31 Ein Versprechen an Lews Therin

Cadsuane behielt den Umhang mitsamt seiner hochgeschlagenen Kapuze an, und das trotz der Schwüle, die ihre Fähigkeit, die Hitze zu »ignorieren«, ausgesprochen strapazierte. Weder wagte sie es, den Umhang abzunehmen, noch die Kapuze zurückzuschlagen. Al’Thors Worte waren eindeutig gewesen; sollte er ihr Gesicht sehen, würde man sie hinrichten. Wegen ein paar Stunden Unbehagen würde sie nicht ihr Leben riskieren, selbst wenn sie glaubte, dass sich al’Thor in sein gerade erst beschlagnahmtes Herrenhaus zurückgezogen hatte. Der Junge erschien oft, wenn er unerwünscht war oder man nicht mit ihm rechnete.

Natürlich würde sie sich von ihm nicht ins Exil schicken lassen. Über je mehr Macht ein Mann verfügte, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass er sich damit zum Narren machte. Gab man einem Mann eine Kuh, dann würde er sich sorgfältig um sie kümmern und mit ihrer Milch seine Familie ernähren. Gab man einem Mann zehn Kühe, betrachtete er sich vermutlich als reich - und ließ sie alle verhungern, weil er sich nicht mehr richtig um sie kümmerte.

Sie verließ den Bürgersteig, passierte mit Bannern versehene Gebäude, die wie aufeinandergestapelte Kisten aussahen. Sie war nicht gerade begeistert, wieder in Bandar Eban zu sein. Sie hatte nichts gegen die Domani; sie bevorzugte nur Städte, die nicht so überfüllt waren. Und mit den Problemen im Umland war der Ort noch voller als üblich. Trotz der Gerüchte um al’Thors Ankunft in der Stadt kamen noch immer Flüchtlinge. Cadsuane passierte eine Gruppe in einer Gasse auf der linken Seite; eine Familie mit schmutzigen Gesichtern.

Al’Thor versprach Nahrung. Das brachte hungrige Münder herbei, die es nicht eilig hatten, wieder auf ihre Höfe zurückzukehren, selbst nachdem man ihnen Lebensmittel gegeben hatte. Im Land herrschte noch zu großes Chaos, und die Nahrungsmittel hier waren zu frisch. Die Flüchtlinge konnten nicht sicher sein, dass das Getreide nicht einfach verdarb wie so vieles in letzter Zeit. Nein, sie blieben und füllten die Stadt bis in den letzten Winkel.

Cadsuane schüttelte den Kopf und ging weiter, die verflixten Holzschuhe klapperten auf dem hölzernen Bürgersteig. Die Stadt war berühmt für diese langen, stabilen Wege, die den Passanten erlaubten, den Schlamm der Straßen zu meiden. Pflastersteine hätten das Problem aus der Welt geschafft, aber die Domani waren oft ausgesprochen stolz darauf, sich vom Rest der Welt zu unterscheiden. Ungenießbares gewürztes Essen mit furchtbarem Geschirr. Eine Hauptstadt voller alberner Banner, die sich an einen Hafen anschloss. Schamlose Kleider für die Frauen, lange schmale Schnurrbarte für die Männer und eine beinahe schon meervolkhafte Vorliebe für Ohrringe.

Hunderte dieser Banner flatterten über Cadsuane im Wind, und sie biss die Zähne zusammen, um nicht der Versuchung zu erliegen, die Kapuze zurückzuschlagen und den Wind im Gesicht zu spüren. Vom Licht verfluchte Meerluft. Normalerweise war Bandar Eban kühl und regnerisch. Nur selten hatte sie es so warm erlebt. Und die Schwüle war schrecklich. Vernünftige Leute blieben im Inland!

Sie passierte mehrere Straßen, stapfte an den Kreuzungen durch den Schlamm. Das war ihrer Meinung nach ein alberner Fehler an den Bürgersteigen. Die Ortsansässigen wussten, an welchen Straßen sie queren konnten und wo der Schlamm zu tief war, aber Cadsuane konnte sich das nicht aussuchen. Darum hatte sie sich diese Holzschuhe im tairenischen Stil besorgt, die sie über ihren Schuhen trug. Es war überraschend schwer gewesen, einen Kaufmann zu finden, der sie verkaufte; offensichtlich hatten die Domani nur wenig Interesse daran, die meisten der Leute, denen sie begegnete, traten entweder barfuß in den Schlamm oder wussten, wo sie die Straße überqueren konnten, ohne sich die Schuhe dreckig zu machen.

Auf halbem Wege zu den Docks erreichte sie endlich ihr Ziel. Das schöne Banner an der Fassade flatterte gegen die verzierte Holzfassade und verkündete, dass das Gasthaus den Namen Vom Wind begünstigt trug. Cadsuane trat ein und zog die Holzschuhe in dem schlammigen Vorraum aus, bevor sie die Gaststube betrat. Dort erlaubte sie sich endlich, die Kapuze zurückzuschlagen. Sollte al’Thor zufällig diesem Gasthaus einen Besuch abstatten, dann würde er sie eben hängen müssen.

Der Gemeinschaftsraum war eher passend für den Speisesaal eines Königs ausgestattet als für eine Schenke. Auf den Tischen lagen weiße Tischdecken, und der lackierte Holzfußboden war auf Hochglanz poliert. An den Wänden hingen geschmackvolle Stillleben - das Gemälde hinter der Theke zeigte eine Obstschale, das auf der gegenüberliegenden Wand eine Blumenvase. Die Flaschen auf dem Brett hinter der Theke enthielten fast alle Wein, es gab nur wenig Branntwein oder andere Spirituosen.

Quillin Tasil, der schlanke Wirt, war ein hochgewachsener Andoraner. Das kurze dunkle Haar wurde oben bereits lichter, und der kurz geschnittene Vollbart war beinahe völlig ergraut. Aus den Ärmeln seines teuren lavendelfarbenen Mantels ragte weiße Spitze, aber er trug eine Schürze darüber. Für gewöhnlich hatte er gute Informationen, aber er war auch bereit, sich bei seinen Kollegen für sie umzuhören. In der Tat ein sehr nützlicher Mann.

Er lächelte Cadsuane an, als sie eintrat, und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. Mit einer Geste lud er sie ein, sich an einen Tisch zu setzen, dann ging er zur Theke, um Wein zu holen. Cadsuane nahm Platz, als zwei Männer auf der anderen Seite des Raumes gerade anfingen, sich laut miteinander zu streiten. Die anderen Gäste - das waren nur vier, zwei Frauen an einem Tisch und zwei weitere Männer an der Theke - ignorierten sie. Man konnte unmöglich Zeit in Arad Doman verbringen, ohne zu lernen, die häufigen Temperamentsausbrüche zu ignorieren. Die Männer hier waren so hitzköpfig wie Vulkane, und die meisten Leute waren sich darin einig, dass ihre Frauen dafür verantwortlich waren. Diese beiden Männer hier fingen nicht an, sich zu duellieren, wie es in Ebou Dar üblich gewesen wäre. Stattdessen brüllten sie sich ein paar Momente lang an, dann fingen sie an, miteinander übereinzustimmen, dann bestanden sie darauf, dem jeweils anderen ein Glas auszugeben. Streit war alltäglich; Blutvergießen eher die Ausnahme. Verletzungen waren schlecht fürs Geschäft.

Quillin brachte den Becher Wein - er würde von seinem besten Jahrgang sein. Cadsuane hatte noch nie darum gebeten, aber sie hatte ihn auch noch nie abgelehnt.

»Frau Küste«, sagte er in seinem leutseligen Tonfall, »ich wünschte, ich hätte früher gewusst, dass Ihr wieder in der Stadt seid! Ich habe nur durch Euren Brief davon erfahren!«

Cadsuane nahm den Becher entgegen. »Ich bin es nicht gewohnt, jeden meiner Bekannten über meinen Aufenthaltsort auf dem Laufenden zu halten, Meister Tasil.«

»Natürlich nicht, natürlich nicht«, erwiderte er und schien ihre scharfe Erwiderung überhaupt nicht persönlich genommen zu haben. Sie hatte es noch nie geschafft, ihn zu provozieren. Das hatte sie immer neugierig gemacht.

