Wir saßen im Café Mephisto, in der Golowinskystraße, Nino und ich. Vor uns erhob sich der Davidsberg mit dem großen Kloster. Die Vettern gewährten uns einen Tag Ruhe. Nino blickte zum Kloster hinauf. Ich wußte, woran sie dachte. Oben, auf dem Davidsberg, war ein Grab, das wir besucht hatten. Alexander Gribojedow ruhte dort. Dichter und Minister Seiner Majestät des Zaren. Am Grabe die Inschrift:
»Deine Taten sind unvergeßlich, aber warum überlebte dich die Liebe deiner Nino?«
Nino? Ja. Sie hieß Nino Tschawtschawadse und war sechzehn Jahre, als der Minister und Dichter sie heimführte. Nino Tschawtschawadse, die Großtante der Nino, die neben mir saß. Siebzehn Jahre war sie, als das Volk von Teheran das Haus des russischen Ministers umlagerte.
»Ya Ali Salawat, o gepriesener Ali«, rief das Volk. Der Minister hatte nur einen kurzen Degen und eine Pistole.
Ein Schmied aus der Sülly-Sultan-Straße hob seinen Hammer und zertrümmerte die Brust des Ministers. Nach Tagen fand man am Rande von Teheran zerfetztes Fleisch. Und einen Kopf, den die Hunde bereits abgenagt hatten. Das war alles, was blieb, von Alexander Gribojedow, dem Dichter und Minister des Zaren. Feth Ali Schah, der Kadschare, war damals sehr zufrieden, und auch der Thronfolger Abbas Mirza war sehr glücklich. Meschi Aga, ein fanatischer und weiser Greis, wurde vom Schah hoch belohnt, und auch ein Schirwanschir, mein Großonkel, bekam ein Gut in Giljan.
Das Ganze geschah vor hundert Jahren. Jetzt saßen auf der Terrasse des Cafés Mephisto ich, Schirwanschir, der Großneffe, und sie, Nino, die Großnichte.
»Wir müßten Blutfeinde sein, Nino«, ich deutete mit dem Kopf zum Klosterberg, »wirst du mir auch einmal einen so schönen Grabstein setzen?«
»Vielleicht«, sagte Nino, »je nachdem, wie du dich zu Lebzeiten benimmst.«
Sie trank ihren Kaffee zu Ende.
»Komm«, sagte sie, »wir wollen durch die Stadt gehen.«
Ich erhob mich. Nino liebte diese Stadt wie ein Kind die Mutter. Wir gingen die Golowinskystraße hinauf, zu den Gassen der Altstadt. Vor dem Zionsdom blieb Nino stehen. Wir traten in den dunklen, feuchten Raum. Der Dom war uralt. Kreuzartig gebaut, mit spitzer Kuppel, barg er die Erinnerungen an alles Blut, das um dieser Stadt willen vergossen ward. Oben am Altar stand das Kreuz aus Weinstock. Die heilige Nino, die Erleuchterin Georgiens, brachte es einst aus dem Westen hierher, mit der ersten Kunde vom Heiland der Welt. Nino kniete nieder. Sie bekreuzigte sich und blickte zum Bilde ihrer Schutzheiligen empor. Sie flüsterte:
»Heilige Nino, vergib mir.«
Im Lichte des Kirchenfensters sah ich Tränen in ihren Augen.
»Komm heraus«, sagte ich. Sie trat folgsam aus der Kirchentür. Wortlos gingen wir durch die Straßen. Dann sagte ich:
»Was soll die heilige Nino dir verzeihen?«
»Dich, Ali Khan.«
Ihre Stimme war traurig und müde. Es war nicht gut, mit Nino durch die Straßen von Tiflis zu gehen.
»Warum mich?«
Wir waren am Maidan. Georgier saßen in den Kaffeehäusern oder mitten auf den Straßen. Irgendwo klang die Zurna. Weit unten schäumte die Kura. Nino blickte in die Ferne, als ob sie sich selber dort suchen würde.
»Dich«, wiederholte sie dann, »dich und alles Gewesene.«
Ich ahnte. Und dennoch fragte ich:
»Was?«
Nino blieb stehen. Drüben am Ende des Platzes erhob sich die Kathedrale Khaschweti. Jeder Stein des Tempels war wie eine Jungfrau, weiß und sanft und zart. Nino sagte:
»Geh durch Tiflis. Siehst du verschleierte Frauen? Nein. Witterst du die Luft Asiens? Nein. Es ist eine andere Welt. Die Straßen sind breit, die Seelen gerade. Ich werde sehr klug, wenn ich nach Tiflis komme, Ali Khan. Hier gibt es keine bigotten Narren, wie Seyd Mustafa, und keine finsteren Gesellen, wie Mehmed Haidar. Heiter und leicht ist hier das Leben.«
»Dieses Land ist zwischen zwei Scheren einer glühenden Zange, Nino.«
»Ebendeshalb«, ihre Füße trippelten wieder über das uralte Pflaster, »ebendeshalb. Siebenmal hat der lahme Timur Tiflis zerstört. Türken, Perser, Araber, Mongolen fluteten über das Land. Wir blieben. Sie haben Georgien verwüstet, geschändet, gemordet, aber nie wirklich besessen. Vom Westen kam die heilige Nino mit dem Kreuz aus Weinstock, und zum Westen gehören wir. Wir sind nicht Asien. Wir sind das östlichste Land Europas. Spürst du es denn nicht selbst?«
Nino ging schnell. Ihre kindliche Stirn war gerunzelt.
