28 Die Nacht in Hinderstap

Verflucht, Mat!«, sagte Talmanes und riss das Schwert aus dem Bauch eines zuckenden Dorfbewohners. Talmanes fluchte so gut wie nie! »Seid verflucht!«

»Ich!«, fauchte Mat und wirbelte herum. Sein Ashandarei blitzte auf, als er zwei Männer in hellgrünen Westen sauber mit dem Speerende zu Boden schickte. Knurrend und spuckend stürzten sie mit vor Zorn weit aufgerissenen Augen auf die ungepflasterte Straße. »Ich? Ich bin hier nicht derjenige, der Euch umbringen will, Talmanes. Macht sie dafür verantwortlich!«

Talmanes schaffte es, sich in den Sattel zu schwingen. » Sie haben uns gesagt, wir sollen gehen!«

»Ja«, erwiderte Mat, schnappte sich Pips’ Zügel und zog das Pferd vom Beschwipsten Wallach fort. »Und jetzt versuchen sie, uns zu töten. Ich bin nun wirklich nicht an ihrem ungeselligen Benehmen schuld!« Im ganzen Dorf ertönten wildes Geheul, Schreie und Gebrüll. Manches davon war wütend, anderes angsterfüllt oder von Schmerzen gepeinigt.

Immer mehr Männer strömten aus der Schenke; jeder von ihnen grunzte und brüllte, jeder von ihnen versuchte sein Bestes, jeden anderen in seiner Nähe zu töten. Ein paar stürzten sich auf Mat, Talmanes oder Mats Rotwaffen. Aber viele andere griffen einfach ihre Nachbarn an, kratzten oder bohrten Fingernägel in Gesichter. Sie kämpften auf primitive Weise, ohne jede Finesse, und nur wenige kamen auf die Idee, Steine, Becher oder Holzscheite als Waffen zu benutzen.

Das war viel mehr als eine einfache Wirtshausschlägerei.

Diese Männer versuchten einander zu töten. Ein halbes Dutzend Leichen oder Schwerstverwundete lagen bereits auf der Straße, und soweit Mat es sehen konnte, war der Kampf in der Schenke genauso brutal.

Mat versuchte, näher an den Wagen mit den Lebensmitteln zu gelangen, Pips tänzelte an seiner Seite. Die Truhe mit dem Gold lag noch immer auf der Straße. Die Kämpfenden ignorierten sowohl die Vorräte wie auch die Münzen und konzentrierten sich nur aufeinander.

Talmanes und die beiden Soldaten Harnan und Delarn wichen zusammen mit ihm zurück und zogen dabei nervös ihre Reittiere mit. Einen Moment später stürzte sich eine Gruppe der Verrückten auf die beiden Dorfbewohner, die Mat zu Boden geschickt hatte, und schlug ihre Köpfe so lange zu Boden, bis sie sich nicht mehr rührten. Dann fasste die Horde blutdurstig Mat und seine Männer ins Auge. Auf den sauberen Gesichtern der Männer in ordentlichen Westen und mit gekämmtem Haar wirkte der Ausdruck völlig fehl am Platz.

»Verdammte Asche«, sagte Mat und schwang sich in den Sattel. »Alle aufsitzen!«

Harnan und Delarn brauchten keine weitere Aufforderung. Fluchend schoben sie die Schwerter in die Scheiden und schwangen sich auf ihre Pferde. Das Rudel Dorfbewohner stürmte los, aber Mat und Talmanes stellten sich den Angreifern in den Weg. Mat versuchte es sogar mit Hieben, die nur verletzten, aber die Männer waren stark und schnell, und er musste sich sehr anstrengen, um nicht aus dem Sattel gerissen zu werden. Er fluchte und ging zögernd zu tödlichen Schlägen über, schaltete zwei der Männer mit gegen den Hals gerichteten Hieben aus. Pips trat mit den Hufen zu und schickte einen weiteren mit einem Treffer am Kopf zu Boden. Wenige Augenblicke später beteiligten sich Harnan und Delarn an dem Kampf.

Die Dorfbewohner wichen nicht zurück. Sie kämpften wie die Wilden, bis acht von ihnen am Boden lagen. Mats Soldaten wehrten sich voller Entsetzen, und er konnte es ihnen nicht verdenken. Es war unheimlich, ganz normale Dorfbewohner auf diese Weise reagieren zu sehen! Kein Funken Menschlichkeit schien mehr in ihnen zu sein. Sie grunzten, zischten und schrien nur noch unartikuliert, ihre Mienen zeigten blanke Wut und Blutdurst. Jetzt fing der Rest von ihnen - jene, die Mats Männer nicht angegriffen hatten - an, sich zu Rudeln zu formieren und Gruppen anzugreifen, die zahlenmäßig kleiner als sie selbst waren. Sie schlugen auf sie ein, kratzten sie, bissen sie. Es war furchteinflößend.

Ein Körper flog durch eines der Schenkenfenster. Die Leiche rollte mit gebrochenem Genick über die Straße. Auf der anderen Seite des Fensters stand Barlden mit einem wilden, beinahe unmenschlichen Ausdruck in den Augen. Er brüllte in die Nacht hinein, dann sah er Mat und schien einen Funken Erkennen zu zeigen. Aber dann war der wieder verschwunden, und der Bürgermeister brüllte wieder auf, rannte los und sprang durch das kaputte Fenster, um zwei Männer anzugreifen, die ihm den Rücken zuwandten.

»Los!«, rief Mat und ließ Pips auf die Hinterbeine steigen, als ihn ein weiteres Rudel aus Dorfbewohnern entdeckte.

»Das Gold!«, sagte Talmanes.

»Vergesst das Gold!«, erwiderte Mat. »Wir können neues gewinnen, und die Lebensmittel sind nicht unser Leben wert. Los!«

Talmanes und die Soldaten wendeten die Pferde und galoppierten über die Straße, Mat trieb Pips an, um sich ihnen anzuschließen, und er ließ das Gold und den Wagen hinter sich zurück. Es war nicht ihr Leben wert - falls möglich, würde er am nächsten Tag mit seinem Heer zurückkehren, um es sich wiederzuholen. Aber zuerst mussten sie überleben.

Sie galoppierten los, doch an der nächsten Straßenecke hob Mat die Hand und verlangsamte das Tempo. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Dorfbewohner kamen immer noch hinter ihnen her, aber für den Moment hatten sie sie abgehängt.

»Ich gebe noch immer Euch die Schuld«, sagte Talmanes.

»Ich dachte, Ihr kämpft gern«, meinte Mat.

» Manchmal schon. Auf dem Schlachtfeld oder in einer schönen Taverne. Das hier … das hier ist einfach nur verrückt.« Das Rudel Männer hinter ihnen hatte sich auf alle viere niedergelassen und bewegte sich nun in einem seltsamen Trab. Talmanes schauderte sichtlich.

Es gab kaum genug Licht, um sehen zu können. Jetzt, da die Sonne untergegangen war, blockierten die Berge und die graue Wolkendecke den letzten Rest Helligkeit. Die Straßen wurden von vielen Laternen gesäumt, aber es hatte nicht den Anschein, als würde jemand sie entzünden.

»Mat, sie kommen näher«, sagte Talmanes und hielt das Schwert bereit.

»Hier geht es nicht um unsere Wette«, sagte Mat und lauschte den Schreien. Sie kamen aus dem ganzen Dorf. In einer Seitenstraße krachten kämpfende Gestalten aus einem Fenster im oberen Stock eines Hauses. Es waren Frauen, die noch im Sturz aufeinander einschlugen, bevor sie mit einem widerlichen Laut auf dem Boden aufprallten. Ihre Bewegungen hörten auf.

»Kommt«, sagte Mat und wendete Pips. »Wir müssen Thom und die Frauen finden.« Sie galoppierten in eine Seitengasse, die zur Hauptstraße führte, vorbei an Rudeln aus Männern und Frauen, die in der Gosse kämpften. Ein fetter Kerl mit blutigen Wangen stolperte auf die Straße, und Mat ritt ihn zögernd nieder. An den Seiten kämpften zu viele Leute, als dass er es hätte riskieren können, seine Männer um den armen Narren herumzuführen. Er entdeckte sogar Kinder, die kämpften, ihre Zähne in die Beine der Erwachsenen schlugen oder ihre Altersgenossen erwürgten.

»Das ganze verdammte Dorf ist wahnsinnig geworden«, murmelte er grimmig, als sie auf der Hauptstraße herauskamen und in Richtung des feinen Gasthauses weiterpreschten. Sie würden die Aes Sedai einsammeln und dann nach Osten zu Thom weiterreiten, da seine Schenke am weitesten von ihnen entfernt stand.

