44 Unbekannte Gerüche

Der Tarwin-Pass ist der Ort, der am meisten Sinn macht!«, sagte Nynaeve. Begleitet von einer Gruppe Aiel ritten sie und Rand auf einer überwucherten Straße auf dem offenen Grasland von Maredo. Nynaeve war die einzige anwesende Aes Sedai; Narishma und Naeff ritten mit mürrischem Gesichtsausdruck am Ende der Gruppe. Rand hatte ihre Aes Sedai gezwungen zurückzubleiben. In letzter Zeit schien er besonders entschlossen, seine Unabhängigkeit von ihnen unter Beweis zu stellen.

Nynaeve saß auf einer weißen Stute namens Mondlicht, die aus Rands Stall in Tear stammte. Irgendwie erschien es immer noch seltsam, dass er einen eigenen Stall besaß, ganz zu schweigen von denen in jeder wichtigen Stadt der Welt.

»Der Tarwin-Pass«, sagte Rand und schüttelte den Kopf. »Nein. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss, dass wir dort nicht kämpfen wollen. Lan tut mir einen Gefallen. Wenn ich einen Angriff zusammen mit seinem koordinieren kann, verschaffe ich mir einen großen Vorteil. Aber ich will meine Heere nicht vom Pass ablenken lassen. Das wäre eine Verschwendung von Ressourcen.«

Eine Verschwendung von Ressourcen? Lan ritt zum Pass, wie ein von einem Langbogen der Zwei Flüsse abgeschossener Pfeil. Ritt dorthin, um zu sterben! Und Rand behauptete, jede Hilfe sei eine Verschwendung? Wollköpfiger Narr!

Sie zwang sich zur Ruhe. Wenn er doch bloß debattieren würde, statt auf diese unbeteiligte Weise zu sprechen, die er sich seit kurzem zu eigen gemacht hatte. Es schien so gefühllos zu sein, aber sie hatte erlebt, wie sich die Bestie befreite und sie anbrüllte. Geduckt lauerte sie in ihm, und wenn er seinen Gefühlen nicht bald freien Lauf ließ, würden sie ihn innerlich verschlingen.

Aber wie sollte man ihn dazu bringen, Vernunft anzunehmen? Während ihrer Zeit in Tear hatte sie ein Argument nach dem anderen vorbereitet - ein jedes davon klar entwickelt und in aller Ruhe dargelegt. Rand hatte sie alle ignoriert und die letzten beiden Tage damit verbracht, sich mit seinen Generälen zu treffen und die Strategie für die Letzte Schlacht zu planen.

Jeder Tag brachte Lan einen Schritt näher zu einem Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Jeder Tag machte sie unruhiger; schon mehrere Male hätte sie Rand beinahe verlassen, um nach Norden zu reiten. Wenn Lan in einer unmöglich zu gewinnenden Schlacht kämpfen würde, dann sehnte sie sich danach, an seiner Seite zu sein. Aber sie war geblieben. Sollte das Licht Rand al’Thor holen, sie war geblieben. Was würde es bringen, Lan zu helfen, nur um die Welt wegen der sturen … Sturheit eines sturen Schafhirten dem Schatten zu überlassen?

Sie riss heftig an ihrem Zopf. Die mit Edelsteinen besetzten Armreifen und Ringe an ihren Händen funkelten im schwachen Sonnenlicht - natürlich war der Himmel bewölkt, so wie schon seit Wochen. Alle versuchten zu ignorieren, wie unnatürlich das war, aber Nynaeve fühlte noch immer, wie sich im Norden der Sturm bildete.

Es war nur noch so wenig Zeit übrig, bis Lan den Pass erreichte! Hoffentlich sorgte das Licht dafür, dass ihn die Malkieri aufhielten, die sich ihm bei seinem Ritt angeschlossen hatten. Hoffentlich sorgte das Licht dafür, dass er nicht allein war. Der Gedanke, wie er in die Fäule ritt und sich dem Heer aus Schattengezücht stellte, das seine Heimat verseuchte …

»Wir müssen dort angreifen«, sagte Nynaeve. »Ituralde sagt, dass es in der Fäule nur so vor Trollocs wimmelt. Der Dunkle König sammelt seine Streitkräfte. Jede Wette, dass der größte Haufen von ihnen am Pass sein wird, der am leichtesten zu passieren ist, um gegen Andor und Cairhien loszuschlagen!«

»Und genau das ist der Grund, warum wir den Pass nicht angreifen werden, Nynaeve«, sagte Rand mit kalter und unbewegter Stimme. »Wir können nicht zulassen, dass der Feind uns das Schlachtfeld vorschreibt. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist, dort kämpfen zu müssen, wo sie uns haben wollen oder uns erwarten.« Er schaute nach Norden. »Ja, sollen sie sich versammeln. Sie suchen mich, und ich werde mich nicht vor sie hinstellen. Warum am Tarwin-Pass kämpfen? Es ist viel sinnvoller, den größten Teil unserer Heere direkt zum Shayol Ghul zu bringen.«

»Rand«, sagte sie und bemühte sich, vernünftig zu klingen. Bemerkte er denn nicht, dass sie vernünftig war? »Lan hat unmöglich genug Streitkräfte um sich scharen können, um einen massiven Angriff der Trollocs zurückschlagen zu können, vor allem nicht, weil die meisten Armeen der Grenzländer hier unten das Licht weiß was tun. Er wird niedergetrampelt werden, und die Trollocs werden kommen und über das Land herfallen!«

Bei der Erwähnung der Grenzländer spannte sich Rands Miene an; sie waren auf dem Weg zu einem Treffen mit einem ihrer Boten. »Die Trollocs werden kommen«, wiederholte Rand.

»Ja!«

»Gut«, sagte Rand. »Dann werden sie ja beschäftigt sein, während ich tue, was getan werden muss.«

»Und Lan?«

»Sein Angriff erfolgt an einer guten Stelle.« Rand nickte. »Er wird die Aufmerksamkeit meiner Feinde auf Malkier und den Pass lenken, und sie werden glauben, dass ich dort bin. Schattengezücht kann keine Wegetore benützen, also können sie sich nicht so schnell bewegen wie ich. Wenn sie mit Lan zusammengestoßen sind, werde ich an ihnen vorbei sein und auf direktem Weg das Herz des Dunklen Königs angreifen.

Ich habe nicht vor, den Süden aufzugeben, nicht im Mindesten. Wenn die Trollocs sich durch den Pass gekämpft haben, werden sie sich zu Gruppen formieren, um sich im Land auszubreiten. Dann schlagen meine Streitkräfte zu, angeführt von Bashere. Mit Wegetoren werden sie jede Gruppe Trollocs von den Seiten oder in ihrem Rücken angreifen. Auf diese Weise können wir das für uns beste Schlachtfeld wählen.«

»Rand«, sagte Nynaeve, und aus ihrem Zorn wurde Entsetzen. »Lan wird sterben!«

»Wer bin ich, um ihm das verwehren zu wollen?«, erwiderte Rand. »Wir alle verdienen die Chance, Frieden zu finden. «

Nynaeve sah ihn nur mit offen stehendem Mund an. Er glaubte das tatsächlich! Oder zumindest überzeugte er sich selbst davon, das zu glauben.

