2 Das Wesen des Schmerzes

Egwene richtete sich auf. Der mittlerweile vertraute Schmerz durch die kräftigen Prügel, die die Oberin der Novizinnen verabreichte, ließ ihr Hinterteil brennen. Sie fühlte sich wie ein Teppich, aus dem man gerade den Staub geklopft hatte. Trotzdem ordnete sie beherrscht ihre weißen Röcke, dann wandte sie sich dem Spiegel im Raum zu und tupfte sich ruhig die Tränen aus den Augenwinkeln. Dieses Mal war es nur eine Träne in jedem Auge. Sie lächelte ihr Spiegelbild an, dann nickten sie sich zufrieden zu.

Die silbrige Oberfläche des Spiegels zeigte hinter ihr einen kleinen, mit dunklem Holz getäfelten Raum. Es war ein so nüchterner, strenger Ort; ein solider Stuhl in der Ecke, dessen Sitzfläche von jahrelangem Gebrauch gedunkelt und geglättet worden war. Ein klobiger Schreibtisch, auf dem das dicke Buch der Oberin der Novizinnen lag. Der schmale Tisch direkt hinter Egwene wies ein paar Schnitzereien auf, aber die darauf liegende Lederplatte war viel markanter. Viele Novizinnen - und nicht wenige Aufgenommene - hatten sich über diesen Tisch gebeugt und die Strafe für Ungehorsam ertragen. Die Vorstellung, dass die dunkle Färbung des Tisches von den vielen Tränenflecken herrührte, fiel nicht schwer. Egwene hatte selbst dort viele vergossen.

Aber heute nicht. Nur zwei Tränen, und keine davon war von ihren Wangen gefallen. Nicht, dass sie keine Schmerzen hatte; ihr ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Tatsächlich hatte sich die Intensität dieser Prügelstrafen erhöht, je länger sie sich den Herrschenden in der Weißen Burg widersetzte. Aber als die Strafen häufiger und schmerzhafter geworden waren, war auch ihre Entschlossenheit gestiegen, sie zu ertragen. Noch war es ihr nicht gelungen, den Schmerz zu umarmen und zu akzeptieren, wie es die Aiel taten, aber sie hatte das Gefühl, nahe dran zu sein. Die Aiel konnten noch während der schlimmsten Folter lachen. Nun, sie konnte in dem Augenblick lächeln, in dem sie sich aufrichtete.

Jeden Schlag, den sie ertrug, jeder Schmerz, den sie erlitt, war ein Sieg. Und Siege waren immer ein Grund zur Freude, ganz egal, wie sehr der Stolz oder die Haut auch brannten.

Neben dem Tisch und hinter ihr war auch die Oberin der Novizinnen im Spiegel zu sehen. Silviana starrte stirnrunzelnd auf den Lederriemen in ihren Händen. Ihr altersloses kantiges Gesicht trug einen leicht verwirrten Ausdruck; sie betrachtete den Riemen, wie man vielleicht ein Messer betrachtete, das nicht schneiden wollte, oder eine Lampe, die nicht brennen wollte.

Die Frau war eine Rote Ajah, wie dem Saum ihres schlichten grauen Kleides und der fransenbesetzten Stola auf ihren Schultern abzulesen war. Sie war hochgewachsen und stämmig, und sie trug ihr schwarzes Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Egwene hielt sie größtenteils für eine überragende Oberin der Novizinnen. Obwohl sie sie geradezu lächerlich oft bestraft hatte. Vielleicht auch gerade deswegen. Silviana tat ihre Pflicht. Das Licht wusste, dass es in der letzten Zeit nur wenige in der Burg gab, von denen man das behaupten konnte!

Silviana schaute auf und begegnete Egwenes Blick im Spiegel. Sie legte den Riemen schnell zur Seite und tilgte sämtliche Gefühle aus dem Gesicht. Egwene drehte sich ganz ruhig um.

Silviana seufzte untypischerweise. »Wann wollt Ihr damit aufhören, Kind?«, fragte sie. »Ich muss zugeben, dass Ihr Euren Standpunkt recht bewundernswert bewiesen habt, aber Ihr müsst wissen, dass ich Euch so lange bestrafen werde, bis Ihr nachgebt. Die angemessene Ordnung muss aufrechterhalten werden.«

Egwene ließ sich ihre Verblüffung nicht anmerken. Abgesehen von Befehlen oder Missbilligung sprach die Oberin der Novizinnen sie nur selten an. Aber ihre Fassade hatte auch schon zuvor Sprünge gezeigt ...

»Die angemessene Ordnung, Silviana?«, fragte sie. »Wie die, die in der ganzen Burg praktiziert wird?«

Silvianas Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Sie drehte sich um und notierte etwas in ihrem Buch. »Ich sehe Euch morgen früh. Jetzt geht zum Abendessen.«

Die morgendliche Bestrafung würde erfolgen, weil sie die Oberin der Novizinnen mit ihrem Namen angesprochen hatte, ohne am Ende den Ehrentitel »Sedai« hinzuzufügen. Und vermutlich weil sie beide wussten, dass sie keinen Knicks machen würde, bevor sie ging.

»Ich kehre morgen früh zurück«, sagte Egwene, »aber das Abendessen muss warten. Man hat mir befohlen, heute Abend Elaida beim Essen zu bedienen.« Die Sitzung bei Silviana hatte lange gedauert - sie hatte eine ordentliche Liste an Verfehlungen mitgebracht -, und jetzt würde sie keine Zeit zum Essen mehr haben. Ihr Magen protestierte schon.

Einen kurzen Augenblick lang zeigte Silviana so etwas wie ein Gefühl. War es Überraschung? »Warum habt Ihr vorhin nichts davon gesagt?«

»Hätte das etwas geändert?«

Silviana reagierte nicht auf die Frage. »Dann esst Ihr eben, nachdem Ihr der Amyrlin gedient habt. Ich werde der Herrin der Küchen die Anweisung zukommen lassen, Euch etwas zu verwahren. Wenn man bedenkt, wie oft Ihr in diesen Tagen Geheilt werdet, Kind, werdet Ihr Eure Mahlzeiten brauchen. Ich lasse nicht zu, dass Ihr wegen mangelnder Nahrung zusammenbrecht.«

Streng, aber gerecht. Eine Schande, dass diese Frau ihren Weg zu den Roten gefunden hatte. »In Ordnung«, sagte Egwene.

»Und nach dem Essen«, sagte Silviana und hob einen Finger, »werdet Ihr mir einen erneuten Besuch abstatten, weil Ihr Euch respektlos gegenüber dem Amyrlin-Sitz gezeigt habt. Ihr habt nicht das Recht, sie einfach nur ›Elaida‹ zu nennen, Kind.« Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu und fügte hinzu: »Außerdem weiß allein das Licht, welchen Ärger ihr heute Abend bekommen werdet.«

Als Egwene den kleinen Raum hinter sich ließ und den breiten Korridor mit den grünen und roten Bodenfliesen betrat, dachte sie über diese letzte Bemerkung nach. Vielleicht war es doch keine Überraschung gewesen, die Silviana gezeigt hatte, als sie von ihrem Besuch bei Elaida gehört hatte. Vielleicht war es einfach nur Mitgefühl gewesen. Elaida würde nicht erfreut reagieren, wenn sie sich ihr auf die gleiche Weise widersetzte wie allen anderen in der Burg.