Unglücklicherweise war die Hauptstraße beträchtlich schlimmer als die Gasse, die sie gerade hinter sich gelassen hatten. Mittlerweile war es fast völlig finster. In der Tat hatte Mat sogar den Eindruck, als wäre die Dunkelheit viel zu schnell hereingebrochen. Unnatürlich schnell. Auf der Straße wimmelte es vor Schatten; miteinander kämpfende, kreischende Gestalten. Manchmal sahen die Auseinandersetzungen in der Dunkelheit wie eine einzelne Kreatur aus - eine schreckliche Monstrosität mit Dutzenden um sich schlagenden Gliedmaßen und hundert Mündern, die aus der Finsternis brüllten.

Mat trieb Pips an. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als mitten hindurch zu reiten.

»Beim Licht!«, rief Talmanes, als sie sich dem Gasthaus näherten. »Beim Licht!«

Mat biss die Zähne zusammen und beugte sich auf Pips nach vorn, den Speer eng an die Seite gehalten, während er durch den Albtraum galoppierte. Ohrenbetäubendes Gebrüll erschütterte die Dunkelheit, Körper wälzten sich über die Erde. Mat erschauderte und fluchte leise. Die Nacht selbst schien sie ersticken zu wollen, Bestien aus Finsternis und Mord zu gebären.

Pips und die anderen Pferde waren gut ausgebildet, und zu viert galoppierten sie die Straße entlang. Beinahe wäre Mat aus dem Sattel gezogen worden, als sich dunkle Umrisse auf seine Beine stürzten und versuchten, ihn vom Pferd zu reißen. Sie schrien und zischten wie die Legionen der Ertrunkenen, die versuchten, ihn in ein tiefes unheimliches Meer zu ziehen.

Neben ihm hielt Delarns Pferd ruckartig an, als ein Pulk finsterer Gestalten vor ihm auftauchte; voller Panik stieg der Wallach auf die Hinterbeine und warf den Soldaten ab.

Mat zügelte Pips und wandte sich Delarns Schrei zu, der irgendwie deutlicher und menschlicher als das Gebrüll um sie herum war.

»Mat!«, rief Talmanes, der vorbeigaloppierte. »Weiterreiten! Wir können nicht anhalten!«

Nein, dachte Mat und verdrängte seine Panik. Nein, ich lasse hier keinen zurück. Er holte tief Luft und ignorierte Talmanes, trieb Pips zu der dunklen Masse aus Körpern zurück, wo Delarn gestürzt war. Schweißtropfen flogen von seiner Stirn, gekühlt vom Wind des Galopps. Von überall um ihn herum schienen ihn Schreie, Stöhnen und Zischen einzuhüllen.

Mat brüllte auf und warf sich von Pips’ Rücken - er konnte nicht mit seinem Pferd angreifen, wenn er es nicht riskieren wollte, den Mann zu zertrampeln, den er retten wollte. Er hasste es, in der Dunkelheit zu kämpfen, er hasste es mit jeder Faser seines Seins. Er griff die dunklen Gestalten an, deren Gesichter er abgesehen von den gelegentlich im sterbenden Licht aufblitzenden Zähnen oder irren Augen nicht sehen konnte. Es erinnerte ihn kurz an eine andere Nacht, in der er in der Dunkelheit Schattengezücht getötet hatte. Nur dass diese Gestalten hier nicht über die Anmut eines Myrddraals verfügten. Sie hatten nicht einmal die Koordination von Trollocs.

Einen Moment lang hatte es den Anschein, als würde er gegen Schatten kämpfen, unberechenbare Schatten, die umso tödlicher waren, weil er ihre Bewegungen nicht abschätzen konnte. Nur knapp entging er einem zerschmetterten Schädel durch Angriffe, die völlig unkoordiniert erfolgten. Am Tag wären diese Attacken lächerlich gewesen, aber diese dunkle Horde aus Männern und Frauen, denen völlig egal war, was sie trafen oder wen sie verletzten, war unberechenbar. Er musste um sein nacktes Leben kämpfen, wirbelte den Ashandarei im weiten Bogen herum, benutzte ihn genauso oft, um jemanden stolpern zu lassen, wie um zu töten. Wenn sich etwas in der Dunkelheit bewegte, schlug er zu. Wie beim Licht sollte er dabei nur Delarn finden!

Ein kurzes Stück entfernt bewegte sich ein Schatten, und Mat erkannte sofort eine Schwertfigur. Ratte knabbert am Getreide? Kein Dorfbewohner würde das kennen. Guter Mann!

Mat warf sich ins Getümmel, schlitzte zwei anderen Schatten die Brust auf, erntete Grunzen und Schmerzgeheul. Delarn wurde zu Boden gerissen, und Mat schrie grimmig auf, sprang über einen gestürzten Körper und ließ den Speer in einem weiten Bogen kreiseln. Schatten bluteten, wo er traf, und das Blut war nur ein weiterer dunkler Fleck. Mit dem Ende seiner Waffe wehrte er einen Angreifer ab, langte nach unten, zog einen der Schatten auf die Füße und hörte einen gemurmelten Fluch. Es war Delarn.

»Kommt schon«, stieß Mat hervor und zog den Mann zu Pips, der schnaubend in der Dunkelheit stand. Die Verrückten schienen Tiere zu ignorieren, ein glücklicher Umstand. Mat stieß den stolpernden Delarn auf das Pferd zu, dann drehte er sich um und griff das Rudel an, von dem er wusste, dass es ihn verfolgen würde. Wieder tanzte er mit der Dunkelheit, schlug immer wieder zu, versuchte sich vom Gegner zu lösen, damit er aufsitzen konnte. Er riskierte einen Blick über die Schulter und entdeckte, dass Delarn es auf Pips’ Rücken geschafft hatte - aber der Soldat hockte zusammengekrümmt da. Wie schlimm war er verletzt? Er schien sich kaum aufrecht halten zu können. Blut und verdammte Asche!

Mat wandte sich wieder seinen Angreifern zu, versuchte sie mit dem wirbelnden Speer zurückzudrängen. Aber es kümmerte sie nicht, wenn sie Verletzungen davontrugen, ihnen war egal, wie gefährlich Mat war. Sie griffen einfach nur weiter an! Umzingelten ihn. Kamen von allen Seiten. Verdammte Asche! Er konnte sich noch gerade rechtzeitig drehen, um einen dunklen Umriss von hinten herankommen zu sehen.

In der Nacht blitzte etwas auf, reflektierte ein fernes Licht. Die dunkle Gestalt hinter Mat sackte zu Boden. Ein weiterer Blitz, und jemand vor ihm stürzte. Plötzlich galoppierte eine Gestalt auf einem weißen Pferd vorbei, und noch ein Messer blitzte durch die Luft und riss einen dritten Mann von den Füßen.

»Thom!«, rief Mat, der den Umhang erkannte. »Steig auf dein Pferd!«, rief Thom zurück. »Mir gehen die Messer aus!«

Mat stieß mit dem Speer zu, tötete zwei weitere Dorfbewohner, dann rannte er los und sprang auf den Sattel zu, vertraute darauf, dass Thom seinen Rückzug deckte. In der Tat ertönten hinter ihm Schmerzensschreie. Einen Augenblick später kündigte ein Donnern auf der Straße die unmittelbar bevorstehende Ankunft von Pferden an. Mat zog sich gerade in den Sattel, als die Tiere aus der Dunkelheit hervorbrachen und die Dorfbewohner zur Seite schleuderten.

»Mat, Ihr seid ein Narr!«, brüllte Talmanes von einem der Pferde, eine kaum erkennbare Silhouette in der Nacht.

Mat lächelte Talmanes dankbar an, drehte Pips und fing Delarn auf, als der Mann um ein Haar vom Pferd gesackt wäre. Der Soldat war noch am Leben, denn er kämpfte schwach um Halt, aber an der Seite hatte er einen großen feuchten Fleck. Mat hielt ihn fest, ignorierte die Zügel und kontrollierte Pips durch einen schnellen Druck mit den Knien. Die Kampfbefehle für ein Schlachtross waren ihm selbst unbekannt, aber diese verdammten fremden Erinnerungen kannten sie umso besser, also hatte er Pips Gehorsam antrainiert.

Thom galoppierte vorbei, und Mat folgte ihm auf Pips, stützte mit der einen Hand Delarn und hielt mit der anderen den Speer bereit. Talmanes und Harnan ritten an seinen Seiten, stürmten den Korridor des Wahnsinns auf das Gasthaus an seinem Ende zu entlang.

