30 Ein alter Ratschlag

Gawyn hatte nur noch wenig Erinnerungen an seinen Vater - der Mann war nie ein guter Vater gewesen, jedenfalls nicht für ihn -, aber ein Tag im Palastgarten von Caemlyn war in seinem Gedächtnis haften geblieben. Er hatte an einem kleinen Teich gestanden und Kiesel hineingeworfen. Taringail war den Rosenweg entlanggekommen, den jungen Galad an seiner Seite.

Die Erinnerung stand Gawyn noch immer lebhaft vor Augen. Der schwere Duft der voll erblühten Rosen. Die silbrigen Kreise, die sich auf dem Teich ausbreiteten, die kleinen Fische, die vor dem gerade von ihm geworfenen Stein auseinanderspritzten. Er konnte sich seinen Vater noch gut vorstellen. Hochgewachsen, ansehnlich, mit leicht gewelltem Haar. Galad war selbst damals schon steif und ernst gewesen. Wenige Monate später würde er Gawyn in genau diesem Teich vor dem Ertrinken retten.

Gawyn konnte seinen Vater Worte aussprechen hören, die er niemals vergessen sollte. Was man auch sonst von Taringail Damodred halten wollte, dieser Rat hatte vernünftig geklungen. »Es gibt zwei Arten von Menschen, denen du niemals vertrauen solltest«, hatte der Mann beim Vorbeigehen zu Galad gesagt. »Die ersten sind hübsche Frauen. Die zweiten sind Aes Sedai. Das Licht stehe dir bei, mein Sohn, solltest du es jemals mit einer zu tun haben, die beides ist.« Das Licht stehe dir bei, mein Sohn.

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man in dieser Angelegenheit den ausdrücklichen Wunsch der Amyrlin missachtet«, sagte Lelaine geziert und rührte die Tinte in dem kleinen Fässchen auf ihrem Schreibtisch um. Kein Mann vertraute wunderschönen Frauen, ganz egal, wie sehr er auch von ihnen fasziniert sein mochte. Aber nur wenige begriffen, was Taringail gemeint hatte - dass ein hübsches Mädchen weitaus gefährlicher sein konnte, so wie ein brennendes Stück Holz, das gerade genug abgekühlt war, um nicht länger heiß auszusehen.

Lelaine war keine Schönheit, aber sie war hübsch, vor allem, wenn sie lächelte. Schlank und anmutig, ohne ein graues Haar auf dem Kopf, ein mandelförmiges Gesicht mit vollen Lippen. Sie schaute ihn mit Augen an, die viel zu sanft waren, um einer Frau mit ihrer Gerissenheit zu gehören. Und das schien ihr auch bewusst zu sein. Sie wusste, dass sie gerade attraktiv genug war, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber nicht atemberaubend genug, um in Männern Misstrauen zu entfachen.

Sie war eine Frau der gefährlichsten Sorte. Eine, die authentisch wirkte, die Männer glauben machte, dass sie möglicherweise ihre Aufmerksamkeit erregen konnten. Sie war nicht hübsch wie Egwene, die in einem den Wunsch entfachte, mit ihr Zeit zu verbringen. Das Lächeln dieser Frau wollte einen die Messer am Gürtel und im Stiefel zählen lassen, nur um sicherzugehen, dass keines von ihnen den Weg in den eigenen Rücken gefunden hatte, solange man abgelenkt gewesen war.

Gawyn stand neben ihrem Schreibtisch, im Schatten des hohen blauen Zeltes. Man hatte ihn nicht aufgefordert, Platz zu nehmen, und er hatte auch nicht um das Privileg gebeten. Die Unterhaltung mit einer Aes Sedai, vor allem mit einer wichtigen, erforderte Geschick und Nüchternheit. Er stand lieber. Vielleicht würde er so aufmerksamer sein.

»Egwene versucht Euch zu beschützen«, sagte er und zügelte seine Ungeduld. »Darum hat sie Euch befohlen, auf eine Rettungsmission zu verzichten. Offensichtlich will sie nicht, dass Ihr Euch in Gefahr begebt. Sie ist aufopferungsvoll bis zuletzt.« Wäre sie das nicht, fügte er in Gedanken hinzu, hätte sie sich nicht von euch allen dazu drängen lassen, sich als Amyrlin-Sitz auszugeben.