»Es ist meine Pflicht, den Dunklen König zu töten«, sagte Rand, als würde er mit sich selbst sprechen. »Ich töte ihn, dann sterbe ich. Das ist alles.«

»Aber …«

»Es reicht, Nynaeve«, sagte er leise in diesem gefährlichen Tonfall. Er würde sich nicht weiter bedrängen lassen.

Vor Wut kochend setzte sich Nynaeve im Sattel zurück und versuchte sich zu entscheiden, wie sie ihn zu dem Thema zwingen konnte. Beim Licht! Er würde die Menschen der Grenzlande bei der Invasion der Trollocs leiden und sterben lassen? Den Menschen dort würde es egal sein, ob der Dunkle König besiegt worden war - sie würden in Kochtöpfen schmoren. Dann würden Lan und die Malkieri allein kämpfen müssen, eine winzige Truppe gegen die Macht eines jeden Ungeheuers, das die Fäule ausspucken konnte.

Die Seanchaner würden im Süden und Westen ihren Krieg führen. Die Trollocs würden im Norden und Osten angreifen. Schließlich würden diese beiden Parteien aufeinandertreffen. Andor und die anderen Königreiche würden zu einem gewaltigen Schlachtfeld, und die dort lebenden Menschen - gute Menschen wie die in den Zwei Flüssen - würden gegen einen solchen Krieg keine Chance haben. Man würde sie zermalmen.

Also was konnte sie tun, um das zu verhindern? Sie musste sich eine neue Strategie einfallen lassen, um Rand zu beeinflussen. In ihrem Herzen war alles darauf ausgerichtet, Lan zu beschützen. Sie musste ihm Hilfe besorgen!


Die Gruppe ritt über das offene Grasland, auf dem es vereinzelte Bauernhöfe gab. Sie passierten einen davon zu ihrer Rechten, ein einzelner Hof nicht unähnlich von vielen in den Zwei Flüssen. Allerdings hatte Nynaeve in den Zwei Flüssen noch nie einen Bauern gesehen, der Reisende mit so offensichtlicher Feindseligkeit beobachtete. Der rothaarige Mann trug schmutzige Hosen und hatte die Ärmel beinah bis zu den Achseln aufgerollt; er stützte sich auf einen zur Hälfte fertig gestellten Zaun, und seine Axt lag deutlich sichtbar auf dem aufgeschichteten Holzstapel neben ihm.

Sein Feld hatte schon bessere Jahre gesehen. Der Boden war ordentlich gepflügt worden, aber in den Furchen sprossen lediglich winzige Keimlinge. Das Feld war übersät mit leeren Stellen, an denen die Saat unerklärlicherweise nicht aufgegangen war, und das, was wuchs, wies einen ungesunden gelben Schimmer auf.

Auf einem Nachbarfeld zog eine Gruppe junger Männer einen Baumstumpf aus dem Boden, aber Nynaeves geübtem Auge entging nicht, dass sie überhaupt nicht versuchten, die Arbeit zu erledigen. Das Geschirr war nicht an den Ochsen angeschirrt, und sie hatten den Stumpf auch nicht gelockert, indem sie die Erde umgegraben hatten. Die Holzstangen im Gras waren zu dick und aufwendig bearbeitet, um als Werkzeugstiele zu dienen. Kampfstäbe. Beinahe schon eine amüsante Zurschaustellung - zog man die Tatsache in Betracht, dass Rand von zweihundert Aiel begleitet wurde -, aber es sagte etwas aus. Diese Männer erwarteten Ärger und bereiteten sich darauf vor. Zweifellos spürten auch sie den kommenden Sturm.

Diese Gegend lag in der Nähe von Handelsstraßen und in Reichweite von Tear, und sie war einigermaßen sicher vor Banditen. Sie lag auch gerade weit genug im Norden, um nicht in die Streitigkeiten zwischen Illian und Tear hineingezogen zu werden. Das hätte ein Ort sein sollen, an dem Bauern kein gutes Holz zu Kampfstäben hätten verarbeiten oder Fremde mit Blicken beobachten müssen, die jederzeit mit einem Angriff rechneten.

Diese Vorsicht würde ihnen nutzen, wenn die Trollocs sie erreichten - immer natürlich unter der Voraussetzung, dass sie die Seanchaner bis dahin nicht unterworfen hatten und sie zum Militärdienst zwangen. Nynaeve zog wieder an ihrem Zopf.

Ihre Gedanken wandten sich wieder Lan zu. Sie musste etwas unternehmen! Aber Rand nahm einfach keine Vernunft an. Damit blieb nur noch Cadsuanes geheimnisvoller Plan. Wie albern von der Frau, ihn nicht erklären zu wollen. Nynaeve hatte den ersten Schritt gemacht und ein Bündnis angeboten, und wie hatte sie reagiert? Natürlich mit dreister Arroganz. Als wäre Nynaeve ein Kind gewesen, das sich im Wald verirrt hatte - so hatte sie sie in ihre kleine Gruppe aus Aes Sedai aufgenommen. Wie konnte sie es wagen!

Wie sollte ihre Aufgabe - Perrins Aufenthaltsort zu entdecken - Lan nur helfen? Die ganze vergangene Woche hatte sie versucht, aus Cadsuane weitere Informationen herauszubekommen und war gescheitert. »Erledigt diese Aufgabe gut, Kind«, hatte Cadsuane gesagt, »vielleicht übertragen wir Euch dann in Zukunft eine größere Verantwortung. Ihr habt Euch immer wieder als ausgesprochen eigensinnig erwiesen, und so etwas können wir nicht gebrauchen.«

Nynaeve seufzte. Herausfinden, wo Perrin steckte. Wie sollte sie das schaffen? Die Leute von den Zwei Flüssen waren wenig hilfreich gewesen. Viele ihrer Männer reisten mit Perrin, aber man hatte schon lange nichts mehr von ihnen gehört. Sie waren irgendwo im Süden, vermutlich Altara oder Ghealdan. Aber das war ein großes Gebiet für eine Suche.

Sie hätte wissen müssen, dass in den Zwei Flüssen keine einfache Antwort zu finden sein würde. Offensichtlich hatte Cadsuane bereits selbst versucht, Perrin zu erreichen, und war dabei gescheitert. Darum hatte sie die Aufgabe an Nynaeve weitergereicht. Hatte Rand Perrin auf irgendeine geheime Mission geschickt?

» Rand?«, sagte sie.

Er murmelte etwas vor sich hin.

Sie fröstelte. »Rand«, wiederholte sie in einem etwas schärferen Tonfall.

