen standen in der Lagermitte, beladen mit Lebensmitteln, die, wie er fürchtete, aufgebraucht sein würden, bevor sie Andor erreichten. Oder sollte er einen Bogen nach Cairhien machen? Dort hatte er Rand das letzte Mal gesehen, obwohl seine Visionen von dem Mann den Eindruck erweckten, dass er sich in keinem der beiden Länder aufhielt. Er bezweifelte, dass ihn die Königin von Andor mit offenen Armen willkommen heißen würde, nicht nach den Gerüchten über ihn und dieses verdammte Banner mit dem Roten Adler.

Für den Augenblick stellte er dieses Problem erst einmal zurück. Das Lager schien zur Ruhe zu kommen. Jeder Zeltkreis schickte Abgesandte zur zentralen Essensausgabe, um die Abendrationen abzuholen. Jede Gruppe war selbst für ihre Mahlzeiten verantwortlich; Perrin kontrollierte lediglich die Ausgabe. Er konnte den Quartiermeister ausmachen - einen Cairhiener namens Bavin Rockshaw -, der auf der Ladefläche eines Wagens stand und sich nacheinander um jeden Abgesandten kümmerte.

Zufrieden mit seiner Inspektion ging Perrin hinunter und passierte auf seinem Weg zu seinem eigenen Zelt, das bei den Männern von den Zwei Flüssen errichtet war, die Zelte der Cairhiener.

Mittlerweile hatte er seine erweiterten Sinne akzeptiert. Sie waren zusammen mit der Gelbfärbung seiner Augen gekommen. Die meisten Menschen in seiner Umgebung schienen sie nicht mehr zu bemerken, aber jede Begegnung mit Fremden erinnerte ihn nachdrücklich an den Unterschied. Viele der cairhienischen Flüchtlinge hielten zum Beispiel in ihrer Arbeit inne. Sie beobachteten sein Vorbeigehen und flüsterten: »Goldauge.«

Er hielt nicht viel von diesem Namen. Aybara war der Name seiner Familie, und er trug ihn mit Stolz. Er gehörte zu den wenigen, die ihn weitergeben konnten. Dafür hatten die Trollocs gesorgt.

Einer Gruppe von Flüchtlingen in der Nähe warf er einen Blick zu, und sie machten hastig damit weiter, Zeltpflöcke in den Boden zu hämmern. Dann passierte er zwei Männer von den Zwei Flüssen. Tod al'Caar und Jori Congar. Sie erblickten ihn und salutierten, hämmerten die Fäuste in Herzhöhe gegen die Brust. Für sie war Perrin Goldauge keine Person, die sie fürchten mussten, sondern eine, die es zu respektieren galt. Auch wenn sie noch immer über die Nacht tuschelten, die er in Berelains Zelt verbracht hatte. Er wünschte sich, dem Schatten dieses Vorfalls endlich entkommen zu können. Die Männer waren noch immer beschwingt von ihrem Sieg über die Shaido, aber es war noch nicht lange her, dass er das Gefühl gehabt hatte, nicht bei ihnen willkommen zu sein.

Aber für den Augenblick schienen zumindest diese beiden diese unerfreuliche Zeit hinter sich gelassen zu haben. Stattdessen salutierten sie. Hatten sie denn vergessen, dass sie zusammen mit ihm aufgewachsen waren? Wie war das damals noch gewesen, als sich Jori über seine langsame Sprechweise lustig gemacht hatte, oder die vielen Male, wo er bei der Schmiede stehen geblieben war, um mit den Mädchen anzugeben, denen er einen Kuss hatte stehlen können?

Perrin erwiderte das Nicken schlicht. Sinnlos, die Vergangenheit hervorzuzerren, nicht, wenn ihre Treue zu »Perrin Goldauge« geholfen hatte, Faile zu retten. Als er sie allerdings hinter sich zurückließ, hörten seine viel zu scharfen Ohren, wie sie über die nur wenige Tage zurückliegende Schlacht plauderten und was sie darin getan hatten. Einer von ihnen roch noch immer nach Blut; er hatte seine Stiefel nicht gereinigt. Vermutlich hatte er den blutigen Schlamm nicht einmal bemerkt.

Manchmal fragte sich Perrin, ob seine Sinne tatsächlich besser waren. Er nahm sich eben die Zeit, Dinge zu bemerken, die andere ignorierten. Wie konnten sie das Blut nicht riechen? Und die kühle Luft aus den Bergen im Norden? Sie roch nach der Heimat, auch wenn sie viele Meilen von den Zwei Flüssen entfernt waren. Hätten sie ihre Augen aufgemacht und sich die Welt um sich herum genau angesehen, hätte man dann ihre Augen ebenfalls als »scharf« bezeichnet, so wie bei ihm?

Nein. Das war nur eine Wunschvorstellung. Seine Sinne waren besser; seine Verwandtschaft mit den Wölfen hatte ihn verändert. Schon eine Weile hatte er nicht mehr an diese Verwandtschaft gedacht - er war zu sehr auf Faile konzentriert gewesen. Aber er verspürte nicht länger dieses Unbehagen wegen seiner Augen. Sie waren ein Teil von ihm. Sinnlos, deswegen zu lamentieren.

Aber diese Wut, die er im Kampf verspürte ... dieser Kontrollverlust. Das bereitete ihm zusehends Sorgen. Das erste Mal war ihm das in jener Nacht aufgefallen, vor so langer Zeit, bei dem Kampf gegen die Weißmäntel. Eine Weile hatte er nicht gewusst, ob er ein Wolf oder ein Mensch war.

Und jetzt hatte er bei einem seiner kürzlichen Besuche im Wolfstraum versucht, Springer zu töten. Im Wolfstraum war der Tod endgültig. An diesem Tag hatte er sich beinah verloren. Der Gedanke daran weckte alte Ängste, Ängste, die er zur Seite geschoben hatte. Ängste, bei denen es um einen Mann ging, der sich wie ein Wolf verhielt und in einen Käfig gesperrt war.

Auf dem Weg zu seinem Zelt traf er einige Entscheidungen. Faile hatte er voller Entschlossenheit verfolgt und den Wolfstraum gemieden, wie er alle anderen Verantwortungen gemieden hatte. Hatte behauptet, dass nichts anderes eine Rolle spielen würde. Aber er wusste, dass die Wahrheit viel komplizierter war. Er hatte sich so auf Faile konzentriert, weil er sie so liebte, aber er hatte es auch getan, weil es gerade praktisch gewesen war. Ihre Rettung war die Entschuldigung gewesen, Dingen wie seinem Unbehagen über die Rolle des Anführers und den vagen Waffenstillstand zwischen ihm und dem Wolf in seinem Inneren aus dem Weg zu gehen.

Faile hatte er gerettet, aber so viele Dinge lagen noch immer im Argen. Möglicherweise lagen die Antworten ja in seinen Träumen.

Es war Zeit, dorthin zurückzukehren.

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