»Sie scheint von ihrer Sicherheit sehr überzeugt zu sein«, erwiderte Lelaine und tippte ihre Feder in die Tinte. Sie fing an, etwas auf ein Blatt Pergament zu schreiben; eine Nachricht für jemanden. Gawyn las höflicherweise nicht über ihre Schulter mit, obwohl ihm ihre kalkulierte Berechnung keineswegs entging. Er war nicht wichtig genug, um ihre volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Er entschied sich, die Beleidigung zu ignorieren. Der Versuch, Bryne einzuschüchtern, war misslungen; bei dieser Frau würde so etwas noch weniger funktionieren.

»Sie versucht, Eure Sorgen zu zerstreuen, Lelaine Sedai«, sagte er stattdessen.

»Ich kann Menschen recht gut einschätzen, junger Trakand. Ich glaube nicht, dass sie das Gefühl hatte, in Gefahr zu schweben.« Sie schüttelte den Kopf. Ihr Parfüm roch nach Apfelblüten.

»Ich zweifle Eure Worte nicht an«, entgegnete er- »Wenn ich vielleicht wüsste, wie Ihr Euch mit ihr verständigt, könnte ich es besser einschätzen. Wenn ich …«

»Man hat Euch gewarnt, nicht danach zu fragen, Kind«, sagte Lelaine mit ihrer weichen, melodischen Stimme. »Überlasst den Aes Sedai die Dinge, die Aes Sedai sind.«

Beinahe genau die gleiche Antwort, die ihm jede Schwester gab, wenn er sich danach erkundigte, wie sie mit Egwene kommunizierten. Er biss sich auf die Zunge. Was hatte er erwartet? Es hatte mit der Einen Macht zu tun. Nach der ganzen Zeit in der Weißen Burg verstand er noch immer nicht genau, was man mit der Macht ausrichten konnte und was nicht.

»Wie dem auch sei«, fuhr Lelaine fort, »die Amyrlin ist der Ansicht, in relativer Sicherheit zu sein. Shemerins Geschichte bestätigt nur das, was Egwene uns gesagt hat. Elaida ist so von ihrer Macht berauscht, dass sie die rechtmäßige Amyrlin für keine Bedrohung hält.«

Da war noch mehr, das sie nicht sagte. Gawyn wusste es genau. Er bekam einfach keine vernünftige Antwort von ihnen, wenn es um Egwenes derzeitigen Status ging. Gerüchten zufolge war sie eingekerkert und durfte sich nicht mehr frei als Novizin bewegen. Aber von einer Aes Sedai Information zu bekommen war ungefähr so leicht, als wollte man Felsen zu Butter zerstampfen!

Gawyn holte tief Luft. Er durfte die Beherrschung nicht verlieren. Sollte das geschehen, würde er Lelaine niemals dazu bringen, ihm zuzuhören. Und er brauchte sie. Bryne würde ohne Erlaubnis der Aes Sedai nichts unternehmen, und soweit Gawyn es herausbekommen hatte, hatte er die größten Chancen, sie entweder von Lelaine oder Romanda zu erhalten. Alle schienen auf eine der beiden zu hören.

Glücklicherweise hatte er schnell herausgefunden, dass er sie gegeneinander ausspielen konnte. Ein Besuch bei Romanda zog fast immer eine Einladung von Lelaine nach sich. Natürlich waren beide hauptsächlich aus anderen Gründen an ihm interessiert; das hatte nur sehr wenig mit Egwene zu tun. Zweifellos würde die Unterhaltung gleich in diese Richtung führen.

»Vielleicht habt Ihr recht, Lelaine Sedai«, sagte er und schlug eine andere Richtung ein. »Vielleicht ist Egwene ja davon überzeugt, dass sie sicher ist. Aber besteht nicht die Möglichkeit, dass sie sich irrt? Ihr könnt doch nicht allen Ernstes glauben, dass Elaida eine Frau ungehindert in der Weißen Burg umherstreifen lässt, die für sich beansprucht, die Amyrlin zu sein? Das soll doch offensichtlich nur dazu dienen, eine gefangene Rivalin vorzuführen, bevor man sie hinrichtet.«

»Vielleicht«, sagte Lelaine und schrieb weiter. Sie hatte eine schwungvolle Handschrift. »Aber muss ich nicht der Amyrlin gehorchen, selbst wenn sie fehlgeleitet ist?«

Gawyn sparte sich eine Erwiderung. Natürlich konnte sie den Willen der Amyrlin missachten. Er wusste genug von der Politik der Aes Sedai, um zu wissen, dass das ständig geschah. Aber das laut auszusprechen würde gar nichts erreichen.