Er hörte auf zu murmeln, dann sah er sie an. Sie glaubte in seinen Augen die dort verborgene Wut sehen zu können, die Wut tief in seinem Inneren, aufblitzender Zorn über ihre Unterbrechung. »Ja?«

»Weißt du … weißt du, wo Perrin ist?«

»Er hat Aufgaben, die er erledigt«, sagte Rand und wandte sich wieder ab. »Warum willst du das wissen?«

Es war besser, Cadsuane nicht zu erwähnen. »Ich mache mir noch immer Sorgen um ihn. Und um Mat.«

»Ah«, sagte Rand. »Du bist es wirklich nicht gewöhnt zu lügen, oder, Nynaeve?«

Sie fühlte, wie sie verlegen errötete. Wann hatte er gelernt, Menschen so gut zu durchschauen? »Ich mache mir um ihn Sorgen, Rand al’Thor!«, beharrte sie. »Er ist von friedlicher, bescheidener Natur - und hat sich stets viel zu sehr von seinen Freunden herumschubsen lassen.«

So! Sollte er da mal drüber nachdenken.

»Bescheiden«, sagte Rand nachdenklich. »Ja, ich schätze, das ist er immer noch. Aber friedlich? Perrin ist nicht länger … friedlich.«

Also hatte er in letzter Zeit Kontakt mit Perrin gehabt. Beim Licht! Wie hatte Cadsuane das nur wissen können, und wieso hatte sie selbst davon nichts mitbekommen? »Rand, wenn du Perrin etwas für dich erledigen lässt, warum hast du das dann geheim gehalten? Ich verdiene doch wohl…«

»Ich habe mich nicht mit ihm getroffen, Nynaeve«, sagte Rand. »Beruhige dich. Das sind einfach Dinge, die ich weiß. Wir sind miteinander verbunden, Perrin, ich und Mat.«

» Wie? Was hast du …«

»Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe«, unterbrach er sie mit leisen Worten.

Wieder biss Nynaeve die Zähne zusammen. Die anderen Aes Sedai sprachen immer davon, ihre Gefühle unter Kontrolle zu haben, aber offensichtlich mussten sie sich auch nicht mit Rand al’Thor abgeben. Nynaeve konnte auch ruhig sein, solange man nicht von ihr erwartete, den stursten Narren von Mann zu leiten, der je ein Paar Stiefel angezogen hatte.

Eine Weile ritten sie schweigend. Der bewölkte Himmel hing wie ein fernes Stück Torf über ihnen. Der Treffpunkt mit den Grenzländern war eine in der Nähe befindliche Kreuzung. Sie hätten auch direkt dorthin Reisen können, aber die Töchter hatten Rand abgerungen, ein kurzes Stück davor anzukommen und sich ihr vorsichtig zu nähern. Das Schnelle Reisen war außerordentlich bequem, aber es konnte auch gefährlich sein. Wenn deine Feinde wussten, wo du erscheinen würdest, konnte man ein Wegetor öffnen und sich plötzlich einer Reihe Bogenschützen gegenübersehen. Selbst vorher Späher durch das Tor zu schicken war nicht so sicher, als an eine Stelle zu Reisen, an der einen niemand erwartete.

Die Aiel lernten und passten sich schnell an. Das war wirklich überraschend. Die Wüste war schrecklich eintönig; jeder Teil sah gleich aus. Natürlich hatte Nynaeve ein paar Aiel etwas Ähnliches über die Feuchtlande sagen hören.

Diese besondere Kreuzung war schon seit Jahren nicht mehr von Bedeutung. Wäre Verin oder eine andere der Braunen Schwestern da gewesen, hätten sie bestimmt erklären können, warum das so war. Nynaeve wusste bloß, dass das Königreich, zu dem dieses Land einst gehört hatte, vor langer Zeit untergegangen war, und die unabhängige Stadt Far Madding war das einzige Überbleibsel davon. Das Rad der Zeit drehte sich. Die meisten prächtigen Königreiche stürzten irgendwann und verwandelten sich in Felder, die dann nur noch von Bauern beherrscht wurden, deren einziges Trachten darin bestand, eine besonders gute Gerstenart zu züchten. So war es Manetheren ergangen, und es war auch hier passiert. Große Straßen, auf denen einst Legionen marschiert waren, waren nur noch obskure Landstraßen, die einer dringenden Instandsetzung bedurft hätten.

Nynaeve ließ Mondlicht zurückfallen. Das brachte sie an Narhismas Seite. Wie die meisten Asha’man trug auch er Schwarz, und an seinem Kragen funkelten Schwert und Drachen. Er hatte sich verändert, seit er vor Monaten einen Behüterbund eingegangen war. Wenn sie ihn ansah, war da kein Junge mehr. Das hier war ein Mann mit der Anmut eines Soldaten und dem aufmerksamen Blick eines Behüters. Ein Mann, der den Tod gesehen und gegen Verlorene gekämpft hatte.

»Narishma, Ihr seid doch ein Grenzländer«, sagte Nynaeve. »Habt Ihr irgendeine Ahnung, warum die anderen ihre Posten verlassen haben?«

Er schüttelte den Kopf und musterte die Landschaft. »Ich war der Sohn eines Schuhmachers, Nynaeve Sedai. In den Beweggründen von Lords und Ladys kenne ich mich nicht aus.« Er zögerte. »Außerdem bin ich kein Grenzländer mehr.« Die Bedeutung war klar. Er würde Rand beschützen, ganz egal, welche anderen Loyalitäten an ihm zerrten. Die typische Denkweise eines Behüters.

Nynaeve nickte langsam. »Habt Ihr eine Ahnung, was uns erwarten wird?«

»Sie werden ihr Wort halten«, erwiderte Narishma. »Ein Grenzländer würde eher sterben, als sein Wort brechen. Sie haben versprochen, eine Delegation zu schicken, die sich mit dem Wiedergeborenen Drachen trifft. Das werden sie auch tun. Aber ich wünschte, wir hätten unsere Aes Sedai mitbringen dürfen.«

Berichten zufolge verfügte das Heer der Grenzländer über dreizehn Aes Sedai. Eine gefährliche Zahl: die nötige Anzahl, um eine Frau oder einen Mann zu dämpfen. Dreizehn Frauen in einem Zirkel konnten auch den stärksten Machtlenker von der Quelle abschneiden. Rand hatte darauf bestanden, dass ihre Delegation nicht mehr als von vier dieser dreizehn Aes Sedai begleitet wurde; im Gegenzug hatte er versprochen, ebenfalls nicht mehr als vier Machtlenker mitzubringen. Zwei Asha’man - Narishma und Naeff - sowie Nynaeve und Rand selbst.

Merise und die anderen hatten auf typische Aes Sedai-Weise getobt - als Rand ihnen verboten hatte, ihn zu begleiten, hatte es also viele nach unten gezogene Lippen und Fragen wie » Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt?« gegeben.