»Kommt schon, Mann«, flüsterte Mat Delarn ins Ohr. »Haltet durch. Die Aes Sedai sind nicht weit entfernt. Die bekommen Euch wieder hin.«

Delarn flüsterte etwas zurück.

Mat beugte sich vor. » Was?«

»… und werfen die Würfel, bis wir fliegen«, wisperte Delarn. »Und tanzen mit Jak aus den Schatten …«

»Na toll«, murmelte Mat. Voraus brannten Lichter, und er konnte erkennen, dass sie aus dem Gasthaus kamen. Vielleicht würden sie den einen Ort in diesem verfluchten Dorf finden, wo die Menschen nicht ihren Verstand verloren hatten.

Aber nein. Dieses aufwallende Licht kannte er. Feuerbälle, die hinter den Fenstern im ersten Stock des Gebäudes aufblitzten.

»Nun«, sagte Talmanes links von ihm, »anscheinend leben die Aes Sedai noch. Das ist doch schon einmal etwas.«

Vor dem Gasthaus drängten sich Gestalten und kämpften in der Dunkelheit, gelegentlich von den Blitzen in den Fenstern angestrahlt.

»Zur Rückseite«, schlug Thom vor.

»Geht«, sagte Mat und raste an den Kämpfenden vorbei. Talmanes, Thom und Harnan folgten Pips’ Hufen dichtauf. Mat segnete sein Glück, dass sie in kein Bodenloch traten, als sie auf den weicheren Erdboden an der Gasthausseite kamen. Die Pferde hätten leicht stolpern und sich die Beine brechen können, was eine Katastrophe für sie alle gewesen wäre.

An der Rückseite herrschte Stille, und Mat zügelte sein Pferd. Thom sprang aus dem Sattel, und seine Beweglichkeit strafte seine vorherigen Beschwerden über das Älterwerden Lügen. Er nahm an der Hausecke Aufstellung, um zu sehen, ob man ihnen folgte.

»Harnan!«, sagte Mat und stieß den Speer in Richtung Ställe. »Holt die Pferde der Frauen und macht sie bereit. Sattelt sie, falls das möglich ist, aber falls nötig muss es auch ohne gehen. Wenn es das Licht will, müssen wir nicht weit reiten, nur etwa eine Meile, um diesem Wahnsinn zu entkommen.«

Harnan salutierte in der Dunkelheit, dann stieg er ab und eilte zu den Ställen. Mat wartete lange genug, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand aus der Finsternis ansprang, dann wandte er sich Delarn zu, den er noch immer festhielt. »Seid Ihr noch bei Bewusstsein?«

Delarn nickte schwach. »Ja, Mat. Aber ich habe eine Bauchwunde. Ich …«

»Wir holen die Aes Sedai«, sagte Mat. »Ihr braucht bloß hier sitzen zu bleiben. Bleibt im Sattel, in Ordnung?«

Delarn nickte erneut. Die schwachen Bewegungen des Mannes ließen Mat zögern, aber Delarn nahm Pips’ Zügel und schien entschlossen. Also rutschte Mat aus dem Sattel und hielt den Ashandarei bereit.

»Mat«, sagte Delarn von oben.

Mat drehte sich wieder um.

»Danke. Dass Ihr meinetwegen umgekehrt seid.«

»Keinen Mann würde ich dem ausliefern.« Mat erschauderte. »Auf dem Schlachtfeld zu sterben ist eine Sache, aber hier zu sterben, in dieser Dunkelheit … Nun, das lasse ich nicht zu. Talmanes! Seht, ob Ihr Licht findet.«

»Bin schon dabei«, sagte der Cairhiener von der Hintertür des Gasthauses. Dort hatte er eine hängende Laterne gefunden. Ein paar Schläge von Feuerstein und Stahl später, und ein weicher Glanz erhellte die Rückseite des Hauses. Talmanes schob schnell die Blende vor, was das Licht größtenteils wieder einschränkte.

Thom kam angelaufen. »Es folgt uns keiner, Mat.«

Mat nickte. In dem Laternenlicht konnte er sehen, dass Delarn in einem schlechten Zustand war. Da war nicht nur die Bauchwunde, sondern auch Kratzer in seinem Gesicht und Risse in seiner Uniform; ein Auge war zugeschwollen.

Mat zog ein Taschentuch hervor und drückte es neben Pips stehend gegen die Bauch wunde. »Drückt das fest drauf. Woher kommt die Wunde? Sie benutzen keine Waffen.«

»Einer konnte mir das Schwert abnehmen«, erwiderte Delarn mit einem Grunzen. »Er konnte gut damit umgehen, sobald er es in der Hand hielt.«

Talmanes hatte die Tür geöffnet. Er schaute zu Mat herüber und nickte. Der Weg hinein war frei.

»Wir sind gleich zurück«, versprach Mat. Mit bereitgehaltenem Ashandarei überquerte er die kurze Distanz zur Tür und nickte dann Talmanes und Thom zu. Geduckt traten sie ein.

Die Tür führte in die Küche. Mat ließ den Blick durch den dunklen Raum schweifen, und Talmanes stieß ihn leicht an, deutete auf mehrere Umrisse auf dem Boden. Ein Strahl Laternenlicht enthüllte zwei Küchenjungen, die kaum zehn Jahre alt sein konnten und mit gebrochenem Genick am Boden lagen. Mat schaute weg, stählte sich und schob sich verstohlen weiter in den Raum hinein. Beim Licht! So junge Burschen, und jetzt tot durch diesen Wahnsinn.

Thom schüttelte grimmig den Kopf, und sie schlichen weiter. Im nächsten Korridor fanden sie den Koch, der grunzend auf den Kopf eines Mannes einschlug, bei dem es sich allem Anschein nach um den Wirt handelte. Zumindest trug er eine weiße Schürze. Er war bereits tot. Der fette Koch wandte sich in dem Augenblick Mat und Talmanes zu, in dem sie den Korridor betraten, einen wilden Ausdruck in den Augen. Zögernd schlug Mat zu und brachte ihn zum Schweigen, bevor er aufheulen und andere Leute anlocken konnte.

»Auf der Treppe wird gekämpft«, raunte Talmanes.

»Ich wette, es gibt eine Dienstbotentreppe«, meinte Thom. »Das Haus scheint edel genug dafür zu sein.«

Nach zwei weiteren Korridoren im hinteren Teil des Hauses fanden sie tatsächlich eine schmale Treppe, die nach oben in die Dunkelheit führte. Mat holte tief Luft, dann stieg er mit bereitgehaltenem Ashandarei in die Höhe. Das Gasthaus hatte nur ein oberes Stockwerk, und die Blitze waren aus dem ersten Stock kommen, an der Vorderseite.

Sie erreichten das Obergeschoss, stießen eine Tür auf und wurden vom beißenden Gestank brennenden Fleisches begrüßt. Hier waren die Korridore aus Holz, dessen Maserung weiße Farbe überdeckte. Auf dem Boden lag ein dunkelbrauner Teppich. Mat nickte Talmanes und Thom zu, dann sprangen sie mit erhobenen Waffen von der Treppe in den Korridor.

Sofort schoss ein Feuerball in ihre Richtung. Fluchend warf sich Mat zurück, prallte gegen Talmanes und entging dem Feuer nur knapp. Thom drückte sich mit der Gewandtheit eines Gauklers an die Wand und ließ das Feuer an sich vorbeirauschen. Mat und Talmanes stürzten um ein Haar die Treppe hinunter.

»Blut und verdammte Asche!«, brüllte Mat in den Korridor. »Was glaubt Ihr, was Ihr da tut?«

Stille trat ein, schließlich gefolgt von Jolines Stimme.» Cauthon?«, rief sie.

»Was glaubt Ihr denn verdammt noch mal?«, rief er zurück.

»Das weiß ich doch nicht! Ihr wart so schnell da, mit gezückten Waffen. Wollt Ihr unbedingt sterben?«

»Wir wollten Euch retten!«, brüllte Mat.

»Sehen wir so aus, als müsste man uns retten?«, lautete die Erwiderung.

»Nun, Ihr seid immer noch hier, oder nicht?«

Darauf wurde mit Schweigen geantwortet.