»Das Geschäft scheint gut zu laufen«, sagte sie höflich, was ihn dazu veranlasste, sich umzudrehen und seine Gäste zu betrachten. Es schien ihnen Unbehagen zu bereiten, auf einem glänzenden Boden an makellosen Tischen zu sitzen. Cadsuane war sich nicht sicher, ob es die einschüchternde Sauberkeit war, die die Leute dem Vom Wind begünstigt fernhielten, oder ob es an Quillins nachdrücklicher Weigerung lag, niemals Gaukler und Musikanten einzustellen. Er behauptete immer, sie würden die Atmosphäre verderben. In diesem Moment trat ein neuer Gast ein, der Schlamm hereintrug. Cadsuane konnte sehen, wie es Quillin in den Fingern juckte, sofort den Boden zu schrubben.

»Ihr da«, rief Quillin dem Mann zu. »Putzt Euch doch bitte vor dem Eintreten die Schuhe ab!«

Der Mann erstarrte, runzelte die Stirn und ging dann zurück, um der Bitte nachzukommen. Quillin seufzte und setzte sich an ihren Tisch. »Ehrlich, Frau Küste, für meinen Geschmack ist hier in letzter Zeit viel zu viel los. Manchmal verliere ich den Überblick über meine Gäste! Leute gehen wieder, ohne etwas zu trinken bekommen zu haben, weil sie vergebens daraufwarten, dass ich mich um sie kümmern kann.«

»Ihr könntet jemanden einstellen«, meinte sie. »Eine Serviermagd oder zwei.«

»Was? Und ihnen den ganzen Spaß überlassen?« Er sagte das voller Ernst.

Cadsuane probierte den Wein. In der Tat ein ausgezeichneter Jahrgang, möglicherweise sogar teuer genug, dass kein Gasthaus - ganz egal von welcher Klasse - ihn so ohne Weiteres ausschenken sollte. Sie seufzte. Quillins Ehefrau war eine der erfolgreichsten Seidenhändlerinnen der Stadt; viele Schiffe vom Meervolk kamen zu ihr, um mit ihr Handel zu treiben. Quillin hatte seiner Frau zwanzig Jahre lang die Bücher geführt, bevor er in den Ruhestand gegangen war; sie waren beide wohlhabend.

Und was tat er mit seinem Vermögen? Eröffnete ein Gasthaus. Anscheinend war das immer ein Traum von ihm gewesen. Cadsuane hatte schon vor langer Zeit aufgehört, die seltsamen Neigungen von Leuten infrage zu stellen, die zu viel freie Zeit hatten.

»Was gibt es denn Neues in der Stadt?«, fragte sie und schob einen kleinen Beutel voller Münzen über den Tisch.

» Gute Frau, Ihr beleidigt mich «, sagte er und hob die Hände. »Ich könnte Euer Geld niemals annehmen!«

Sie hob eine Braue. »Ich habe heute nur wenig Geduld für Spielchen, Meister Tasil. Wenn Ihr es nicht behalten wollt, dann gebt es den Armen. Das Licht weiß, dass es davon genug in der Stadt gibt.«

Er seufzte, dann steckte er den Geldbeutel widerstrebend ein. Vielleicht war das der Grund, warum sein Gemeinschaftsraum oft leer war; ein Wirt, dem Geld egal war, war in der Tat ein seltsames Geschöpf. Viele gewöhnliche Männer würden Quillin genauso unbehaglich finden wie den makellos sauberen Boden und die geschmackvolle Dekoration.

Allerdings war Quillin eine sehr gute Informationsquelle. Seine Frau teilte den Klatsch, den sie hörte, mit ihm. Offensichtlich wusste er, dass Cadsuane eine Aes Sedai war; das verriet schon ihr Gesicht. Seine älteste Tochter Namine war zur Weißen Burg gegangen, hatte sich für die Braunen entschieden und in die Bibliothek zurückgezogen. Eine Domani-Bibliothekarin war nichts Ungewöhnliches - die Terhana-Bibliothek in Bandar Eban war eine der größten auf der ganzen Welt. Aber Namines mühelose, aber scharfsichtige Einsicht in das Tagesgeschehen war so außergewöhnlich gewesen, dass Cadsuane der Verbindung in der Hoffnung gefolgt war, Eltern in Schlüsselpositionen zu finden. Eine Tochter in der Weißen Burg zu haben machte Leute Aes Sedai gegenüber oft zugänglich. Das hatte sie zu Quillin geführt. Zwar traute sie ihm nicht ganz über den Weg, aber irgendwie mochte sie ihn.

»Was es in der Stadt Neues gibt?«, fragte Quillin. Also ehrlich, welcher Wirt trug unter der Schürze eine seidenbestickte Weste? Kein Wunder, dass die Leute das Gasthaus seltsam fanden. » Wo soll ich anfangen? In letzter Zeit kann man kaum auf dem Laufenden bleiben!«

»Fangt mit Alsalam an«, sagte Cadsuane und trank einen Schluck Wein. »Wann hat man ihn zuletzt gesehen?«

»Verlässliche Zeugen oder Hörensagen?«

»Beides.«

»Seit einer Woche gibt es weniger Windgeborene und Kaufleute, die behaupten, persönliche Botschaften von dem König erhalten zu haben, meine Lady, aber ich betrachte solche Behauptungen mit Skepsis. Nach der … Abwesenheit des Königs tauchten sehr schnell gefälschte Briefe auf, die vorgaben, seine Wünsche zu diktieren. Ich selbst habe mit eigenen Augen ein paar Befehle gesehen, denen ich vertrauen würde, oder zumindest vertraue ich ihrem Siegel, aber den König selbst? Ich würde sagen, es ist beinahe ein halbes Jahr her, dass ich mich dafür verbürgen würde, dass ihn jemand gesehen hat.«

»Was ist mit seinem Aufenthaltsort?«

Der Wirt zuckte mit den Schultern und sah bedauernd aus. »Eine Weile waren wir uns sicher, dass der Kaufmannsrat hinter seinem Verschwinden steckte. Die Ratsherren ließen den König selten aus den Augen, und bei den Problemen im Süden hatten wir alle angenommen, dass sie Seine Majestät in Sicherheit gebracht hatten.«

»Aber?«

»Aber meine Quellen …« - damit war seine Frau gemeint -»… sind davon nicht länger überzeugt. Der Kaufmannsrat war in letzter Zeit zu desorganisiert, jedes Mitglied versucht zu verhindern, dass sein Teil von Arad Doman auseinanderfällt. Hätten sie den König, hätten sie ihn mittlerweile der Öffentlichkeit präsentiert.«

Cadsuane tippte ärgerlich mit dem Fingernagel gegen den Becher. Hatte der junge al’Thor womöglich recht und eine der Verlorenen hatte Alsalam entführt? »Was noch?«

»Aiel sind in der Stadt, Lady«, sagte Quillin und rieb über einen unsichtbaren Fleck auf dem Tisch.

Sie schenkte ihm einen düsteren Blick. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

Er kicherte. »Ja, ja, offensichtlich, nehme ich an. Aber ihre genaue Zahl in der Gegend beträgt vierundzwanzigtausend. Manche sagen, der Wiedergeborene Drache hat sie nur geholt, um seine Macht zu demonstrieren. Wer hätte schließlich je gehört, dass Aiel Essen verteilen? Die Hälfte der Armen in der Stadt haben zu viel Angst, um zu den Verteilungsstätten zu gehen: sie glauben, die Aiel hätten das Getreide mit ihrem Gift behandelt.«

»Aielgift?« Das Gerücht hatte sie allerdings auch noch nie gehört.

Quillin nickte. »Manche behaupten, das sei der Grund für die verdorbenen Lebensmittel, meine Lady.«

»Aber die Nahrung im Land verdarb doch schon lange vor der Ankunft der Aiel, oder nicht?«

»Ja, ja natürlich«, sagte Quillin. »Aber angesichts von so viel verdorbenem Korn fällt es unter Umständen schwer, sich daran zu erinnern. Davon abgesehen ist es seit der Ankunft des Lord Drachen viel schlimmer geworden.«

Cadsuane überspielte ihr Stirnrunzeln mit einem Schluck Wein. Mit al’Thors Ankunft war es schlimmer geworden? War das bloß ein weiteres Gerücht oder die Wahrheit? Sie senkte den Becher. »Und die anderen seltsamen Geschehnisse in der Stadt?«, fragte sie vorsichtig, um zu sehen, was sie noch in Erfahrung bringen konnte.