Hatte Silviana darum entschieden, sie nach dem Essen noch einmal für eine letzte Bestrafung antreten zu lassen? Aufgrund ihrer Befehle würde sie essen müssen, bevor sie sich ihre Strafe abholte, selbst wenn Elaida sie mit neuen Strafen förmlich eindeckte.

Es war eine kleine Freundlichkeit, aber Egwene war dankbar dafür. Die täglichen Prügel zu ertragen war schwer genug, auch ohne Mahlzeiten auslassen zu müssen.

Während sie darüber nachdachte, traten zwei Rote Schwestern - Katerine und Barasine - auf sie zu. Katerine hielt einen Messingbecher. Eine weitere Dosis Spaltwurzeltee. Anscheinend wollte Elaida sichergehen, dass sie während der Mahlzeit nicht einmal ein paar Tropfen der Macht lenken konnte. Sie nahm den Becher ohne jeden Protest entgegen und leerte ihn mit einem einzigen Schluck, schmeckte den leichten, aber charakteristischen Geschmack von Minze. Sie gab den Becher Katerine zurück, und der Frau blieb keine andere Wahl, als ihn zu nehmen. Fast so, als wäre sie die königliche Becherträgerin.

Egwene begab sich nicht sofort zu Elaidas Gemächern. Die überlange Strafsitzung, die in die Essenszeit gereicht hatte, hatte ihr ironischerweise ein paar Augenblicke der Freizeit beschert - und sie wollte nicht zu früh eintreffen, denn damit würde sie Elaida nur Ehrerbietung zeigen. Stattdessen lungerte sie zusammen mit Katerine und Barasine vor der Tür der Oberin der Novizinnen herum. Würde eine bestimmte Person zu einem Besuch des Arbeitszimmers erscheinen?

In der Ferne schritten kleinen Gruppen von Schwestern über die roten und grünen Fliesen. Ihren Augen haftete ein lauernder Ausdruck an, wie Hasen, die sich auf eine Lichtung wagten, um an Blättern zu nagen, und doch das Raubtier fürchteten, das sich in den Schatten verbarg. Die Schwestern trugen im Moment ständig ihre Stolen, und sie gingen niemals allein. Manche hielten sogar die Macht, als hätten sie Angst, hier in der Weißen Burg von Schurken angegriffen zu werden.

»Gefällt euch das?«, fragte Egwene unwillkürlich. Sie sah Katerine und Barasine an; beide hatten zufällig zu der Gruppe gehört, die sie gefangen genommen hatte.

»Was war das, Kind?«, fragte Katerine kühl. »Ihr sprecht eine Schwester an, ohne dass man Euch zuvor eine Frage gestellt hat? Seid Ihr so wild auf die nächste Bestrafung?« Sie trug verdächtig viel Rot, ihr Kleid wies ein grelles Scharlachrot mit schwarzen Schlitzen auf. Ihr dunkles Haar strömte leicht gelockt auf ihren Rücken hinunter.

Egwene ignorierte die Drohung. Was konnten sie ihr schon noch antun? »Vergesst einmal für einen Moment dieses Gezänk, Katerine«, sagte sie und beobachtete eine passierende Gruppe von Gelben, deren Schritte sich beim Anblick der Roten beschleunigten. »Vergesst das Getue um Autorität und die Drohungen. Vergesst diese Dinge und seht Euch um. Seid Ihr stolz darauf? Die Burg hat Jahrhunderte verbracht, ohne dass eine Amyrlin aus den Roten erhoben wurde. Und jetzt, da ihr endlich die Gelegenheit dazu hattet, hat eure erwählte Anführerin das hier der Burg angetan. Frauen, die die Blicke jener meiden, die sie nicht näher kennen, Schwestern, die sich nur noch in Gruppen bewegen. Die Ajahs verhalten sich, als würden sie gegeneinander Krieg führen!«

Die Bemerkung ließ Katerine schnauben, aber die schmächtige Barasine zögerte und schaute der Gruppe aus Gelben, die den Korridor entlang eilten, über der Schulter nach, was mehrere von ihnen veranlasste, den beiden Roten ihrerseits giftige Blicke zuzuwerfen.

»Das ist nicht die Schuld der Amyrlin«, sagte Katerine. »Dafür haben Eure albernen Rebellen und ihr Verrat gesorgt!«

Meine Rebellen?, dachte Egwene und lächelte innerlich. Also betrachtest du sie jetzt als »meine« Leute, statt mich nur als bedauernswerte Aufgenommene zu sehen, die man hinters Licht geführt hat? Das ist ein Fortschritt.

»Haben wir etwa eine sitzende Amyrlin gestürzt?«, fragte sie. »Haben wir Behüter gegen Behüter gehetzt oder sind darin gescheitert, den Wiedergeborenen Drachen in Schach zu halten? Haben wir eine Amyrlin erwählt, die so machthungrig ist, dass sie den Bau ihres eigenen Palastes befohlen hat? Eine Frau, die in jeder anderen Schwester die Befürchtung geweckt hat, sie könnte die nächste sein, der man die Stola aberkennt?«

Katerine gab darauf keine Antwort, als wäre ihr klar geworden, dass es unter ihrer Würde war, sich auf eine Debatte mit einer bloßen Novizin einzulassen. Barasine betrachtete noch immer mit weit aufgerissenen Augen die sich entfernenden Gelben. Besorgt.

»Eigentlich hätte ich gedacht, dass die Roten nicht diejenigen sind, die Elaida in Schutz nehmen, sondern ihre schärfsten Kritiker. Denn Elaidas Erbe wird Euer Erbe sein. Vergesst das nicht.«

Katerine sah sie wütend an, und Egwene unterdrückte ein Zusammenzucken. Vielleicht war das Letzte etwas zu direkt gewesen.

»Ihr werdet Euch heute Abend bei der Oberin der Novizinnen melden, Kind«, informierte Katerine sie. »Und erklären, wie Ihr den Schwestern und der Amyrlin Euren Respekt versagt habt.«

Egwene schwieg. Warum verschwendete sie ihre Zeit mit dem Versuch, Rote zu überzeugen?

Die alte Holztür hinter ihr schnappte zu, ließ sie zusammenzucken und über die Schulter blicken. Die Wandteppiche zu beiden Seiten bewegten sich leicht und erstarrten wieder. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie beim Verlassen des Raumes die Tür einen Spalt weit aufgelassen hatte. Hatte Silviana die Unterhaltung belauscht?