»Oh, um des Lichts willen«, rief Joline schließlich. »Kommt Ihr jetzt endlich da raus?«

»Ihr werdet nicht noch einen Feuerball auf mich schleudern, oder?«, murmelte Mat und betrat den Korridor, während Thom wieder auf die Füße kam. Talmanes folgte ihm. Die drei Aes Sedai standen am Fuß einer breiten eleganten Treppe am anderen Ende des Korridors. Teslyn und Edesina schleuderten noch immer Feuerbälle auf Dorfbewohner in der Tiefe; ihr Haar war nass und ihre Kleider saßen nicht richtig, als hätten sie sie hastig übergestreift. Joline trug nur einen voluminösen weißen Morgenmantel. Ihr hübsches Gesicht war die Ruhe selbst, ihr dunkles Haar fiel ihr glatt und feucht über die rechte Schulter. Der Morgenmantel klaffte oben ein Stück auf und zeigte eine Andeutung dessen, was sich darunter verbarg. Talmanes stieß einen leisen Pfiff aus.

»Sie ist keine Frau, Talmanes«, flüsterte Mat warnend. »Sie ist eine Aes Sedai. Haltet sie bloß nicht für eine Frau.«

»Ich gebe mir alle Mühe, Mat«, entgegnete Talmanes. »Aber es fällt schwer.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Soll man mich doch zu Asche verbrennen.«

»Nehmt Euch in Acht, oder sie wird genau das tun«, sagte Mat und zog die Hutkrempe ein Stück tiefer. »Tatsächlich hat sie es eben versucht.«

Talmanes seufzte, und sie begaben sich zu den Frauen. Jolines beiden Behüter standen mit gezogenen Waffen im Badezimmer. Etwa ein Dutzend Diener saßen gefesselt in der Ecke: zwei junge Mädchen - vermutlich Bademägde - und mehrere Männer in Westen und Hosen. Anscheinend hatte Jolines Kleid für die Fessel herhalten müssen. Die Seide würde viel besser funktionieren als Handtücher aus Wolle. Kurz vor dem Treppenabsatz direkt unter den Aes Sedai konnte Mat ein paar Tote ausmachen, die durch Stahl und nicht durch Feuer gestorben waren.

Joline musterte Mat beim Näherkommen, und der Blick deutete unmissverständlich an, dass sie irgendwie ihn für das alles hier verantwortlich machte. Sie verschränkte die Arme und zog den Morgenmantel am Hals zusammen, allerdings vermochte Mat nicht zu sagen, ob sie das wegen Talmanes’ bewunderndem Blick oder nur zufällig tat.

»Wir müssen weg hier«, sagte Mat. »Die ganze Stadt ist verrückt geworden.«

»Wir können nicht gehen«, erwiderte Joline. »Wir können diese Diener nicht dem Mob überlassen. Außerdem müssen wir Meister Tobrad finden und dafür sorgen, dass er in Sicherheit ist.«

»Meister Tobrad ist der Wirt?«, fragte Mat. Ein Feuerball sauste die Treppe hinunter. »Ja.«

»Zu spät. Sein Gehirn schmückt bereits unten die Wand. Hört zu, wie ich gerade sagte, ist das ganze Dorf verrückt geworden. Diese Diener haben versucht, Euch zu töten, richtig?«

Joline zögerte. »Ja.«

»Lasst sie zurück. Wir können nichts für sie tun.«

»Aber wenn wir bis zur Morgendämmerung warten …«, sagte Joline zögernd.

»Und was? Jede Person zu Asche verbrennen, die die Treppe raufkommt? Ihr veranstaltet hier eine ganz schöne Aufregung, und sie zieht immer mehr Menschen an. Wenn Ihr sie aufhalten wollt, werdet Ihr sie alle töten müssen.«

Joline sah die anderen beiden Frauen an.

»Hört mir zu«, sagte Mat. »Dort unten habe ich eine verwundete Rotwaffe, und ich habe vor, den Mann lebend herauszuschaffen. Ihr könnt für diese Leute nichts tun. Ich vermute, Eure Behüter mussten die Gruppe oben auf der Treppe töten, bevor Ihr Euch alle bedroht genug gefühlt habt, um die Macht zu benutzen. Ihr wisst, wie entschlossen sie sind.«

»Also gut«, sagte lohne. »Ich komme mit. Aber wir nehmen die beiden Mägde mit. Blaeric und Pen können sie tragen.«

Mat seufzte - es wäre ihm lieber gewesen, ihm hätten die Klingen der Behüter zur Verfügung gestanden, falls es Ärger geben sollte -, aber er sparte sich jedes weitere Wort. Er nickte Thom und Talmanes zu und wartete ungeduldig, während sich die Behüter die gefesselten Mädchen auf die Schulter luden. Dann eilte die ganze Gruppe die Dienstbotentreppe hinunter. Talmanes übernahm die Führung, und Mat machte den Abschluss. Er konnte die Schreie hören, die sowohl wütend als auch freudig klangen, als den Dorfbewohnern am Fuß der Treppe klar wurde, dass kein Feuer mehr in die Tiefe regnete. Dann kamen Gepolter und Schreie, gefolgt von aufgerissenen Türen, und er zuckte zusammen, als er sich vorstellte, wie die im Badezimmer gefesselten Diener der Menge zum Opfer fielen.

Mat und die anderen eilten aus der Hintertür, nur um Delarn neben Pips am Boden liegend zu finden. Harnan kniete neben ihm, und er schaute besorgt auf. »Mat! Er ist aus dem Sattel gekippt. Ich …«

Edesina eilte herbei und ging neben Delarn auf die Knie. Sie schloss die Augen, und Mat fühlte einen kühlen Schauder von seinem Medaillon. Es ließ ihn frösteln, während die Eine Macht aus der Frau in den Soldaten strömte. Das war beinahe genauso schlimm wie sterben, verdammt noch mal, das war es! Er umklammerte das Medaillon unter seinem Hemd.

Delarn erstarrte, dann keuchte er laut auf und riss die Augen auf.

»Es ist vollbracht«, sagte Edesina und stand auf. »Er wird schwach vom Heilen sein, aber ich war rechtzeitig bei ihm.«

Harnan hatte alle ihre Pferde geholt und gesattelt. Guter Mann, das Licht sollte ihn segnen! Die Frauen saßen auf und warfen dem Gasthaus skeptische Blicke zu.

»Es ist beinahe so, als würde die Dunkelheit selbst sie berauschen«, sagte Thom, während Mat Delarn in den Sattel half. »Als hätte das Licht selbst sie verlassen und dem Schatten ausgeliefert…«

»Wir können nichts tun«, sagte Mat, als er sich hinter Delarn in den Sattel zog. Nach dem Heilen war der Soldat zu schwach, um allein reiten zu können. Mat musterte die Mägde, die die Behüter vor sich über ihre Pferde gelegt hatten. Mit hasserfülltem Blick kämpften sie gegen ihre Fesseln. Er wandte sich Talmanes zu, der die Laterne an einer Sattelstange befestigt hatte. Der Cairhiener öffnete die Blende und tauchte die Rückseite des Gasthauses in helles Licht. Ein Weg führte vom Hof nach Norden in die Dunkelheit. Fort vom Heer, aber auf direktem Weg aus dem Dorf in die Berge. Das war gut genug für Mat.

»Reitet«, sagte er und trieb Pips an. Die Gruppe schloss sich ihm an.

»Ich habe Euch ja gesagt, wir sollten gehen«, sagte Talmanes und warf einen Blick über die Schulter. »Aber Ihr musstet ja für einen letzten Wurf bleiben.«

Mat schaute nicht zurück. »Das ist nicht mein Fehler, Talmanes. Woher sollte ich denn wissen, dass sie einander an die Kehle gehen, nur weil wir geblieben sind?«

»Was denn?«, fragte Talmanes. »Reagieren die Leute nicht immer so, wenn Ihr ihnen sagt, dass Ihr über Nacht bleibt?«

Mat verdrehte die Augen, verspürte aber nicht die geringste Lust zu lachen, als er die Gruppe aus dem Dorf führte.


Stunden später saß Mat auf einem dunklen Hügel auf einem Stein und schaute auf Hinderstap. Das Dorf war dunkel. Nicht ein Licht brannte. Man konnte unmöglich sagen, was dort vor sich ging, aber er schaute trotzdem hin. Nach dem, was sie durchgemacht hatten, wie sollte ein Mann da schlafen können?