»Ihr habt davon gehört?« Quillin beugte sich näher zu ihr heran. »Natürlich sprechen die Leute nicht gern darüber, aber meine Quellen hören trotzdem so einiges. Totgeborene Kinder, Männer, die bei Stürzen sterben, bei denen man kaum einen blauen Flecken davontragen sollte, Steine, die von Gebäuden fallen und Frauen beim Einkauf töten. Gefährliche Zeiten, meine Lady. Ich hasse es, nur Hörensagen weiterzugeben, aber ich habe die Zahlen selbst gesehen!«

Diese Ereignisse kamen im Grunde nicht unerwartet. »Natürlich darf man den Ausgleich nicht außer Acht lassen.«

» Den Ausgleich?«

»Mehr Heiraten«, sagte sie mit einer Handbewegung. »Kinder, die wilden Tieren begegnen, aber unverletzt entkommen, unerwartete Schätze, die ein Armer unter seinem Fußboden entdeckt. Diese Art Dinge eben.«

»Das wäre auf jeden Fall schön«, sagte Quillin kichernd. »Wir können ja hoffen, meine Lady.«

»Ihr habt keine solchen Geschichten gehört?«, fragte Cadsuane überrascht.

»Nein, meine Lady, aber ich kann mich umhören.«

»Tut das.« Al’Thor war ta’veren, aber beim Muster ging es um das Gleichgewicht. Für jeden durch Rands Anwesenheit in der Stadt verursachten zufälligen Tod gab es immer eine wunderbare Rettung.

Was hatte es zu bedeuten, wenn das nicht mehr funktionierte?

Sie stellte Quillin genaue Fragen, und oben auf der Liste stand der Aufenthaltsort der Angehörigen des Kaufmannsrats. Sie wusste, dass der junge al’Thor sie alle einfangen wollte; wenn sie Informationen über ihren Aufenthaltsort bekommen konnte, die er nicht hatte, so konnte das sehr nützlich sein. Sie bat Quillin auch, etwas über die wirtschaftliche Situation in den anderen domanischen Städten herauszufinden und alle Neuigkeiten über Rebellenfraktionen von Tarabonern zu sammeln, die von jenseits der Grenze zuschlugen.

Als sie das Gasthaus verließ und zögernd die Kapuze wieder hochschlug, um in den schwülen Nachmittag hinauszutreten, wurde ihr bewusst, dass Quillins Worte ihr mehr Fragen als Antworten aufgezeigt hatten.

Es sah nach Regen aus. Aber so sah es in letzter Zeit immer aus. Bewölkt und ungemütlich, grauer Himmel und graue Wolken, die zu einem gleichförmigen Dunst verschmolzen. Wenigstens hatte es vergangene Nacht geregnet; aus irgendeinem Grund machte das den bewölkten Himmel erträglicher. Als wäre es natürlicher und würde ihr erlauben, so zu tun, als wäre das ununterbrochene Zwielicht kein weiteres Zeichen der Aktivitäten des Dunklen Königs. Er hatte die Menschen mit einer Dürre ausgehungert, hatte sie durch einen plötzlichen Winterbruch erfrieren lassen, und jetzt schien er entschlossen, sie durch pure Melancholie zu vernichten.

Cadsuane schüttelte den Kopf, stieß ihre Holzschuhe gegen den Boden, um sich zu vergewissern, dass sie auch fest saßen, dann betrat sie den verschlammten Bürgersteig und schlug die Richtung zum Hafen ein. Sie würde sich selbst vergewissern, was an den Gerüchten über verdorbene Lebensmittel dran war. Waren die seltsamen Ereignisse in al’Thors Umgebung tatsächlich zerstörerischer geworden, oder wollte sie einfach nur ihre Befürchtungen bestätigt sehen?

Al’Thor. Sie musste sich der Wahrheit stellen: Sie hatte ihn einfach falsch angefasst und war darin gescheitert, ihn zu lenken. Natürlich hatte sie keine Fehler mit dem männlichen Adam gemacht, ganz egal, was al’Thor auch behauptete. Wer auch immer den Kragen gestohlen hatte, war ausgesprochen mächtig und geschickt gewesen. Und jeder, der zu so einer Tat fähig gewesen war, hätte sich genauso gut ein anderes Adam von den Seanchanern holen können. Vermutlich hatten die eine ganze Menge davon.

Nein, das Adam war aus ihrem Zimmer geholt worden, um Misstrauen zu säen, davon war sie überzeugt. Vielleicht hatte der Diebstahl sogar etwas anderes vertuschen sollen: die Rückgabe der Statuette an al’Thor. Seine Stimmung war so finster geworden, da konnte man unmöglich vorhersehen, welche Zerstörungen er damit anrichten würde.

Der arme dumme Junge. Er hätte niemals erleiden dürfen, von einer Verlorenen an den Kragen gelegt zu werden; das würde ihn nur an die Zeit erinnert haben, als ihn Aes Sedai eingesperrt und geprügelt hatten. Der Zwischenfall würde ihre Aufgabe viel schwieriger machen. Wenn nicht sogar unmöglich.

Das war die Frage, mit der sie sich jetzt beschäftigen musste. War er überhaupt noch zu retten? War es zu spät, ihn zu ändern? Und wenn es das war, was konnte sie dann überhaupt noch tun? Der Wiedergeborene Drache musste dem Dunklen König am Shayol Ghul gegenübertreten. Tat er es nicht, war alles verloren. Aber was war, wenn das Zusammentreffen mit dem Dunklen König genauso katastrophal endete?

Nein. Sie weigerte sich einfach zu glauben, dass die Schlacht bereits verloren war. Es musste etwas geben, das man tun konnte, um al’Thor in eine andere Richtung zu lenken. Aber was?

Al’Thor hatte anders als die meisten Bauern reagiert, denen plötzlich Macht verliehen worden war; er war weder selbstsüchtig noch engherzig geworden. Er hatte keine Reichtümer angehäuft und sich auch nicht mit kindischer Rachsucht gegen jeden gewandt, der ihm in seiner Jugend mal etwas getan hatte. Tatsächlich hatten viele seiner Entscheidungen sogar Weisheit gezeigt - zumindest diejenigen, bei denen er sich nicht in Gefahr hatte begeben müssen.

Cadsuane passierte domanische Flüchtlinge in ihrer übertrieben bunten Kleidung. Gelegentlich musste sie um Gruppen herumgehen, die auf den feuchten Bohlen saßen, provisorische Lager, die an Gassenmündungen oder vor ungenutzten Seiteneingängen wuchsen. Niemand machte ihr Platz. Was nutzte einem das Gesicht einer Aes Sedai, wenn man es verhüllte? In dieser Stadt gab es einfach zu viele Menschen.

In der Nähe einer Reihe von Wimpeln, die den Namen der Hafenregistratur buchstabierten, verlangsamte Cadsuane den Schritt. Die Docks selbst lagen direkt voraus und wurden nun von doppelt so vielen Schiffen des Meervolks belegt als zuvor; darunter waren viele Klipper, die größte Klasse der Meervolkschiffe. Etliche davon waren umgebaute seanchanische Schiffe, die vermutlich bei dem Massenausbruch aus Ebou Dar vor kurzem erobert worden waren.

Auf dem Kai wimmelte es von Leuten, die ungeduldig auf Getreide warteten. Die Menge drängte sich und brüllte und wirkte nicht im Mindesten, als sorgte sie sich wegen des »Gifts«, das Quillin erwähnt hatte. Natürlich verdrängte Hunger viele Befürchtungen. Hafenarbeiter kontrollierten die Menge; unter ihnen befanden sich auch Aiel im braunen Cadin’sor, die ihre Speere hielten und so finster dreinschauten, wie es nur Aiel konnten. Anscheinend war auch eine ordentliche Zahl an Kaufleuten vertreten, die vermutlich hofften, sich einige der Zuteilungen zu sichern, um sie dann später verkaufen zu können.