Es war keine Zeit zu weiterem Trödeln übrig. Anscheinend würde Alviarin an diesem Abend nicht kommen. Wo war sie? Sie trat um diese Zeit immer zu ihrer Strafe an, wenn Egwene gerade damit fertig war. Egwene schüttelte den Kopf, dann ging sie los. Die beiden Roten folgten ihr - sie blieben mittlerweile immer öfter an ihrer Seite, folgten ihr und beobachteten sie, ausgenommen der Zeit, in der sie die Quartiere der anderen Ajah für ihren Unterricht besuchte. Egwene versuchte sich so zu verhalten, als wären die beiden Schwestern eine Ehrengarde und nicht ihre Kerkerwächter. Sie versuchte auch ihren schmerzenden Hintern zu ignorieren.

Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass sie ihren Krieg gegen Elaida gewann. Beim Mittagessen hatte sie gehört, wie die Novizinnen darüber klatschten, dass Elaida so grandios darin gescheitert war, für Rands Gefangenschaft zu sorgen. Der Vorfall lag nun mehrere Monate in der Vergangenheit und hatte geheim bleiben sollen. Dann war da das Gerücht, dass Asha'man Schwestern den Bund aufzwangen, die ausgeschickt worden waren, um sie zu vernichten. Eine weitere von Elaidas Missionen, die nicht publik hatte werden sollen. Egwene hatte dafür gesorgt, dass diese fehlgeschlagenen Unternehmungen frisch im Gedächtnis der Bewohnerinnen der Burg blieben, genau wie Elaidas unerhörte Behandlung von Shemerin.

Worüber Novizinnen klatschten, hörten auch Aes Sedai. Ja, sie gewann. Aber langsam verlor sie die Zufriedenheit, die sie einst über diesen Sieg verspürt hatte. Wer hätte sich darüber freuen können, mit ansehen zu müssen, dass sich die Aes Sedai wie ein uralter Wandteppich auflösten? Wer hätte sich darüber freuen können, dass Tar Valon, die größte aller großen Städte, im Müll erstickte? So sehr sie Elaida auch verabscheuen mochte, sie konnte nicht darüber jubeln, eine Amyrlin erleben zu müssen, die mit einer derartigen Inkompetenz führte.

Und heute Abend würde sie Elaida persönlich gegenübertreten. Sie ging langsam durch die Gänge, um nicht zu früh einzutreffen. Wie sollte sie bei dem Essen vorgehen? Während ihrer neun Tage in der Burg hatte sie Elaida nicht einmal aus der Ferne zu sehen bekommen. Die Frau zu bedienen würde gefährlich sein. Wenn sie sie nur einmal zu oft beleidigte, schickte man sie vielleicht zu ihrer Hinrichtung. Aber sie konnte einfach nicht nachgeben und kriechen. Sie würde sich vor dieser Frau nicht verbeugen, und sollte es sie das Leben kosten.

Egwene bog um eine Ecke und blieb wie angewurzelt stehen, geriet beinahe ins Stolpern. Der Gang endete abrupt vor einer Mauer mit einem hellen Wandbild aus Fliesen. Die Darstellung zeigte eine Amyrlin auf einem verzierten goldenen Stuhl, die den Königen und Königinnen des Landes warnend die Hand entgegenstreckte. Die Plakette am unteren Rand verkündete, dass es sich hier um ein Bild von Caraighan Maconar handelte, die die Rebellion in Mosadorin beendete. Egwene erinnerte sich dunkel an das Wandbild; als sie es das letzte Mal gesehen hatte, hatte es an der Wand der Burgbibliothek gehangen. Aber damals war das Gesicht der Amyrlin nicht eine Maske aus Blut gewesen. Die Toten, die von den Dachvorsprüngen baumelten, waren ebenfalls nicht da gewesen.

Katerine trat mit blassem Gesicht neben sie. Keiner sprach gern von der unnatürlichen Weise, auf die Räume und Korridore in der Burg ihren Standort änderten. Diese Veränderungen waren eine ernste Mahnung, dass die Rangeleien um Autorität hinter größeren, schrecklichen Nöten in der Welt zurücktraten. Das war das erste Mal, dass Egwene nicht nur erlebte, wie sich ein Korridor verschob, sondern auch ein Bild veränderte. Der Dunkle König rührte sich, und das Muster selbst erbebte.

Sie drehte sich um und ließ das versetzte Wandbild hinter sich zurück. Sie konnte sich jetzt nicht auf diese Probleme konzentrieren. Man schrubbte einen Boden, indem man sich eine Stelle aussuchte und an die Arbeit machte. Sie hatte sich ihre Stelle ausgesucht. Die Weiße Burg musste wieder versöhnt werden.

Unglücklicherweise würde dieser Umweg mehr Zeit erfordern. Zögernd beschleunigte Egwene ihre Schritte; es wäre nicht richtig, früher einzutreffen, aber sie wollte sich auch nicht verspäten. Ihre beiden Aufpasserinnen beeilten sich ebenfalls, Röcke rauschten, als sie durch mehrere Korridore hasteten. Dabei sah Egwene zufällig, wie Alviarin mit gesenktem Kopf um eine Ecke huschte und in Richtung des Arbeitszimmers der Oberin der Novizinnen eilte. Also begab sie sich doch zu ihrer Bestrafung. Was hatte sie aufgehalten?

Zwei weitere Abzweigungen und eine Treppe mit kalten Steinstufen später eilte Egwene durch das Gebiet der Roten Ajah in der Burg, da das jetzt die schnellste Route nach oben zu den Gemächern der Amyrlin war. An den Wänden hingen rote Wandteppiche, die von den blutroten Bodenfliesen noch betont wurden. Die hier befindlichen Frauen trugen sämtlich einen Ausdruck einer beinahe einheitlichen Strenge im Gesicht, ihre Stolen waren sorgfältig über Schultern und Armen drapiert. Sie erschienen unsicher, und das hier, im Quartier ihrer eigenen Ajah, wo sie selbstbewusst hätten sein müssen; sie schienen selbst den emsigen Dienern zu misstrauen, die die Flamme von Tar Valon auf der Brust trugen. Egwene ging durch die Gänge und wünschte sich, sich nicht so beeilen zu müssen, da es sie eingeschüchtert aussehen ließ. Aber das ließ sich nicht ändern. In der Mitte der Burg erklomm sie mehrere Treppen und erreichte schließlich den Korridor, der zu den Gemächern der Amyrlin führte.

Die ihr als Novizin aufgetragenen Arbeiten und Unterrichtsstunden hatten ihr nur wenig Zeit gelassen, sich über ihre Konfrontation mit der falschen Amyrlin Gedanken zu machen. Das war die Frau, die Siuan gestürzt hatte, die Frau, die Rand hatte verprügeln lassen, die Frau, die die Aes Sedai selbst an den Abgrund des Zusammenbruchs gedrängt hatte. Elaida musste ihren Zorn kennenlernen, sie musste gedemütigt und beschämt werden! Sie ...

Egwene blieb vor Elaidas vergoldeter Tür stehen. Nein.

