33 Eine Unterhaltung mit dem Drachen

Ich hoffe, es ist wichtig«, verkündete Rand. Nynaeve drehte sich um. Der Wiedergeborene Drache stand auf der Schwelle des Wohnzimmers. Er trug einen dunkelroten Morgenmantel mit aufgestickten schwarzen Drachen auf den Ärmeln. Sein Armstumpf lag in den Falten des Stoffes verborgen. Auch wenn sein Haar vom Schlaf zerzaust war, blitzten seine Augen scharf und aufmerksam.

Er betrat das Wohnzimmer, jeder Zoll ein König - selbst jetzt, lange nach Mitternacht und gerade erst erwacht verkündete jeder Schritt sein absolutes Selbstvertrauen. Diener hatten eine Kanne mit heißem Tee gebracht, und er schenkte sich eine Tasse ein, während Min ihm in den Raum folgte. Sie trug ebenfalls einen Morgenmantel; beide waren im Domani-Stil, und ihrer war aus gelber Seide und wesentlich dünner gewebt als Rands. Töchter der Aiel nahmen zu beiden Seiten der Tür ihre Positionen ein, völlig lässig auf ihre seltsam gefährliche Weise.

Rand trank einen Schluck. Es fiel immer schwerer, ihn als den Jungen zu sehen, den Nynaeve in den Zwei Flüssen gekannt hatte. Hatte er den Kiefer immer schon so entschlossen vorgeschoben? Wann war sein Schritt so sicher geworden, die Haltung so fordernd? Dieser Mann erschien beinahe wie eine Interpretation des Rands, den sie einst gekannt hatte. Eine aus Stein gemeißelte Statue, deren Heldenhaftigkeit übertrieben gezeichnet worden war.

»Nun?«, verlangte Rand zu wissen. »Wer ist das?«

Kerb, der junge Lehrling, saß mit Luft gefesselt auf einer der Polsterbänke im Raum. Nynaeve betrachtete ihn, dann umarmte sie die Quelle und webte ein Gewebe gegen Lauscher. Rand sah sie scharf an. »Du hast die Macht gelenkt?« Er konnte spüren, wenn sie es ohne besondere Vorkehrungen tat; laut Egwenes und Elaynes Untersuchungen bekam er eine Gänsehaut.

»Ein Schutzgewebe«, erwiderte sie und weigerte sich, sich einschüchtern zu lassen. »Soweit ich weiß, brauche ich nicht deine Erlaubnis, um die Macht zu lenken. Du bist hoch aufgestiegen, Rand al’Thor, aber vergiss nicht, dass ich dir den Hintern versohlt habe, als du noch keinem Mann bis zum Knie gereicht hast.«

Früher hätte ihm das eine Reaktion entlockt, selbst wenn es nur ein ärgerliches Schnauben gewesen wäre, fetzt sah er sie einfach nur an. Manchmal schienen diese Augen der Teil von ihm zu sein, der sich am meisten verändert hatte.

Er seufzte. »Warum hast du mich geweckt, Nynaeve? Wer ist dieser dürre, verängstigte Junge? Hätte ein anderer zu dieser Nachtzeit diese Botschaft geschickt, hätte ich ihn zu Bashere geschickt, um ihn auspeitschen zu lassen.«

Nynaeve deutete auf Kerb. »Ich glaube, dieser ›dürre verängstigte Junge‹ weiß, wo der König ist.«

Das erregte Rands Aufmerksamkeit und auch Mins. Sie hatte sich ebenfalls eine Tasse Tee genommen und lehnte an der Wand. Warum waren die beiden nur nicht verheiratet?