»Dennoch«, sagte Lelaine gedankenverloren. »Vielleicht kann ich ja im Saal einen Antrag stellen. Möglicherweise könnten wir die Amyrlin überreden, auf eine neue Bitte zu hören. Wir werden sehen, ob ich eine neue Argumentation ausarbeiten kann.«

»Wir werden sehen« oder »Vielleicht können wir ja« oder »Ich denke darüber nach«. Niemals eine feste Zusage, jedes halbherzige Angebot war buchstäblich dick mit Gänseschmalz eingeschmiert, damit die Flucht leichtfiel. Beim Licht, er war die Antworten der Aes Sedai langsam leid!

Lelaine schaute zu ihm hoch und schenkte ihm ein Lächeln. »Und da ich mich jetzt bereiterklärt habe, etwas für Euch zu tun, seid Ihr ja vielleicht bereit, mir etwas anzubieten. Wie Ihr vielleicht wisst, werden große Taten nur selten ohne die Hilfe vieler Beteiligter vollbracht.«

Gawyn seufzte. » Sagt mir, was Ihr braucht, Aes Sedai.«

»Allen Berichten zufolge hat sich Eure Schwester in Andor bewundernswert geschlagen«, sagte Lelaine, als hätte sie nicht genau das Gleiche bei den vorangegangenen drei Begegnungen mit Gawyn gesagt. »Aber sie musste auf ein paar Zehen treten, um sich den Thron zu sichern. Was glaubt Ihr, welche Politik wird sie mit den Obstplantagen von Haus Trakand verfolgen? Bei Eurer Mutter war die Besteuerung des Landes sehr großzügig, was die Traemane anging. Wird Elayne dieses besondere Privileg widerrufen, oder wird sie es als Honig benutzen, um diejenigen zu beschwichtigen, die sich gegen sie gestellt hatten?«

Gawyn unterdrückte einen weiteren Seufzer. Es lief immer nur auf Elayne hinaus. Er war davon überzeugt, dass weder Lelaine noch Romanda wirklich daran interessiert waren, Egwene zu retten - sie ergötzten sich in ihrer Abwesenheit viel zu sehr an ihren erhöhten Machtbefugnissen. Nein, sie empfingen ihn nur wegen der neuen Königin auf dem Löwenthron.

Er hatte nicht die geringste Ahnung, warum sich eine Aes Sedai der Blauen Ajah für die Steuersätze von Apfelplantagen interessieren sollte. Lelaine würde sich nicht für Profite interessieren, das war nicht die Art der Aes Sedai. Aber sie würde sich für Einfluss interessieren, eine Möglichkeit, eine vorteilhafte Verbindung zu den andoranischen Adelshäusern zu knüpfen. Gawyn widerstand einer Antwort. Warum sollte er dieser Frau helfen? Was nutzte das?

Und dennoch … konnte er sich sicher sein, dass sie sich nicht um Egwenes Freilassung bemühte? Wenn diese Treffen für Lelaine nicht länger nützlich waren, würde sie ihn weiter empfangen? Würde er seine einzige Möglichkeit einbüßen, im Lager Einfluss zu nehmen, ganz gleich, wie gering sie auch wahr?

»Nun, ich glaube, dass meine Schwester da strenger als meine Mutter sein wird«, sagte er. »Sie war stets der Ansicht, dass die bevorzugte Position der Obstbauern nicht länger gerechtfertigt ist.«

Ihm entging nicht, dass Lelaine anfing, am unteren Rand des Pergaments Notizen zu machen. War das der wahre Grund für Tinte und Feder?

Ihm blieb keine Wahl, als so ehrlich wie möglich zu antworten, auch wenn er aufpassen musste, sich nicht zu viele Informationen entlocken zu lassen. Seine Verbindung zu Elayne war das einzige Pfund, mit dem er wuchern konnte, und er musste seinen Nutzen auf eine lange Zeit strecken. Das ärgerte ihn. Elayne war kein Handelsobjekt, sie war seine Schwester!

Aber das war alles, was er hatte.

»Ich verstehe«, sagte Lelaine. »Und was ist mit den Kirschplantagen im Norden? Sie waren in letzter Zeit nicht besonders ergiebig und …«


Kopfschüttelnd verließ Gawyn das Zelt. Fast eine ganze Stunde lang hatte Lelaine ihn über andoranische Steuersätze ausgehorcht. Und wieder vermochte er nicht zu sagen, ob er mit seinem Besuch auch nur das Geringste erreicht hatte. Bei diesem Tempo würde er Egwene niemals freibekommen! Wie immer wartete vor dem Zelt eine Novizin in Weiß darauf, ihn aus dem Innenlager zu eskortieren. Dieses Mal war die Novizin eine kleine dicke Frau, die ein paar Jahre zu alt dafür aussah, um das Weiß zu tragen.