Sie konnte sich diese Szene mühelos vorstellen. Eine wütende Elaida, eine in die dunklen Kerkerzellen unter der Burg verbannte Egwene. Was sollte das nutzen? Sie konnte die Frau nicht herausfordern, noch nicht. Das würde nur zu dem Gefühl flüchtiger Zufriedenheit führen, dem ein verheerendes Scheitern folgte.

Aber beim Licht, sie konnte sich auch unmöglich vor Elaida verneigen! Die Amyrlin tat so etwas nicht!

Oder ... Nein. Die Amyrlin tat, was von ihr verlangt wurde. Was war wichtiger? Die Weiße Burg oder ihr Stolz? Die einzige Möglichkeit, diese Schlacht zu gewinnen, bestand darin, Elaida glauben zu machen, sie würde gewinnen. Nein ... Nein, die einzige Möglichkeit zu gewinnen bestand darin, Elaida glauben zu machen, dass es gar keine Schlacht gab.

Konnte sie lange genug höflich sein, um diesen Abend zu überleben? Sie war sich da nicht sicher. Aber wenn sie dieses Essen verließ, musste Elaida das Gefühl haben, dass sie die Kontrolle hatte, dass Egwene richtig eingeschüchtert war. Der beste Weg, das zu erreichen und sich einen gewissen Stolz zu erhalten, würde darin bestehen, überhaupt nichts zu sagen.

Schweigen. Das würde an diesem Abend ihre Waffe sein. Egwene stählte sich und klopfte.

Die erste Überraschung kam, als eine Aes Sedai die Tür öffnete. Hatte Elaida keine Diener für diese Aufgabe? Egwene kannte die Schwester nicht, aber das alterslose Gesicht war offensichtlich. Die Frau gehörte zu den Grauen, wie ihre Stola zeigte, und sie war schlank mit vollen Brüsten. Das hellbraune Haar fiel ihr bis zur Rückenmitte, und da lag ein bedrückter Ausdruck in ihren Augen, als hätte sie in letzter Zeit unter einer großen Belastung gestanden.

Elaida war auch da. Egwene zögerte auf der Schwelle und sah ihre Rivalin das erste Mal seit ihrem Aufbruch aus der Weißen Burg, als sie sich zusammen mit Nynaeve und Elayne auf die Jagd nach den Schwarzen Ajah begeben hatte, ein Wendepunkt, der eine Ewigkeit her zu sein schien. Elaida, eine ausgesprochen ansehnliche Frau, schien ein kleines bisschen von ihrer Strenge verloren zu haben. Sie saß entspannt da und lächelte still, als würde sie an einen Witz denken, den nur sie verstand. Ihr Stuhl war beinahe ein Thron, mit Schnitzereien versehen, vergoldet, rot und weiß lackiert. Ein zweiter Stuhl stand am Tisch, vermutlich für die namenlose Graue Schwester.

Egwene war noch nie zuvor in den Gemächern der Amyrlin gewesen, aber sie konnte sich vorstellen, wie Siuans vermutlich ausgesehen hatten. Schlicht und doch nicht völlig nüchtern. Gerade genug Pracht, um zu verdeutlichen, dass das der Raum einer wichtigen Person war, aber nicht genug, um eine Ablenkung darzustellen. Bei Siuan würde alles einem Zweck gedient haben - vielleicht sogar mehreren Zwecken gleichzeitig. Tische mit Geheimfächern. Wandteppiche, die als Landkarten fungierten. Gekreuzte Schwerter über dem Kamin, die geölt waren, für den Fall, dass die Behüter sie brauchten.

Aber vielleicht war das ja auch nur alles eine nette Spinnerei. Dennoch hatte Elaida nicht nur verschiedene Räume als ihre Gemächer bezogen; ihre Ausstattung war unverkennbar kostbar. Die Einrichtung ihrer Zimmerflucht war noch nicht abgeschlossen - man sprach darüber, dass sie jeden Tag etwas anderes hinzufügte -, aber was zu sehen war, war ausgesprochen üppig. Von Wänden und Decken hing neuer Seidenbrokat, alles in Rot. Der tairenische Teppich auf dem Boden stellte fliegende Vögel dar und war so fein geknüpft, dass man ihn beinahe mit einem Gemälde hätte verwechseln können. Verteilt im Raum standen Möbelstücke in einem Dutzend verschiedener Stile, jedes davon verschwenderisch mit Schnitzereien und Elfenbeinintarsien versehen. Hier eine Reihe Schlingpflanzen, dort ein Muster mit knorrigen Vorsprüngen, da ineinander verschlungene Schlangen.

Viel empörender als die ganze Extravaganz war die Stola auf Elaidas Schultern. Sie hatte sechs verschiedenfarbige Streifen. Nicht sieben, sondern sechs! Auch wenn Egwene keiner Ajah beigetreten war, hätte sie doch Grün gewählt. Aber das verhinderte nicht, dass sie plötzlich eine tiefe Wut verspürte, als sie sah, dass man von der Stola das Blau entfernt hatte. Man löste nicht einfach eine der Ajahs auf, nicht einmal, wenn man der Amyrlin-Sitz war.

Aber Egwene hielt den Mund. Bei dieser Begegnung ging es ums Überleben. Zum Nutzen der Burg konnte sie die Schmerzen des Riemens ertragen. Konnte sie auch Elaidas Arroganz ertragen?

»Keinen Knicks?«, fragte Elaida, als sie den Raum betrat. »Man sagte ja schon, Ihr wärt stur. Nun, dann werdet Ihr am Ende dieser Mahlzeit die Oberin der Novizinnen besuchen und sie über dieses Versäumnis informieren. Was haltet Ihr davon?«

Dass du eine Seuche bist, die dieses Gebäude befallen hat, so widerwärtig und zerstörerisch wie alle Krankheiten, die diese Stadt und ihre Bewohner in der Vergangenheit heimgesucht haben. Dass du ...

Egwene senkte den Blick. Und neigte den Kopf, obwohl sie die Scham bis in die Knochen spürte.

Elaida lachte und verstand die Geste genauso, wie sie sie verstehen sollte. »Ehrlich, ich hätte gedacht, dass Ihr mehr Ärger macht. Anscheinend versteht Silviana ihr Handwerk. Das ist gut; ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass sie sich wie viel zu viele in der Burg in letzter Zeit vor ihren Pflichten drückt. Nun, beeilt Euch. Ich werde nicht den ganzen Abend aufs Essen warten.«

Egwene ballte die Fäuste, sagte aber kein Wort. An der hinteren Wand stand ein langer Serviertisch mit mehreren Silberplatten; die heißen Speisen versahen die auf Hochglanz polierten Wärmeglocken mit Kondenswasser. Dort stand auch eine Suppenterrine aus Silber. Die Graue Schwester drückte sich an der Tür herum. Beim Licht! Die Frau hatte Angst. Nur selten hatte sie bei einer Schwester so einen Ausdruck gesehen. Was war der Grund dafür?