»Der König?«, fragte Rand. »Also dann auch Graendal. Woher weißt du das, Nynaeve? Wo hast du ihn gefunden?«

»In dem Kerker, in den du Milisair Chadmar geworfen hast«, erklärte Nynaeve und betrachtete ihn. »Er ist schrecklich, Rand al’Thor. Du hast kein Recht, jemand auf diese Weise zu behandeln.«

Auf diese Bemerkung reagierte er auch nicht. Stattdessen trat er einfach auf Kerb zu. »Hat er etwas von dem Verhör mitbekommen?«

»Nein. Aber ich glaube, dass er den Boten ermordet hat. Ich weiß mit Sicherheit, dass er versucht hat, Milisair zu vergiften. Am Ende der Woche wäre sie tot gewesen, hätte ich sie nicht Geheilt.«

Rand warf ihr einen Blick zu, und sie vermochte förmlich zu fühlen, wie er ihre Bemerkungen zusammensetzte, um herauszufinden, was sie getan hatte. »Mir ist klar geworden«, sagte er dann, »dass ihr Aes Sedai vieles gemeinsam habt. Ihr seid immer dort, wo ihr unerwünscht seid.«

Nynaeve schnaubte. »Wäre ich fortgeblieben, dann würde Milisair sterben, und Kerb wäre frei.«

»Ich nehme an, du hast ihn gefragt, wer ihm den Befehl gab, den Boten zu töten.«

»Noch nicht. Allerdings habe ich bei seinen Sachen das Gift gefunden und herausgefunden, dass er das Essen sowohl für Milisair wie auch für den Boten zubereitet hat.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Rand, ich bin mir nicht sicher, dass er in der Lage sein wird, unsere Fragen zu beantworten. Ich habe bei ihm eine Tiefenschau durchgeführt, und auch wenn er körperlich nicht krank ist, ist da … etwas. In seinem Verstand.«

»Was meinst du?«, fragte Rand leise.

»Eine Art Blockade«, sagte Nynaeve. »Der Kerkermeister erschien ungehalten, nein, sogar überrascht, dass der Bote seiner ›Befragung‹ hatte widerstehen können. Ich glaube, dieser Mann hatte ebenfalls eine Blockade, die ihn daran hinderte, zu viel zu enthüllen.«

»Zwang«, meinte Rand. Er sagte es völlig nüchtern und hob die Tasse an die Lippen.

Zwang war finster und böse. Nynaeve hatte dieses Gewebe am eigenen Leib erleben müssen; der Gedanke an das, was Moghedien mit ihr gemacht hatte, ließ sie noch immer frösteln. Dabei war das nur eine kleine Sache gewesen, die Entfernung von ein paar Erinnerungen.

» Nur wenige sind so geschickt mit dem Zwang wie Graendal«, sagte Rand nachdenklich. »Vielleicht ist das ja die Bestätigung, nach der ich gesucht habe. Ja … das könnte in der Tat eine große Entdeckung sein, Nynaeve. Wichtig genug, um mich vergessen zu lassen, wie du sie gemacht hast.«

Rand ging um die Bank herum und beugte sich vor, um dem jungen Mann in die Augen zu blicken. »Befreie ihn«, befahl er. Nynaeve gehorchte.

»Verrate es mir«, sagte Rand zu Kerb. »Wer hat dir befohlen, diese Menschen zu vergiften?«

»Ich weiß nichts!«, quiekte der Junge. »Ich habe bloß …«

»Sei still«, sagte Rand leise. »Glaubst du, dass ich dich töten kann?«

Der Junge verstummte, und obwohl Nynaeve das für unmöglich gehalten hätte, riss er die blauen Augen noch weiter auf.

»Glaubst du, dass ich nur ein Wort sagen müsste«, fuhr Rand in diesem leisen, unheimlichen Tonfall fort, »damit dein Herz zu schlagen aufhört? Ich bin der Wiedergeborene Drache. Glaubst du, dass ich dir dein Leben und sogar deine Seele selbst nehmen kann, wenn ich will, dass das geschieht?«

Und wieder sah Nynaeve sie, diese Dunkelheit um Rand, diese Aura, von der sie nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, dass sie auch tatsächlich existierte. Sie hob ihren Tee an den Mund und musste entdecken, dass er plötzlich bitter geworden war, als hätte er dort zu lange gestanden.

Kerb krümmte sich zusammen und fing an zu schluchzen.

»Sprich!«, befahl Rand.

Der Junge öffnete den Mund, aber es kam nur ein Stöhnen heraus. Er war so von Rand gebannt, dass er den Schweiß nicht von den Wimpern blinzeln konnte oder wollte.

