24 Eine neue Verpflichtung

Erschöpft von einem zwei Tage langen Ritt saß Gawyn auf Herausforderer, auf einem niedrigen Hügel südwestlich von Tar Valon.

Der Frühlingsbeginn hätte das Land grünen lassen müssen, aber der Hang vor ihm trug lediglich dem Winter zum Opfer gefallenes Unkraut. Hier und da lugten Eibe und Schwarzholz hervor und durchbrachen die braune Landschaft. Er zählte mehr als nur ein paar Baumgruppen, wo nur noch Stümpfe standen. Ein Kriegslager verschlang Bäume wie hungrige Holzgnarle, brauchte sie für Pfeile, Lagerfeuer, Baracken und Belagerungsgerät.

Gawyn gähnte - er hatte die ganze Nacht ein schnelles Tempo vorgelegt. Brynes Kriegslager hatte sich hier gut eingegraben, und es herrschte emsiger Betrieb. Eine so große Armee brachte bestenfalls organisiertes Chaos hervor. Eine kleine Gruppe Kavallerie konnte ohne großes Gepäck reisen, so wie es Gawyns Jünglinge getan hatten; eine derartige Streitmacht konnte zu mehreren tausend Mann anwachsen und trotzdem schlank bleiben. Erfahrene Reiter wie die Saldaeaner konnten angeblich größere Kontingente von sieben- oder achttausend Reitern bilden und ihre Beweglichkeit behalten.

Aber eine Streitmacht wie die da unten war eine ganz andere Sache. Sie war ein riesiges, sich ausbreitendes Etwas in der Form einer gewaltigen Blase mit einem kleineren Lager in der Mitte, in dem vermutlich die Aes Sedai untergebracht waren. Bryne hatte ebenfalls sämtliche Brückenstädte auf beiden Seiten des Erinin besetzt und damit die Insel effektiv von jeder Versorgung abgeschnitten.

Das Heer hockte vor Tar Valon, wie eine Spinne, die einen direkt vor ihrem Netz herumflatternden Schmetterling betrachtete. Berittene Abteilungen trafen ein oder brachen auf, gingen auf Patrouille, kauften Lebensmittel und überbrachten Nachrichten. Aberdutzende Schwadronen, manche zu Pferd, manche zu Fuß. Wie Bienen, die den Stock verließen, während andere wieder hineinschwärmten. An der Ostseite des Lagers drängte sich ein Mischmasch aus Hütten und Zelten, der übliche Abschaum aus Lagergefolge, den jedes Heer anzog. In seiner Nähe, direkt hinter der Grenze des Hauptlagers, erhob sich eine kreisförmige hohe Palisade, die vielleicht einen Durchmesser von fünfzig Spannen aufwies. Vermutlich ein Kommandoposten.

Gawyn wusste, dass Brynes Späher ihn gesehen hatten, als er näher kam, aber niemand hielt ihn auf. Vermutlich würde das auch nicht geschehen, solange er nicht versuchte, wieder wegzureiten. Ein einzelner Mann mit einem ordentlichen grauen Umhang, Hosen und einem weißen Hemd erregte kein großes Interesse. Er konnte ein Söldner sein, der sich nach einem Platz in den Rängen erkundigen wollte. Er konnte der Bote eines örtlichen Lords sein, der sich wegen eines Spähtrupps beschweren wollte. Er konnte sogar ein dem Heer zugehöriger Soldat sein. Viele von Brynes Männern trugen Uniform, aber genauso viele trugen bloß ein schlichtes gelbes Band am Mantelärmel, weil sie noch nicht das nötige Geld hatten, sich die richtigen Insignien annähen zu lassen.

Nein, ein einzelner Mann, der sich dem Heer näherte, stellte keine Gefahr dar. Aber ein einzelner Mann, der vom Heer fortritt, war Grund genug, um Alarm zu schlagen. Ein Mann, der ins Lager kam, konnte Freund, Feind oder nichts von beidem sein. Ein Mann, der das Lager inspizierte und dann fortritt, war mit ziemlicher Sicherheit ein Spion. Solange Gawyn nicht wieder ging, bevor er seine Absichten kundtat, würden Brynes Patrouillenreiter ihn kaum belästigen.

Beim Licht, er hätte ein Bett gebrauchen können. Er hatte zwei ruhelose Nächte verbracht, jedes Mal nur in seinen Umhang gehüllt ein paar Stunden geschlafen. Er war gereizt, nicht zuletzt wegen seiner eigenen Entscheidung, jedes Gasthaus zu meiden für den Fall, dass ihn die Jünglinge verfolgten. Er blinzelte mehrmals mit seinen müden Augen und lenkte Herausforderer den Hang hinunter. Er hatte sich entschieden.

Nein. Er hatte sich schon in dem Moment entschieden, in dem er Sleete in Dorlan zurückgelassen hatte. Mittlerweile wussten die Jünglinge vom Verrat ihres Anführers. Sleete würde ihnen nicht gestatten, Zeit für eine Suche zu verschwenden. Er würde ihnen sagen, was er wusste. Gawyn wünschte sich, er hätte sich selbst davon überzeugen können, dass die Männer überrascht gewesen waren, aber die Art und Weise, wie er über Elaida und die Aes Sedai gesprochen hatte, hatte ihm bereits mehr als nur einen verwirrten oder finsteren Blick eingebracht.

Die Weiße Burg verdiente seine Loyalität nicht, aber die Jünglinge schon. Doch jetzt konnte er nie wieder zu ihnen zurück. Es nagte an ihm; es war das erste Mal, dass seine Wankelmütigkeit einer großen Gruppe enthüllt worden war. Niemand wusste, dass er Siuan Sanche bei der Flucht geholfen hatte, so wie es auch nicht allgemein bekannt war, dass er Egwene den Hof gemacht hatte.

Aber die Männer zu verlassen war die richtige Entscheidung gewesen. Zum ersten Mal seit Monaten stimmten seine Taten mit seinem Herzen überein. Egwene retten. Das war etwas, an das er glauben konnte.

Er näherte sich dem Lagerrand und hielt seine Miene ausdruckslos. Die Vorstellung, sich den Aes Sedai-Rebellen anzuschließen, verabscheute er beinahe genauso sehr, wie er es verabscheut hatte, seine Männer im Stich zu lassen. Diese Rebellen waren nicht besser als Elaida. Sie hatten Egwene zur Amyrlin und damit zur Zielscheibe gemacht. Egwene! Eine Aufgenommene! Eine Spielfigur. Wenn sie mit ihrem Griff nach der Burg scheiterten, würden sie es vielleicht schaffen, sich einer Bestrafung zu entziehen. Egwene würde man hinrichten.