»Kommt, Meidani«, sagte Elaida zu der Grauen. »Wollt Ihr da den ganzen Abend herumstehen? Setzt Euch!«

Egwene verbarg ihren schockierten Gesichtsausdruck. Meidani? Sie gehörte zu den Frauen, die Sheriam und die anderen als Spione in die Weiße Burg geschickt hatten! Während sie sich mit dem Inhalt der Platten vertraut machte, warf sie einen schnellen Blick über die Schulter. Meidani hatte ihren Weg zu dem schmalen, weniger verzierten Stuhl an Elaidas Seite gefunden. Putzten sich die Grauen immer so zum Essen heraus? An ihrem Hals funkelten Smaragde, und das Kleid in dem gedämpften Grünton war aus kostbarer Seide geschneidert und betonte einen Busen, der bei einer anderen Frau durchschnittlich gewesen wäre, an Meidanis schlankem Körper aber üppig erschien.

Beonin hatte die Grauen Schwestern gewarnt, dass Elaida wusste, dass sie Spione waren. Also warum war Meidani nicht aus der Burg geflohen? Was hielt sie hier?

Nun, wenigstens ergab der entsetzte Gesichtsausdruck der Frau nun einen Sinn. »Meidani«, sagte Elaida und trank aus einem Weinpokal, »Ihr seht heute ausgesprochen blass aus. Habt Ihr nicht genug Sonne abbekommen?«

»Ich habe viel Zeit mit den historischen Aufzeichnungen verbracht, Elaida«, sagte Meidani mit schwankender Stimme. »Habt Ihr das vergessen?«

»Ach ja, stimmt«, sagte Elaida nachdenklich. »Es ist schön, dass wir bald wissen, wie man in der Vergangenheit mit Verrätern umgegangen ist. Das Enthaupten erscheint mir als Bestrafung viel zu einfach. Die, die unsere Burg entzweien, die ihren Treuebruch mit Stolz verkünden, für sie wird man eine ganz besondere Belohnung brauchen. Nun, dann macht mit Eurer Suche weiter.«

Meidani setzte sich und legte die Hände in den Schoß. Jede andere als eine Aes Sedai hätte sich den Schweiß von der Stirn tupfen müssen. Egwene rührte die Terrine um und hielt die Schöpfkelle so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Elaida wusste Bescheid. Sie wusste, dass Meidani eine Spionin war, und trotzdem hatte sie die Frau zum Essen eingeladen. Um mit ihr zu spielen.

»Beeilt Euch, Mädchen«, fauchte Elaida sie an.

Egwene nahm die Terrine, deren Griffe sich warm anfühlten, und trat an den kleinen Tisch. Sie füllte die Suppenteller mit einer braunen Brühe, in der Königinnenkronenpilze schwammen. Sie roch so stark nach Pfeffer, dass jeder andere Geschmack nicht herauszuschmecken sein würde. So viele Nahrungsmittel verdarben, dass die Suppe ohne Gewürze ungenießbar sein würde.

Mechanisch arbeitete sie, wie ein vor einen Karren gespannter Ochse. Sie musste keine Entscheidung treffen, sie musste nicht reagieren. Sie arbeitete einfach. Sie füllte präzise die Suppenteller, dann holte sie den Brotkorb und legte je ein Stück - nicht zu knusprig - auf kleine Porzellanbrotteller. Sie kehrte mit zwei runden Stücken Butter zurück, die mit ein paar Messerschnitten schnell, aber präzise von einem größeren Stück abgeschnitten worden waren. Als Tochter eines Schankwirts hatte man schnell gelernt, Essen auf die angemessene Weise zu servieren.

Die ganze Zeit über kochte sie innerlich. Jeder Schritt war eine Qual, und das nicht nur wegen des noch immer brennenden Hinterns. Dieser körperliche Schmerz erschien nun seltsamerweise völlig unbedeutend. Er war zweitrangig neben der Qual, den Mund zu halten, der Qual, sich davon abzuhalten, diese schreckliche Frau, die so majestätisch und so arrogant dort saß, in die Schranken zu weisen.

Als die beiden Frauen mit der Suppe anfingen - die Getreidekäfer im Brot ignorierten sie demonstrativ -, zog sie sich an die Seite zurück und stand stocksteif da, die Hände vor dem Körper verschränkt. Elaida sah sie an, dann lächelte sie, sah anscheinend ein weiteres Zeichen der Unterwürfigkeit. In Wirklichkeit traute sich Egwene zu keiner Bewegung, denn sie hatte die Befürchtung, dass jede Aktivität damit enden würde, Elaida eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Licht, war das schwer!

»Was erzählt man sich so in der Burg, Meidani?«, fragte Elaida und tauchte ihr Brot in die Suppe.

»Ich ... ich habe nicht viel Zeit, mich zu unterhalten ...«

Elaida beugte sich vor. »Ach, Ihr müsst doch sicherlich etwas wissen. Ihr habt Ohren, und selbst Graue klatschen. Was sagt man über diese Rebellen?«

Meidani wurde noch blasser. »Ich ... ich ...«

»Hm«, sagte Elaida. »Als wir noch Novizinnen waren, da wart Ihr viel schlagfertiger, Meidani. Ihr habt mich in diesen letzten paar Wochen nicht unbedingt beeindruckt. Langsam frage ich mich, warum Euch je die Stola verliehen wurde. Vielleicht hat sie ja nie auf Eure Schultern gehört.«

Meidani riss die Augen weit auf.

Elaida lächelte sie an. »Ach, ich mache nur Spaß, Kind. Esst.«

Sie machte nur Spaß! Scherzte darüber, wie sie einer Frau die Stola gestohlen und sie so sehr gedemütigt hatte, dass sie aus der Weißen Burg floh. Beim Licht! Was war nur mit ihr geschehen? Egwene war der Roten schon zuvor begegnet, und sie war zwar streng erschienen, aber nicht tyrannisch. Macht veränderte die Menschen. In Elaidas Fall hatte es den Anschein, dass die Position des Amyrlin-Sitzes ihr Strenge und Ernst genommen und sie durch unbesonnenes Machtgehabe und Grausamkeit ersetzt hatte.

Meidani schaute auf. »Ich ... ich habe gehört, dass Schwestern ihre Sorge wegen der Seanchaner zum Ausdruck brachten.«

Elaida winkte gleichgültig ab, nahm einen Löffel Suppe. »Pah. Sie sind zu weit weg, um eine Gefahr für uns darzustellen. Ich frage mich, ob sie nicht im Geheimen für den Wiedergeborenen Drachen arbeiten. Wie dem auch sei, ich vermute, dass die Gerüchte über sie größtenteils übertrieben sind.« Elaida sah Egwene an. »Es ist eine Quelle ständiger Erheiterung für mich, dass manche alles glauben, was sie hören.«

Egwene konnte nicht sprechen. Sie hätte nicht einmal stammeln können. Was würde Elaida wohl von diesen »übertriebenen« Gerüchten halten, wenn ihr die Seanchaner ein kaltes A'dam um den dummen Hals legten? Manchmal konnte Egwene den Ring auf der Haut fühlen, wo er juckte und unbeweglich war. Manchmal bereitete es ihr leichte Übelkeit, dass sie sich frei bewegen konnte, als wäre sie tief im Inneren der Ansicht, eingesperrt zu gehören, mit einem einfachen Metallreifen an einen Pfosten gekettet.