Gawyn ließ sich von der Frau durch das Lager der Aes Sedai führen und versuchte so zu tun, als wäre sie bloß eine Führerin und nicht eine Wächterin, die dafür sorgen sollte, dass er auch wie gewünscht ging. Bryne hatte recht; diese Frauen wollten nicht, dass unnötige Leute - vor allem Soldaten - in ihrer kleinen Imitation der Weißen Burg umherwanderten. Er passierte eilige Gruppen weiß gekleideter Frauen auf den Gehsteigen, die ihn mit dem kaum merklichen Misstrauen ansahen, das selbst die freundlichsten Menschen oft Fremden entgegenbrachten. Er kam an Aes Sedai vorbei, die alle vor Selbstbewusstsein strotzten, ob sie nun teure Seide oder Wolle trugen. Da waren auch einige Gruppen Arbeiterinnen, die wesentlich ordentlicher als die im Soldatenlager erschienen. Sie bewegten sich beinahe mit der Ausstrahlung von Aes Sedai, als hätten sie schon deshalb eine gewisse Autorität erlangt, weil sie das echte Lager betreten durften.

All diese Gruppen kreuzten eine offene Fläche aus zertrampeltem Unkraut, die den Gemeinschaftsplatz bildete. Gawyns verblüffendste Entdeckung in diesem Lager hatte mit Egwene zu tun. In ihm wuchs zusehends die Erkenntnis, dass die vielen Menschen hier sie tatsächlich als ihre Amyrlin betrachteten. Sie war nicht einfach nur ein Aushängeschild, das den Zorn auf sich ziehen sollte, auch keine bewusste Beleidigung, um Elaida aufzubringen. Für sie war Egwene die Amyrlin.

Offensichtlich hatten die Rebellen sie gewählt, weil sie jemand haben wollten, den sie leicht kontrollieren konnten. Aber sie behandelten sie nicht wie eine Marionette - sowohl Lelaine wie auch Romanda sprachen voller Respekt von ihr. Egwenes Abwesenheit hatte ihnen einen Vorteil gebracht, da sie ein Machtvakuum erschuf. Darum akzeptierten sie Egwene als Quelle der Autorität. War er eigentlich der Einzige, der sich daran erinnerte, dass sie noch vor wenigen Monaten lediglich eine Aufgenommene gewesen war?

Sie war überfordert. Aber sie hatte die Menschen in diesem Lager beeindruckt. Es war genau das Gleiche wie damals, als seine Mutter vor so vielen Jahren in Andor an die Macht gekommen war.

Aber warum weigerte sie sich nur, gerettet zu werden? Man hatte das Schnelle Reise wiederentdeckt - soweit er gehört hatte, war es sogar Egwene selbst gewesen, die es entdeckt hatte! Er musste mit ihr sprechen. Dann konnte er selbst beurteilen, ob sie nur nicht fliehen wollte, weil sie Angst hatte, dadurch andere in Gefahr zu bringen, oder ob etwas anderes dahintersteckte.

Er löste Herausforderers Zügel von dem Pfosten an der Grenze zwischen dem Lager der Aes Sedai und dem der Soldaten, nickte der Novizin zu und schwang sich in den Sattel, wobei er nach dem Sonnenstand schaute. Er lenkte sein Pferd auf einen Pfad zwischen Armeezelten nach Osten und brach im schnellen Trab auf. Es war keine Lüge gewesen, als er Lelaine von einer weiteren Verabredung erzählt hatte; er hatte versprochen, sich mit Bryne zu treffen. Natürlich hatte er den Termin arrangiert, weil er gewusst hatte, dass er vermutlich eine Möglichkeit brauchte, um Lelaine zu entfliehen. Das hatte ihm Bryne beigebracht: Frühzeitig den Rückzug zu planen war kein Zeichen von Furcht. Es war einfach nur eine gute Strategie.