Ich komme da rein, dachte Gawyn. Irgendwie rette ich sie. Dann bringe ich sie zur Vernunft und schaffe sie von diesen ganzen Aes Sedai weg. Vielleicht kann ich sogar Bryne zur Vernunft bringen. Dann können wir alle nach Andor zurückkehren und Elayne helfen.

Mit gestärkter Entschlossenheit ritt er weiter und verscheuchte einen Teil seiner Erschöpfung. Um den Kommandoposten zu erreichen, musste er durch den Tross reiten, der die eigentlichen Truppen zahlenmäßig überstieg. Köche, die Essen zubereiteten. Frauen, die das Essen servierten und sich um den Abwasch kümmerten. Kutscher, die die Wagen mit den Lebensmitteln fuhren. Stellmacher, die die Wagen reparierten, die die Lebensmittel transportierten. Hufschmiede, die Hufeisen für die Pferde machten, die die Wagen zogen, die die Lebensmittel transportierten. Kaufleute, die die Lebensmittel kauften, und Quartiermeister, die ihre Verteilung organisierten. Weniger seriöse Kaufleute, die von den Soldaten und ihrem Sold profitieren wollten, und Frauen, die das ebenfalls versuchten. Jungen, die Botschaften überbrachten und hofften, eines Tages selbst ein Schwert tragen zu können.

Es war ein völliges Durcheinander. Eine Ansammlung von Zelten und Bretterbuden, jedes in einer anderen Farbe, Form und Baufälligkeit. Selbst ein fähiger General wie Bryne konnte im Tross nur eine gewisse Ordnung durchsetzen. Seine Männer würden mehr oder weniger für Frieden sorgen, aber sie konnten die Zivilisten nicht zwingen, militärische Disziplin einzuhalten.

Gawyn bahnte sich einen Weg und ignorierte alle, die ihm anboten, sein Schwert zu putzen oder ihm Süßigkeiten zu verkaufen. Die Preise würden niedrig sein, das hier war immerhin ein Ort, der von den Soldaten lebte, aber mit seinem Schlachtross und der besseren Kleidung würde man ihn für einen Offizier halten. Kaufte er von einem, würden die anderen Geld riechen, und am Ende umlagerte ihn eine Horde, die ihm etwas zu verkaufen hoffte.

Er ignorierte die Rufe und hielt den Blick nach vorn gerichtet, auf das eigentliche Heer. Seine Zelte waren in ordentlichen Reihen organisiert, gruppiert nach Schwadron und Banner, allerdings manchmal auch in kleineren Gruppen. Gawyn hätte den Grundriss aufzeichnen können, ohne ihn zu sehen. Bryne mochte Organisation, aber er hielt auch viel vom Delegieren. Offizieren würde er gestatten, ihre Lager so zu führen, wie sie es wollten, was zu einem Aufbau führte, der nicht einheitlich war. Aber das war immer noch besser, als alles selbst leiten zu müssen.

Er ritt direkt zur Palisade. Aber das Lagervolk um ihn herum war nicht leicht zu ignorieren. Ihre Rufe schienen in der Luft zu verweilen, zusammen mit den Gerüchen von Latrinen, Pferden und billigem Parfüm. Das Lager war nicht so bevölkert wie eine Stadt, aber es war auch nicht so ordentlich instand gehalten. Schweiß, brennende Kochfeuer, abgestandenes Wasser und ungewaschene Körper, das alles vermengte sich miteinander. Am liebsten hätte er sich ein Taschentuch vors Gesicht gehalten, aber er sah davon ab. Es hätte ihn wie einen verwöhnten Adligen aussehen lassen, der seine Nase vom gewöhnlichen Volk abwandte.

Gestank, Verwirrung und Lärm waren seiner Stimmung jedoch nicht förderlich. Er musste sich zusammenreißen, um nicht jeden Händler mit einem Fluch zu belegen. Eine Gestalt stolperte genau in seinen Weg - er zügelte das Pferd. Die Frau trug einen braunen Rock und eine weiße Bluse; ihre Hände waren schmutzig. »Aus dem Weg«, fauchte er. Seine Mutter wäre außer sich gewesen, hätte sie ihn mit einer solchen Wut sprechen hören. Nun, seine Mutter war tot, ermordet von al'Thor.

Die Frau vor ihm schaute auf und machte schnell den Weg frei. Ihr helles Haar war mit einem gelben Tuch bedeckt; sie war etwas mollig. Gawyn erhaschte nur einen schnellen Blick auf ihr Gesicht, als sie sich umdrehte.

Er erstarrte. Das war das Gesicht einer Aes Sedai! Unverkennbar. Er saß fassungslos da, während die Frau das Kopftuch richtete und forteilte.

»Wartet!«, rief er und wendete das Pferd. Aber die Frau blieb nicht stehen. Er zögerte und senkte den Arm, als er sah, wie sie sich zu einer Reihe von Wäscherinnen gesellte, die ein gutes Stück entfernt zwischen mehreren Holztrögen arbeiteten. Wenn sie so tat, als wäre sie eine normale Frau, dann hatte sie vermutlich ihre verfluchten Aes Sedai-Gründe, und sie würde nicht erfreut darüber sein, wenn er sie entlarvte. Nun gut. Er bezwang seinen Ärger. Egwene. Er musste sich auf Egwene konzentrieren.

Als er die Palisade erreichte, verbesserte sich die Luft auf beträchtliche Weise. Vier Soldaten hielten mit ihren Hellebarden Wache; ihre Stahlhelme funkelten und passten zu den Brustpanzern, auf denen Brynes drei Sterne flammten. Neben dem Tor flatterte ein Banner mit der Flamme von Tar Valon.

»Rekrut?«, fragte einer der Soldaten, als Gawyn heranritt. Der schwergewichtige Mann trug einen roten Streifen an der linken Schulter, was ihn als Wachsergeant auswies. Statt einer Hellebarde trug er ein Schwert. Sein Harnisch konnte nur mit Mühe seinen Bauchumfang bewältigen, unter seinem Kinn sprossen rote Haare. »Da müsst Ihr mit Hauptmann Aldan sprechen«, sagte der Mann mit einem Grunzen. »Das große blaue Zelt an der Außenseite des Lagers. Ihr habt Euer eigenes Pferd und Schwert, das wird Euch guten Sold einbringen.« Der Soldat zeigte auf eine ferne Stelle im Hauptlager, außerhalb der Palisade. Das kam für Gawyn nicht infrage. Er konnte Brynes Banner sehen, das hinter der Holzbarriere flatterte.