Sie wusste, was sie geträumt hatte, dass diese Träume prophetischer Natur waren. Die Seanchaner würden die Weiße Burg angreifen. Elaida hatte ihre Warnungen offensichtlich als Unsinn abgetan.

»Nein«, sagte die falsche Amyrlin und bedeutete Egwene, noch etwas Suppe zu bringen. »Diese Seanchaner sind nicht das Problem. Die wahre Gefahr liegt in dem völlig fehlenden Gehorsam, den die Aes Sedai zeigen. Was muss ich tun, um diese idiotischen Verhandlungen an den Brücken zu beenden? Wie viele Schwestern werden noch Buße tun müssen, bevor sie meine Autorität akzeptieren?« Sie klopfte mit dem Löffel gegen ihren Suppenteller. Am Serviertisch nahm Egwene die Terrine und löste die Kelle von ihrer Silberklammer.

»Ja«, sagte Elaida nachdenklich, »hätten die Schwestern Gehorsam gezeigt, wäre die Burg nicht gespalten. Diese Rebellen hätten gehorcht, statt wie eine Schar aufgescheuchter Hühner die Flucht zu ergreifen. Hätten die Schwestern Gehorsam gezeigt, hätten wir den Wiedergeborenen Drachen in unserer Gewalt, und diese abscheulichen Männer in ihrer Schwarzen Burg wären schon vor langer Zeit erledigt worden. Was meint Ihr, Meidani?«

»Ich ... Gehorsam ist sicherlich wichtig, Elaida.«

Elaida schüttelte den Kopf, während Egwene Suppe auf ihren Teller löffelte. »Das würde doch jeder sagen, Meidani. Ich habe gefragt, was man tun sollte. Glücklicherweise habe ich selbst eine Idee. Findet Ihr es nicht seltsam, dass die Drei Eide in keiner Weise den Gehorsam gegenüber der Weißen Burg erwähnen? Schwestern können nicht lügen, können für Männer keine Waffen herstellen, mit denen sie andere Männer töten, und können die Macht nur in Selbstverteidigung gegen andere anwenden. Diese Eide erschienen mir immer schon zu lasch. Warum keinen Eid, der Amyrlin zu gehorchen? Wäre dieses einfache Versprechen ein Teil von uns allen, wie viel Schmerz und Probleme hätten wir vermeiden können? Vielleicht ist eine Berichtigung nötig.«

Egwene stand still da. Einst hatte sie selbst die Bedeutung der Eide nicht begriffen. Vermutlich hatten viele Novizinnen und Aufgenommene ihren Nutzen infrage gestellt. Aber wie jede Aes Sedai hatte auch sie erlebt, wie wichtig sie waren. Es waren die Drei Eide, die die Aes Sedai erst ausmachten. Sie trieben die Aes Sedai an, das zu tun, was für die Welt am besten war, aber darüber hinaus waren sie ein Schutz vor Anschuldigungen.

Sie zu verändern ... nun, das wäre ein beispielloses Desaster. Elaida hätte das wissen müssen. Die falsche Amyrlin wandte sich wieder ihrer Suppe zu und lächelte schmal, dachte zweifellos über einen vierten Eid nach, der Gehorsam verlangte. Erkannte sie nicht, dass das die Burg selbst unterminieren würde? Es würde die Amyrlin von einer Anführerin in eine Despotin verwandeln!

Die Wut brodelte in Egwene, dampfte wie die Suppe in ihren Händen. Diese Frau, diese ... Kreatur! Sie war der Grund für den Zwist in der Weißen Burg, sie war diejenige, die die Teilung in Rebellen und Loyalisten erst verursacht hatte. Sie hatte Rand gefangen genommen und geprügelt. Sie war eine Katastrophe!

Egwene fühlte, wie sie zitterte. Noch einen Moment, und sie würde platzen und Elaida die Wahrheit entgegenschleudern. Es brodelte in ihr, und sie konnte es kaum unterdrücken.

Nein!, dachte sie. Wenn ich das tue, endet mein Kampf. Ich verliere meinen Krieg.

Also tat sie das Einzige, was ihr einfiel, um sich aufzuhalten. Sie warf die Suppe zu Boden.

Braune Flüssigkeit spritzte über den feinen Teppich aus roten, gelben und grünen Vögeln im Flug. Elaida fluchte, sprang von ihrem Stuhl auf und wich vor der Pfütze zurück. Von der Flüssigkeit war nichts an ihr Kleid gekommen, was schade war. Egwene nahm ganz ruhig ein Tuch vom Tisch und fing an, die Suppe aufzuwischen.

»Ungeschickte Närrin«, fauchte Elaida.

»Es tut mir leid«, sagte Egwene. »Ich wünschte, das wäre nicht passiert.« Und das stimmte. Sie wünschte, nichts von diesem Abend wäre passiert. Sie wünschte, Elaida hätte nicht die Kontrolle; sie wünschte, die Burg hätte sich nie entzweit. Sie wünschte, sie wäre nicht gezwungen gewesen, die Suppe auf den Boden zu verschütten. Aber das war nun einmal geschehen. Also kümmerte sie sich darum, kniete nieder und schrubbte.

»Dieser Teppich ist mehr wert als dein ganzes Dorf, du Wilde!«, stammelte Elaida. »Meidani, helft ihr!«

Die Graue wehrte sich mit keiner Silbe. Sie eilte los und ergriff einen Kübel Eiswasser, der zum Weinkühlen da gewesen war, dann eilte sie zurück, um Egwene zu helfen. Elaida ging zu einer Tür auf der anderen Zimmerseite, um Diener zu rufen.

»Schickt nach mir«, flüsterte Egwene, als sich Meidani neben sie kniete, um zu helfen.

»Was?«

»Schickt nach mir, um mir Unterricht zu geben«, sagte Egwene leise und schaute zu Elaida hinüber, die ihnen den Rücken zuwandte. »Wir müssen reden.«

Eigentlich hatte sie die Spione von Salidar meiden und Beonin als Botin agieren lassen wollen. Aber sie hatte zu viele Fragen. Warum war Meidani nicht aus der Burg geflohen? Was hatten die Spione vor? Waren noch andere von ihnen von Elaida herbeizitiert und so gründlich demoralisiert worden wie Meidani?

Meidani sah in Elaidas Richtung, dann wieder zu Egwene. »Es mag ja manchmal nicht so aussehen, aber ich bin noch immer Aes Sedai, Mädchen. Ihr könnt mir keine Befehle geben.«

»Ich bin Eure Amyrlin, Meidani«, sagte Egwene ruhig und wrang das nasse Tuch über dem Krug aus. »Und Ihr tätet gut daran, das nicht zu vergessen. Es sei denn, Ihr wollt, dass die Drei Eide durch Schwüre ersetzt werden, Elaida für alle Ewigkeit zu dienen.«

Meidani sah sie nur an und zuckte dann bei Elaidas schrillen Rufen nach der Dienerschaft zusammen. Die arme Frau hatte es offensichtlich in letzter Zeit sehr schwer gehabt.