Nun, die Soldaten schliefen. Er machte Delarn keinen Vorwurf. Das Heilen einer Aes Sedai konnte einem starken Mann jede Kraft rauben. Mat hatte die eiskalte Berührung selbst gelegentlich kennengelernt, und er beabsichtigte nicht, die Erfahrung zu wiederholen. Talmanes und Harnan konnten keine Heilung als Entschuldigung vorweisen, aber sie waren Soldaten. Soldaten lernten zu schlafen, wann immer sie konnten, und die Erlebnisse der Nacht schienen sie bei weitem nicht so verstört zu haben wie Mat. Oh, im dichtesten Getümmel waren sie besorgt gewesen, aber jetzt war es nur eine weitere Schlacht, die vorbei war. Eine weitere Schlacht, die sie überlebt hatten. Da hatte sogar der tapfere Harnan lächeln und scherzen müssen, als sie sich niedergelegt hatten.

Aber Mat nicht. An der ganzen Erfahrung war etwas auf seltsame Weise falsch. Sollte der Zapfenstreich irgendwie verhindern, dass es geschah? War er für die ganzen Todesfälle verantwortlich, weil er geblieben war? Blut und verdammte Asche. Gab es denn überhaupt keinen Ort auf der Welt mehr, wo noch etwas einen Sinn ergab?

»Mat, mein junge«, sagte Thom und kam mit seinem üblichen leichten Hinken auf ihn zu. Er hatte einen gebrochenen Arm gehabt, obwohl er nichts davon gesagt hatte, bis Edesina sein Zusammenzucken bemerkt und darauf bestanden hatte, ihn zu Heilen. »Du solltest schlafen.« Jetzt, da der Mond hinter den Wolken verborgen aufgegangen war, gab es genug Licht, dass Mat Thoms Besorgnis sehen konnte.

Die Gruppe hatte in einer kleinen Senke neben dem Pfad angehalten. Hier hatte man einen guten Blick auf das Dorf und - was noch viel wichtiger war - man konnte den Weg überwachen, auf dem Mat und die anderen entkommen waren. Die Senke befand sich auf einem steilen Hügel, die einzige Zugangsmöglichkeit war das Tal. Ein Wachtposten konnte gut erkennen, ob sich jemand ins Lager schleichen wollte.

Die Aes Sedai hatten sich im hinteren Teil der Senke hingelegt, allerdings glaubte Mat nicht, dass sie schliefen. Jolines Behüter hatten daran gedacht, Decken mitzubringen, nur für alle Fälle. So waren Behüter eben. Mats Männer hatten nur ihre Umhänge, aber das hielt sie nicht vom Schlaf ab. Talmanes schnarchte sogar, und das trotz der kühlen Frühlingsluft. Mat hatte jedes Feuer verboten. Es war nicht so kalt, dass sie eins brauchten, und es würde jedem, der sie suchte, nur ein Zeichen geben.

»Mir geht es gut, Thom«, sagte Mat und machte auf dem Stein Platz, damit sich der Gaukler setzen konnte. »Du bist derjenige, der schlafen sollte.«

Thom schüttelte den Kopf. »Eine gute Sache habe ich am Älterwerden entdeckt; der Körper scheint nicht mehr so viel Schlaf wie früher zu brauchen. Vermutlich braucht man zum Sterben nicht so viel Energie wie zum Wachsen.«

»Fang nicht wieder damit an«, erwiderte Mat. »Muss ich dich daran erinnern, wie du mir dort unten den Hintern gerettet hast? Worüber hattest du dir heute Nachmittag noch Sorgen gemacht? Dass ich dich nicht mehr brauche? Wärst du heute nicht in meiner Nähe gewesen, hättest du nicht nach mir gesucht, wäre ich in diesem Dorf gestorben. Delarn auch.«

Thom grinste; seine Augen funkelten hell im Mondlicht. »Na gut, Mat«, sagte er. »Schluss damit. Versprochen.«

Mat nickte. Eine Weile saßen sie auf dem Stein und schauten zu den Häusern hinunter. »Es wird mich nicht in Ruhe lassen, Thom«, sagte Mat schließlich.

»Was denn?«

»Das alles hier«, antwortete Mat müde. »Der verfluchte Dunkle König und seine Brut. Seit jener Nacht in den Zwei Flüssen jagen sie mich, und nichts konnte sie aufhalten.«

»Glaubst du, er war das?«

»Was sollte es sonst gewesen sein? Harmlose Dorfbewohner, die sich in gewalttätige Irre verwandeln? Das ist das Werk des Dunklen Königs, und das weißt du.«

Thom schwieg. »Ja«, sagte er dann. »Vermutlich schon.«

»Sie jagen mich noch immer«, fuhr Mat wütend fort. »Dieser verdammte Gholam ist irgendwo dort draußen, ich weiß, dass er das ist, aber das ist nur ein Teil davon. Myrddraals und Schattenfreunde, Ungeheuer und Geister. Sie verfolgen und jagen mich. Ich bin von einer Katastrophe in die nächste gestolpert, habe kaum den Kopf über Wasser halten können, und zwar seit das alles anfing. Ich sage immer, dass ich einfach nur ein Versteck finden muss, in dem ich würfeln und trinken kann, aber das wird die Sache nicht beenden. Nichts wird das.«

»Du bist ein Ta’veren, mein junge«, sagte Thom.

»Ich habe nicht darum gebeten. Verdammt, ich wünschte, sie würden einfach alle gehen und nur Rand belästigen. Ihm macht das Spaß.« Er schüttelte den Kopf, verscheuchte das sich formende Bild von dem schlafenden Rand in seinem Bett; Min lag zusammengerollt neben ihm.

»Glaubst du das wirklich?«, wollte Thom wissen.

Mat zögerte. »Ich wünschte, ich täte es«, gab er zu. »Es würde die Dinge einfacher machen.«

»Lügen haben die Dinge am Ende noch nie leichter gemacht. Es sei denn, sie sind für genau die richtige Person bestimmt - gewöhnlich eine Frau -, zu genau dem richtigen Zeitpunkt. Wenn du sie dir selbst sagst, schaffst du nur noch mehr Ärger.«

»Diesen Menschen im Dorf habe ich nur Ärger gebracht.« Er warf einen Blick nach hinten in das Lager, wo die beiden Behüter saßen und die gefesselten Dienerinnen bewachten. Die Mädchen kämpften noch immer gegen die Fesseln. Beim Licht! Wo hatten sie nur diese Kräfte her? Das war nicht menschlich.

»Ich glaube nicht, dass du das warst, Mat«, meinte Thom nachdenklich. »Oh, ich bestreite nicht, dass der Ärger dich verfolgt - der Dunkle König scheint es höchstpersönlich zu tun. Aber Hinderstap … nun, als ich in diesem Gemeinschaftsraum sang, da schnappte ich ein paar Dinge auf. Sie erschienen unwichtig. Aber im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätten die Leute das erwartet. Oder zumindest etwas Ähnliches.«

»Wie sollte das möglich sein? Wäre es bereits schon einmal geschehen, dann wären sie alle tot.«

»Ich weiß nicht«, sagte Thom nachdenklich. Dann schien ihm etwas einzufallen. Er fing an, in seinem Umhang herumzusuchen. »Oh, das habe ich ja ganz vergessen. Vielleicht gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen dir und den Geschehnissen. Ich konnte das hier einem Mann abnehmen, der zu viel getrunken hatte, als dass es ihm guttat.« Der Gaukler zog ein gefaltetes Blatt Papier hervor und gab es Mat.

Stirnrunzelnd nahm dieser es entgegen und entfaltete es. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er im diffusen Mondlicht darauf und grunzte, als er erkannte, was auf dem Papier stand - keine Worte, aber eine sehr genaue Zeichnung von Mats Gesicht, zusammen mit einem Hut. Sogar das Fuchskopf-Medaillon um seinen Hals war da. Verdammte Asche.

Er unterdrückte seinen Ärger. »Hübscher Bursche. Gute Nase, gerade Zähne, schicker Hut.«

Thom schnaubte.

»Ich habe beobachtet, wie jemand dem Bürgermeister ein Papier zeigte.« Mat faltete die Zeichnung wieder zusammen. »Ich konnte nicht sehen, was da stand, aber ich wette, es war das Gleiche wie hier. Was hatte der Mann, dem du es abgenommen hast, dazu zu sagen?«

»Eine Fremde in einem Dorf nördlich von hier verteilt sie und bietet eine Belohnung für jeden, der dich gesehen hat. Der Mann hatte das Blatt von einem Freund, also konnte er sie weder beschreiben, noch wusste er den Namen des Dorfes. Entweder hat sein Freund ihm das nicht gesagt, weil er die Belohnung für sich selbst haben wollte, oder er war einfach zu betrunken, um sich daran zu erinnern.«

Mat steckte die Zeichnung in die Manteltasche. Im Osten glühte der erste Schimmer der Morgendämmerung. Er war die ganze Nacht auf gewesen, aber er war nicht müde. Nur … ausgelaugt. »Ich kehre zurück«, sagte er dann.