»Ich bin kein Rekrut«, sagte Gawyn und zog Herausforderer ein Stück herum, damit er einen besseren Blick auf die Männer hatte. »Mein Name ist Gawyn Trakand. Ich muss sofort Gareth Bryne in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«

Der Soldat hob eine Braue. Dann kicherte er.

»Ihr glaubt mir nicht«, sagte Gawyn tonlos.

»Ihr solltet mit Hauptmann Aldan sprechen«, sagte der Mann faul und zeigte wieder auf das Zelt in der Ferne.

Gawyn nahm einen tiefen, beruhigenden Atemzug und versuchte seine Gereiztheit zu bezwingen. »Wenn Ihr einfach nach Bryne schicken würdet, dann ...«

»Wollt Ihr mir Ärger machen?«, fragte der Soldat und plusterte sich auf. Die anderen Männer machten ihre Hellebarden bereit.

»Keinen Ärger«, sagte Gawyn ganz ruhig. »Ich muss bloß ...«

»Wenn Ihr bei uns mitmachen wollt«, unterbrach ihn der Soldat und trat einen Schritt vor, »dann werdet Ihr lernen müssen, das zu tun, was man Euch sagt.«

Gawyn erwiderte seinen Blick. »Also gut. Wir können das auch auf diese Weise tun. Vermutlich geht es dann eh schneller.«

Der Sergeant legte eine Hand auf den Schwertgriff.

Gawyn trat die Füße aus den Steigbügeln und stieß sich aus dem Sattel. Auf dem Pferderücken würde es zu anstrengend sein, sich davon abzuhalten, den Mann zu töten. Er zog die Klinge, als seine Stiefel auf den schlammigen Boden auftrafen; die Scheide zischte wie scharf eingesogener Atem. Gawyn nahm Eiche schüttelt ihre Äste ein, eine Figur, die nicht-tödliche Schläge austeilte und oft von Meistern zu Ausbildungszwecken benutzt wurde. Sie ließ sich auch äußerst effektiv gegen große Gruppen mit verschiedenen Waffen einsetzen.

Bevor der Sergeant das Schwert gezogen hatte, krachte Gawyn schon gegen ihn und rammte ihm den Ellbogen direkt unter dem schlecht sitzenden Harnisch in den Bauch. Grunzend krümmte sich der Mann, dann schlug ihm Gawyn den Schwertgriff gegen die Kopfseite - der Mann hätte es besser wissen müssen, seinen Helm so schräg zu tragen. Sofort verfiel er in Die Seide zur Seite schieben, um sich um den ersten Hellebardenmann zu kümmern. Während ein anderer der Männer Hilfe herbeirief, fuhr Gawyns Klinge klirrend über den Harnisch des Soldaten und zwang ihn zurück. Er vollendete die Bewegungsfolge, indem er dem Mann die Beine unter dem Leib wegtrat, dann glitt er in Blatt im Wind, um die Schläge der letzten beiden Männer abzuwehren.

Es war etwas unglücklich, aber er kam nicht darum herum, die Oberschenkel der beiden noch stehenden Hellebardenmänner zu treffen. Er hätte es vorgezogen, sie nicht verwunden zu müssen, aber Kämpfe wurden immer unberechenbarer, je länger sie dauerten - selbst Kämpfe wie dieser gegen bedeutend ungeschicktere Gegner. Man musste das Schlachtfeld schnell und entschlossen kontrollieren, und das bedeutete, die beiden Soldaten zu Boden zu schicken. Mit blutenden Oberschenkeln. Der Sergeant hatte durch den Schlag auf den Kopf das Bewusstsein verloren, aber der erste Hellebardenmann erhob sich auf unsicheren Beinen. Gawyn trat seine Hellebarde zur Seite, dann stieß er ihm den Stiefel ins Gesicht und verpasste ihm eine blutige Nase.

Herausforderer wieherte hinter ihm, schnaubte und trat auf den Boden. Das Schlachtross spürte einen Kampf, aber es war gut ausgebildet. Es wusste, dass es still dastehen sollte, wenn die Zügel fallen gelassen wurden. Gawyn wischte die Klinge am Hosenbein ab, dann schob er sie zurück in die Scheide. Die verwundeten Soldaten lagen stöhnend auf dem Boden. Er tätschelte Herausforderers Nase und nahm die Zügel. Hinter ihm wich das Lagervolk erst zurück, dann ergriff es die Flucht. Aus dem Inneren der Palisade kam eine Gruppe Soldaten mit gespannten Bögen. Das war nicht gut. Gawyn wandte sich ihnen zu, löste das Schwert mitsamt seiner Scheide vom Gürtel und warf es den Männern vor die Füße.

»Ich bin unbewaffnet«, sagte er über das Stöhnen der Verletzten. »Und keiner dieser vier hier wird heute sterben. Geht und berichtet eurem General, dass ein Schwertmeister eine Abteilung seiner Wachen in weniger als zehn Herzschlägen zu Boden geschickt hat. Ich bin ein alter Schüler von ihm. Er wird mich sehen wollen.«

Einer der Männer eilte nach vorn, um Gawyns Schwert aufzuheben, während ein anderer einen Läufer herbeiwinkte. Die anderen hielten ihre Bögen weiter erhoben. Einer der gestürzten Hellebardenmänner fing an davonzukriechen. Gawyn drehte Herausforderer ein Stück, um sich hinter das Pferd ducken zu können, falls die Soldaten zu schießen anfingen. Er hätte wirklich vorgezogen, wenn es nicht dazu kam, aber von ihnen beiden konnte Herausforderer eher ein paar Pfeile überleben als er.

Ein paar der Soldaten riskierten es, nach vorn zu kommen, um ihren gefallenen Kameraden aufzuhelfen. Der dicke Wachsergeant setzte sich auf und fluchte leise. Gawyn machte keine bedrohlichen Bewegungen.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, gegen diese Männer zu kämpfen, aber er hatte bereits genug Zeit verschwendet. Egwene konnte schon tot sein! Wenn ein Mann wie dieser Sergeant versuchte, seine Autorität durchzusetzen, blieben einem eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Man konnte sich durch die Ränge der Bürokratie nach oben reden und jeden Soldaten auf dem Weg davon überzeugen, dass man tatsächlich wichtig war. Oder man provozierte einen Zwischenfall. Das Letztere war schneller, und im Lager gab es offensichtlich genügend Aes Sedai, um ein paar verletzte Männer zu Heilen.