»Weil wir dem Timur und dem Dschingis, dem Schah Abbas, dem Schah Tahmaap und dem Schah Ismail getrotzt haben, deshalb gibt es mich, deine Nino. Und nun kommst du, ohne Schwert, ohne trampelnde Elefanten, ohne Krieger, und bist doch nur ein Erbe der blutigen Schahs. Meine Töchter werden den Schleier tragen, und wenn das Schwert Irans wieder scharf genug sein wird, werden meine Söhne und Enkel zum hundertstenmal Tiflis verwüsten. Oh, Ali Khan, wir sollten doch in der Welt des Westens aufgehen.«
Ich ergriff ihre Hand.
»Was möchtest du, Nino?«
»Ach«, sagte sie, »ich bin sehr dumm, Ali Khan. Ich will, daß du breite Straßen und grüne Wälder liebst, ich will, daß du mehr von Liebe verstehst und nicht an der morschen Mauer einer asiatischen Stadt klebenbleibst. Ich fürchte immer: in zehn Jahren wirst du fromm und listig sein, wirst auf deinen Gütern in Giljan sitzen und eines Tages aufwachen und sagen: ›Nino, du bist nur ein Acker.‹ Sag selbst, was liebst du denn an mir, Ali Khan?«
Tiflis verwirrte Nino, sie war wie trunken von der feuchten Luft des Kura-Ufers.
»Was ich an dir liebe, Nino? Dich, deine Augen, deine Stimme, deinen Duft, deinen Gang. Was willst du mehr? Alles an dir liebe ich. Die Liebe Georgiens und die Liebe Irans sind doch gleich. Hier an dieser Stelle stand vor tausend Jahren euer Rustaveli, der größte Dichter. Er sang von der Liebe zur Königin Tamar. Und seine Lieder sind wie persische Rubajats. Ohne Rustaveli kein Georgien, ohne Persien kein Rustaveli.«
»An dieser Stelle«, sagte Nino nachdenklich, »so — aber vielleicht stand hier auch Sajat Nowa, der große Liebesdichter, den der Schah köpfen ließ, weil er die Liebe des Georgiers pries.«
Es war nicht viel anzufangen mit meiner Nino. Sie nahm Abschied von der Heimat, und im Abschied offenbart sich die Liebe. Sie seufzte:
»Meine Augen, meine Nase, meine Stirn, alles liebst du, Ali Khan. Und doch hast du etwas vergessen. Liebst du auch meine Seele?«
»Ja, deine Seele liebe ich auch«, sagte ich müde.
Seltsam, wenn Seyd Mustafa behauptete, daß eine Frau keine Seele habe, lachte ich, wenn Nino verlangte, daß ich ihre Seele entdecke, wurde ich gereizt. Was ist das, die Seele einer Frau? Eine Frau soll sich freuen, wenn der Mann nichts von dem grundlosen Schlund ihrer Seele wissen will.
»Was liebst denn du an mir, Nino?«
Plötzlich weinte sie, mitten auf der Straße. Große, kindliche Tränen liefen über ihre Wangen.
»Verzeih mir, Ali Khan. Ich liebe dich, einfach dich, so wie du bist, aber ich fürchte mich vor der Welt, in der du lebst. Ich bin verrückt, Ali Khan. Ich stehe auf der Straße mit dir, meinem Bräutigam, und werfe dir sämtliche Feldzüge Dschingis Khans vor. Verzeih deiner Nino. Es ist dumm, dich für jeden Georgier verantwortlich zu machen, den je ein Mohammedaner umgebracht hat. Ich werde es nie wieder tun. Aber schau: ich, deine Nino, bin doch auch ein ganz winziges Stück von dem Europa, das du haßt, und hier in Tiflis fühle ich das besonders deutlich. Ich liebe dich, und du liebst mich. Aber ich liebe Wälder und Wiesen, und du Berge und Steine und Sand, weil du ein Kind der Wüste bist. Und deshalb fürchte ich mich vor dir, vor deiner Liebe, vor deiner Welt.«
»Und?« fragte ich verständnislos und verwirrt.