Egwene legte ihr die Hand auf die Schulter. »Elaida kann abgesetzt werden, Meidani. Die Burg wird wieder vereint. Ich werde dafür sorgen, dass es geschieht, aber wir dürfen den Mut nicht verlieren. Schickt nach mir.«

Meidani musterte sie. »Wie ... wie schafft Ihr das? Es heißt, Ihr werdet drei- oder viermal am Tag bestraft, dass Ihr zwischendurch Geheilt werden müsst, damit man Euch weiter schlagen kann. Wie könnt Ihr das ertragen?«

»Ich ertrage es, weil ich es muss«, sagte Egwene und senkte die Hand. »So wie wir alle das tun, was wir tun müssen. Eure Aufgabe, Elaida zu beobachten, ist sehr schwer, wie ich sehe, aber Ihr solltet wissen, dass Eure Arbeit geschätzt wird.«

Sie wusste nicht, ob man Meidani wirklich geschickt hatte, um Elaida auszuspionieren, aber es war immer besser, wenn eine Frau glauben konnte, dass ihr Leiden für eine gute Sache war. Es schienen die richtigen Worte gewesen zu sein, denn Meidani hob den Kopf, fasste Mut und nickte. »Danke.«

Elaida kehrte zurück, drei Diener im Schlepptau.

»Schickt nach mir«, befahl Egwene noch einmal, dieses Mal flüsternd. »Ich bin eine der wenigen in der Burg, die einen guten Vorwand hat, sich zwischen den verschiedenen Ajah-Quartieren zu bewegen. Ich kann helfen, das zu heilen, was zerbrochen wurde, aber ich werde Eure Hilfe brauchen.«

Meidani zögerte, dann nickte sie. »Also gut.«

»Ihr da!«, keifte Elaida und baute sich vor Egwene auf. »Raus! Ich will, dass Ihr Silviana sagt, dass sie Euch prügelt, wie sie noch nie zuvor eine Frau geprügelt hat! Ich will, dass sie Euch bestraft, Euch dann auf der Stelle Heilt und Euch wieder schlägt! Geht!«

Egwene stand auf und gab ihr Tuch einem der Diener. Dann ging sie zur Tür.

»Und glaubt ja nicht, dass Euch Eure Ungeschicklichkeit von Euren Pflichten entbindet«, fuhr Elaida hinter ihr fort. »Ihr werdet zurückkehren und mich an einem anderen Tag bedienen. Und solltet Ihr dann auch nur einen Tropfen verschütten, lasse ich Euch eine Woche lang in eine Zelle ohne Fenster oder Licht sperren. Habt Ihr das verstanden?«

Egwene verließ den Raum. War diese Frau je eine wahre Aes Sedai gewesen, die ihre Gefühle unter Kontrolle hatte?

Allerdings hatte auch sie die Kontrolle über ihre Gefühle verloren. Sie hätte nie zulassen dürfen, an einen Punkt zu kommen, wo sie gezwungen war, die Suppe fallen zu lassen. Sie hatte unterschätzt, wie wütend einen Elaida machen konnte, aber das würde nicht noch einmal geschehen. Sie beruhigte sich, atmete ein und aus. Zorn half ihr nicht. Man wurde nicht wütend auf das Wiesel, das sich auf den Hof schlich und die Hennen fraß. Man legte einfach eine Falle aus und entledigte sich des Tiers. Wut war sinnlos.

Mit noch immer nach Pfeffer und anderen Gewürzen riechenden Händen begab sie sich auf die unterste Ebene der Burg, zum Speisesaal der Novizinnen neben der Hauptküche. Während der vergangenen neun Tage hatte sie hier oft gearbeitet; von jeder Novizin wurde verlangt, schmutzige Arbeit zu tun. Die Gerüche dieses Ortes - Holzkohle und Rauch, brodelnde Suppen und scharfe, unparfümierte Seife - waren ihr sehr vertraut. Eigentlich unterschieden sie sich gar nicht so sehr von der Küche im Gasthaus ihres Vaters daheim in den Zwei Flüssen.

Der weiß gestrichene Raum war leer, niemand saß an den Tischen, aber auf einem stand ein kleines Tablett, das mit einem Topfdeckel abgedeckt war, um es warm zu halten. Ihr Kissen war auch da, von den Novizinnen zurückgelassen, um die harte Bank weicher zu machen. Egwene ignorierte das Kissen, wie sie es immer tat, obwohl sie dankbar für die Geste war. Sie setzte sich und hob den Deckel von der Mahlzeit. Leider stand da nur eine Schüssel mit der gleichen braunen Suppe. Da war keine Spur von dem Braten, der Sauce oder den langen dünnen gebutterten Bohnen, die den Rest von Elaidas Mahlzeit gebildet hatten.

Aber es war etwas zu essen, und Egwenes Magen war dankbar dafür. Elaida hatte ihr nicht befohlen, augenblicklich zu ihrer Bestrafung zu gehen, also hatte Silvianas Befehl, zuerst zu essen, Vorrang. Oder zumindest konnte man es so darstellen, um sich zu schützen.

Sie aß leise und allein. Die Suppe war in der Tat sehr gewürzt und schmeckte genauso nach Pfeffer, wie sie gerochen hatte, aber das war egal. Davon abgesehen war sie eigentlich ganz gut. Man hatte ihr auch ein paar Stücke Brot gelassen, wenn auch vom Laibende. Alles in allem keine schlechte Mahlzeit für jemanden, der geglaubt hatte, gar nichts zu bekommen.

Nachdenklich aß sie, hörte zu, wie Laras und das Küchenpersonal im Nebenraum die Töpfe schrubbte, und war überrascht, wie ruhig sie war. Sie hatte sich verändert; etwas war anders an ihr. Elaida zu beobachten und endlich die Frau zu konfrontieren, die die ganzen Monate ihre Rivalin gewesen war, hatte sie gezwungen, ihre Handlungen in einem neuen Licht zu betrachten.

Sie hatte geglaubt, Elaida unterminieren und von innen heraus die Kontrolle über die Weiße Burg übernehmen zu können. Jetzt erkannte sie, dass sie Elaidas Autorität gar nicht untergraben musste. Die Frau erledigte das mühelos selbst. Egwene konnte sich gut die Reaktion der Sitzenden und der Anführerinnen der Ajahs vorstellen, wenn Elaida ihre Absicht verkündete, die Drei Eide zu verändern!