Schließlich kam eine kleine Gruppe Männer durch das Tor. Ihre Uniformen saßen einwandfrei, ihre Haltung verriet Gefahr, ihre Mienen waren angespannt. Angeführt wurde sie von einem Mann mit ergrauenden Schläfen und von kräftigem, stämmigem Wuchs. Gawyn lächelte. Das Spiel hatte sich ausgezahlt.

Der Generalhauptmann musterte Gawyn, dann inspizierte er schnell seine gefallenen Soldaten. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Entspannt euch«, sagte er zu seinen Männern. »Sergeant Cords.«

Der fette Sergeant stand auf. »Herr!«

Bryne sah wieder zu Gawyn herüber. »Wenn das nächste Mal ein Mann zum Tor kommt, Adliger zu sein vorgibt und nach mir fragt, dann schickt nach einem Offizier. Sofort. Es ist mir egal, ob der Mann einen zwei Monate alten Bart hat und nach billigem Ale stinkt. Verstanden?«

»Ja, Herr«, sagte der Sergeant errötend. »Verstanden, Herr!«

»Schafft Eure Männer ins Krankenlager, Sergeant«, sagte Bryne und sah die ganze Zeit Gawyn an. »Und Ihr, Ihr kommt mit mir.«

Gawyn biss die Zähne zusammen. Als ihn Gareth Bryne das letzte Mal auf diese Weise angeknurrt hatte, hatte er sich noch nicht rasieren müssen. Andererseits konnte er wirklich nicht erwarten, dass der Mann erfreut sein würde. Direkt hinter der Palisade entdeckte er einen Jungen, der vermutlich Stallbursche oder Bote war. Er drückte dem ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrenden Jungen Herausforderers Zügel in die Hand und trug ihm auf, sich um das Pferd zu kümmern. Dann holte er sich sein Schwert von dem Soldaten zurück, der es hielt, und eilte hinter Bryne her.

»Gareth«, sagte Gawyn, als er ihn einholte. »Ich ...«

»Haltet den Mund, junger Mann«, sagte Bryne, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Noch habe ich nicht entschieden, was ich mit Euch machen werde.«

Gawyn klappte den Mund zu. Das war ungehörig! Er war nach wie vor der Bruder der rechtmäßigen Königin von Andor und würde der Erste Prinz des Schwertes sein, sollte Elayne den Thron erobern und behalten! Bryne hätte ihm den nötigen Respekt erweisen müssen.

Aber Bryne konnte so stur wie ein Eber sein. Gawyn hielt den Mund. Sie kamen zu einem großen Spitzzelt, vor dessen Eingang zwei Wächter standen. Bryne duckte sich hinein, und Gawyn folgte ihm. Das Innere war sauber und aufgeräumt, mehr, als Gawyn erwartet hätte. Der Schreibtisch war übersät mit zusammengerollten Karten und ordentlichen Papierstapeln, und die Decken auf den Pritschen in der Ecke waren sorgfältig zusammengefaltet. Offensichtlich hatte Bryne jemanden, der hier gewissenhaft aufräumte.

Bryne verschränkte die Hände hinter dem Rücken; Gawyns Gesicht spiegelte sich in seinem Harnisch, als er sich umdrehte. »Also gut. Erklärt, was Ihr hier tut.«

Gawyn nahm den Kopf etwas höher. »General«, sagte er. »Ich glaube, Ihr unterliegt da einem Irrtum. Ich bin nicht länger Euer Schüler.«

»Ich weiß«, sagte Bryne barsch. »Der Junge, den ich ausbildete, hätte niemals versucht, auf so kindische Weise meine Aufmerksamkeit zu erregen.«

»Der Wachsergeant war streitlustig, und ich hatte keine Geduld für diesen aufgeblasenen Narren. Das schien die beste Möglichkeit zu sein.«

»Die beste Möglichkeit, um was zu tun?«, wollte Bryne wissen. »Mich zu erzürnen?«

»Seht, vielleicht war ich ja voreilig«, sagte Gawyn. »Aber ich habe eine wichtige Aufgabe. Ihr müsst mir zuhören.«

»Und wenn ich mich weigere? Wenn ich Euch stattdessen aus meinem Lager werfe, weil Ihr ein verwöhnter Prinz mit zu viel Stolz und zu wenig Verstand seid?«

Gawyn runzelte die Stirn. »Vorsichtig, Gareth. Seit unserer letzten Begegnung habe ich viel gelernt. Ich glaube, Ihr würdet erleben, dass Euer Schwert das meine nicht mehr so leicht bezwingen kann wie früher.«

»Das bezweifle ich auch nicht«, sagte Bryne. »Beim Licht, Junge! Ihr hattet schon immer Talent. Aber glaubt Ihr ernsthaft, dass Euer Geschick mit dem Schwert Eurem Wort mehr Gewicht verleiht? Ich soll Euch zuhören, weil Ihr mich sonst tötet? Ich dachte, ich hätte Euch mehr beigebracht.«

Bryne war gealtert, seit Gawyn ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber das Alter beugte ihn nicht - es ruhte bequem auf seinen Schultern. Ein Paar weiße Strähnen mehr an den Schläfen, ein paar Falten mehr um die Augen, aber stark und schlank genug, dass er Jahre jünger aussah, als er war. Man konnte Gareth Bryne nicht anschauen und etwas anderes als einen Mann im besten Alter sehen, der mit Sicherheit noch nicht darüber hinaus war.

Gawyn sah dem General in die Augen und bemühte sich, seinen Ärger nicht emporbrodeln zu lassen. Bryne hielt seinem Blick seelenruhig stand. Unerschütterlich. So, wie es sich für einen General gehörte. So, wie Gawyn hätte sein müssen.