»Ja«, sagte Rand nachdenklich. »Das ist Zwang. Sie ist hier! Ich hatte recht.« Er sah Nynaeve an. »Du wirst das Netz aus Zwang auflösen müssen, es aus seinem Bewusstsein entfernen, bevor er uns sagen kann, was er weiß.«

»Ich muss was?«, fragte sie ungläubig.

»Mit solchen Geweben kenne ich mich nicht gut aus«, sagte Rand mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Ich vermute, du kannst Zwang entfernen, wenn du es versuchst. In gewisser Weise ähnelt das dem Heilen. Nimm die gleichen Gewebe, die den Zwang erschaffen, aber dreh sie um.«

Nynaeve runzelte die Stirn. Den armen Jungen zu Heilen hörte sich gut an - schließlich sollte jede Verletzung behandelt werden. Aber etwas zu versuchen, das sie noch nie zuvor getan hatte, und das auch noch vor Rand zu tun, war nicht besonders verlockend. Was, wenn sie es falsch anstellte und den Jungen dabei irgendwie verletzte?

Rand setzte sich auf die Polsterbank, die gegenüber von dem Jungen stand, und Min kam herbei und setzte sich neben ihn. Sie betrachtete ihren Tee mit einer Grimasse; offensichtlich war er genauso schlecht geworden wie Nynaeves.

Rand sah Nynaeve abwartend an.

»Ich …«

»Versuch es einfach«, sagte er. »Ich kann dir nicht sagen, wie man das genau macht, nicht einer Frau, aber du bist schlau. Ich bin sicher, du schaffst das.«

Sein unbeabsichtigt gönnerhafter Ton fachte ihren Zorn erneut an. Ihre Müdigkeit war auch nicht gerade hilfreich. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte sie sich Kerb zu und webte alle Fünf Mächte. Seine Blicke schossen überall hin, auch wenn er die Gewebe nicht sehen konnte.

Nynaeve legte ein ausgesprochen leichtes Heilgewebe über ihn, was ihn sich versteifen ließ. Dann webte sie einen separaten Strang Geist und begab sich so vorsichtig wie möglich mit der Tiefenschau in seinen Kopf und stieß gegen die Gewebe, die seinen Verstand einhüllten. Ja, jetzt konnte sie es sehen, ein kompliziertes Netz aus Geist, Luft und Wasser. Ihrem geistigen Auge bot sich ein schrecklicher Anblick, wie es kreuz und quer über das Gehirn des Jungen lief. Stücke des Gewebes gruben sich winzigen Haken gleich tief in das Gehirn hinein.

Dreh das Gewebe um, hatte Rand gesagt. Das war einfacher gesagt als getan. Sie würde das Netz aus Zwang Schicht für Schicht abtragen müssen, und wenn sie dabei einen Fehler machte, konnte sie ihn sehr leicht umbringen. Um ein Haar wäre sie zurückgewichen.

Aber wer hätte es sonst machen sollen? Zwang war ein verbotenes Gewebe, und sie bezweifelte, dass Corele oder eine der anderen damit Erfahrung hatten. Hörte sie jetzt auf, würde Rand einfach nach den anderen schicken und sie darum bitten. Und sie würden ihm gehorchen und insgeheim über Nynaeve lachen, die Aufgenommene, die sich für eine richtige Aes Sedai hielt.

Nun, sie hatte neue Methoden des Heilens entdeckt! Sie hatte dabei geholfen, die Eine Macht vom Makel selbst zu reinigen! Sie hatte Gedämpfte Geheilt!

Sie konnte das.

Sie arbeitete schnell, webte ein Spiegelbild der ersten Schicht Zwang. Jede Anwendung der Macht entsprach exakt den bereits im Verstand des Jungen gewebten Mustern, nur eben umgedreht. Nynaeve legte ihr Gewebe vorsichtig und zögernd auf, und wie Rand gesagt hatte, verschwanden sie beide.