Eigentlich sah es auf den Docks wie an jedem Tag seit al’Thors Ankunft aus. Was hatte sie innehalten lassen? Da war ein Kribbeln in ihrem Rücken, als würde …

Sie drehte sich um und entdeckte eine Prozession, die die schlammige Straße entlanggeritten kam. Al’Thor saß stolz auf seinem schwarzen Pferd; seine Kleidung passte im Farbton und wies nur dezente rote Stickereien auf. Wie gewöhnlich war er von einem Haufen Soldaten, Berater und einer wachsenden Zahl domanischer Speichellecker umgeben.

Cadsuane hatte den Eindruck, dass sie ihm immer häufiger auf den Straßen begegnete. Mühsam zwang sie sich, dort stehen zu bleiben und nicht in eine Gasse zu huschen, aber sie zog die Kapuze ein Stück tiefer, damit ihr Gesicht im Schatten lag. Al’Thor ließ sich nicht anmerken, ob er sie erkannt hatte, als er direkt an ihr vorbeiritt. Wie so oft schien er völlig in seine Gedanken versunken zu sein. Cadsuane wollte ihm zurufen, er solle schneller handeln, sich die Krone von Arad Doman sichern und Weiterreisen, aber sie hielt den Mund. Sie würde ihr beinahe dreihundert fahre währendes Leben nicht durch die Hinrichtung durch den Wiedergeborenen Drachen beenden lassen!

Sein Gefolge zog vorbei. Als sie sich abwandte, glaubte sie wie zuvor im Augenwinkel eine Dunkelheit um ihn herum zu sehen, als würden die Wolken am Himmel zu viel Schatten spenden. Sah sie ihn direkt an, verschwand sie - tatsächlich konnte sie sie nicht erkennen, wenn sie bewusst danach Ausschau hielt. Sie erschien immer nur dann, wenn sie ihn indirekt wahrnahm, und dann auch nur zufällig.

In ihren vielen fahren hatte Cadsuane noch nie zuvor so etwas gehört oder davon gelesen. Es bei dem Wiedergeborenen Drachen zu sehen machte ihr Angst. Diese Angelegenheit war größer als ihr Stolz geworden, auch viel größer als ihr Scheitern. Nein. Diese Angelegenheit war immer größer als sie selbst gewesen. Al’Thor zu führen hatte nie Ähnlichkeit damit gehabt, ein galoppierendes Pferd zu lenken, es war wie der Versuch, einen Sturm auf dem Ozean zu lenken!

Cadsuane würde es nie schaffen, seinen Kurs zu ändern. Er vertraute den Aes Sedai nicht, und das aus gutem Grund. Er schien niemandem zu vertrauen, ausgenommen vielleicht Min - aber Min hatte jedem ihrer Versuche widerstanden, sie mit einzubeziehen. Das Mädchen war beinahe genauso schlimm wie al’Thor.

Ein Besuch der Docks war sinnlos. Die Unterhaltung mit ihren Informanten war sinnlos. Wenn sie nicht bald etwas unternahm, waren sie alle zum Untergang verurteilt. Aber was? Sie lehnte sich gegen das Gebäude; über ihr flatterten dreieckige Banner und zeigten nach Norden. Zur Fäule und al’Thors Schicksal.

Da kam ihr eine Idee. Sie ergriff sie wie eine Ertrinkende in stürmischer See. Sie konnte nicht sagen, was damit alles verbunden sein mochte, aber es war ihre einzige Hoffnung.

Cadsuane fuhr auf dem Absatz herum und eilte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Den Kopf hielt sie gesenkt und wagte es kaum, an ihren Plan zu denken. Er konnte so leicht scheitern. Falls al’Thor tatsächlich so sehr von seiner Wut dominiert wurde, wie sie befürchtete, dann würde ihm auch das nicht helfen.

Aber wenn er wirklich schon so weit war, dann würde ihm gar nichts mehr helfen. Das bedeutete, dass sie nichts zu verlieren hatte. Nichts als die Welt selbst.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Massen und lief gelegentlich über die schlammige Straße, um sie zu umgehen, und schließlich erreichte sie das Herrenhaus. Aiel hatten das Lager von Dobraines Waffenmännern übernommen. Allerdings kampierten sie überall, auf dem Gelände oder in einem Flügel des Gebäudes, andere auch in benachbarten Häusern.

Cadsuane begab sich in den Flügel, der den Aiel gehörte, und keiner hielt sie auf. Sie genoss bei den Aiel Privilegien, die keine der anderen Schwestern hatte. Sorilea und die anderen Weisen Frauen hielten gerade in einer der Bibliotheken eine Besprechung ab. Natürlich saßen sie auf dem Boden. Sorilea nickte Cadsuane bei ihrem Eintreten zu. Sie bestand nur aus ledriger Haut und Knochen, aber keiner hätte sie als hinfällig bezeichnet. Nicht mit diesen Augen, die aus einem Gesicht blickten, das zu jung für ihr Alter war, obwohl Wind und Sonne ihm ihren Tribut abgefordert hatten. Wieso nur konnten die Weisen Frauen so lange leben, ohne die Alterslosigkeit der Aes Sedai zu erringen? Noch eine Frage, auf die Cadsuane noch keine Antwort gefunden hatte.

Sie schlug die Kapuze zurück und gesellte sich auf den Boden zu den Weisen Frauen und verzichtete sogar auf ein Kissen. Sie sah Sorilea in die Augen. »Ich habe versagt«, erklärte sie.

Die Weise Frau nickte, als hätte sie das Gleiche gedacht. Cadsuane zwang sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen.

»Im Scheitern liegt keine Schande begründet«, sagte Bair, »wenn dieses Scheitern die Schuld von jemand anderem war.«

Amys nickte. »Der Car’a’carn ist sturer als alle anderen Männer zusammen, Cadsuane Sedai. Ihr schuldet uns kein Toh.«

»Schande oder Toh«, sagte Cadsuane, »das alles ist bald irrelevant. Aber ich habe einen Plan. Werdet ihr mir helfen?« Die Weisen Frauen tauschten einen Blick aus. »Was für einen Plan?«, fragte Sorilea. Cadsuane lächelte, dann fing sie an zu erklären.


Rand warf einen Blick über die Schulter und sah zu, wie Cadsuane davonhuschte. Vermutlich glaubte sie, er hätte sie da an der Straßenseite nicht bemerkt. Der Kapuzenumhang verbarg ihr Gesicht, aber nichts konnte diese selbstbewusste Pose verstecken, nicht einmal diese albernen Schuhe. Selbst als sie sich beeilte, erschien sie beherrscht, und andere gingen ihr automatisch aus dem Weg.

Sie kokettierte mit seinem Verbot, folgte ihm auf diese Weise durch die Stadt. Allerdings hatte sie ihm nicht ihr Gesicht gezeigt, also ließ er sie gehen. Vermutlich war es ein schlechter Zug gewesen, sie überhaupt ins Exil zu schicken, aber das ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. In Zukunft würde er einfach sein Temperament zügeln müssen. Es in Eis hüllen und tief in seiner Brust vor sich hin dampfen lassen, wo es wie ein zweites Herz pulsierte.

Er wandte sich wieder den Docks zu. Eigentlich gab es für ihn keinen guten Grund, die Nahrungsmittelverteilung persönlich zu kontrollieren. Aber ihm war nicht entgangen, dass die Chancen, dass das Korn auch die erreichte, die es brauchten, sich bedeutend erhöhten, wenn alle wussten, dass sie unter Beobachtung standen. Das hier waren Menschen, die zu lange ohne König gelebt hatten; sie verdienten zu erleben, dass jemand Autorität ausübte.

Am Kai lenkte er Tai’daishar an den Docks vorbei und schlug ein gemächliches Tempo ein. Er warf dem Asha’man an seiner Seite einen Blick zu. Naeff hatte ein starkes, ebenmäßiges Gesicht und den schmalen Wuchs eines Kriegers; er war bei der Königlichen Garde von Andor gewesen, bevor er während der Herrschaft von » Lord Gaebril« angewidert den Dienst quittiert hatte. Naeff hatte seinen Weg zur Schwarzen Burg gefunden, und jetzt trug er sowohl Schwert als auch Drachen.