Er senkte den Blick und schämte sich plötzlich. »Beim Licht«, flüsterte er, ließ das Schwert los und rieb sich die Stirn. Plötzlich fühlte er sich sehr, sehr müde. »Gareth, es tut mir leid. Ihr habt recht. Ich war ein Narr.«

Bryne grunzte. »Gut, das zu hören. Ich fing schon an, mich zu fragen, was mit Euch passiert ist.«

Gawyn seufzte und sehnte sich nach etwas Kaltem zu trinken. Seine Wut schmolz dahin, und er fühlte sich erschöpft. »Es war ein schwieriges Jahr«, sagte er, »und ich habe mich zu hart angetrieben, um hierher zu gelangen. Dabei bin ich an den Grenzen meines Verstandes angelangt.«

»Da seid Ihr nicht der Einzige, mein Junge«, sagte Bryne. Er holte tief Luft und trat zu einem kleinen Serviertisch, wo er einen Becher füllte. Es war nur warmer Tee, aber Gawyn nahm ihn dankbar und trank.

»Diese Zeiten stellen einen Mann auf die Probe«, meinte Bryne und nahm sich selbst einen Becher. Er trank einen Schluck und verzog das Gesicht.

»Was?«, fragte Gawyn und schaute auf seinen Becher.

»Nichts. Ich verabscheue dieses Zeug nur.«

»Und warum trinkt Ihr es dann?«

»Es soll meine Gesundheit verbessern«, grollte Bryne. Bevor Gawyn nachfragen konnte, fuhr der General fort. »Wollt Ihr mich also dazu bringen, Euch ins Loch zu werfen, bevor Ihr mir verratet, warum Ihr Euch den Weg in meinen Kommandoposten freikämpfen musstet?«

Gawyn trat einen Schritt vor. »Gareth. Es geht um Egwene. Sie haben sie.«

»Die Aes Sedai der Weißen Burg?«

Gawyn nickte eifrig.

»Ich weiß.« Bryne nahm noch einen Schluck und verzog wieder das Gesicht.

»Wir müssen sie da rausholen!«, sagte Gawyn. »Ich bin gekommen, um Euch um Hilfe zu bitten. Ich will Egwene befreien.«

Bryne schnaubte leise. »Und wie wollt Ihr in die Weiße Burg kommen? Nicht einmal die Aiel konnten in diese Stadt eindringen.«

»Sie wollten es ja auch gar nicht«, sagte Gawyn. »Aber ich muss auch nicht die Stadt erobern, ich brauche bloß einen kleinen Trupp hineinschmuggeln und dann eine Person herausholen. Jeder Stein hat seine Sprünge. Ich werde einen Weg finden.«

Bryne stellte den Becher ab. Er sah seinen Besucher an, das von den Elementen gezeichnete Gesicht eine Ikone der Ehrenhaftigkeit. »Verratet mir eines, mein Junge. Wie werdet Ihr sie dazu bringen, Euch auch zu begleiten?«

Gawyn sah ihn verständnislos an. »Nun, sie wird erleichtert sein, dort wegzukommen. Warum sollte sie nicht?«

»Weil sie uns verboten hat, sie zu retten«, sagte Bryne und verschränkte wieder die Hände auf dem Rücken. »Zumindest habe ich mir das so zusammengereimt. Die Aes Sedai verraten mir nur wenig. Man sollte annehmen, dass sie einem Mann, den sie dazu brauchen, um eine Belagerung für sie durchzuführen, etwas vertrauensvoller gegenübertreten. Aber wie dem auch sei, die Amyrlin kann irgendwie mit ihnen kommunizieren, und sie hat ihnen befohlen, sie in Ruhe zu lassen.«

Was? Das war lächerlich! Offensichtlich verschleierten die Aes Sedai im Lager die Fakten. »Bryne, sie ist eingekerkert! Die Aes Sedai, die ich reden hörte, sagten, dass man sie täglich prügelt. Sie werden sie hinrichten!«

»Ich weiß nicht. Sie ist jetzt schon seit Wochen bei ihnen, und sie haben sie noch nicht hingerichtet.«

»Sie werden sie umbringen«, sagte Gawyn eindringlich. »Ihr wisst genau, dass sie das tun werden. Man mag ja einen besiegten Feind eine Weile vor seinen Soldaten zur Schau stellen, aber irgendwann wird man seinen Kopf auf einem Speer aufspießen müssen, um alle wissen zu lassen, dass er tot und erledigt ist. Ihr wisst, dass ich recht habe.«

Bryne betrachtete ihn, dann nickte er. »Vielleicht tue ich das. Aber ich kann trotzdem nichts tun. Ich bin durch Eide gebunden, Gawyn. Ich kann nichts tun, es sei denn, das Mädchen befiehlt es mir.«

»Ihr würdet sie sterben lassen?«

»Wenn das nötig ist, um meinen Schwur zu halten, dann ja.«

Wenn Bryne durch einen Eid gebunden war ... nun, er würde eher eine Aes Sedai lügen hören, als zu erleben, wie Gareth Bryne sein Wort brach. Aber Egwene! Es musste etwas geben, das er tun konnte!

»Ich versuche, Euch eine Audienz bei einigen der Aes Sedai zu verschaffen, denen ich diene«, sagte Bryne. »Vielleicht können sie etwas tun. Wenn Ihr sie davon überzeugen könnt, dass eine Rettung nötig ist und dass die Amyrlin es doch will, dann sehen wir weiter.«

Gawyn nickte. Das war immerhin ein Anfang. »Danke.«

Bryne winkte ab. »Vielleicht sollte ich Euch doch ins Loch werfen. Allein, weil Ihr drei von meinen Männern verletzt habt.«

»Lasst sie von einer Aes Sedai Heilen«, meinte Gawyn. »Soweit ich gehört habe, mangelt es Euch nicht an Schwestern, die Euch herumschubsen.«

»Pah. Ich kann sie kaum dazu bringen, überhaupt jemanden zu Heilen, solange sein Leben nicht in Gefahr ist. Letztens hatte ein Mann einen bösen Reitunfall, und ich musste mir sagen lassen, dass das Heilen ihn bloß leichtsinnig machen würde. ›Schmerz ist seine eigene Lektion‹, sagte die verdammte Frau. ›Vielleicht verzichtet er das nächste Mal ja darauf, beim Reiten vor seinen Freunden anzugeben.‹«

Gawyn verzog das Gesicht. »Aber sicherlich werden sie doch wohl für diese Männer eine Ausnahme machen. Schließlich hat ein Feind sie verwundet.«

»Wir werden sehen. Die Schwestern besuchen die Soldaten nur selten. Sie müssen sich um ihre eigenen Dinge kümmern.«

»Aber jetzt ist doch eine im Lager«, sagte Gawyn gedankenverloren und schaute über die Schulter.