»Was?«, fragte Thom überrascht. »Nach Hinderstap?«

Mat nickte und stand auf. »Sobald es hell ist. Ich muss …«

Ein gedämpfter Fluch unterbrach ihn. Er wirbelte herum und griff nach dem Ashandarei. Thom hielt ein Augenblinzeln später ein paar Messer in den Händen. Fen hatte geflucht, Jolines saldaeanischer Behüter. Er suchte mit der Hand am Schwertgriff den Boden um ihn herum ab. Blaeric stand mit gezogenem Schwert vor den Aes Sedai, aufmerksam und auf der Hut.

»Was ist?«, fragte Mat angespannt. »Die Gefangenen«, sagte Fen.

Mat zuckte zusammen, als ihm bewusst wurde, dass die Mädchen, die in der Nähe der Behüter gelegen hatten, verschwunden waren. Fluchend rannte er zu der Stelle. Talmanes’ Schnarchen hörte auf, als der Lärm ihn weckte. Er setzte sich auf. Die Stoffstreifen von Jolines Kleid, die als Fesseln gedient hatten, lagen auf dem Boden, aber die Mägde waren weg.

»Was ist passiert?«, fragte Mat.

»Ich …« Der dunkelhaarige Behüter schaute entgeistert drein. »Ich habe keine Ahnung. Vor einem Augenblick waren sie doch noch da!«

»Seid Ihr eingeschlafen?«

»Fen würde so etwas nicht tun«, sagte Joline mit ruhiger Stimme und setzte sich auf ihrer Decke auf. Noch immer trug sie nur den Morgenmantel.

»Mein Junge«, sagte Thom, »wir haben die Mädchen doch selbst noch vor kaum einer Minute gesehen.«

Talmanes fluchte und weckte die beiden Rotwaffen. Delarn sah schon wieder viel besser aus; die Erschöpfung durch die Heilung schien ihm kaum noch zu schaffen zu machen, als er aufstand. Die Behüter wollten eine Suche starten, aber Mat wandte sich einfach wieder dem Dorf in der Tiefe zu. »Die Antworten liegen dort«, sagte er. »Thom, du begleitest mich. Talmanes, passt auf die Frauen auf.«

»Auf uns muss keiner aufpassen, Matrim«, sagte Joline griesgrämig.

»Auch gut«, fauchte Mat. »Thom, du begleitest mich. Joline, Ihr passt auf die Soldaten auf. Auf jeden Fall bleibt ihr alle hier. Im Moment kann ich mir keine Sorgen um die ganze Gruppe machen.«

Er gab ihnen keine Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Wenige Minuten später saßen er und Thom auf ihren Pferden und ritten den Pfad nach Hinderstap hinunter.

»Was erwartest du eigentlich zu finden?«, wollte Thom wissen.

»Keine Ahnung«, erwiderte Mat. »Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht so scharf darauf, mir das Dorf anzusehen.«

»Auch wieder wahr«, sagte Thom leise.

Mat entdeckte die Ungereimtheiten beinahe sofort. Die Ziegen weideten auf der westlichen Wiese. Im Licht der Morgendämmerung vermochte er es nicht genau zu sagen, aber es hatte den Anschein, als würde jemand auf sie aufpassen. Und was war mit diesen Lichtern im Dorf? Während der ganzen Nacht hatte nicht eine einzige Lampe gebrannt! Er trieb Pips zu einer schnelleren Gangart an, und Thom folgte ihm schweigend.

Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie da waren - Mat hatte nicht riskieren wollen, so nahe an dem Dorf zu kampieren, hatte aber in der Dunkelheit auch nicht den Rückweg zum Heer suchen wollen. Als sie den Hof des Gasthauses erreichten, war es noch ziemlich früh, aber es war hell. Ein paar Männer in braunen Mänteln arbeiteten an der Hintertür, die anscheinend nach dem Aufbruch von Mat und den anderen aus den Angeln gerissen worden war. Die Männer schauten auf, als Mat und Thom auf den Hof ritten, und einer nahm mit einem nervösen Ausdruck die Mütze ab. Keiner machte eine bedrohliche Bewegung.

Mat ließ Pips anhalten. Einer der Männer flüsterte einem anderen etwas zu, der sofort ins Haus lief. Einen Moment später trat ein langsam kahlköpfig werdender Mann mit einer weißen Schürze hinaus. Mat wurde blass.

»Der Wirt«, sagte er. »Verdammt, Ihr wart doch tot!«

»Hol am besten den Bürgermeister, mein Sohn«, sagte der Wirt zu einem der Arbeiter. Er schaute wieder zu Mat hinüber. »Schnell.«

»Was bei Falkenflügels verfluchter linker Hand geht hier vor?«, verlangte Mat zu wissen. »War das alles nur ein krankes Schauspiel? Ihr …«

Ein Kopf lugte aus der Tür und schaute am Wirt vorbei zu Mat. Ein feistes Gesicht gekrönt von blonden Locken. Als Mat diesen Mann, den Koch, das letzte Mal gesehen hatte, war er gezwungen gewesen, ihm Bauch und Kehle aufzuschlitzen.

»Ihr da!«, sagte er und zeigte auf ihn. »Ich habe Euch getötet!«

»Beruhigt Euch, mein Sohn«, sagte der Wirt. »Kommt rein, wir besorgen Euch erst einmal eine schöne Tasse Tee und dann…«

»Ich gehe nirgendwo mit einem Geist hin«, sagte Mat. »Thom, siehst du das auch?«

Der Gaukler rieb sich das Kinn. »Vielleicht solltest du den Mann anhören.«

»Geister und Gespenster«, murmelte Mat und drehte Pips. »Komm.« Er trieb Pips an und trabte los, zur Vorderseite des Gasthauses. Thom folgte ihm. Hier waren viele Arbeiter zu sehen, die Eimer mit Farbe hineintrugen. Vermutlich um die Stellen zu richten, wo das Feuer der Aes Sedai das Gebäude angesengt hatte.

Thom schloss zu Mat auf. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er. »Warum sollten Geister Wände streichen und Türen reparieren müssen?«

Mat schüttelte den Kopf. Er hatte die Stelle entdeckt, wo er gegen die Dorfbewohner gekämpft hatte, um Delarn zu retten. Plötzlich zügelte er Pips, woraufhin Thom fluchte und sein Pferd wendete, um zurückzukehren.

»Was ist?«

Mat zeigte es ihm. Auf dem Boden und auf mehreren Steinen am Straßenrand waren Blutflecken. »Dort hat man auf Delarn eingestochen.«

»Also gut«, sagte Thom. Um sie herum gingen Männer mit abgewendetem Blick vorbei. Sie machten einen weiten Bogen um die Besucher.

Blut und verdammte Asche, dachte Mat. Und wieder habe ich zugelassen, dass sie uns umzingeln. Was, wenn sie angreifen? Du verdammter Narr!

»Also ist da Blut«, meinte Thom. »Was hast du erwartet?«

»Und wo ist der Rest von dem Blut?«, knurrte Mat. »Ich habe hier ein gutes Dutzend Männer getötet, und ich habe gesehen, wie sie geblutet haben. Du hast drei von ihnen mit deinen Messern niedergestreckt. Wo ist das Blut?«

»Es verschwindet«, sagte eine Stimme.

Mat zog Pips herum und sah den stämmigen Bürgermeister mit den haarigen Armen ein kurzes Stück entfernt auf der Straße stehen. Er musste bereits in der Nähe gewesen sein; die Arbeiter hätten ihn unmöglich so schnell herbeiholen können. Andererseits, bei dem, was in diesem Dorf vor sich ging, wer vermochte das schon genau zu sagen? Barlden trug einen Umhang und ein Hemd, das mehrere neue Risse aufwies.

»Das Blut verschwindet«, sagte er. Er klang erschöpft. »Keiner von uns hat es gesehen. Wir wachen einfach auf, und es ist verschwunden.«

Mat zögerte, sah sich im Dorf um. Frauen spähten aus den Häusern, hielten Kinder. Männer brachen zu den Feldern auf, trugen Hacken und Rechen. Abgesehen von dem Gefühl der Beklommenheit, das Mats und Thoms Anwesenheit verbreitete, wäre keiner auf die Idee gekommen, dass in diesem Dorf etwas nicht stimmte.