Wie hatte er das wissen können? Sie musste daran denken, was Semirhage über ihn gesagt hatte, und schauderte. Erinnerungen aus einem anderen Leben; Erinnerungen, zu denen er kein Recht hatte. Es gab einen Grund, warum der Schöpfer ihnen erlaubte, ihre früheren Leben zu vergessen. Kein Mensch sollte sich an das Scheitern von Lews Therin Telamon erinnern müssen.

Sie kümmerte sich um eine Schicht nach der anderen und entfernte die Zwanggewebe wie ein Feldscher einen Verband von einem verwundeten Bein. Es war eine anstrengende Arbeit, aber erfüllend. Jedes Gewebe richtete ein Unrecht, heilte den Jungen ein Stück mehr, machte die Welt ein kleines bisschen zu einem besseren Ort.

Es nahm den größten Teil einer Stunde in Anspruch, und es war eine zermürbende Erfahrung. Aber sie tat es. Als die letzte Schicht Zwang verschwand, stieß sie ein erschöpftes Seufzen aus und ließ die Eine Macht los, überzeugt, keinen weiteren Strang mehr lenken zu können, und wenn es ihr Leben gerettet hätte. Sie schwankte zu einem Stuhl und ließ sich darauf sacken. Min hatte sich neben Rand auf der Bank zusammengerollt und war eingeschlafen.

Er schlief nicht. Der Wiedergeborene Drache beobachtete sie, als könnte er Dinge sehen, die ihr verborgen blieben. Er stand auf und ging zu Kerb hinüber. In ihrem benommenen Zustand war Nynaeve gar nicht das Gesicht des jungen Kerzenmachers aufgefallen. Es war seltsam ausdruckslos, wie das einer Person, die von einem heftigen Schlag auf den Kopf benommen war.

Rand ließ sich auf ein Knie nieder, nahm das Kinn des jungen in die Hand und starrte ihm in die Augen. »Wo?«, fragte er leise. »Wo ist sie?«

Der Junge öffnete den Mund, ein Speichelfaden rann heraus.

» Wo ist sie?«, wiederholte er.

Kerb stöhnte. Seine Augen blickten noch immer ins Leere, seine Zunge teilte seine Lippen einen Spalt.

»Rand!«, sagte Nynaeve. »Hör auf! Was tust du ihm an?«

»Ich habe nichts getan«, sagte Rand leise, ohne sie anzusehen. »Das hast du getan, Nynaeve, indem du diese Gewebe aufgelöst hast. Graendals Zwang ist mächtig - aber in mancherlei Hinsicht auch primitiv. Sie füllt einen Verstand in einem solchen Ausmaß mit Zwang, dass Persönlichkeit und Intellekt vollkommen ausgelöscht werden. Es bleibt nur eine Marionette übrig, die nur durch ihre direkten Befehle funktioniert.«

»Aber er hat doch noch vor wenigen Augenblicken auf uns reagiert!«

Rand schüttelte den Kopf. »Wenn du die Männer im Kerker fragst, werden sie dir sagen, dass er nur selten mit ihnen sprach und irgendwie zurückgeblieben erschien. Da war keine echte Person in seinem Kopf, nur Schichten aus Zwanggewebe. Befehle, die geschickt so gestaltet waren, dass sie jede Persönlichkeit ausradierten, die der arme Kerl hatte, und sie durch eine Kreatur ersetzten, die nur nach Graendals Wünschen handelte. Ich habe das Dutzende Male erlebt.«

Dutzende Male?, dachte Nynaeve beklommen. Hast du es erlebt oder Lews Therin? Welche Erinnerungen beherrschen dich jetzt, in diesem Augenblick?

Von Übelkeit erfüllt sah sie Kerb an. Seine Augen waren nicht ausdruckslos, weil er benommen war; sie waren noch viel leerer. Als Nynaeve noch jünger gewesen war und die Stellung der Dorfseherin noch nicht lange innegehabt hatte, da hatte man ihr eine Frau gebracht, die von einem Wagen gefallen war. Die Frau hatte tagelang geschlafen, und als sie endlich erwacht war, da hatte sie den gleichen glasigen Blick gehabt. Kein Anzeichen, dass sie jemanden erkannte, kein Hinweis, dass in der Hülle ihres Körpers noch der Rest einer Seele war.