»Ein jüngeres Mädchen? Dunkles Haar, ohne das alterslose Gesicht?«

»Nein, es war eine Aes Sedai. Ich weiß es wegen ihres Gesichts. Sie war etwas mollig, mit hellen Haaren.«

»Vermutlich ist sie auf der Suche nach Behütern«, sagte Bryne und seufzte. »Das machen sie dauernd.«

»Das glaube ich nicht«, meinte Gawyn. »Sie versteckte sich unter den Wäscherinnen.« Als er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass sie durchaus eine Spionin der Loyalisten sein konnte.

Brynes Stirnrunzeln vertiefte sich. Vielleicht hatte er den gleichen Gedanken. »Zeigt sie mir«, sagte er und ging zum Eingang. Er stieß die Plane zur Seite und trat hinaus in das Morgenlicht. Gawyn folgte ihm.

»Ihr habt nicht erklärt, was Ihr hier eigentlich macht, Gawyn«, sagte Bryne, als sie durch das ordentliche Lager gingen und die Soldaten ihrem General salutierten.

»Das habe ich Euch gesagt«, erwiderte Gawyn, dessen Hand ruhig auf dem Schwertknauf ruhte. »Ich werde eine Möglichkeit finden, Egwene aus dieser Todesfalle herauszuschaffen.«

»Ich meinte nicht, was Ihr in meinem Lager macht. Ich meinte, warum Ihr überhaupt in der Gegend seid. Warum seid Ihr nicht in Caemlyn und helft Eurer Schwester?«

»Ihr habt von Elayne gehört?«, sagte Gawyn und blieb stehen. Beim Licht! Er hätte früher fragen sollen. Er war wirklich müde. »Ich hörte, sie sei in Eurem Lager gewesen. Sie ist zurück nach Caemlyn gereist? Ist sie in Sicherheit?«

»Sie ist schon lange nicht mehr bei uns. Aber es scheint ihr gut zu gehen.« Er blieb ebenfalls stehen und sah Gawyn an. »Ihr meint, Ihr wisst es nicht?«

»Was denn?«

»Nun, Gerüchte sind unzuverlässig«, sagte der General. »Aber ich habe sie mir von den Aes Sedai bestätigen lassen, die nach Caemlyn Gereist sind, um dort Neuigkeiten zu erfahren. Eure Schwester hält den Löwenthron. Anscheinend hat sie den größten Teil des Schlamassels wieder gerichtet, den Eure Mutter ihr hinterließ.«

Gawyn holte tief Luft. Dem Licht sei Dank, dachte er und schloss die Augen. Elayne lebte. Elayne saß auf dem Thron. Er öffnete die Augen, und der bewölkte Himmel erschien irgendwie etwas heller. Er setzte sich wieder in Bewegung, und Bryne ging neben ihm her.

»Ihr habt es wirklich nicht gewusst. Wo seid Ihr denn gewesen, mein Junge? Ihr seid jetzt der Erste Prinz des Schwertes, oder werdet es zumindest nach Eurer Rückkehr nach Caemlyn sein. Euer Platz ist an der Seite Eurer Schwester.«

»Egwene kommt zuerst.«

»Ihr habt einen Eid geleistet«, sagte Bryne streng. »Vor mir. Habt Ihr das vergessen?«

»Nein. Aber wenn Elayne auf dem Thron sitzt, dann ist sie im Moment sicher. Ich werde Egwene finden und sie nach Caemlyn zurückschleifen, wo ich sie im Auge behalten kann. Wo ich sie beide im Auge behalten kann.«

Bryne schnaubte. »Dabei würde ich zu gern zuschauen«, meinte er. »Aber egal, warum wart ihr nicht da, als Elayne versuchte, den Thron zu erringen? Was habt Ihr denn getan, das so viel wichtiger war?«

»Ich ... wurde da in etwas verwickelt«, sagte Gawyn und schaute starr nach vorn.

»In etwas verwickelt?«, fragte Bryne. »Ihr wart in der Weißen Burg, als das alles ...« Er verstummte. Einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her.

»Wo habt Ihr die Schwestern über Egwenes Gefangennahme sprechen hören?«, fragte Bryne. »Woher könnt Ihr wissen, dass man sie bestraft?«

Gawyn schwieg.

»Blut und verdammte Asche!«, rief Bryne aus. Der General fluchte nur selten. »Ich wusste doch, dass derjenige, der diese Stoßtrupps gegen mich anführte, viel zu gut informiert war. Und ich suche bei meinen Offizieren nach einem Leck!«

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

»Das entscheide ich«, sagte Bryne. »Ihr habt meine Männer getötet. Angriffe gegen mich geführt!«

»Angriffe gegen die Rebellen geführt«, erwiderte Gawyn und schenkte Bryne einen harten Blick. »Ihr dürft mich dafür verantwortlich machen, dass ich mir den Weg in Euer Lager ertrotzt habe, aber erwartet Ihr ernsthaft, dass ich mich schuldig fühle, weil ich der Weißen Burg gegen die Streitmacht geholfen habe, die sie belagert?«

Bryne verstummte. Dann nickte er knapp. »Also gut. Aber das macht Euch zu einem feindlichen Befehlshaber.«

»Das ist vorbei. Ich habe den Befehl abgegeben.«

»Aber ...«

»Ich habe ihnen geholfen. Jetzt nicht mehr. Nichts von dem, was ich hier sehe, wird den Weg zu Euren Feinden finden, Bryne. Das schwöre ich beim Licht.«

Darauf gab Bryne nicht sofort eine Antwort. Sie kamen an Zelten vorbei, die vermutlich den höheren Offizieren gehörten, näherten sich der Palisade. »Also gut«, sagte der General dann. »Ich vertraue darauf, dass Ihr Euch nicht genug geändert habt, um Euer Wort zu brechen.«

»Ich würde mich nicht gegen diesen Eid wenden«, sagte Gawyn grob. »Wie könnt Ihr das nur von mir denken?«

»In der letzten Zeit habe ich oft Erfahrungen mit der Lossagung von Eiden gemacht«, erklärte Bryne. »Ich sagte, ich glaube Euch, mein Junge. Und das tue ich. Aber Ihr habt noch immer nicht erklärt, warum Ihr nicht nach Caemlyn zurückgekehrt seid.«

»Egwene war bei den Aes Sedai. Soweit ich wusste, ging es Elayne gut. Es schien ein guter Ort zu sein, um dort zu bleiben, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob mir Elaidas Autorität gefallen sollte.«

»Und was bedeutet Euch Egwene?«, fragte Bryne leise.