Nynaeve bemerkte Narishmas Anspannung. »Ihr macht nicht den Eindruck, als würdet Ihr ihnen vertrauen.«

»Ein Grenzländer sollte die Grenze bewachen, da ist sein Platz«, sagte Narishma. »Ich war der Sohn eines Schuhmachers, und selbst mich hat man an Schwert, Speer, Bogen, Axt und Schleuder ausgebildet. Schon bevor ich zu den Asha’man ging, konnte ich vier oder fünf ausgebildete Soldaten des Südens im Duell schlagen. Unser Leben ist die Verteidigung. Und doch sind sie gegangen. Ausgerechnet jetzt, mit dreizehn Aes Sedai.« Er musterte sie mit seinen dunklen Augen. »Ich will ihnen vertrauen. Ich weiß, dass es gute Menschen sind. Aber auch gute Menschen können das Falsche tun. Vor allem, wenn Leute im Spiel sind, die die Macht lenken können.«

Nynaeve schwieg. Narishma hatte da nicht unrecht, aber welchen Grund sollten die Grenzländer haben, Rand zu schaden? Seit Jahrhunderten kämpften sie gegen das Näherrücken der Großen Fäule und ihres Schattengezüchts, und der Kampf gegen den Dunklen König war in ihre Seelen eingeprägt. Sie würden sich nicht gegen den Wiedergeborenen Drachen wenden.

Grenzländer hatten eine besondere Ehre an sich. Das konnte frustrierend sein, sicher, aber so waren sie nun einmal. Lans Verehrung für seine Heimat - vor allem, da so viele andere Malkieri ihre Identität abgestreift hatten - war mit ein Grund, warum sie ihn liebte. Oh, Lan. Ich finde jemanden, der dir hilft. Ich werde dich nicht allein in den Rachen des Schattens reiten lassen.

Als sie sich einem kleinen grünen Hügel näherten, kehrten mehrere Aiel von ihrem Spähtrupp zurück. Rand ließ die Gruppe anhalten und wartete, dass die in den Cadin ‘sorgekleideten Späher ihn erreichten. Mehrere von ihnen trugen die roten Stirnbänder mit dem uralten Symbol der Aes Sedai. Die Späher waren nicht außer Atem, obwohl sie den ganzen Weg zum Treffpunkt und wieder zurück gelaufen waren.

Rand beugte sich auf seinem Sattel vor. »Haben sie getan, worum ich bat? Haben sie nicht mehr als zweihundert Männer und nicht mehr als vier Aes Sedai mitgebracht?«

»Ja, Rand al’Thor«, sagte einer der Späher. »Ja, sie haben Eure Forderungen auf bewundernswerte Weise erfüllt. Sie haben große Ehre.«

Im Tonfall des Mannes erkannte Nynaeve den seltsamen Aiel-Humor.

»Was?«, fragte Rand.

»Ein Mann, Rand al’Thor«, sagte der Aiel. »Das ist ihre ganze ›Delegation‹. Er ist ein kleiner Wicht von einem Mann, auch wenn er aussieht, als wüsste er, wie man den Tanz der Speere tanzen muss. Die Kreuzung ist hinter diesem Hügel.«

Nynaeve schaute in die Richtung. Da sie jetzt wusste, worauf sie zu achten hatte, konnte sie in der Tat eine andere Straße sehen, die aus dem Süden kam und ihre vermutlich direkt hinter dem Hügel kreuzte.

»Was für eine Falle soll das sein?«, fragte Naeff und ritt an Rands Seite. Sein schmales Kriegergesicht zeigte Besorgnis. »Ein Hinterhalt?«

Rand hielt die Hand hoch, damit alle ruhig waren. Er trieb sein Pferd an, und die Späher hielten ohne ein Wort der Klage mit. Beinahe wäre Nynaeve hinter ihnen zurückgeblieben; Mondlicht war ein viel friedlicheres Tier, als sie selbst gewählt hätte. Nach ihrer Rückkehr nach Tear würde sie ein ernstes Wort mit dem Stallmeister wechseln müssen.

Sie umrundeten den Hügel und fanden einen staubigen Platz, der von alten Feuergruben vernarbt war, wo Karawanen ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Eine kleinere Straße als die, die sie benutzt hatten, wand sich nach Norden und nach Süden. In der Mitte, wo sich die Straßen kreuzten, stand ein einsamer Schienarer und beobachtete die herankommende Prozession. Sein schulterlanges graues Haar fiel lose um ein hageres Gesicht, das zu seiner drahtigen Statur passte. Seine Züge wiesen die Zeichen des Alters auf; seine Augen waren klein, und er schien sie zusammenkneifen zu müssen.

Hurin?, dachte Nynaeve überrascht. Den Diebefänger hatte sie nicht mehr gesehen, seit er sie und andere nach den Geschehnissen in Falme zur Weißen Burg zurückgebracht hatte.

Rand zügelte sein Tier und erlaubte Nynaeve und den Asha’man, ihn einzuholen. Aiel schwärmten aus wie von einem Windstoß umhergewehte Blätter und nahmen aufmerksame Positionen entlang der Kreuzung ein. Nynaeve war sich ziemlich sicher, dass beide Asha’man die Quelle ergriffen hatten, und Rand vermutlich auch.

Hurin trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er sah noch größtenteils so aus, wie Nynaeve ihn in Erinnerung hatte. Das Haar war etwas grauer, aber er trug die gleiche einfache braune Kleidung mit einem Schwertbrecher und einem Kurzschwert am Gürtel. Er hatte ein Pferd an einen in der Nähe liegenden Ast gebunden. Die Aiel musterten es misstrauisch, sowie andere vielleicht ein Rudel Wachhunde beobachtet hätten.

» Was denn, Lord Rand!«, rief Hurin mit unsicherer Stimme. »Ihr seid es! Nun, ich muss schon sagen, Ihr habt es weit gebracht. Schön, Euch …«

Er verstummte, als er vom Boden gehoben wurde. Überrascht ächzte er, als ihn unsichtbare Ströme aus Luft erfassten. Nynaeve unterdrückte ein Schaudern. Würde sie es jemals normal finden, Männer beim Machtlenken zu sehen?

»Wer hat Euch und mich damals verfolgt, Hurin«, rief Rand, »als wir in diesem fernen Schattenland gefangen waren? Welcher Nationalität waren die Männer, die ich mit dem Bogen niederstreckte?«

»Männer?« Hurins Stimme glich einem Quieken. »Lord Rand, an diesem Ort gab es überhaupt keine Menschen! Jedenfalls sind uns außer der Lady Selene keine begegnet. Ich erinnere mich bloß an diese Froschungeheuer, die gleichen, die angeblich diese Seanchaner reiten!«

Rand drehte Hurin in der Luft herum und betrachtete ihn mit einem kalten Blick. Dann lenkte er sein Pferd näher an ihn heran. Nynaeve und die Asha’man folgten seinem Beispiel.

»Ihr glaubt nicht, dass ich das bin, Lord Rand?«, fragte Hurin.