Eine Woche später war sie gestorben.

Rand redete wieder auf Kerb ein. »Ich brauche einen Ort«, sagte er. »Irgendetwas. Wenn da drinnen noch ein Rest von dir ist, der Widerstand geleistet hat, der sich gegen sie gewehrt hat, dann verspreche ich dir Vergeltung. Einen Ort. Wo ist sie?«

Speichel tropfte von den Lippen des Jungen. Sie schienen zu beben. Rand stand auf, bis er ihn überragte, ohne den Blickkontakt zu brechen. Kerb zitterte, dann flüsterte er zwei Worte.

» Natrins Hügel.«

Rand atmete leise aus, dann ließ er Kerb mit einer beinahe andächtigen Bewegung los. Der Junge rutschte von der Bank zu Boden, sabberte auf den Teppich. Nynaeve fluchte, sprang auf und schwankte etwas, als sich der Raum plötzlich drehte. Beim Licht, war sie erschöpft! Sie blieb stehen, schloss die Augen und holte ein paar Mal tief Luft. Dann kniete sie neben dem Jungen nieder.

»Das kannst du dir sparen«, sagte Rand. »Er ist tot.«

Nynaeve vergewisserte sich. Dann fuhr ihr Kopf herum. Welches Recht hatte Rand, so erschöpft auszusehen, wie sie sich fühlte? Er hatte doch so gut wie nichts getan. »Was hast du …«

»Ich habe nichts getan, Nynaeve. Nachdem du den Zwang entfernt hast, hat ihn vermutlich nur sein tief verwurzelter Zorn auf Graendal am Leben erhalten. Was auch immer noch von seiner Persönlichkeit übrig war, es wusste, dass es nur noch zu diesen beiden Worten fähig war, um helfen zu können. Danach ließ er einfach los. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.«

»Das akzeptiere ich nicht«, sagte Nynaeve verbissen. »Man hätte ihn Heilen können!« Sie hätte ihm helfen müssen! Graendals Zwang ungeschehen zu machen hatte sich so gut, so richtig angefühlt! Es hätte nicht so enden dürfen!

Sie fühlte sich beschmutzt. Benutzt. In welcher Hinsicht war sie besser als der Kerkermeister, der so schreckliche Dinge getan hatte, um an Informationen zu kommen? Sie starrte Rand böse an. Er hätte ihr sagen können, was die Entfernung des Zwangs anrichtete!

»Sieh mich nicht so an, Nynaeve.« Er ging zur Tür und bedeutete den Töchtern, Kerbs Leiche wegzubringen. Sie trugen ihn fort, während Rand nach einer frischen Kanne Tee rief.

Er kehrte zurück, setzte sich neben die schlafende Min auf die Bank; sie hatte sich eines der hier liegenden Kissen unter den Kopf gestopft. Eine der beiden Lampen im Zimmer brannte niedrig, was die Hälfte seines Gesichts in Schatten tauchte. »Es konnte sich nur so abspielen«, fuhr er fort. »Das Rad webt, wie es das Rad will. Du bist eine Aes Sedai. Ist das nicht eines deiner Bekenntnisse?«

»Ich weiß nicht, was es ist«, fauchte Nynaeve, »aber das ist keine Entschuldigung für dein Verhalten.«

»Welches Verhalten?«, fragte er. »Du hast diesen hingen zu mir gebracht. Graendal hat bei ihm Zwang benutzt. Jetzt werde ich sie dafür töten - diese Tat wird meine einzige Verantwortung sein. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich will noch etwas schlafen.«

»Fühlst du dich kein bisschen schuldig?«

Ihre Blicke trafen sich; Nynaeve war aufgebracht und hilflos, Rand war … Wer vermochte schon zu sagen, was Rand in diesen Tagen fühlte?