Eine Stunde später fand Gawyn seinen alten Lehrer an der verabredeten Stelle, einem der vorgeschobenen Wachtposten. Bryne führte eine Inspektion durch, wie sie Gawyn vorgeschoben hatte, um den Jünglingen zu entfliehen. Der General stieg gerade auf seinen Braunen, als Gawyn angeritten kam. Der Wachtposten befand sich in der Senke eines sanft ansteigenden Hangs, von wo aus man einen guten Blick auf das Gelände im Norden hatte. Die Soldaten standen in Gegenwart ihres Generals respektvoll da, und sie verbargen ihre Abneigung gegenüber Gawyn. Es hatte sich herumgesprochen, dass er der Anführer der Streitmacht gewesen war, die sie so erfolgreich überfallen hatte. Ein Stratege wie Bryne konnte Gawyn für sein Geschick respektieren, und dabei spielte es keine Rolle, dass sie auf gegenüberliegenden Seiten gestanden hatten, aber diese Männer hatten miterleben müssen, wie ihre Kameraden von Gawyns Truppen getötet worden waren.

Bryne drehte sein Pferd und nickte Gawyn zu. »Ihr kommt später als vereinbart, mein Sohn.«

»Aber nicht später als erwartet, oder?«, erwiderte Gawyn und zügelte Herausforderer.

»Nicht im Mindesten«, sagte der stämmige General lächelnd. »Ihr habt schließlich Aes Sedai besucht.«

Das ließ Gawyn grinsen, und gemeinsam zogen sie ihre Pferde herum und begaben sich nach Norden in Richtung der offenen Hügel. Bryne wollte alle Wachtposten an der westlichen Seite von Tar Valon inspizieren, eine Pflicht, bei der viel geritten werden musste, also hatte Gawyn ihm angeboten, ihn zu begleiten. Sonst hatte er ja nicht viel zu tun; nur wenige Soldaten verspürten Lust auf einen Übungskampf mit ihm, und die, die es taten, bemühten sich etwas zu auffällig, dabei einen »Unfall« herbeizuführen. Die Aes Sedai würden sein beharrliches Insistieren nur bis zu einem gewissen Punkt tolerieren, und nach einer Partie Steine stand ihm in letzter Zeit einfach nicht der Sinn. Dazu war er viel zu nervös, machte sich Sorgen wegen Egwene und war frustriert, weil er keine Fortschritte machte. Tatsächlich war er in dem Spiel noch nie besonders gut gewesen - ganz im Gegensatz zu seiner Mutter. Bryne hatte darauf bestanden, dass er sich trotzdem darin übte; es war eine Methode, Schlachtfeldstrategien zu lernen.

Die Hügel wiesen gelbes Unkraut und gelegentlich Lerchenbüsche mit ihren winzigen hellblauen Blättern und knorrigen Ästen auf. Es hätte Felder mit Wildblumen geben müssen, aber davon blühte nicht eine einzige. Die Landschaft vermittelte den Eindruck, krank zu sein - an einigen Stellen war sie mit gelblichen Flecken übersät, an anderen mit hellblauen, dazwischen viel totes braunes Gestrüpp, das nach dem harten Winter nicht neu erblüht war.

»Und verratet Ihr mir, was sich bei der Besprechung ergeben hat?«, fragte Bryne, als sie unterwegs waren; eine Abteilung Soldaten folgte ihnen als Ehrenwache.

»Ich wette, das könnt Ihr Euch denken.«

»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Bryne. »Es sind ungewöhnliche Zeiten, seltsame Geschehnisse sind alltäglich. Vielleicht hat sich Lelaine dieses Mal ja dazu entschieden, keine Intrigen zu schmieden und Euren Bitten zuzuhören.«

Gawyn verzog das Gesicht. »Ich glaube, da findet Ihr eher einen Trolloc, der mit dem Stricken angefangen hat, als eine Aes Sedai, die keine Intrigen mehr schmiedet.«

»Wenn ich mich recht entsinne, hat man Euch gewarnt«, meinte Bryne.

Dazu fiel Gawyn kein Gegenargument ein, also ritten sie eine Weile schweigend, vorbei an dem in der Ferne rechts von ihnen verlaufenden Fluss. Dahinter standen die Türme und Dächer von Tar Valon. Einem Gefängnis.

»Irgendwann müssen wir über die Soldaten sprechen, die Ihr zurückgelassen habt«, sagte Bryne unvermittelt mit nach vorn gerichtetem Blick.

»Ich wüsste nicht, dass es da etwas zu besprechen gibt«, erwiderte Gawyn, was nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Er konnte sich denken, was der General ihn fragen wollte, und er freute sich nicht gerade auf diese Unterhaltung.