»Heutzutage nehme ich nur wenig für bare Münze«, sagte Rand. »Ich nehme an, die Grenzländer haben Euch geschickt, weil wir uns kennen?«

Hurin nickte. Er schwitzte. Nynaeve verspürte Mitleid mit ihm. Er war Rand völlig ergeben. Bei der Jagd nach Fain und dem Horn von Valere hatten sie viel Zeit miteinander verbracht. Auf der Rückreise nach Tar Valon hatte sie Hurin nur selten davon abhalten können, davon oder von den großen Taten zu erzählen, die Rand vollbracht hatte. Auf diese Weise von dem Mann behandelt zu werden, den er wie einen Helden verehrt hatte, musste schlimm für den schlanken Diebefänger sein.

»Warum nur Ihr allein?«, fragte Rand leise.

Hurin seufzte. »Nun. Sie sagten Euch …« Er zögerte, schien von etwas abgelenkt worden zu sein. Er schnüffelte deutlich hörbar. »Das ist… das ist merkwürdig. So etwas habe ich noch nie zuvor gerochen.«

»Was denn?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Hurin. »Die Luft … sie riecht nach viel Tod, nach viel Gewalt, aber dann wiederum auch nicht. Es ist finsterer. Schrecklicher.« Er schauderte sichtlich. Hurins Fähigkeit, Gewalt riechen zu können, gehörte zu jenen Merkwürdigkeiten, die die Weiße Burg nie hatte erklären können. Es hatte nichts mit der Macht zu tun, war aber offensichtlich auch nicht natürlich.

Rand schien sich nicht dafür zu interessieren, was Hurin da roch. »Erklärt mir, warum sie nur Euch geschickt haben, Hurin.«

»Das wollte ich ja gerade, Lord Rand. Ihr müsst wissen, hier sollen wir über die Bedingungen sprechen.«

»Die Bedingungen, damit eure Heere wieder dorthin zurückmarschieren, wo sie hingehören«, sagte Rand.

»Nein, Lord Rand«, erwiderte Hurin unbehaglich. »Die Bedingungen für das eigentliche Treffen. Ich vermute, da war ihr Brief etwas unklar. Sie sagten, Ihr könntet wütend sein, nur mich hier vorzufinden.«

»Damit befinden sie sich in einem Irrtum«, sagte Rand noch leiser. Nynaeve musste sich anstrengen, ihn zu verstehen.

»Ich verspüre keine Wut mehr, Hurin«, fuhr Rand fort. »Sie hat keinen Nutzen für mich. Warum sollten wir für ein Treffen so etwas wie ›Bedingungen‹ aushandeln? Ich bin davon ausgegangen, dass mein Angebot, nur eine kleine Gruppe mitzubringen, ausreichen sollte.«

»Nun, Lord Rand, wisst Ihr, sie wollen sich wirklich mit Euch treffen. Ich meine, wir sind diesen weiten Weg gekommen - sind den verdammten Winter durchmarschiert, Verzeihung, Aes Sedai. Aber es war ein verdammter Winter! Und er war schlimm, auch wenn er lange gebraucht hat, uns einzuholen. Aber egal, wir haben das getan, um Euch zu finden, Lord Rand. Also seht Ihr, dass sie sich wirklich mit Euch treffen wollen. Unbedingt.«

»Aber?«

»Nun ja, als Ihr das letzte Mal in Far Madding wart, gab es …«

Rand hob nur einen Finger. Hurin verstummte sofort, und alles wurde still. Selbst die Pferde schienen den Atem anzuhalten.

»Die Grenzländer sind in Far Madding?«, fragte Rand. »Ja, Lord Rand.«

»Und sie wollen mich dort treffen?«

»Ja, Lord Rand. Ihr sollt Euch in den Schutz des Wächters begeben, versteht Ihr, und …«

Rand schnitt Hurin mit einer Geste das Wort ab. Einen Augenblick später öffnete sich ein Wegetor. Es führte jedoch nicht direkt nach Far Madding, sondern bloß ein kurzes Stück die Straße hinunter, auf der sie eben noch geritten waren.

Rand ließ Hurin los, bedeutete den Aiel, den Mann auf sein Pferd steigen zu lassen, und trieb Tai’daishar durch das Tor. Was ging hier vor? Alle folgten ihm. Sobald sie das Tor hinter sich gelassen hatten, erschuf Rand ein weiteres Wegetor, das sich auf eine kleine bewaldete Senke hin öffnete. Nynaeve glaubte sie zu erkennen; dort hatten sie nach ihrem Besuch in Far Madding mit Cadsuane gelagert.

Wozu das erste Wegetor?, dachte Nynaeve verwirrt. Und dann begriff sie. Wollte man nur eine kurze Distanz Reisen, musste man sich die Umgebung nicht genau einprägen - und das Reisen an einen Ort vermittelte einem diese Lokalität gut genug, um von dort sofort Wegetore erschaffen zu können.

Indem Rand zuerst nur ein kleines Stück Gereist war, hatte er sich die Umgebung ausreichend genug eingeprägt, um dort Wegetore erschaffen zu können, wo immer er wollte - und sich die Zeit gespart, die Umgebung vorher kennenlernen zu müssen! Das war außerordentlich schlau, und Nynaeve errötete, weil sie nie auf diese Idee gekommen war. Wie lange kannte Rand diesen Trick schon? War die Erinnerung daran etwa von dieser … Stimme in seinem Kopf gekommen?

Rand ritt Tai’daishar in die Senke hinein, die Hufe des Pferdes wirbelten gefallene Blätter auf, als es sich seinen Weg durch das Unterholz bahnte. Nynaeve folgte ihm und bemühte sich, ihre brave Stute anzutreiben, um mit ihm Schritt zu halten. Dieser Stallmeister würde auf jeden Fall etwas von ihr zu hören bekommen. Ihm würden die Ohren brennen, wenn sie mit ihm fertig war!

Auch Hurin kam auf seinem Pferd angetrabt, und die Aiel liefen mit und hielten ihn die ganze Zeit eingekreist. Sie hatten sich verschleiert und hielten Speere oder Bogen bereit. Sofort nachdem sie die Bäume hinter sich gelassen hatten, hielt Rand Tai’daishar an und schaute quer über eine offene Wiese auf die uralte Stadt Far Madding.

An den Großen Städten gemessen war sie nicht sehr imposant. Sie war auch keineswegs schön, wenn man sie mit den von den Ogiern erbauten Wundern verglich, die Nynaeve gesehen hatte. Aber sie war groß genug und beinhaltete fraglos schöne Architektur und uralte Relikte. Erbaut auf einer Insel in einem See, erinnerte sie sogar etwas an Tar Valon. Drei breite Brücken überquerten das ruhige Gewässer und stellten die einzige Möglichkeit dar, die Stadt zu betreten.

Um den See herum lagerte ein sehr großes Heer, nahm vielleicht sogar mehr Platz ein als Far Madding selbst. Nynaeve zählte Dutzende verschiedener Wimpel, die Dutzende verschiedener Häuser bezeichneten. Es gab unzählige Reihen von Pferdeseilen und Zelte wie Reihen von Sommerweizen auf dem Feld, den man sorgfältig gesät hatte, um nun auf die Ernte zu warten. Die Armee der Grenzländer.