Irgendwann würde Rand ihn entweder zu seiner Aes Sedai zurückkehren lassen müssen - Naeff gehörte zu den Ersten, die einen Bund eingegangen waren - oder sie holen lassen. Allerdings verabscheute er den Gedanken, eine weitere Aes Sedai in der Nähe zu haben, auch wenn Nelavaire Demasiellin, eine Grüne, für eine Aes Sedai relativ angenehm war.

»Fahrt fort«, sagte er zu Naeff. Der Asha’man hatte Botschaften überbracht und sich zusammen mit Bashere mit den Seanchanern getroffen.

»Nun, mein Lord«, sagte Naeff, »das ist nur so ein Gefühl, aber ich glaube nicht, dass sie Katar als Treffpunkt akzeptieren. Sie werden immer schwierig, wenn Lord Bashere oder ich es erwähnen, behaupten, sie müssten erst weitere Instruktionen von der Tochter der Neun Monde einholen. Ihrem Tonfall ist anzumerken, dass die ›Instruktionen‹ besagen werden, dass der Ort nicht akzeptabel ist.«

»Katar ist neutraler Boden«, sagte Rand leise, »weder in Arad Doman noch tief in den von den Seanchanern gehaltenen Gebieten.«

»Ich weiß, mein Lord. Wir haben es versucht. Das haben wir wirklich, mein Ehrenwort.«

»Also gut. Wenn sie da weiter so stur sind, suche ich einen anderen Ort aus. Kehrt zu ihnen zurück und sagt ihnen, dass wir uns in Falme treffen.«

Hinter ihnen stieß Flinn einen leisen Pfiff aus.

»Mein Lord«, sagte Naeff, »das liegt weit hinter der seanchanischen Grenze.«

»Ich weiß«, erwiderte Rand und warf Flinn einen Blick zu. »Aber es hat eine gewisse … historische Signifikanz. Wir werden sicher sein; diese Seanchaner sind von ihrer Ehre gefangen. Sie werden nicht angreifen, wenn wir unter dem Banner des Waffenstillstands kommen.«

»Seid Ihr Euch da sicher?«, fragte Naeff leise. »Mir gefällt es gar nicht, wie sie mich ansehen, mein Lord. Da liegt Verachtung in ihrem Blick, bei jedem Einzelnen von ihnen. Verachtung und Mitleid, als wäre ich ein ausgesetzter Hund, der hinter der Schenke im Abfall nach Essen sucht. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, aber es macht mich krank.«

»Sie halten ihre Kragen bereit, mein Lord«, meinte Flinn. »Waffenstillstand oder nicht, es wird ihnen in den Fingern jucken, uns alle an die Leine zu legen.«

Rand schloss die Augen und behielt die Wut in sich, fühlte die salzige Meeresbrise. Er öffnete sie wieder und schaute in den von dunkeln Wolken erfüllten Himmel. Er würde nicht an den Kragen um seinen Hals denken, wie seine Hand Min erwürgte. Das lag in der Vergangenheit.

Er war härter als Stahl. Man konnte ihn nicht brechen.

»Wir müssen mit den Seanchanern Frieden schließen«, sagte er. »Allen unterschiedlichen Ansichten zum Trotz.«

»Unterschiedliche Ansichten?«, fragte Flinn. »Nun, ich würde das wirklich nicht als unterschiedliche Ansichten bezeichnen, mein Lord. Sie wollen jeden Einzelnen von uns versklaven, vielleicht sogar hinrichten. Und sie glauben auch noch, uns damit einen Gefallen zu tun!«

Rand erwiderte seinen Blick. Flinn war kein Rebell; er war so loyal, wie das nur möglich war. Trotzdem ließ Rand ihn in sich zusammenfallen und den Kopf senken. Mangelnde Einigkeit konnte nicht toleriert werden. Mangelnde Einigkeit und Lügen hatten ihm den Kragen umgelegt. Das würde nie wieder passieren.

»Es tut mir leid, mein Lord«, sagte Flinn schließlich. »Ich will verflucht sein, wenn Falme keine großartige Wahl ist! Ihr werdet sie furchtsam in den Himmel schauen lassen, das werdet Ihr.«

»Überbringt die Botschaft, Naeff«, sagte Rand. »Ich will, dass das erledigt ist.«

Naeff nickte, zog das Pferd herum und trabte von der Kolonne fort, gefolgt von einer kleinen Gruppe Aielwächter. Reisen mit der Macht konnte man nur von einem Ort aus, den man gut kannte, also konnte er nicht einfach vom Dock aus aufbrechen. Rand ritt weiter, schwer besorgt über Lews Thenns Schweigen. In letzter Zeit war der Verrückte ungewöhnlich zurückhaltend gewesen. Eigentlich hätte Rand darüber froh sein müssen, aber es bereitete ihm Sorgen. Es hatte etwas mit dieser namenlosen Macht zu tun, die er berührt hatte. Noch immer hörte er den Irren oft voller Angst weinen und geflüsterte Selbstgespräche halten.

»Rand?«

Er drehte sich um. Er hatte Nynaeves Pferd gar nicht kommen hören. Sie trug ein gewagtes grünes Kleid, das nach dem Standard der Domani zwar prüde war, aber trotzdem weitaus mehr enthüllte, als sie in den Zwei Flüssen je gezeigt hätte. Sie hat das Recht, sich zu verändern, dachte er. Was ist schon ein freizügigeres Kleid verglichen mit der Tatsache, dass ich Exile und Hinrichtungen befohlen habe?

»Wie sieht deine Entscheidung aus?«, fragte sie.

»Wir treffen sie in Falme.«

Sie murmelte etwas Unhörbares.

»Was?«, fragte er.

»Oh, nur etwas darüber, dass du ein wollköpfiger Narr bist«, sagte sie mit trotzigem Blick.

»Sie werden sich mit Falme einverstanden erklären.«

»Ja. Es spielt dich ihnen genau in ihre Hände.«

»Nynaeve, ich kann es mir nicht leisten, darauf zu warten«, entgegnete er. »Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Aber ich bezweifle, dass sie angreifen.«

»So wie beim letzten Mal? Als sie dir deine Hand genommen haben?«

Er schaute auf seinen Stumpf. »Es ist unwahrscheinlich, dass sie dieses Mal einen der Verlorenen dabeihaben.«

»Kannst du dir da sicher sein?«

Er sah sie an, und sie hielt seinem Blick stand, etwas, zu dem im Moment nur wenige Leute fähig zu sein schienen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Sicher kann ich mir da nicht sein.«

Sie schnaubte zur Erwiderung und brachte so zum Ausdruck, dass sie diesen Punkt gewonnen hatte. »Nun, wir werden einfach nur besonders vorsichtig sein müssen. Vielleicht wird die Erinnerung an deinen letzten Besuch in Falme ihnen ja Unbehagen bereiten.«

»Das hoffe ich.«

Wieder murmelte sie etwas vor sich hin, aber er konnte es nicht verstehen. Aus Nynaeve würde nie eine ideale Aes Sedai; dazu ging sie viel zu offen mit ihren Gefühlen um, vor allem mit ihrem Temperament. Rand sah das nicht als Fehler, wenigstens wusste er immer, wo er mit Nynaeve stand. Wenn es um Intrigen ging, hatte sie zwei linke Hände, und das machte sie wertvoll. Er vertraute ihr. Als einer von wenigen.

Wir vertrauen ihr, nicht wahr?, fragte Lews Therin. Können wir das?

Rand antwortete nicht. Er vollendete seinen Rundgang an den Docks. Nynaeve blieb an seiner Seite. Sie schien schlechter Stimmung zu sein, auch wenn sich Rand keinen Grund dafür denken konnte. Dank Cadsuanes Verbannung konnte Nynaeve nun die Rolle als seine wichtigste Beraterin einnehmen. Erfreute sie das denn nicht?