Bryne schüttelte den Kopf. »Mein junge, ich brauche Informationen. Orte, Truppenstärke, Ausrüstungslisten. Ich weiß, dass Ihr aus einem der Dörfer im Osten angreift, aber aus welchem? Wie viele Männer hat Eure Streitmacht, und welche Art der Unterstützung leisten Elaidas Aes Sedai?«

Gawyn schaute stur geradeaus. »Ich bin gekommen, um Egwene zu helfen. Nicht um die zu verraten, die mir vertraut haben.«

»Ihr habt sie bereits verraten.«

»Nein«, sagte Gawyn fest. »Ich habe sie im Stich gelassen, aber ich habe sie nicht verraten. Und das habe ich auch nicht vor.«

»Und Ihr erwartet von mir, einen potenziellen Vorteil nicht zu ergreifen?« Bryne sah zu ihm herüber. »Was da in Eurem Kopf ist, könnte Leben retten.«

»Oder Leben kosten, wenn man es von der anderen Seite betrachtet.«

»Macht das nicht so schwierig, Gawyn.«

»Oder was? Ihr unterzieht mich der Befragung?«

»Ihr würdet für sie leiden?«

»Es sind meine Männer«, sagte Gawyn schlicht. Oder zumindest waren sie das einmal. Egal, wie man das betrachtete, er hatte es satt, von Umständen und Kriegen herumgeschubst zu werden. Er würde der Weißen Burg keine Loyalität mehr entgegenbringen, aber er würde sie auch nicht den Rebellen anbieten. Egwene und Elayne hielten sein Herz und seine Ehre. Und wenn er sie nicht ihnen geben konnte, dann würde er sie eben Andor geben - und der ganzen Welt -, indem er Rand al’Thor jagte und tötete.

Rand al’Thor. Er glaubte kein Wort von dem, was Bryne zur Verteidigung des Mannes vorgebracht hatte. Oh, er glaubte, dass Bryne ernst meinte, was er gesagt hatte - aber der General irrte sich. Das konnte den anständigsten Menschen passieren, die sich vom Charisma einer Kreatur wie al’Thor einwickeln ließen. Schließlich hatte er sogar Elayne getäuscht. Ihnen allen konnte man nur auf eine Weise helfen, indem man den Drachen entlarvte und die Welt von ihm befreite.

Er warf einen Blick zu Bryne hinüber, der sich wieder abgewandt hatte. Vermutlich dachte er noch immer über die Jünglinge nach. Es war unwahrscheinlich, dass ihn der General der Befragung unterziehen würde. Er kannte den Mann und sein Ehrgefühl zu gut. Es würde nicht passieren. Aber möglicherweise kam er auf die Idee, ihn in den Kerker zu sperren. Vielleicht würde es klüger sein, ihm etwas anzubieten.

»Es sind fast noch Halbwüchsige, Bryne«, sagte er.

Der General runzelte die Stirn.

»Halbwüchsige«, wiederholte Gawyn. »Die ihre Ausbildung gerade hinter sich haben. Sie gehören auf ein Übungsgelände und nicht auf ein Schlachtfeld. Ihr Herz sitzt am rechten Fleck, und ihre Fertigkeiten sind solide, aber ohne mich sind sie keine große Bedrohung mehr für Euch. Ich war derjenige, der Eure Strategie kannte. Ohne mich werden sie es bei ihren Überfällen viel schwerer haben. Sollten sie überhaupt damit fortfahren, werden sie vermutlich bald auf den Schlächter treffen. Man braucht mich nicht dazu, um das auch noch zu beschleunigen.«

»Also gut«, erwiderte Bryne. »Ich werde abwarten. Aber sollten ihre Streifzüge weiterhin effektiv sein, werde ich Euch diese Fragen erneut stellen müssen.«

Gawyn nickte. Am besten konnte er den Jünglingen helfen, indem er dabei half, die Auseinandersetzung zwischen Rebellen und Loyalisten zu beenden. Aber das schien weit außerhalb seiner Möglichkeiten zu liegen. Vielleicht würde ihm ja etwas einfallen, nachdem er Egwene befreit hatte. Beim Licht! Sie konnten doch nicht wirklich vorhaben, übereinander herzufallen, oder doch? Das Scharmützel nach Siuan Sanches Sturz war schon schlimm genug gewesen. Was würde geschehen, wenn sich die Heere hier außerhalb von Tar Valon auf dem Schlachtfeld trafen? Aes Sedai gegen Aes Sedai, Behüter gegen Behüter? Eine Katastrophe.

»Dazu darf es nicht kommen«, sagte er leise.

Bryne sah ihn neugierig an, während ihre Pferde weiter über das Feld trabten.