»Ich habe von diesem Ort gehört«, sagte Naeff und ritt heran. Der Wind zerzauste sein dunkelbraunes Haar. Er kniff die Augen zusammen, einen unzufriedenen Ausdruck auf dem kantigen Gesicht. »Er ist wie ein Stedding, nur nicht so sicher.«

Far Maddings gewaltiges Ter’angreal, das man den Wächter nannte, erschuf unsichtbare Schutzblasen, die Machtlenker davon abhielten, die Eine Macht zu berühren. Allerdings ließ sich das mit einem ganz besonderen Ter’angreal umgehen, das Nynaeve zufällig besaß und bei sich trug. Aber es half nur bedingt.

Die Armee schien sich innerhalb der Blase zu befinden, die Männer vom Machtlenken abhielt; sie erstreckte sich ungefähr eine Meile um die Stadt herum.

»Sie werden wissen, dass wir gekommen sind«, sagte Rand leise mit zusammengekniffenen Augen. »Sie haben darauf gewartet. Sie erwarten von mir, dass ich in ihre Kiste reite.«

»Kiste?«, fragte Nynaeve zögernd.

»Die Stadt ist eine Kiste«, erwiderte Rand. »Die Stadt und ihr ganzes Umland. Sie wollen mich dort haben, wo sie mich kontrollieren können, aber sie begreifen nicht. Niemand kontrolliert mich. Das ist vorbei. Ich habe genug von Kisten und Kerkern, von Ketten und Seilen. Nie wieder werde ich mich in die Macht anderer begeben.«

Den Blick noch immer starr auf die Stadt gerichtet, griff er nach der Stelle an seinem Sattel, wo sich die Statuette des Mannes mit der Kugel in der Hand befand. Nynaeve erschauderte. Musste er dieses Ding überall mit hinnehmen?

»Vielleicht muss man es ihnen beibringen«, fuhr er fort. »Sie zu ihrer Pflicht und ihrem Gehorsam mir gegenüber ermuntern.«

»Rand …« Nynaeve versuchte nachzudenken. Sie durfte das nicht noch einmal zulassen.

Der Zugangsschlüssel fing an zu leuchten. »Sie wollen mich gefangen nehmen«, sagte er leise. »Mich festhalten. Mich schlagen. Das haben sie in Far Madding bereits schon einmal getan. Sie …«

»Rand!«, stieß Nynaeve scharf hervor.

Abrupt hielt er inne und sah sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

»Das sind keine Sklaven, denen Graendal bereits den Verstand weggebrannt hat. Das ist eine ganze Stadt voller Unschuldiger! «

»Ich würde den Menschen dieser Stadt nichts antun«, sagte Rand mit völlig gefühlloser Stimme. »Diese Armee verdient eine Demonstration, nicht die Stadt. Vielleicht ein Feuerregen, der sie trifft. Oder Blitze.«

»Sie haben nichts getan, außer dich zu bitten, dich mit ihnen zu treffen!«, sagte Nynaeve und drängte ihr Pferd näher an ihn heran. Dieses Ter’angreal war wie eine Schlange in seiner Hand. Einst hatte es die Quelle gereinigt. Wäre es doch nur genauso geschmolzen wie sein weibliches Gegenstück!

Sie vermochte nicht genau zu sagen, was geschehen würde, wenn er ein Gewebe in die Schutzblase Far Maddings lenkte, aber vermutlich würde es trotzdem funktionieren. Der Wächter verhinderte nicht die Erschaffung von Geweben; Nynaeve hatte dort durchaus Gewebe weben können, solange sie ihre Machtquelle benutzt hatte.

Aber sie wusste, dass sie Rand davon abbringen musste, seinen Zorn - oder was auch immer er gerade fühlte - auf seine Verbündeten zu richten. »Rand«, sagte sie leise. »Wenn du das tust, dann gibt es keinen Weg zurück.«

»Für mich gibt es bereits keinen Weg zurück mehr«, sagte er mit einem fiebrigen Ausdruck in den Augen. Diese Augen veränderten sich, manchmal erschienen sie grau, manchmal auch blau. Heute sahen sie stahlgrau aus. Mit völlig gefühlloser Stimme fuhr er fort. »Ich betrat diesen Pfad in dem Moment, in dem mich Tarn weinend auf diesem Berg fand.«

»Du brauchst heute niemanden zu töten. Bitte.«

Er drehte sich um und schaute wieder auf die Stadt. Langsam und gnädigerweise hörte der Zugangsschlüssel auf zu leuchten. »Hurin!«, bellte er.

Er muss kurz vor dem Zusammenbruch stehen, dachte Nynaeve. Sein Zorn schleicht sich wieder in seine Stimme.

Der Diebefänger ritt zur Spitze der Gruppe. Die Aiel blieben jedoch stehen. »Ja, Lord Rand?«

»Kehrt zu Euren Herren in ihrer Kiste zurück«, sagte Rand. Er hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Ihr werdet ihnen eine Botschaft von mir überbringen.«

»Welche Botschaft, Lord Rand?«

Rand zögerte, dann schob er den Zugangsschlüssel zurück in seine Tasche. »Sagt ihnen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bevor der Wiedergeborene Drache zur Schlacht am Shayol Ghul reitet. Falls sie den Wunsch verspüren, wieder ehrenvoll zu ihren Posten zurückzukehren, stelle ich ihnen den Transport zurück zur Fäule zur Verfügung. Wenn nicht, können sie hier in ihrem Versteck bleiben. Sollen sie ihren Kindern und Enkeln erklären, warum sie Hunderte von Meilen von ihren Posten entfernt waren, als der Dunkle König vernichtet und die Prophezeiungen erfüllt wurden.«

Hurin sah erschüttert aus. »Ja, Lord Rand.«

Und Rand wendete sein Pferd und ritt zurück zur Lichtung. Nynaeve folgte ihm, aber viel zu langsam. So schön Mondlicht auch sein mochte, sie hätte die prächtige Stute sofort gegen ein verlässliches Pferd von den Zwei Flüssen wie Bela eingetauscht.

Hurin blieb zurück. Er sah noch immer erschüttert aus. Sein Wiedersehen mit »Lord Rand« war offensichtlich gar nicht so verlaufen, wie er es erwartet hatte. Nynaeve knirschte mit den Zähnen, als die Bäume ihren Blick auf ihn versperrten. Auf der Lichtung hatte Rand bereits ein Wegetor direkt nach Tear geöffnet.

Sie ritten auf das Reisegelände, das man vor den Ställen des Steins von Tear errichtet hatte. Die Luft in Tear war trotz des bewölkten Himmels heiß und schwül, und sie war erfüllt vom Lärm übender Männer und kreischender Möwen. Rand ritt bis zu den wartenden Stallburschen, dann stieg er mit unleserlicher Miene ab.

Als Nynaeve von Mondlicht stieg und die Zügel einem rotgesichtigen Stallburschen in die Hand drückte, ging Rand an ihr vorbei. »Such nach einer Statue«, sagte er.