Vielleicht sorgte sie sich ja um Lan. Als Rand die Prozession wieder zur Stadtmitte führte, fragte er: »Hast du etwas von ihm gehört?«

Nynaeve kniff die Augen zusammen. »Wen meinst du?«

»Du weißt genau, wen ich meine«, sagte Rand und ritt an einer Reihe roter Banner vorbei, von denen jedes dieselbe Familie verkündete.

»Was er tut, geht dich nichts an«, sagte Nynaeve.

»Die ganze Welt geht mich etwas an, Nynaeve.« Er sah sie an. »Würdest du mir da nicht zustimmen?«

Sie öffnete den Mund, zweifellos um ihn anzufauchen, knickte aber ein, als sie seinen Blick erwiderte. Beim Licht, dachte er, als er das Unbehagen in ihrer Miene erkannte. Jetzt kann ich das auch mit Nynaeve machen. Was sehen sie nur, wenn sie mich anschauen? Der Ausdruck in ihren Augen flößte ihm beinahe Furcht vor sich selbst ein.

»Lan wird es gut gehen«, murmelte sie und schaute zur Seite.

»Er ist nach Malkier geritten, oder?« Sie errötete.

»Wie lange ist das her?«, wollte Rand wissen. »Er hat die Große Fäule noch nicht erreicht, nicht wahr?« Lan hatte die Freiheit erhalten, dem zu folgen, was er sowohl als seine Pflicht wie auch sein Schicksal ansah, und er würde allein auf sich gestellt direkt nach Malkier reiten. Das Königreich - sein Königreich - war schon vor Jahrzehnten von der Fäule verschlungen worden. Damals war er noch ein Säugling gewesen.

»Vielleicht zwei oder drei Monate«, erwiderte sie. »Vielleicht auch etwas länger. Er reitet nach Schienar, zum Tarwin-Pass, und wenn er es allein tun muss.«

»Er sucht nach Vergeltung«, sagte Rand leise. »Um das zu rächen, was nicht verteidigt werden kann.«

»Er tut seine Pflicht!«, sagte Nynaeve. »Aber … ich mache mir Sorgen wegen seines Leichtsinns. Er hat darauf bestanden, dass ich ihn in die Grenzlande bringe, also habe ich es getan, aber ich habe ihn in Saldaea zurückgelassen. Ich wollte, dass er so weit wie möglich vom Tarwin-Pass entfernt ist. Er wird schwieriges Gebiet durchqueren müssen, um an sein Ziel zu gelangen.«

Eiseskälte ergriff Rand, als er sich vorstellte, wie Lan zum Pass ritt. Im Grunde in den Tod ritt. Aber daran ließ sich nichts ändern. »Es tut mir leid, Nynaeve«, sagte er, obwohl er es nicht fühlte. In letzter Zeit hatte er Probleme, etwas zu fühlen, egal was.

»Glaubst du, ich habe ihn allein losgeschickt?«, fauchte sie. »Ihr seid beide Wollköpfe! Ich habe dafür gesorgt, dass er sein eigenes Heer bekommt, auch wenn er es nicht wollte.«

Dazu war sie mühelos fähig. Vermutlich hatte sie dem Rest der Malkieri in Lans Namen eine Warnung geschickt. Lan stellte eine seltsame Mischung dar; er weigerte sich, das Banner von Malkier zu erheben oder seinen Platz als sein König einzunehmen, denn er befürchtete, die letzten seiner Landsleute in den Tod zu führen. Und doch war er bereit, im Namen der Ehre ganz allein in den gleichen Tod zu reiten.

Ist es das, was ich auch tun sollte?, dachte Rand. Im Namen der Ehre in den Tod zu reiten? Aber nein, das ist anders. Lan hat eine Wahl. Es gab keine Prophezeiungen, die voraussagten, dass Lan sterben würde, was auch immer der Mann über sein Schicksal denken mochte.

»Er könnte trotzdem Hilfe gebrauchen«, fuhr Nynaeve unbehaglich fort. Um Hilfe zu bitten bereitete ihr immer Unbehagen. »Sein Heer wird nur klein sein. Ich bezweifle, dass sie den Trollocs lange standhalten können.«

»Wird er angreifen?«

Nynaeve zögerte. »Das hat er nicht gesagt. Aber ja, ich glaube, das wird er. Er ist der Meinung, dass du hier deine Zeit verschwendest, Rand. Wenn er eintrifft, ein Heer um sich schart und im Tarwin-Pass Trollocs findet … ja, ich glaube, er wird angreifen.«

»Dann verdient er, was er bekommt, wenn er ohne den Rest von uns losreitet«, meinte Rand.

Nynaeve sah ihn finster an. »Wie kannst du so etwas sagen!«

»Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte Rand leise. »Die Letzte Schlacht steht unmittelbar bevor. Vielleicht geschieht mein eigener Angriff auf die Große Fäule zur gleichen Zeit wie Lans. Vielleicht auch nicht.« Nachdenklich hielt er inne. Wenn Lan und sein Heer den Pass angriffen … vielleicht würde das ja Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Falls er dort nicht angriff, würde das den Schatten irritieren. Er konnte sie dort treffen, wo sie es nicht erwarteten, während ihre Blicke auf Lan gerichtet waren.

»Ja«, sagte er nachdenklich. »Sein Tod könnte mir in der Tat gute Dienste leisten.«

Nynaeve riss wütend die Augen auf, aber Rand ignorierte das. An einem sehr stillen Ort tief in seinem Inneren regte sich Sorge um seinen Freund. Diese Sorge musste er ignorieren, musste sie zum Schweigen bringen. Aber diese Stimme flüsterte ihm zu.

Er hat dich einen Freund genannt. Lass ihn nicht im Stich …

Nynaeve kontrollierte ihre Wut, was ihn beeindruckte. »Darüber reden wir noch«, sagte sie kurz angebunden. »Vielleicht nachdem du Gelegenheit hattest, darüber nachzudenken, was es genau bedeuten würde, Lan im Stich zu lassen.«

Er betrachtete Nynaeve gern als dieselbe streitlustige Dorfseherin, die ihn damals in den Zwei Flüssen herumgeschubst hatte. Sie hatte immer den Eindruck erweckt, sich zu sehr zu bemühen, angetrieben von der Sorge, dass die anderen ihren Titel wegen ihrer Jugend ignorieren würden. Aber seitdem war sie sehr gewachsen.

Sie erreichten das Anwesen, wo fünfzig von Basheres Soldaten das Tor bewachten. Sie salutierten, als Rand sie passierte. Er ritt an den Aiel vorbei, die draußen kampierten, stieg vor den Ställen vom Pferd und beförderte den Zugangschlüssel von seiner Schlaufe am Sattel in die übergroße Manteltasche - die schon mehr ein in den Mantel hineingeknöpfter Beutel war -, die für die Statuette da war. Aus ihren Tiefen hoben die Hände die Kugel in die Höhe.

Er begab sich in seinen Thronraum. Jetzt konnte er ihn nicht mehr anders nennen, da man ihm den Königsthron gebracht hatte. Er war übergroß, vergoldet und an Armlehnen, der Lehne und über dem Kopf mit Edelsteinen verziert. Sie quollen wie Augen hervor und verliehen dem Thron einen überladenen Prunk, der Rand missfiel. Er hatte nicht im Palast gestanden. Einer der örtlichen Kaufleute hatte ihn vor den Unruhen »beschützt«. Vielleicht hatte er auch beabsichtigt gehabt, sich den Sitz auf eine übertragene Weise zu sichern.

Rand setzte sich trotz der geschmacklosen Pracht und drehte sich, damit ihn der Zugangschlüssel in der Tasche nicht in die Seite stach. Die Mächtigen der Stadt waren sich nicht sicher, was sie von ihm halten sollten, und das fand er auch gut so. Er ernannte sich nicht zum König, aber sein Heer sicherte die Hauptstadt. Er sprach davon, Alsalam seine Stellung zurückzugeben, saß aber auf seinem Thron, als hätte er das Recht dazu. Er war nicht in den Palast gezogen. Er wollte, dass sie unsicher waren.