Gawyn erwiderte seinen Blick. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Ich wünschte, ich wüsste es.«

Seltsamerweise kicherte der General. »Ich verstehe. Wirklich, das tue ich. Kommt, lasst uns diese Aes Sedai finden, die Ihr zu sehen geglaubt habt.«

»Ich habe sie gesehen, Gareth«, sagte Gawyn und nickte den Posten zu, als sie durch das Tor gingen. Die Männer salutierten ihrem General, musterten Gawyn aber, als wäre er eine Schwarznatter. Wie es sich auch gehörte.

»Wir werden sehen, was wir finden«, sagte Bryne. »Aber egal, sobald ich Euch ein Treffen mit den Anführerinnen der Aes Sedai vermittelt habe, will ich Euer Wort, dass Ihr zurück nach Caemlyn geht. Überlasst Egwene uns. Ihr müsst Elayne helfen. Euer Platz ist in Andor.«

»Von Euch könnte ich das Gleiche sagen.« Gawyn betrachtete das vor Leben überschäumende Lager des Trosses. Wo war die Frau nur gewesen?

»Das könntet Ihr«, sagte Bryne schroff. »Aber es wäre nicht die Wahrheit. Dafür hat Eure Mutter gesorgt.«

Gawyn sah ihn fragend an.

»Sie hat mich auf die Weide geschickt, Gawyn. Hat mich verbannt und mir mit dem Tod gedroht.«

»Unmöglich!«

Bryne schaute grimmig drein. »Das dachte ich auch. Aber es stimmt trotzdem. Die Dinge, die sie sagte ... sie taten weh, Gawyn. Das taten sie wirklich.«

Mehr sagte Bryne nicht, aber da das von ihm kam, sprach es Bände. Gawyn hatte den Mann niemals ein Wort der Unzufriedenheit über seine Stellung oder seine Befehle äußern gehört. Er war Morgase treu ergeben gewesen - loyal mit der Art von Standhaftigkeit, die sich jeder Herrscher nur wünschen konnte. Gawyn hatte nie einen Mann kennengelernt, der sich seiner Sache sicherer gewesen war, oder einen Mann, der weniger geneigt war, sich zu beklagen.

»Das muss der Teil eines Plans gewesen sein«, sagte er dann. »Ihr kennt Mutter doch. Sollte sie Euch verletzt haben, dann gab es einen Grund dafür.«

Bryne schüttelte den Kopf. »Keinen Grund außer närrischer Liebe für diesen Gecken Gaebril. Um ein Haar hätte sie zugelassen, dass sie in ihrer geistigen Umnachtung Andor ruiniert.«

»Niemals!«, fauchte Gawyn. »Gareth, Ihr von allen Leuten solltet das wissen!«

»Das sollte ich«, sagte Bryne und senkte die Stimme. »Und ich wünschte, ich täte es.«

»Sie hatte andere Motive«, sagte Gawyn stur. Wieder fühlte er in sich den Zorn emporsteigen. Um sie herum schauten Händler sie an, sagten aber nichts. Vermutlich wussten sie, dass sie sich Bryne nicht nähern durften. »Aber das werden wir jetzt nie mehr erfahren. Jetzt, da sie tot ist. Al'Thor soll verflucht sein! Der Tag, an dem ich ihn durchbohre, kann nicht früh genug kommen.«

Bryne warf ihm einen scharfen Blick zu. »Al'Thor hat Andor gerettet, mein Sohn. Jedenfalls, soweit das einem Mann möglich war.«

»Wie könnt Ihr das sagen? Wie könnt Ihr nur gut über dieses Ungeheuer sprechen? Er hat meine Mutter umgebracht!«

»Ich weiß nicht, ob ich diesen Gerüchten Glauben schenken soll oder nicht«, entgegnete Bryne und rieb sich das Kinn. »Aber wenn ich es tue, mein Junge, dann hat er Andor vielleicht einen Gefallen getan. Ihr habt keine Ahnung, wie schlimm es am Ende dort wurde.«

»Ich kann nicht glauben, was ich da höre!« Gawyn griff nach dem Schwert. »Ich lasse nicht zu, dass man ihren Namen auf diese Weise beschmutzt, Bryne. Das ist mein Ernst.«

Bryne schaute ihm in die Augen. Sein Blick war so fest. Wie aus Granit gemeißelt. »Ich sage immer die Wahrheit, Gawyn. Ganz egal, wer mich damit herausfordert. Das fällt schwer, es sich anzuhören? Nun, es war noch schwerer, es zu erleben. Es kommt nie etwas Gutes heraus, wenn man sich beschwert. Aber ihr Sohn muss es wissen. Am Ende, Gawyn, hat sich Eure Mutter gegen Andor gewandt, indem sie Gaebril umarmte. Sie musste entfernt werden. Und sollte al'Thor das für uns getan haben, dann müssen wir ihm danken.«

Gawyn schüttelte den Kopf, Zorn und Fassungslosigkeit rangen miteinander. Das sollte Gareth Bryne sein?

»Das sind nicht die Worte eines verschmähten Liebhabers«, sagte Bryne mit steinerner Miene, als hätte er sämtliche Gefühle zur Seite geschoben. Er sprach leise, während sie weitergingen, und das Lagervolk machte einen weiten Bogen um sie. »Ich kann akzeptieren, dass eine Frau die Zuneigung zu einem Mann verliert und sich einem anderen zuwendet. Ja, Morgase der Frau kann ich vergeben. Aber Morgase der Königin? Sie hat dieser Schlange das Königreich gegeben. Sie hat ihre Verbündeten zur Prügelstrafe geschickt und sie dann in den Kerker geworfen. Sie war nicht mehr richtig im Kopf. Manchmal muss man den faulenden Arm eines Soldaten abschneiden, um dem Mann sein Leben zu retten. Ich freue mich über Elaynes Erfolg, und es ist wie eine Wunde, diese Worte zu sprechen. Aber Ihr müsst diesen Hass auf al'Thor begraben. Er war nicht das Problem. Das war Eure Mutter.«

Gawyn biss die Zähne zusammen. Niemals, dachte er. Ich werde al'Thor niemals vergeben. Das nicht.