»Ihr könnt nicht angreifen, Bryne«, sagte Gawyn. »Eine Belagerung ist eine Sache. Aber was werdet Ihr tun, wenn sie Euch den Angriff befehlen?«

»Das, was ich immer tue«, erwiderte Bryne. »Gehorchen.«

»Aber …«

»Gawyn, ich gab mein Wort.«

»Und wie viele Leben ist dieses Wort wert? Ein Angriff auf die Weiße Burg wäre eine Katastrophe. Ganz egal, wie verletzt sich diese rebellischen Aes Sedai auch fühlen, es wird keine Versöhnung geben, wenn sie durch das Schwert herbeigeführt werden soll.«

»Das ist nicht Eure Entscheidung«, sagte der General. Er sah ihn nachdenklich an.

»Was?«, fragte Gawyn.

»Ich frage mich, warum das für Euch eine Rolle spielt. Ich dachte, Ihr wärt nur wegen Egwene gekommen.«

»Ich …« Gawyn geriet ins Schwimmen.

»Wer seid Ihr, Gawyn Trakand?«, hakte Bryne nach. »Wo liegt Eure Loyalität wirklich?«

»Ihr kennt mich besser als die meisten, Gareth.«

»Ich weiß, wer Ihr sein solltet«, meinte Bryne. »Der Erste Prinz des Schwertes, von Behütern ausgebildet, aber keiner Frau zum Bund gegeben.«

»Und das bin ich nicht?« Das klang gereizt.

»Friede, mein Sohn. Es sollte keine Beleidigung sein. Nur eine Beobachtung. Ich weiß, dass Ihr nie so unbeirrbar wie Euer Bruder gewesen seid. Ich schätze, ich hätte das in Euch erkennen müssen.«

Gawyn wandte sich wieder dem alternden General zu. Wovon sprach der Mann?

Bryne seufzte. »Es ist eine Sache, mit der die meisten Soldaten nie konfrontiert werden. Sicher, sie mögen daran denken, aber sie lassen sich nicht davon quälen. Das ist eine Frage für andere, Höhergestellte.«

»Welche Frage?«, wollte Gawyn verblüfft wissen.

»Für welche Seite man sich entscheidet. Und dass man, sobald man sie gewählt hat, zu dem Schluss kommt, sich richtig entschieden zu haben. Der Fußsoldat muss diese Wahl nicht treffen, aber die von uns, die wir führen … ja, ich erkenne das in Euch. Euer Geschick mit dem Schwert ist kein kleines Geschenk. Wofür benutzt Ihr es?«

»Für Elayne.«

»Tut Ihr das jetzt?«, fragte Bryne amüsiert.

»Nun, nachdem ich Egwene gerettet habe.«

»Und falls Egwene nicht gehen wird? Ich kenne diesen Ausdruck in Euren Augen, mein Junge. Ich weiß auch ein bisschen über Egwene al’Vere Bescheid. Sie wird dieses Schlachtfeld nicht verlassen, bevor ein Sieger feststeht.«

»Ich bringe sie fort«, sagte Gawyn. »Zurück nach Andor.«

»Ihr wollt sie also dazu zwingen? So wie Ihr Euch den Weg in mein Lager erzwungen habt? Ihr wollt also zu einem Schurken und Raulbold werden, der sich nur durch seine Fähigkeit auszeichnet, die töten oder bestrafen zu können, die anderer Meinung als er sind?«

Gawyn antwortete nicht.

»Wem soll man dienen?«, fragte Bryne nachdenklich. »Manchmal machen uns unsere eigenen Fähigkeiten Angst. Was nutzt die Fähigkeit, töten zu können, wenn man sie nicht anwenden kann? Ist sie ein verschwendetes Talent? Der Pfad zum Mörder? Die Macht zu beschützen ist beängstigend. Also hält man nach jemandem Ausschau, dem man diese Fähigkeit anbietet, jemand, der sie weise benutzt. Das Bedürfnis, eine Entscheidung zu treffen, nagt an einem, selbst lange nachdem man sie getroffen hat. Ich sehe diese Frage mehr bei jüngeren Männern. Wir alten Jagdhunde, wir sind damit zufrieden, einen Platz am Kamin zu haben. Wenn uns jemand befiehlt zu kämpfen, wollen wir die Dinge nicht zu sehr aufwühlen. Aber die jungen Männer … sie grübeln darüber nach.«

» Habt Ihr Euch diese Frage einmal gestellt?«, fragte Gawyn.