»Wir werden Euch nichts tun«, sagte der Bürgermeister und wandte sich von Mat ab. »Also braucht Ihr auch nicht so besorgt auszusehen. Zumindest nicht bis Sonnenuntergang. Wenn Ihr wollt, erkläre ich es Euch. Also kommt und hört zu, oder verschwindet. Es ist mir wirklich egal, wenn Ihr nur aufhört, Unruhe in meine Stadt zu bringen. Wir haben zu arbeiten. Und zwar mehr als sonst, dank Euch.«

Mat sah Thom an, der nur mit den Schultern zuckte. »Zuhören ist nie verkehrt«, sagte der Gaukler.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Mat und musterte den Bürgermeister. »Es sei denn, es könnte einem schaden, wenn man von verrückten mörderischen Hinterwäldlern umzingelt ist.«

»Also verschwinden wir?«

Mat schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Soll man mich zu Asche verbrennen, aber sie haben noch immer mein Gold. Komm, lass uns hören, was er zu sagen hat.«


»Alles fing vor mehreren Monaten an «, sagte der Bürgermeister. Er stand am Fenster. Sie befanden sich in einem ordentlichen, wenn auch schlichten Wohnzimmer in seinem Haus. Vorhänge und Teppiche waren von hellgrüner Farbe, die holzgetäfelten Wände hellbraun. Die Frau des Bürgermeisters hatte Tee aus getrockneten Süßbeeren gebracht. Mat hatte sich entschieden, nichts davon zu trinken, so wie er darauf geachtet hatte, an der Wand neben der Tür zur Straße zu lehnen. Sein Speer stand neben ihm.

Barldens Frau war klein und hatte braune Haare; sie war etwas mollig geraten und hatte etwas Mütterliches an sich. Sie kehrte mit einer Schüssel Honig aus der Küche zurück und zögerte, als sie Mat an der Wand lehnen sah. Sie warf einen Blick auf den Speer, dann stellte sie die Schüssel auf den Tisch und zog sich zurück.

»Was ist passiert?«, fragte Mat und warf Thom einen Blick zu, der ebenfalls einen Sitzplatz abgelehnt hatte. Der alte Gaukler stand mit verschränkten Armen neben der Tür zur Küche. Er nickte Mat zu; die Frau lauschte nicht an der Tür. Er würde ein Zeichen geben, wenn er sich jemand nähern hörte.

»Wir sind uns nicht sicher, ob es etwas war, das wir getan haben, oder ob es einfach ein grausamer Fluch des Dunklen Königs war«, sagte der Bürgermeister. »Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, Anfang des Jahres, kurz vor dem Abramfest. Soweit ich mich erinnern kann, gab es nichts Besonderes. Das Wetter war umgeschlagen, auch wenn der Schnee noch nicht gekommen war. Viele von uns gingen am nächsten Morgen ihren normalen Geschäften nach, keiner dachte sich etwas dabei.

Ihr müsst wissen, es handelte sich nur um seltsame Kleinigkeiten. Hier eine zerbrochene Tür, da ein Riss in der Kleidung, an den sich niemand erinnerte. Und die Albträume. Die teilten wir alle, Albträume über den Tod und das Töten. Ein paar Frauen unterhielten sich, und ihnen wurde klar, dass sie sich nicht daran erinnern konnten, am vergangenen Abend zu Bett gegangen zu sein. Sie konnten sich zwar daran erinnern, sicher und behaglich in ihren Betten aufgewacht zu sein, aber nur wenige wussten noch, dass sie tatsächlich schlafen gegangen waren. Jene, die sich daran erinnern konnten, waren früh zu Bett gegangen, noch vor Sonnenuntergang. Für den Rest von uns war der späte Abend nur noch eine verschwommene Erinnerung.«

Er verstummte. Mat warf Thom einen Blick zu, der keine Reaktion zeigte. Mat sah ihm an, dass er die Geschichte seiner Erinnerung anvertraute. Wenn er mich in einer Ballade auftreten lässt, dann sollte er lieber darauf achten, dass er das auch richtig hinbekommt, dachte Mat und verschränkte die Arme. Und er sollte lieber meinen Hut nicht vergessen. Das ist ein verdammt guter Hut.

»An diesem Abend war ich auf der Weide«, fuhr Barlden fort. »Ich half dem alten Garken mit einem zerbrochenen Zaun. Und dann … nichts. Alles nur verschwommen. Am nächsten Morgen erwachte ich neben meiner Frau im Bett. Wir waren müde, als hätten wir nicht gut geschlafen.« Er hielt inne, dann fügte er leiser hinzu: »Und ich hatte die Albträume. Sie sind vage, und sie verblassen. Aber an ein deutliches Bild kann ich mich erinnern. Der alte Garken, der tot vor mir liegt. Zerrissen wie von einer wilden Bestie.«

Der Bürgermeister starrte genau gegenüber von Mat aus dem Fenster. »Aber ich ging an diesem Tag zu Garken, und ihm ging es gut. Wir reparierten den Zaun. Erst als ich ins Dorf zurückkehrte, hörte ich das Gerede. Die geteilten Albträume, die fehlenden Stunden direkt nach Sonnenuntergang. Wir versammelten uns und sprachen es durch, und da geschah es wieder. Die Sonne ging unter, und als sie wieder aufging, wachte ich müde in meinem Bett auf und musste an die Albträume denken.« Er erschauderte, dann ging er zum Tisch und goss sich eine Tasse Tee ein.

»Wir wissen nicht, was nachts geschieht«, sagte er und rührte einen Teelöffel Honig hinein.

»Ihr wisst es nicht?«, hakte Mat nach. »Ich kann Euch verdammt noch mal genau beschreiben, was nachts passiert. Ihr …«

»Wir wissen nicht, was passiert«, unterbrach ihn der Bürgermeister. »Und wir wollen es auch nicht wissen.«

»Aber …«

»Wir müssen es nicht wissen, Fremder«, sagte der Bürgermeister grob. »Wir wollen unser Leben leben, so gut es geht. Viele von uns gehen früh zu Bett, lange vor Sonnenuntergang. Auf diese Weise hat keiner Erinnerungslücken. Wir gehen zu Bett, wir wachen im selben Bett auf. Es gibt Albträume, vielleicht ein paar Beschädigungen im Haus, aber nichts, das sich nicht richten ließe. Andere ziehen es vor, in die Schenke zu gehen und bis zum Sonnenuntergang zu trinken. Vermutlich ist das sogar ein Segen. Man kann so viel trinken, wie man will, und man muss sich keine Sorgen machen, wie man nach Hause kommt. Man wacht immer gemütlich in seinem Bett auf.«

»Ihr könnt das nicht völlig verdrängen«, meinte Thom leise. »Ihr könnt nicht so tun, als wäre da nichts geschehen.«

»Das tun wir auch nicht.« Barlden trank einen Schluck. »Wir haben die Regeln. Regeln, die ihr ignoriert habt. Nach Sonnenuntergang wird kein Feuer angezündet - wir können nicht zulassen, dass es in der Nacht zu einem Brand kommen könnte, nicht, wenn es keiner bekämpfen kann. Und wir lassen keine Fremden nach Sonnenuntergang ins Dorf. Diese Lektion haben wir schnell gelernt. Die ersten Leute, die nach Einbruch der Nacht hier geblieben sind, waren Angehörige von Sammrie dem Küfer. Am nächsten Morgen fanden wir Blut an den Wänden seines Hauses. Aber seine Schwester und ihre Familie schliefen unbeschadet in den Betten, die er ihnen zur Verfügung gestellt hatte.« Der Bürgermeister hielt inne. »letzt haben sie die gleichen Albträume wie wir.«

»Dann geht doch einfach«, schlug Mat vor. »Verlasst diesen verdammten Ort und zieht anderswo hin!«

»Das haben wir versucht. Wir wachen immer wieder hier auf, ganz egal, wie weit wir gegangen sind. Ein paar haben versucht, sich das Leben zu nehmen. Wir haben sie begraben. Am nächsten Morgen wachen sie wieder in ihren Betten auf.«

Schweigen kehrte ein.

»Blut und verdammte Asche«, flüsterte Mat. Ihm war kalt.

»Ihr habt die Nacht überlebt«, sagte der Bürgermeister und rührte wieder seinen Tee um. »Nachdem ich die Blutflecken sah, dachte ich schon, dass es nicht der Fall wäre. Wir waren neugierig, wo ihr aufwachen würdet. Die meisten Zimmer in den Gasthäusern sind jetzt an Reisende dauervermietet, die nun notgedrungen ein Teil unserer Dorfgemeinschaft geworden sind. Wir können uns nicht aussuchen, wo jemand aufwacht. Es passiert einfach. Ein leeres Bett bekommt einen neuen Besitzer, und von da an wachen sie jeden Morgen dort auf.