In Wahrheit hatte er noch keine Entscheidung getroffen. Viel würde von den Berichten dieses Tages abhängen. Er nickte Rhuarc zu, als dieser eintrat. Der muskulöse Aielmann erwiderte die Geste. Dann stand Rand vom Thron auf, und er und Rhuarc setzten sich auf den runden bunten Teppich, der vor dem mit grünem Filz bespannten Podest auf dem Boden lag. Als sie das das erste Mal getan hatten, hatte es unter den domanischen Dienern und Würdenträgern von Rands stetig wachsendem Hofstaat einen ganz schönen Aufruhr ausgelöst.

»Wir haben einen weiteren von ihnen entdeckt und geholt, Rand al’Thor«, sagte Rhuarc. »Alamindra Cutren versteckte sich auf dem Besitz ihres Cousins in der Nähe der Nordgrenze; was wir auf ihrem Anwesen erfuhren, führte uns direkt zu ihr.«

Damit hatte er vier Mitglieder des Kaufmannsrats in seinem Gewahrsam. »Was ist mit Meashan Dubrais? Ihr sagtet, Ihr hättet sie vielleicht auch?«

»Tot«, sagte Rhuarc. »Vor einer Woche vom Mob erschlagen.«

»Seid Ihr Euch da sicher? Es könnte eine Lüge sein, um Euch von der Spur abzulenken.«

»Ich habe die Leiche nicht selbst gesehen, aber Männer, denen ich vertraue, und sie sagen, sie entspricht ihrer Beschreibung. Man hat mir glaubhaft versichert, dass die Spur echt war.«

Also vier gefangen und zwei tot. Damit mussten sie noch vier weitere finden, bevor er genug Mitglieder hatte, um eine neue Königswahl anzuordnen. Es würde nicht unbedingt die ethischste Ratswahl in der Geschichte der Domani sein; warum machte er sich überhaupt diese Mühe? Er konnte einen König einsetzen und oder sich selbst auf den Thron setzen. Warum machte er sich überhaupt Gedanken, was die Domani für angebracht hielten?

Rhuarc musterte ihn; der Aielhäuptling sah nachdenklich aus. Vermutlich stellte er sich die gleichen Fragen.

»Sucht weiter«, sagte Rand. »Ich habe nicht vor, Arad Doman für mich zu beanspruchen; wir finden den rechtmäßigen König, oder wir sorgen dafür, dass der Kaufmannsrat zusammentritt, damit er einen neuen wählen kann. Es ist mir egal, wer er ist, solange es kein Schattenfreund ist.«

»Wie Ihr wünscht, Car’a’carn«, sagte Rhuarc und wollte aufstehen.

»Ordnung ist wichtig, Rhuarc«, sagte Rand. »Ich habe keine Zeit, dieses Königreich selbst zu befrieden. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit bis zur Letzten Schlacht.« Er warf Nynaeve einen Blick zu, die sich in dem kleinen Raum zu ein paar Töchtern gesellt hatte. »Ende des Monats will ich vier weitere Mitglieder des Rates in unserer Gewalt haben.«

»Ihr gebt ein hartes Tempo vor, Rand al’Thor.«

Rand stand auf. »Findet nur diese Kauffrauen für mich. Diese Menschen verdienen Anführer.«

»Und der König?«

Rand schaute zur Seite, wo Milisair Chadmar sorgfältig bewacht von Aielwächtern stand. Sie erschien … abgezehrt. Ihr einst so prächtiges rabenschwarzes Haar war zu einem Knoten gebunden, weil das vermutlich pflegeleichter war. Ihr Gewand war noch immer kostbar, nun aber zerknittert, als hätte sie es zu lange getragen. Ihre Augen waren rot. Sie war noch immer wunderschön, aber so, wie ein Bild noch immer dann schön sein würde, wenn man es zerknüllte und dann wieder auf dem Tisch glatt strich.

»Möget Ihr immer Wasser und Schatten finden, Rhuarc«, sagte Rand zum Abschied.

»Möget Ihr immer Wasser und Schatten finden, Rand al’Thor.« Der hochgewachsene Aiel zog sich zurück, gefolgt von seinen Speeren. Rand holte tief Luft, dann stieg er zu dem vulgären Thron hinauf und setzte sich. Rhuarc behandelte er mit dem Respekt, den er verdiente. Die anderen … nun, auch sie würden den Respekt erhalten, den sie verdienten.

Er beugte sich vor, bedeutete Milisair näher zu kommen. Eine der Töchter versetzte ihr einen Stoß in den Rücken, zwang sie vorwärts. Die Frau sah viel nervöser aus als beim letzten Mal, als sie Rand gegenübergetreten war.

»Nun?«, fragte er sie.

»Mein Lord Drache …«, setzte sie an und schaute sich um, als würde sie bei den domanischen Edelleuten und Dienern nach Hilfe suchen. Sie ignorierten sie, sogar der geckenhafte Lord Ramshalan schaute zur Seite.

»Sprecht, Frau«, verlangte Rand.

»Der Bote, nach dem Ihr gefragt habt«, sagte sie. »Er ist tot.«

Rand holte tief Luft. »Und wie ist das passiert?«

»Die Männer, denen ich den Auftrag gab, auf ihn aufzupassen«, sagte sie schnell. »Mir war nicht klar, wie schlecht sie den Boten behandelten! Sie hatten ihm tagelang kein Wasser gegeben, dann kam das Fieber …«

»Mit anderen Worten«, sagte Rand, »Ihr habt es nicht geschafft, ihm Informationen zu entringen, also habt Ihr ihn im Kerker verfaulen lassen und Euch erst wieder an ihn erinnert, als ich verlangte, dass man ihn mir bringt.«

»Car’a’carn.« Eine der Töchter trat vor, eine sehr junge Frau namens Jalani. »Wir erwischten die hier dabei, wie sie ihre Sachen packte, als wollte sie aus der Stadt fliehen.«

Milisair wurde sichtlich blass. »Lord Drache«, sagte sie. »Ein Augenblick der Schwäche! Ich …«

Rand brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Was soll ich jetzt mit Euch machen?«

»Mein Lord, sie sollte hingerichtet werden!«, sagte Ramshalan und trat eifrig vor.

Rand schaute stirnrunzelnd auf. Er hatte nicht um eine Antwort gebeten. Schmächtig und mit einem dieser dünnen schwarzen domanischen Schnurrbarte ausstaffiert, hatte Ramshalan eine ausgeprägte Nase, die möglicherweise auf saldaeanische Vorfahren schließen lies. Er trug einen lächerlichen Mantel in Blau, Orange und Gelb mit weißer Spitze, die hervorlugte. Anscheinend ging das bei einigen Teilen der hiesigen Oberschicht als der letzte Schrei durch. Seine Ohrringe trugen das Zeichen seines Hauses, auf der Wange trug er einen schwarzen Schönheitsfleck in Form eines fliegenden Vogels.

Rand hatte viele wie ihn kennengelernt, Höflinge mit zu wenig Hirn und zu vielen Familienverbindungen. Adliges Leben schien sie zu züchten, so wie man in den Zwei Flüssen Schafe züchtete. Ramshalan war wegen seiner nasalen Stimme und seinem bereitwilligen Eifer, andere zu verraten, um Rands Gunst zu erlangen, ein ganz besonderes Ärgernis.

Dennoch hatten Männer wie er seinen Nutzen. Gelegentlich. »Was meint Ihr, Milisair?«, sagte Rand nachdenklich. »Sollte ich Euch wegen Verrats hinrichten lassen, so wie es dieser Mann hier vorschlägt?«

Sie weinte nicht, war aber offensichtlich völlig verängstigt; ihre Hände zitterten, als sie sie ausstreckte, ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Nein«, sagte Rand schließlich. »Ich brauche Euch, damit Ihr dabei helft, einen neuen König zu wählen. Was würde es nutzen, Eure Kollegen im Land zu suchen, wenn ich damit anfange, die Ratsmitglieder hinzurichten, die ich bereits habe?«

Sie stieß die angehaltene Luft aus, die Anspannung verließ ihre Schultern.