»Ich kann die Absicht hinter diesem Blick erkennen«, sagte Bryne. »Nur noch ein Grund mehr, Euch zurück nach Andor zu schaffen. Ihr werdet sehen. Und wenn Ihr mir nicht glaubt, fragt Eure Schwester. Seht, was sie dazu zu sagen hat.«

Gawyn nickte knapp. Voraus erkannte er die Stelle wieder, wo er die Frau gesehen hatte. Er suchte nach den Wäscherinnen, dann ging er auf sie zu, schob sich zwischen zwei Kaufleuten mit stinkenden Hühnerkäfigen vorbei, die Eier verkauften. »Hier entlang«, sagte er, vielleicht etwas zu scharf.

Er vergewisserte sich nicht, ob Bryne ihm folgte. Der General hatte ihn bald eingeholt; er sah nicht erfreut aus, aber er sagte nichts.

Sie gingen einen gewundenen, bevölkerten Weg, vorbei an Leuten in brauner und dunkelgrauer Kleidung, und bald erreichten sie die Reihe aus Frauen, die vor zwei langen Holztrögen mit langsam fließendem Wasser stand. Männer am anderen Ende gossen Wasser in die Tröge, und die Frauen wuschen Kleidung in dem seifigen Wasser, dann spülten sie sie in dem sauberen aus. Kein Wunder, dass der Boden so nass war. Wenigstens roch es hier nach Seife und Sauberkeit.

Die Frauen hatten die Ärmel bis zu den Oberarmen aufgerollt, und die meisten von ihnen plauderten bei der Arbeit, die daraus bestand, Kleidung auf den Waschbrettern in den Trögen zu scheuern. Sie trugen alle die gleichen braunen Röcke, die Gawyn bei der Aes Sedai gesehen hatte. Er legte die Hand träge auf den Schwertgriff und musterte die Frauen von hinten.

»Welche ist es?«, fragte Bryne.

»Einen Moment«, erwiderte er. Da waren Dutzende von Frauen. Hatte er wirklich gesehen, was er zu sehen geglaubt hatte? Warum sollte sich eine Aes Sedai ausgerechnet an diesem Ort hier aufhalten? Sicherlich würde Elaida keine Aes Sedai als Spionin losschicken; ihre Gesichter waren viel zu auffällig.

Andererseits, wenn sie so leicht zu erkennen waren, warum konnte er sie dann nicht finden?

Und dann sah er sie. Sie war die einzige der Frauen, die sich nicht unterhielt. Sie kniete mit gesenktem Kopf da, das Haar unter dem gelben Tuch verborgen, das auch ihr Gesicht in Schatten tauchte. Ein Paar Locken ragten unter dem Stoff hervor. Ihre Haltung war so unterwürfig, dass er sie beinah übersehen hätte, aber die Formen ihres Körpers unterschieden sich von den anderen. Sie war sehr mollig, und das Kopftuch war das einzige gelbe in Sicht.

Gawyn schritt die Reihe der arbeitenden Frauen entlang, von denen einige aufstanden und mit in die Hüften gestemmten Händen in nicht zu missverstehenden Worten erklärten, das »Soldaten mit ihren großen Füßen und unbeholfenen Ellbogen« bei Frauenarbeit nichts zu suchen hatten. Er ignorierte sie und ging weiter, bis er neben dem gelben Kopftuch stand.

Das ist doch verrückt, dachte er. In der ganzen Geschichte der Aes Sedai hat es noch nie eine gegeben, die freiwillig diese Haltung eingenommen hätte.

Bryne trat neben ihn. Er beugte sich vor und versuchte einen besseren Blick auf das Gesicht der Frau zu erhaschen. Sie kauerte sich nur noch mehr zusammen und rubbelte hektisch noch schneller an dem Hemd vor ihr in dem Trog herum.

»Frau«, sagte Gawyn. »Darf ich Euer Gesicht sehen?«

Sie reagierte nicht. Gawyn sah Bryne an. Zögernd streckte der General die Hand aus und schob das Kopftuch der dicklichen Frau zurück. Das zum Vorschein tretende Gesicht war deutlich erkennbar das einer Aes Sedai, es hatte diese unverwechselbare alterslose Qualität. Sie schaute nicht auf. Sie arbeitete weiter.

»Ich habe doch gesagt, dass es nicht funktionieren wird«, sagte eine stämmige Frau in der Nähe. Sie stand auf und watschelte die Reihe entlang. Sie trug ein zeltähnliches Kleid in Grün und Braun. »›Meine Lady‹, habe ich gesagt, ›Ihr könnt tun, was Ihr wollt, ich werde so einer wie Euch nichts abschlagen, aber irgendjemand wird Euch bemerken.‹«

»Ihr habt das Kommando über die Waschfrauen?«, fragte Bryne.

Die große Frau nickte energisch, ihre roten Locken schaukelten. »Das habe ich in der Tat, General.« Sie wandte sich der Aes Sedai zu und machte einen Knicks. »Lady Tagren, ich habe Euch gewarnt. Soll das Licht mich verbrennen, aber das habe ich. Es tut mir aufrichtig leid.«

Die Frau namens Tagren senkte den Kopf. Waren das Tränen auf ihren Wangen? War so etwas überhaupt möglich? Was ging hier vor?

»Meine Lady«, sagte Bryne und ging neben ihr in die Hocke. »Seid Ihr eine Aes Sedai? Wenn Ihr es seid und mir zu gehen befehlt, dann tue ich das, ohne eine Frage zu stellen.«

Eine gute Weise, das anzugehen. Wenn sie wirklich eine Aes Sedai war, konnte sie nicht lügen.

»Ich bin keine Aes Sedai«, flüsterte die Frau.

Bryne sah Gawyn stirnrunzelnd an. Was hatte das zu bedeuten, wenn sie das sagte? Eine Aes Sedai konnte nicht lügen. Also ...

Leise fuhr die Frau fort: »Mein Name ist Shemerin. Einst war ich eine Aes Sedai. Aber jetzt nicht mehr. Nicht seit ...« Sie schaute wieder zu Boden. »Bitte. Lasst mich in meiner Schande weiterarbeiten.«

»Das werde ich«, sagte Bryne. Dann zögerte er. »Aber zuerst muss ich dafür sorgen, dass Ihr mit ein paar Schwestern aus dem Lager sprecht. Wenn ich Euch nicht zu ihnen bringe, um mit ihnen zu sprechen, schneiden sie mir die Ohren ab.«

Die Frau, Shemerin, seufzte, stand dann aber auf.

»Kommt mit«, sagte Bryne zu Gawyn. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sie auch mit Euch sprechen wollen. Am besten bringen wir es schnell hinter uns.«

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