»Soll ich für sie alle leiden?«, fragte er leise und stand auf, das Gesicht noch immer zur Hälfte vom Schatten verhüllt. »Leg diesen Tod zu meinen Füßen, wenn du willst. Es wird nur einer von vielen sein. Wie viele Steine kann man auf den Leib eines Mannes aufschichten, bevor das Gewicht keine Rolle mehr spielt? Wie weit kannst du einen Fleischklumpen abbrennen, bis die Hitze keine Rolle mehr spielt? Lasse ich zu, für diesen Jungen Schuld zu fühlen, dann müsste ich mich auch wegen der anderen schuldig fühlen. Und die Schuld würde mich zermalmen.«

Nynaeve betrachtete ihn in dem Halblicht. Ein König, das sicherlich. Ein Soldat, auch wenn er nur gelegentlich am Kampf teilgenommen hatte. Sie schluckte ihre Wut herunter. War es bei alledem nicht darum gegangen, ihm zu beweisen, dass er ihr vertrauen konnte?

»Oh, Rand«, sagte sie und wandte sich ab. »Dieses Ding, zu dem du geworden bist, dieses Herz, das außer Zorn keine Gefühle mehr kennt. Es wird dich vernichten.«

»Ja«, erwiderte er leise.

Entsetzt sah sie ihn wieder an.

»Ich frage mich oft«, sagte er und schaute zu Min herab, »warum ihr mich alle für zu beschränkt haltet, um das zu erkennen, was euch so offensichtlich erscheint. Ja, Nynaeve. Ja, diese Härte wird mich vernichten. Ich weiß.«

»Aber warum?«, fragte sie. »Warum lässt du uns dir nicht helfen?«

Er schaute auf - aber sah nicht sie an, sondern starrte ins Leere. Eine Dienerin klopfte leise an. Sie trat ein und stellte den frischen Tee ab, nahm den alten mit und verschwand wieder.

»Als ich noch viel jünger war«, sagte er leise, »erzählte Tarn mir eine Geschichte, die er bei seinen Reisen in der Welt hörte. Er sprach vom Drachenberg. Damals wusste ich nicht, dass er ihn tatsächlich gesehen hatte, oder dass er mich dort gefunden hatte. Ich war nur ein Schafhirte, und der Drachenberg, Tar Valon und Caemlyn waren für mich fast mythische Orte.

Aber er erzählte mir von einem Berg, der so hoch war, dass er selbst den Zweihorngipfel zu Hause wie einen Zwerg aussehen ließ. Tams Geschichten zufolge hatte kein Mann je den Gipfel des Drachenberges erklommen. Nicht, weil das unmöglich ist - sondern weil ein Mann dazu auch noch den letzten Funken Kraft braucht. Der Berg ist so hoch, dass seine Besteigung ein Kampf sein würde, der einen Mann vollkommen erschöpft.«

Er verstummte.

»Und?«, fragte Nynaeve schließlich.

»Verstehst du nicht? Die Geschichten behaupten, dass kein Mann auf den Berg gestiegen ist, weil ihm danach die Kraft zur Rückkehr fehlt. Ein Bergsteiger könnte ihn bezwingen, den Gipfel erreichen, das sehen, was noch kein Mann je gesehen hat. Aber dann würde er sterben. Das wissen die kräftigsten und klügsten Erforscher. Also kletterten sie nie hinauf. Sie wollten es schon immer, aber sie warteten, verschoben die Reise auf einen anderen Tag. Denn sie wussten, es würde ihr letzter sein.«

»Aber das ist doch bloß eine Geschichte«, sagte Nynaeve. »Eine Legende.«

»Das ist es, was ich bin«, sagte Rand. »Eine Geschichte. Eine Legende. Die man in einigen Jahren flüsternd den Kindern erzählen wird.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal kann man nicht mehr zurück. Man muss weiter. Und manchmal weiß man, dass dieser Aufstieg der letzte sein wird.

Ihr behauptet doch alle, ich sei zu hart geworden, ich würde unweigerlich zerbrechen, wenn ich weitermache. Aber ihr geht von der Annahme aus, dass etwas von mir übrig bleiben muss, um weiterzumachen. Dass ich den Berg wieder heruntersteigen muss, nachdem ich den Gipfel erreicht habe.