Elaida würde irgendwann stürzen, mit oder ohne ihre Hilfe. Als Amyrlin bestand Egwenes Pflicht nicht darin, diesen Sturz zu beschleunigen - sondern alles in ihrer Macht Stehende zu tun, die Burg und ihre Bewohner zusammenzuhalten. Sie konnten es sich nicht leisten, sich noch weiter zu entzweien. Es war Egwenes Pflicht, das Chaos und die Zerstörung aufzuhalten, das sie alle bedrohte, die Burg neu zu schmieden. Als sie mit ihrer Suppe fertig war und das letzte Stück Brot dazu benutzte, den Rest aus der Schüssel zu wischen, begriff sie, dass sie tun musste, was auch immer sie tun konnte, um für die Schwestern in der Burg ein starker Halt zu sein. Die Zeit wurde sehr knapp. Was tat Rand der Welt ohne Führung an? Wann würden die Seanchaner im Norden angreifen? Sie würden sich einen Weg durch Andor bahnen müssen, um nach Tar Valon zu gelangen, und welche Zerstörung würde das anrichten? Sicherlich blieb ihr etwas Zeit, um die Burg wieder zu einer Einheit zu schmieden, aber es galt keinen Augenblick zu verschwenden.

Sie brachte ihr Geschirr in die Küche und wusch es selbst ab, was ihr ein zufriedenes Nicken von der stämmigen Herrin der Küchen einbrachte. Danach ging sie hinauf zu Silvianas Arbeitszimmer. Sie musste ihre Bestrafung schnell hinter sich bringen; sie hatte noch immer vor, Leane wie jeden Abend einen Besuch abzustatten. Sie klopfte und trat ein. Silviana saß an ihrem Schreibtisch, blätterte im Licht zweiter Silberlampen in einem dicken Buch. Als Egwene eintrat, markierte sie die Seite mit einem roten Stück Stoff, dann klappte sie das Buch zu. Auf dem abgenutzten Einband stand Meditationen über die flackernde Flamme, eine Geschichte über den Aufstieg verschiedener Amyrlin. Seltsam.

Egwene setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch - ohne durch den plötzlichen scharfen Schmerz von ihrem Hintern zusammenzuzucken - und berichtete ruhig von dem Abend, unterschlug die Tatsache, dass sie die Suppe absichtlich hatte fallen lassen. Allerdings erzählte sie, dass sie sie hatte fallen lassen, nachdem Elaida davon gesprochen hatte, die Drei Eide zu verändern.

Silviana sah sehr nachdenklich aus, als sie das hörte.

»Nun«, sagte sie dann, stand auf und holte ihren Riemen, »die Amyrlin hat gesprochen.«

»Ja, das habe ich«, erwiderte Egwene, stand auf und nahm die Position über dem Tisch ein, hob Röcke und Unterrock für die Prügelstrafe hoch.

Silviana zögerte, dann begann die Bestrafung. Seltsamerweise verspürte Egwene keinerlei Bedürfnis zu schreien. Natürlich schmerzte es, aber sie konnte einfach nicht schreien. Wie lächerlich diese Bestrafung doch war!

Sie erinnerte sich, wie es sie geschmerzt hatte, die Schwestern im Korridor aneinander vorbeigehen zu sehen, wie sie sich mit Furcht und Misstrauen ansahen. Sie erinnerte sich an die Qual, Elaida bedienen zu müssen und nichts sagen zu dürfen. Und sie erinnerte sich an das Entsetzen bei der Vorstellung, dass jeder in der Burg durch einen Eid daran gebunden war, einer solchen Tyrannin zu gehorchen.

Sie erinnerte sich an ihr Mitleid für die arme Meidani. Keine Schwester sollte auf diese Weise behandelt werden. Gefangenschaft war eine Sache. Aber eine Frau zu demoralisieren, mit ihr zu spielen, die kommende Folter anzudeuten? Das war unerträglich.

Jedes dieser Dinge schmerzte Egwene, wie ein Messer in ihrer Brust, das das Herz durchbohrte. Als die Prügel weitergingen, begriff sie, dass man ihrem Körper nichts antun konnte, das sich je mit der Pein ihrer Seele vergleichen ließ, die sie erlitten hatte, als sie sah, wie die Weiße Burg unter Elaidas Herrschaft litt. Verglichen mit diesen inneren Qualen waren die Prügel lächerlich.

Also fing sie an zu lachen.

Es war kein gezwungenes Lachen. Es war kein trotziges Lachen. Es war ein ungläubiges Lachen. Wie konnte man auf die Idee kommen, dass sie zu schlagen etwas ändern würde? Es war lächerlich.

Die Schläge hörten auf. Egwene drehte sich um. Sicherlich konnte das noch nicht alles sein.

Silviana sah sie besorgt an. »Kind? Was ist mit Euch?«

»Mir geht es gut.«

»Seid ... Ihr sicher? Wie sind Eure Gedanken?«

Sie glaubt, ich bin unter dem Druck zusammengebrochen, begriff Egwene. Sie schlägt mich, und ich lache.

»Meinen Gedanken geht es gut«, sagte sie. »Ich lache nicht, weil man mich gebrochen hat, Silviana. Ich lache, weil es absurd ist, mich zu schlagen.«

Die Miene der Frau verfinsterte sich.

»Seht Ihr das denn nicht?«, fragte Egwene. »Fühlt Ihr den Schmerz nicht? Die Qual, zusehen zu müssen, wie die Burg um Euch herum zerbricht? Könnte eine Prügelstrafe denn damit mithalten?«

Silviana erwiderte nichts.

Ich verstehe. Ich hatte nicht begriffen, was die Aiel begriffen haben. Ich bin immer von der Annahme ausgegangen, dass ich härter sein muss, und dass mich das lehren würde, über die Schmerzen zu lachen. Aber es geht gar nicht um Härte. Es ist nicht die Kraft, die mich lachen lässt. Es ist die Erkenntnis.

Zuzulassen, dass die Burg vernichtet wurde, dass die Aes Sedai versagten - dieser Schmerz würde sie vernichten. Das musste sie verhindern, denn sie war der Amyrlin-Sitz.

»Ich kann mich nicht weigern, Euch zu bestrafen«, sagte Silviana. »Das versteht Ihr doch.«

»Natürlich«, antwortete Egwene. »Aber bitte helft mir auf die Sprünge. Was habt Ihr noch einmal über Shemerin gesagt? Warum konnte ihr Elaida ohne Widerstand die Stola nehmen?«

»Weil Shemerin es akzeptierte«, erwiderte Silviana. »Sie hat sich so verhalten, als hätte sie wirklich die Stola verloren. Sie hat sich nicht gewehrt.«

»Ich werde nicht den gleichen Fehler machen, Silviana. Elaida kann sagen, was sie will. Aber das ändert nicht das, was ich bin, oder was jede von uns ist. Selbst wenn sie versucht, die Drei Eide zu verändern, wird es welche geben, die Widerstand leisten, die an dem festhalten, was richtig ist. Und darum schlagt Ihr, wenn Ihr mich schlagt, den Amyrlin-Sitz. Und das sollte amüsant genug sein, um uns beide lachen zu lassen.«

Die Bestrafung ging weiter, und Egwene umarmte den Schmerz, nahm ihn in sich auf und schätzte ihn als unbedeutend ein, wartete schon ungeduldig darauf, dass die Strafe ihr Ende fand.

Auf sie wartete viel Arbeit.

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