»Was?«, fragte sie überrascht.

Er blieb stehen und sah zu ihr zurück. »Du wolltest doch wissen, wo Perrin ist. Er lagert mit einem Heer im Schatten einer gewaltigen umgestürzten Statue, die wie ein in den Boden gestoßenes Schwert aussieht. Ich bin sicher, dass die hiesigen Gelehrten dir verraten können, wo das ist; sie ist ziemlich auffällig.«

» Woher … woher weißt du das?«

Rand zuckte bloß mit den Schultern. »Ich weiß es eben.«

»Und warum verrätst du es mir?«, wollte sie wissen und begleitete ihn über den erdigen Hof. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr diese Informationen geben würde - er hatte die Gewohnheit angenommen, alles für sich zu behalten, selbst wenn das Wissen unerheblich war.

» Weil«, begann er, und seine Stimme wurde beinahe zu leise, um ihn noch verstehen zu können, »ich dir etwas schulde. Du sorgst dich um Dinge, wo ich es nicht mehr kann. Solltest du Perrin finden, dann richte ihm aus, dass ich ihn bald brauchen werde.«

Und er ließ sie stehen.

Nynaeve sah ihm nach. Ein feuchter Duft lag in der Luft, der Geruch von frischem Regen, und sie konnte fühlen, dass sie einen Schauer verpasst hatte. Nicht genug, um die Luft zu reinigen oder den Boden in Schlamm zu verwandeln, aber ausreichend, um in schattigen Ecken feuchten Stein zu hinterlassen. Rechts von ihr trieben Männer ihre Pferde im Galopp über den sandigen Boden zwischen Abzäunungen. Der Stein war die einzig ihr bekannte Festung mit Übungsgelände für Kavallerie - aber der Stein war ja auch nicht gewöhnlich.

Das Donnern der Hufe war wie das Grollen eines fernen Sturms, und unwillkürlich schaute sie nach Norden. Der Sturm dort fühlte sich noch näher als zuvor an. Sie war immer von der Annahme ausgegangen, dass er sich über der Großen Fäule zusammenzog, aber jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher.

Sie holte tief Luft, dann eilte sie in die Festung. Sie passierte Verteidiger in ihren makellosen Uniformen mit den glatten Harnischen. Sie passierte Stallburschen, die vermutlich alle von dem Tag träumten, an dem sie diese Uniform tragen durften, im Augenblick aber nur Pferde zurück in den Stall führen und füttern durften. Sie passierte Dutzende von Dienern in Leinengewändern, die sicherlich bequemer als ihre braune Wolle waren.

Die Festung selbst war wie ein riesiger Felsen, dessen glatte Wände nur von Fenstern unterbrochen wurden. Allerdings konnte sie noch immer die Stelle ausmachen, wo Mat mit seinem Illuminatorenfeuerwerk ein Stück zerstört hatte, als er gekommen war, um sie und die anderen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Dieser dumme Junge. Wo war er? Sie hatte ihn schon … eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Seit Ebou Dar an die Seanchaner gefallen war. In gewisser Weise hatte sie das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben, obwohl sie das nie zugegeben hätte. Schließlich hatte sie sich vor dieser Tochter der Neun Monde schon genug zur Närrin gemacht, als sie diesen Schurken verteidigt hatte! Sie wusste noch immer nicht, was da bloß über sie gekommen war.

Mat würde schon für sich selbst sorgen. Vermutlich feierte er in irgendeiner Schenke, während der Rest von ihnen versuchte, die Welt zu retten - betrank sich und würfelte. Rand war da ein ganz anderes Kaliber. Es war so viel einfacher gewesen, mit ihm umzugehen, als er sich noch wie andere Männer benommen hatte - er war stur und unreif gewesen, aber vorhersehbar. Dieser neue Rand mit seiner Gefühlskälte und der kalten Stimme war wirklich furchteinflößend.

Die schmalen Korridore des Steins waren Nynaeve noch immer unvertraut, und sie verlief sich dementsprechend oft. Und es war keineswegs hilfreich, dass Gänge und Wände manchmal ihren Platz änderten. Sie hatte versucht, solche Geschichten als abergläubischen Unsinn abzutun, aber am Vortag war sie erwacht und hatte entdecken müssen, dass ihr Zimmer auf plötzliche und unerklärliche Weise bewegt worden war. Ihre Tür hatte sich auf eine glatte Wand aus dem gleichen nahtlosen Felsen wie der Stein selbst geöffnet. Sie war gezwungen gewesen, durch ein Wegetor zu entkommen, und hatte entsetzt erfahren müssen, dass ihr Fenster sich nun an einer Stelle zwei Stockwerke höher als am Vorabend befand!

Cadsuane hatte behauptet, dass der Dunkle König auf diese Weise die Welt berührte und das Muster veranlasste, sich aufzulösen. Cadsuane sagte viel, wenn der Tag lang war, und Nynaeve wünschte nur wenig davon zu hören.

Sie verirrte sich nur zweimal auf ihrem Weg durch die Korridore, aber schließlich fand sie Cadsuanes Zimmer. Wenigstens hatte Rand seinem Quartiermeister nicht verboten, ihr Räume zur Verfügung zu stellen. Nynaeve klopfte - sie hatte gelernt, dass das besser war -, dann trat sie ein.

Die Aes Sedai aus Cadsuanes Gruppe - Merise und Corele - saßen da, strickten, tranken dabei Tee und bemühten sich auszusehen, als würden sie nicht darauf warten, die Launen dieser unerträglichen Frau erfüllen zu dürfen. Cadsuane selbst unterhielt sich leise mit Min, die sie in den letzten Tagen so gut wie völlig vereinnahmt hatte. Min schien das nicht einmal zu stören, vielleicht weil es im Moment gar nicht so leicht war, sich in Rands Gegenwart aufzuhalten. Nynaeve verspürte einen Stich des Mitleids für das Mädchen. Sie musste Rand nur als Freundin gegenübertreten; für jemanden, der sein Herz teilte, musste das alles wesentlich schlimmer sein.

Aller Augen wandten sich Nynaeve zu, als sie die Tür schloss. »Ich glaube, ich habe ihn gefunden«, verkündete sie.

»Und wer sollte das sein, Kind?«, fragte Cadsuane und blätterte weiter in einem von Mins Büchern.

»Perrin. Ihr hattet recht; Rand weiß, wo er ist.«

»Ausgezeichnet!«, sagte Cadsuane. »Das habt Ihr gut gemacht. Anscheinend könnt Ihr ja doch von Nutzen sein.«

Nynaeve vermochte nicht zu sagen, was sie mehr ärgerte - das indirekte Kompliment oder die Tatsache, dass ihr Herz vor Stolz anschwoll, als sie es hörte. Sie war kein Mädchen ohne Zopf, das sich von den Worten dieser Frau geschmeichelt fühlen musste!