Das ist der Schlüssel, Nynaeve. Das weiß ich jetzt. Ich werde das nicht überleben, also muss ich mir auch keine Sorgen darüber machen, was mit mir nach der Letzten Schlacht geschieht. Ich muss mich nicht zurückhalten, muss nichts von meiner abgenutzten Seele retten. Ich weiß, dass ich sterben muss. Die, die wünschen, dass ich sanfter bin, bereit bin, mich zu beugen, das sind die, die nicht akzeptieren können, was mit mir geschehen wird.« Er schaute wieder auf Min. Nynaeve hatte oft beobachten können, mit welcher Zuneigung er sie betrachtete, aber dieses Mal blieb sein Blick ausdruckslos. Genau wie seine gefühllose Miene.

»Wir werden eine Möglichkeit finden«, sagte sie. »Sicherlich gibt es eine Möglichkeit zu siegen und dich überleben zu lassen.«

»Nein«, knurrte er leise. »Verführ mich nicht wieder auf diesen Pfad. Er führt nur in den Schmerz, Nynaeve. Ich … ich hatte oft daran gedacht, etwas zurückzulassen, um der Welt nach meinem Tod beim Überleben zu helfen, aber das war nur sinnlose Mühe. Ich kann mir so etwas nicht leisten. Ich werde diesen verdammten Berg ersteigen und mich der Sonne stellen. Ihr alle werdet euch um das kümmern, was danach kommt. So muss es sein.«

Sie wollte erneut widersprechen, aber er warf ihr nur einen scharfen Blick zu. »So muss es sein, Nynaeve.«

Sie machte den Mund wieder zu.

»Das war gute Arbeit von dir heute Nacht«, sagte er. »Du hast uns allen viel Ärger erspart.«

»Ich habe es getan, weil ich will, dass du mir vertraust«, sagte Nynaeve und bereute es sofort. Warum hatte sie das nur gesagt? War sie wirklich so müde, dass sie das Erstbeste heraussprudelte, das ihr in den Sinn kam?

Rand nickte bloß. »Ich vertraue dir. So weit ich jedem vertraue, mehr als den meisten. Du glaubst zu wissen, was für mich das Beste ist, selbst gegen meinen Willen, aber damit kann ich leben. Der Unterschied zwischen dir und Cadsuane besteht darin, dass du dich wirklich um mich sorgst. Sie interessiert sich allein für meine Rolle in ihren Plänen. Sie will, dass ich Teil der Letzten Schlacht bin. Du willst, dass ich weiterlebe. Dafür bin ich dir dankbar. Träume für mich, Nynaeve. Träume von Dingen, die es für mich nicht mehr geben kann.«

Er beugte sich vor, um Min hochzuheben; er schaffte es trotz der fehlenden Hand, schob einen Arm unter sie und griff mit der anderen Hand zu. Sie regte sich, dann schmiegte sie sich an ihn, erwachte und murmelte, dass sie selbst gehen konnte. Er setzte sie nicht ab; vielleicht wegen der Erschöpfung in ihrer Stimme. Nynaeve wusste, dass sie die meisten Nächte über ihren Büchern verbrachte und sich beinahe genauso antrieb wie Rand.

Mit Min auf den Armen ging er zur Tür. »Wir kümmern uns zuerst um die Seanchaner«, sagte er. »Bereite dich gut auf diese Begegnung vor. Danach kümmere ich mich um Graendal.«

Er ließ sie zurück. Die flackernde Lampe erlosch endlich. Nun gab es nur noch die auf dem Tisch.

Rand hatte sie wieder überrascht. Er war noch immer ein wollköpfiger Narr, aber einer, der überraschend genau wusste, wie es um ihn stand. Wie konnte ein Mann nur so vieles verstehen und gleichzeitig ein solcher Ignorant sein?

Und warum fiel ihr kein Gegenargument zu seinen Worten ein? Warum konnte sie sich nicht dazu überwinden, ihn anzuschreien, dass er sich irrte? Es gab immer Hoffnung. Möglicherweise gab es ihm ja Kraft, das wichtigste aller Gefühle zu verneinen - aber dabei riskierte er, jeden Grund zu verlieren, sich um den Ausgang seiner Schlachten zu sorgen.

Aber aus irgendeinem Grund blieben ihr die nötigen Worte für dieses Argument versagt.

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