» Sperrt sie in denselben Kerker, wo sie den Boten des Königs hingebracht hat«, sagte Rand zu den Töchtern. »Sorgt dafür, dass sie nicht sein Schicksal teilt - zumindest nicht, bis ich mit ihr fertig bin.«

Milisair schrie verzweifelt auf. Die Töchter zerrten sie schreiend aus dem Raum, aber Rand hatte sie bereits aus seinen Gedanken gestrichen. Ramshalan sah ihr zufrieden nach; angeblich hatte sie ihn mehrmals in der Öffentlichkeit beleidigt. Ein Punkt für sie.

»Die anderen Angehörigen des Kaufmannsrats«, sagte Rand zu den Würdenträgern. »Hatte jemand von ihnen Kontakt mit dem König?«

»Bestenfalls vor vier oder fünf Monaten, mein Lord«, sagte einer von ihnen, ein dicker Domani namens Noreladim. »Obwohl wir über Alamindra nichts wissen, da sie erst kürzlich … entdeckt wurde.«

Vielleicht würde sie Neuigkeiten haben, aber er glaubte nicht, dass sie eine bessere Spur war als ein Bote, der behauptete, von Alsalam selbst zu kommen. Verflucht, warum hatte diese Frau ihn sterben lassen!

Wenn Graendal den Boten geschickt hat, sagte da Lews Therin, hätte ich ihn niemals brechen können. Sie ist einfach zu gut im Zwang. Geschickt, so geschickt.

Rand zögerte. Ein guter Einwand. Falls der Bote tatsächlich Graendals Zwang unterworfen gewesen war, würde er kaum dazu in der Lage gewesen sein, ihren Aufenthaltsort zu verraten. Nicht, solange man den Zwang nicht hätte lösen können, was aber eine Heilung erfordert hätte, wie sie jenseits von Rands Geschick lag. Graendal hatte ihre Spuren immer schon gut verborgen.

Aber er war sich nicht sicher, ob sie im Land war. Fand er einen Boten, der unter Zwang stand, würde ihm das als Beweis reichen. »Ich muss mit allen sprechen, die behauptet haben, eine Botschaft vom König bekommen zu haben«, sagte er. »Andere in der Stadt, die möglicherweise Kontakt hatten.«

»Man wird sie ausfindig machen, Lord Drache«, sagte Ramshalan steif.

Rand nickte gedankenverloren. Falls Naeff wie gehofft das Treffen mit den Seanchanern vereinbarte, konnte er Arad Doman bald danach verlassen. Er hoffte, sie mit einem König zu verlassen, und er hoffte, Graendal finden und töten zu können. Aber Frieden mit den Seanchanern und Nahrung für diese Menschen würden ihm schon reichen. Er konnte nicht jedermanns Probleme lösen. Er konnte sie nur lange genug zum Abwarten zwingen, damit er am Shayol Ghul sterben konnte.

Und so die Welt erneut ihrem Untergang überlassen, sobald es ihn nicht mehr gab. Er biss die Zähne zusammen. Er hatte bereits viel zu viel Zeit damit verschwendet, sich über Dinge Gedanken zu machen, die er nicht richten konnte.

Zögere ich deshalb, einen König für die Domani zu bestimmen?, dachte er. Nach meinem Tod würde der Mann seine Autorität verlieren, und Arad Doman wäre wieder da, wo es anfing. Hinterlasse ich keinen König, der die Unterstützung des Kaufmannsrats hat, dann biete ich im Grunde den Seanchanern an, sich dieses Königreich in dem Moment zu nehmen, in dem ich sterbe.

So viele Dinge, die es auszugleichen galt. So viele Probleme. Er konnte sie nicht alle lösen. Er konnte es einfach nicht.

»Ich halte nichts davon, Rand«, sagte Nynaeve, die mit verschränkten Armen neben der Tür stand. »Und das Thema Lan ist auch noch nicht erledigt.«

Rand winkte einfach nur geringschätzig ab.

»Er ist dein Freund«, sagte sie. »Beim Licht! Und was ist mit Perrin und Mat? Weißt du, wo sie sind? Was ist mit ihnen passiert?«

Vor seinen Augen wirbelten die Farben und enthüllten ein Bild von Perrin, der mit Galad vor einem Zelt stand. Was hatte Perrin denn ausgerechnet mit Galad zu tun? Und wann hatte sich Elaynes Halbbruder den Weißmänteln angeschlossen? Die Farben verschwammen und wurden zu Mat, der durch die Straßen einer vertrauten Stadt ritt. Caemlyn? Thom war bei ihm.

Rand runzelte die Stirn. Da war eine Anziehungskraft, die von Perrin und Mat ausging, die beide weit entfernt waren. Das lag in ihrer Natur als Ta’veren, der Versuch, sich einander anzuziehen. Beide mussten für die Letzte Schlacht an seiner Seite stehen.

»Rand?«, fragte Nynaeve. »Willst du nicht antworten?«

»Wegen Perrin und Mat?«, fragte er. »Sie leben.«

»Woher weißt du das?«

»Ich weiß es eben.« Er seufzte und schüttelte dann den Kopf.» Und sie sollten auch besser am Leben bleiben. Ich brauche sie beide, bevor das hier vorbei ist.«

»Rand!«, sagte sie. »Das sind deine Freunde!«

»Sie sind Fäden im Muster, Nynaeve«, erwiderte er und stand auf. »Mich interessiert nur die Letzte Schlacht. Mich interessiert nur, mit den vom Licht verfluchten Seanchanern Frieden zu schließen, damit ich endlich aufhören kann, mich um den Zank mit ihnen kümmern zu müssen, und mich der wahren Schlacht zuwenden kann. Neben diesen Dingen sind zwei Jungen aus meinem kleinen Dorf bedeutungslos.«

Herausfordernd sah er sie an. Ramshalan und die anderen wichen stumm zurück, weil sie nicht zwischen seinen Blick und Nynaeve geraten wollten.

Sie erwiderte nichts, aber ihre Miene zeigte eine abgrundtiefe Traurigkeit. »Ach, Rand«, sagte sie schließlich. »So kannst du nicht weitermachen. Diese Härte in dir, sie wird dich zerbrechen. «

»Ich tue, was ich tun muss«, entgegnete er und verspürte die Wut, die sich schleichend in ihm ausbreitete. Würden sie denn niemals aufhören, sich über seine Entscheidungen zu beschweren?

»Das musst du nicht tun«, sagte sie. »Du wirst dich selbst zerstören. Du …«

Die Wut kochte hoch. Er fuhr herum und zeigte mit dem Finger auf sie. »Willst du wie Cadsuane verbannt werden, Nynaeve?«, brüllte er. »Ich lasse nicht mit mir spielen! Damit ist Schluss. Gib mir einen Rat, wenn man dich danach fragt, und hör auf, mich den Rest der Zeit zu bevormunden!«

Sie zuckte sichtlich zurück, und Rand bekam seine Wut wieder unter Kontrolle. Er senkte die Hand, aber dann wurde ihm bewusst, dass er reflexartig angefangen hatte, nach dem Zugangschlüssel in seiner Tasche zu greifen. Nynaeves Blick richtete sich starr, mit weit aufgerissenen Augen darauf, und er zwang die Hand langsam in eine andere Richtung.

Der Ausbruch überraschte ihn. Er hatte angenommen, sein Temperament im Griff zu haben. Er bezwang es, was ihm aber überraschend schwerfiel. Mit großen Schritten durchquerte er den Raum und stieß die Tür auf; die Töchter folgten ihm. »Heute gibt es keine Audienz mehr«, sagte er zu dem Gefolge, das sich ihm anschließen wollte. »Geht und tut, was ich euch befohlen habe! Ich brauche die anderen Angehörigen des Kaufmannsrats! Geht!«

Sie stoben auseinander. Allein die Aiel blieben und beschützten ihn auf dem Weg zu den Gemächern, die er in diesem Haus für sich beansprucht hatte.

Nur noch kurze Zeit. Er musste die Dinge nur noch kurze Zeit ausbalancieren. Dann konnte es enden. Und ihm wurde bewusst, dass er anfing, diesem Ende genauso begierig entgegenzusehen wie Lews Therin.

Du hast mir versprochen, dass wir sterben können, sagte Lews Therin zwischen fernen Schluchzern.

Das habe ich, erwiderte Rand. Und das werden wir auch.

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