»Und?« Cadsuane schaute von ihrem Buch auf. Die anderen schwiegen weiter, allerdings warf Min ihr ein beglückwünschendes Lächeln zu. »Wo ist er?«

Nynaeve wollte antworten, aber dann hielt sie sich gerade noch rechtzeitig davon ab. Was war an dieser Frau, das sie so einfach gehorchen lassen wollte? Es war nicht die Eine Macht, damit hatte es gar nichts zu tun. Cadsuane verfügte einfach über die Ausstrahlung einer strengen, aber gerechten Großmutter. Die Sorte, der man niemals Widerworte gab, die einem aber ein paar Süßigkeiten zur Belohnung schenkte, wenn man brav wie befohlen den Boden putzte.

»Zuerst will ich wissen, warum Perrin so wichtig ist.« Nynaeve ging zu dem einzigen freien Sitzplatz im Raum, einem lackierten Hocker. Als sie sich gesetzt hatte, musste sie entdecken, dass sie ein paar Finger unter Augenhöhe saß. Wie eine Schülerin vor Cadsuane. Beinahe wäre sie wieder aufgestanden, aber dann wurde ihr klar, dass das nur noch mehr Aufmerksamkeit erregen würde.

»Pff!«, machte Cadsuane. »Ihr haltet dieses Wissen zurück, selbst wenn es das Leben jener bedeutet, die Euch am Herzen liegen?«

»Ich will wissen, worauf ich mich da eingelassen habe«, erwiderte Nynaeve stur. »Ich will wissen, dass diese Information Rand am Ende nicht noch mehr verletzt.«

Cadsuane schnaubte. »Ihr glaubt allen Ernstes, dass ich den dummen Jungen verletzen würde?«

»Ich glaube jedenfalls nichts anderes«, fauchte Nynaeve. » Nicht, bevor Ihr mir verraten habt, was Ihr machen wollt.«

Cadsuane schloss das Buch - Echos Seiner Dynastie - und sah beunruhigt aus. »Habt Ihr denn wenigstens die Güte, mir zu verraten, wie die Begegnung mit den Grenzländern verlaufen ist? Oder hat diese Information auch ihren Preis?«

Glaubte sie ehrlich, Nynaeve so einfach ablenken zu können? »Schlecht ist sie verlaufen, wie zu erwarten war«, sagte sie. »Sie haben sich vor Far Madding ausgebreitet und sich geweigert, sich mit Rand zu treffen, solange er sich nicht in die Reichweite des Wächters begibt und sich von der Quelle trennt.«

»Hat er es gut aufgenommen?«, fragte Corele von ihrer gepolsterten Bank auf der anderen Seite des Zimmers. Sie lächelte schmal; sie schien hier die Einzige zu sein, die Rands Veränderungen für amüsant statt beängstigend hielt. Andererseits war sie eine der Frauen, die praktisch bei der ersten Gelegenheit den Bund mit einem Asha’man eingegangen waren.

»Hat er es gut aufgenommen?«, wiederholte Nynaeve tonlos. »Kommt darauf an. Zählt es für Euch als ›gut aufgenommen‹, das verdammte Ter’angreal zu ziehen und zu drohen, Feuer auf das Heer herabregnen zu lassen?«

Min wurde blass. Cadsuane hob eine Braue.

»Ich habe ihn davon abgehalten«, sagte Nynaeve. »Aber es war knapp. Ich weiß nicht. Es könnte … bereits zu spät sein, um ihn irgendwie zu ändern.«

»Und der Junge wird wieder lachen«, sagte Cadsuane leise, aber energisch. »Ich habe nicht so lange gelebt, um jetzt zu scheitern.«

»Spielt das überhaupt eine Rolle?«, wollte Corele wissen.

Nynaeve wandte ungläubig den Kopf.

»Was denn?« Corele legte ihr Strickzeug zur Seite. »Warum ist das von Bedeutung? Wir werden offensichtlich Erfolg haben.«

»Beim Licht!«, sagte Nynaeve. »Wie kommt Ihr denn auf die Idee?«

»Wir haben dieses Mädchen hier den ganzen Nachmittag über ihre Visionen befragt.« Corele wies mit dem Kopf auf Min. »Sie bewahrheiten sich immer, und sie hat Dinge gesehen, die sich offensichtlich erst nach der Letzten Schlacht zutragen können. Also wissen wir, dass Rand den Dunklen König besiegt. Das Muster hat es bereits entschieden. Wir können aufhören, uns Sorgen zu machen.«

»Nein«, sagte Min. »Ihr irrt Euch.«

Corele runzelte die Stirn. »Kind, wollt Ihr sagen, dass Ihr uns über die Dinge angelogen habt, die Ihr gesehen habt?«

»Nein. Aber wenn Rand verliert, dann gibt es kein Muster mehr.«

»Das Mädchen hat recht.« Cadsuane klang überrascht. »Das Kind sieht Gewebe aus dem Muster, die noch in der Zukunft liegen - aber wenn der Dunkle König gewinnt, wird er das Muster völlig vernichten. Nur auf diese Weise könnten sich diese Visionen nicht erfüllen. Das Gleiche gilt für andere Prophezeiungen und Vorhersagen. Unser Sieg ist keinesfalls sicher.«

Das ließ Schweigen in den Raum einkehren. Sie spielten hier nicht mit Dorfpolitik oder nationaler Dominanz. Die Schöpfung selbst stand auf dem Spiel.

Beim Licht. Kann ich diese Information für mich behalten, wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass sie Lan hilft? Es zerriss ihr das Herz, an ihn zu denken, und ihr standen doch nur so wenige Möglichkeiten zur Verfügung. Lans einzige Hoffnung schien in den Heeren zu bestehen, die Rand aufstellen konnte, und in den Wegetoren, die seine Männer erschaffen konnten.

Rand musste sich ändern. Für Lan. Für sie alle. Und leider fiel ihr nichts ein, was sie tun konnte, außer Cadsuane zu vertrauen. Nynaeve schluckte ihren Stolz herunter und sprach. »Kennt Ihr den Ort der Statue eines gewaltigen Schwertes, das sich in den Boden gebohrt hat, als wollte sie ihn aufspießen?«

Corele und Merise sahen einander verwirrt an.

»Die Hand des Amahn’rukane.« Cadsuane wandte den Blick von Min. »Die Statue wurde nie vollendet, soweit es die Gelehrten wissen. Sie befindet sich an der Jehannahstraße.«

»Perrin lagert in ihrem Schatten.«

Cadsuane schürzte die Lippen. »Ich hatte angenommen, er würde nach Osten reisen, auf die von alThor eroberten Länder zu.« Sie holte tief Luft. »Also gut. Wir gehen sofort zu ihm.« Sie zögerte, dann wandte sie sich an Nynaeve. »Um Eure frühere Frage zu beantworten, Kind, eigentlich ist Perrin überhaupt nicht für unsere Pläne von Bedeutung.«

»Ist er nicht?«, fragte Nynaeve. »Aber …«

Cadsuane hob einen Finger. »Bei ihm sind Leute, die von entscheidender Bedeutung sind. Und vor allem einer.«

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