Aber wie dem auch sei, als ich hörte, wie Ihr darüber gesprochen habt, was Ihr saht, begriff ich, dass Euch die Flucht gelungen sein musste. Ihr habt Euch zu genau an die Nacht erinnert. Alle anderen, die sich uns … anschließen, kennen bloß die Albträume. Ihr könnt Euch glücklich schätzen. Ich schlage vor, Ihr reist weiter und vergesst Hinderstap.«

»Bei uns sind Aes Sedai«, sagte Thom. »Sie könnten Euch vielleicht helfen. Wir könnten es der Weißen Burg mitteilen, sie schicken …«

»Nein!«, sagte Barlden scharf. »Unser Leben ist gar nicht so schlecht, jetzt, wo wir wissen, wie wir mit der Situation umgehen müssen. Wir wollen keine Aes Sedai, die sich einmischen.« Er wandte sich ab. »Eigentlich hatten wir Eurer Gruppe den Zutritt verweigern wollen. Manchmal machen wir das, wenn wir den Eindruck haben, dass sich die Reisenden nicht an unsere Regeln halten werden. Aber Ihr hattet ja die Aes Sedai dabei. Sie stellen Fragen, sie werden neugierig. Wir hatten Angst, dass sie misstrauisch werden und sich den Zutritt erzwingen würden, sollten wir Euch den Zutritt verweigern.«

»Sie zur Abreise bei Sonnenuntergang zu zwingen hat sie nur noch neugieriger gemacht«, meinte Mat. »Und dass ihre Badmägde verdammt noch mal versucht haben, sie umzubringen, ist auch keine gute Methode, das Geheimnis zu bewahren.«

Der Bürgermeister sah blass aus. »Ein paar von uns hatten den Wunsch … dass Ihr hier gefangen bleibt. Sie dachten, wenn die Aes Sedai hier festsitzen, werden sie für uns alle einen Ausweg finden. Aber damit waren nicht alle von uns einverstanden. Wie dem auch sei, das ist unser Problem. Bitte, geht einfach … geht.«

» Schön.« Mat stieß sich von der Wand ab und nahm seinen Speer. »Aber zuerst verratet Ihr mir, wo die herkommen.« Er zog das Blatt aus der Tasche, das mit seinem Konterfei.

Barlden warf einen Blick darauf. »Die könnt Ihr in den umliegenden Dörfern finden«, sagte er dann. »Jemand sucht nach Euch. Wie ich gestern Abend schon Ledron sagte, verkaufe ich unsere Gäste nicht. Ich wollte Euch nicht bloß wegen einer Belohnung festsetzen und das Risiko eingehen, Euch über Nacht hier zu halten.«

»Wer sucht nach mir?«, wiederholte Mat die Frage.

»Etwa zwanzig Meilen nordöstlich gibt es eine kleine Stadt namens Trustair. Gerüchten zufolge kann man sich etwas Geld verdienen, wenn man etwas über einen Mann weiß, der so aussieht wie auf diesem Bild … oder über den anderen. Besucht in Trustair eine Schenke namens Zur drohenden Faust, dort findet Ihr den, der nach Euch sucht.«

»Das andere Bild?«, fragte Mat stirnrunzelnd.

»Ja. Ein kräftiger Bursche mit einem Bart. Unten auf dem Blatt steht, dass er goldene Augen hat.«

Mat warf Thom einen Blick zu, der eine buschige Braue hob.

»Blut und verdammte Asche«, murmelte Mat und zog den Hut tiefer. Wer suchte nach ihm und Perrin, und was wollten sie? »Wir sollten besser gehen«, sagte er. Er musterte Barlden. Armer Kerl. Das galt für das ganze Dorf. Aber was sollte er daran ändern? Es gab Kämpfe, die man gewinnen konnte, und dann gab es welche, die man anderen überlassen musste.

»Euer Gold ist auf dem Wagen draußen«, sagte der Bürgermeister. »Wir haben nichts von Eurem Gewinn genommen. Die Lebensmittel sind da.« Er erwiderte Mats Blick. »Wir halten hier unser Wort. Andere Dinge unterliegen nicht unserer Kontrolle, vor allem nicht bei jenen, die sich nicht an die Regeln halten. Aber wir rauben keinen Mann aus, nur weil er ein Fremder ist.«

»Das ist ja sehr großzügig von euch«, erwiderte Mat tonlos und öffnete die Tür. »Dann einen schönen Tag, und wenn die Nacht hereinbricht, versucht nicht jemanden umzubringen, den ich nicht auch umbringen würde. Thom, kommst du?«

Der Gaukler gesellte sich zu ihm, leicht hinkend durch seine alte Verletzung. Mat warf noch einen Blick auf Barlden, der mit aufgerollten Ärmeln in der Mitte des Raumes stand und in seine Teetasse blickte. Er sah aus, als wünschte er sich, sie enthielte etwas Stärkeres.

»Armer Kerl«, sagte Mat, trat hinter Thom hinaus ins Morgenlicht und zog die Tür zu.

»Ich nehme an, wir suchen die Person, die Bilder von dir verteilt?«, fragte Thom.

»Und ob wir das tun«, sagte Mat und band den Ashandarei an Pips Sattel fest. »Das liegt sowieso auf dem Weg nach Vier Könige. Ich nehme dein Pferd, wenn du den Wagen fährst.«

Thom nickte. Er musterte das Haus des Bürgermeisters.

»Was?«, fragte Mat.

»Nichts, mein Junge«, erwiderte der Gaukler. »Es ist bloß … nun, es ist eine traurige Geschichte. Etwas stimmt nicht mit der Welt. Hier ist ein Knoten im Muster. Das Dorf gerät jede Nacht aus den Fugen, und die Welt versucht dann jeden Morgen, es wieder auf Anfang zu setzen, um die Dinge richtigzustellen.«

»Nun, sie sollten mitteilsamer sein«, sagte Mat. Während sie mit dem Bürgermeister gesprochen hatten, hatten die Dorfbewohner den mit Vorräten gefüllten Wagen gebracht. Zwei kräftige Zugpferde waren angeschirrt.

»Mitteilsamer? Wie soll das gehen? Der Bürgermeister hat recht, sie haben versucht, uns zu warnen.«

Mat grunzte, ging zu seiner Truhe und überprüfte das Gold. Es war alles noch da, genau wie der Bürgermeister gesagt hatte. »Ich weiß es nicht. Sie könnten ein Warnschild aufstellen oder so. Hallo. Willkommen in Hinderstap. Wir werden Euch in der Nacht ermorden und Euch die verdammte Haut vom Gesicht ziehen, wenn Ihr bis nach Sonnenuntergang bleibt. Probiert den Kuchen. Martna Baily backt sie jeden Tag frisch.«

Thom kicherte nicht. »Das war geschmacklos, mein junge. In diesem Dorf gibt es viel zu viele Tragödien, um darüber Witze zu machen.«

»Komisch«, sagte Mat. Er zählte genug Gold ab, dass es ein seiner Meinung nach gerechter Preis für den Wagen und die Vorräte darstellte. Dann fügt er einen Moment später zehn weitere Silberkronen hinzu. Er legte das Geld vor die Tür des Bürgermeisters, dann schloss er die Truhe. »Je tragischer die Dinge werden, desto mehr verspüre ich das Bedürfnis zu lachen. «

»Wollen wir diesen Wagen wirklich nehmen?«

»Wir brauchen die Vorräte«, sagte Mat und schnallte die Truhe hinten auf dem Wagen fest. Neben den Fässern mit Ale stapelten sich mehrere Käseräder und ein halbes Dutzend Lamrnkeulen. Es roch gut, und ihm knurrte der Magen. »Das habe ich fair gewonnen.« Er betrachtete die Dorfbewohner, die auf der Straße vorbeigingen. Als er sie am Vortag zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er geglaubt, dass die typische faule Natur eines Bergdörflers für ihren langsamen Gang verantwortlich war. Jetzt begriff er, dass es dafür einen ganz anderen Grund gab.

Er machte sich wieder an die Arbeit und überprüfte das Pferdegeschirr. »Und ich habe nicht das geringste schlechte Gewissen, den Wagen und die Pferde zu nehmen. Ich bezweifle, dass diese Leute in Zukunft viel reisen werden …«

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