»Ja. Mehr als einmal. Im Aiel-Krieg war ich kein Generalhauptmann, aber ich war Ranghauptmann. Damals habe ich mich das oft gefragt.«

»Wieso konntet Ihr Euch ausgerechnet im Aiel-Krieg fragen, ob Ihr auf der richtigen Seite steht?« Gawyn runzelte die Stirn. »Sie kamen, um zu töten.«

»Sie kamen nicht wegen uns«, sagte Bryne. »Sie wollten bloß die Cairhiener. Natürlich war das anfangs nicht klar zu erkennen, aber um die Wahrheit zu sagen, einige von uns haben darüber nachgedacht. Laman hat seinen Tod verdient. Warum sollten wir sterben, um uns dem in den Weg zu stellen? Vielleicht hätten sich mehr von uns diese Frage stellen sollen.«

»Aber wie lautet die Antwort dann?«, wollte Gawyn wissen. »Wem gibt man sein Vertrauen? Wem diene ich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bryne frei heraus.

»Warum dann überhaupt diese Frage stellen?«, fauchte Gawyn und hielt sein Pferd an.

Bryne zügelte sein Tier ebenfalls, führte es zurück. »Ich kenne die Antwort nicht, weil es darauf keine Antwort gibt. Das heißt, jeder hat darauf eine eigene Antwort. Als ich jung war, kämpfte ich um der Ehre willen. Irgendwann erkannte ich, dass im Töten nur wenig Ehre liegt, und ich entdeckte, dass ich mich verändert hatte. Dann kämpfte ich, weil ich Eurer Mutter diente. Ich vertraute ihr. Als sie mich im Stich ließ, stellte sich mir diese Frage erneut. Diese vielen Jahre des Dienstes, welchen Wert hatten sie? Was war mit den Männern, die ich in ihrem Namen getötet hatte? Welchen Sinn hatte das alles?«

Er ließ die Zügel schnalzen und setzte sich wieder in Bewegung. Gawyn trieb Herausforderer an, um ihn einzuholen.

»Ihr fragt Euch, warum ich ausgerechnet hier bin, statt in Andor zu sein?«, fragte Bryne. » Das liegt daran, dass ich nicht loslassen kann. Weil sich die Welt verändert und ich daran Anteil haben muss. Weil man mir in Andor alles genommen hat, brauchte ich einen neuen Ort für meine Loyalität. Das Muster gab mir diese Gelegenheit.«

»Und Ihr habt sie nur gewählt, weil sie da war?«

»Nein. Ich wählte sie, weil ich ein Narr bin.« Er erwiderte Gawyns Blick. »Aber ich blieb, weil es richtig war. Das, was entzweit wurde, muss wieder vereint werden, und ich habe erlebt, was ein schrecklicher Führer einem Königreich antun kann. Man darf Elaida nicht erlauben, die Welt mit ihr in den Abgrund zu reißen.«

Gawyn schaute ungläubig drein.

»Ja«, sagte Bryne. »Am Ende glaubte ich ihnen. Diese dummen Frauen. Aber beim Licht, Gawyn, sie haben recht. Es ist richtig, was ich tue. Sie hat recht.«

»Wer?«

Bryne schüttelte nur den Kopf und murmelte: »Diese alberne Frau.«

Meinte er Egwene?

»Meine Motive haben für Euch keine Bedeutung, mein Sohn«, fuhr der General fort. »Ihr seid keiner meiner Soldaten. Aber Ihr müsst ein paar Entscheidungen treffen. In den kommenden Tagen müsst Ihr eine Seite gewählt haben, und Ihr müsst wissen, warum Ihr Euch für sie entschieden habt. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

Er trieb den Braunen zu einer schnelleren Gangart an. In der Ferne konnte Gawyn einen weiteren Wachtposten ausmachen. Er blieb zurück, als Bryne und seine Soldaten sich ihm näherten.

Eine Seite wählen. Was war, wenn Egwene ihn nicht begleiten wollte?

Bryne hatte recht. Etwas zog herauf. Man konnte es in der Luft riechen, in dem schwachen Sonnenlicht spüren, das seinen Weg mühsam durch die Wolken fand. Man konnte es schwach im Norden spüren, wo es wie eine unsichtbare Energie am dunklen Horizont knisterte.

Krieg, Schlachten, Konflikte, Veränderungen. Gawyn hatte das Gefühl, nicht einmal eine Ahnung zu haben, wie die verschiedenen Seiten aussahen. Ganz zu schweigen davon, für welche er sich entscheiden sollte.

Загрузка...