»Und?« Sie trocknete die Augen, ihr Mund lächelte wieder, und sie neigte den Kopf zur Seite, »und? In drei Monaten heiraten wir, was willst du mehr?«
Ohne Übergang kann Nino weinen und lachen, lieben und hassen. Sie verzieh mir alle Feldzüge Dschingis Khans und liebte mich wieder. Sie ergriff meine Hand und schleppte mich über die Veribrücke zum Labyrinth des Tifliser Basars. Es war eine symbolische Abbitte. Der Basar ist der einzige orientalische Fleck auf dem europäischen Gewand von Tiflis. Dicke Teppichhändler, Armenier und Perser, breiteten dort die bunte Pracht der Schätze Irans aus. Blitzende gelbe Messingschalen mit weisen Aufschriften füllten die Buden, ein kurdisches Mädchen mit hellen, verwunderten Augen las aus der Hand und schien über ihre Allwissenheit selber erstaunt. Am Eingang der Schenken standen die Nichtstuer von Tiflis und disputierten ernst und gewichtig über Gott und die Welt. Wir atmeten die eindringlichen Gerüche der Stadt der achtzig verschiedenen Zungen. Ninos Trauer wich beim Anblick des bunten Durcheinanders der Basargassen. Armenische Händler, kurdische Wahrsager, persische Köche, ossetische Priester, Russen, Araber, Inguschen, Inder: alle Völker Asiens treffen sich am Basar von Tiflis. Im Schatten einer Bude ist ein Tumult. Die Händler umgeben die Streitenden. Ein Assyrer zankt erbittert mit einem Juden. Wir hören nur gerade noch:
»Als meine Ahnen deine Ahnen in die babylonische Gefangenschaft führten…« Die Umstehenden brüllten vor Lachen. Auch Nino lacht — über den Juden, über den Assyrer, über den Basar, über die Tränen, die sie auf das Tifliser Pflaster vergossen.
Wir gehen weiter. Noch einige Schritte, und der Kreis der Wanderung schließt sich. Wir stehen wieder vor dem Café Mephisto in der Golowinskystraße.
»Wollen wir wieder hinein?« frage ich unentschlossen.
»Nein. Zur Feier der Versöhnung fahren wir hinauf zum Kloster des heiligen David.«
Wir bogen in eine der Seitenstraßen, die zur Drahtseilbahn führte. Wir bestiegen den roten Wagen, der langsam den Davidsberg emporkroch. Die Stadt versank vor unsern Augen in die Tiefe, und Nino erzählte mir die Geschichte von der Gründung des berühmten Klosters:
»Vor vielen, vielen Jahren lebte auf diesem Berg der heilige David. In der Stadt aber wohnte eine Königstochter, die sich in sündhafter Liebe mit einem Fürsten verband… Der Fürst verließ sie. Sie aber ward schwanger. Als der zürnende Vater sie nach dem Namen des Übeltäters fragte, fürchtete sich die Prinzessin, den Geliebten preiszugeben, und beschuldigte den heiligen David. Voll Zorn ließ der König den Heiligen in seinen Palast bringen. Dann rief er die Tochter, und diese wiederholte die Beschuldigung. Da griff der Heilige zu seinem Stab und berührte damit den Leib der Prinzessin. Und ein Wunder geschah. Aus dem Innern des Leibes ertönte die Stimme des Kindes und nannte den wahren Schuldigen. Auf die Bitte des Heiligen aber gebar die Prinzessin einen Stein. Aus diesem Stein sprudelt die Quelle des heiligen David. Frauen, die sich nach Kindern sehnen, tauchen ihren Körper in die heilige Quelle.«
Nino fügte nachdenklich hinzu:
»Wie gut, Ali Khan, daß der heilige David tot ist und sein Wunderstab verschollen.«
Wir waren angekommen.
»Willst du zur Quelle, Nino?«
»Das wird noch ein Jahr Zeit haben.«
Wir standen an der Klostermauer und blickten auf die Stadt hinab. Der Kessel des Kuratales lag in bläulichem Dunst. Kirchenkuppeln ragten aus dem Steinmeer hervor wie einsame Inseln. Im Osten und Westen dehnten sich die Gärten: Tummelplätze der Tifliser Lebewelt. In der Ferne erhob sich die finstere Burg Mtech, einst der Sitz der georgischen Könige, jetzt ein Verließ des Russischen Reiches für politisierende Kaukasier. Nino wandte sich ab. Ihre Zarentreue vertrug sich schlecht mit dem Anblick der berühmten Folterburg.
»Sitzen keine Vettern von dir in Mtech, Nino?«
»Nein, aber von Rechts wegen gehörst du hinein. Komm, Ali Khan.«
»Wohin?«
»Besuchen wir Gribojedow.«
Wir bogen um die Klostermauer und blieben am verwitterten Grabstein stehen.
»Deine Taten sind unvergeßlich, aber warum überlebte dich die Liebe deiner Nino?«
Nino bückte sich und hob einen Kieselstein auf. Sie preßte ihn rasch an den Grabstein und ließ die Hand los. Der Stein fiel zu Boden und kullerte uns vor die Füße. Nino errötete tief. Ein alter Tifliser Aberglaube behauptet, daß, wenn ein Mädchen einen Stein an die feuchte Grabplatte preßt und der Stein für einen Augenblick klebenbleibt, sie noch im gleichen Jahr heiraten wird. Ninos Stein fiel zu Boden. Ich sah ihr verlegenes Gesicht und lachte.
»Siehst du? Drei Monate vor deiner Hochzeit! Da hat doch unser Prophet recht mit dem Spruch ›Glaube nicht den toten Steinen‹.«
»Ja«, sagte Nino.
Wir gingen zur Drahtseilbahn zurück.
»Was werden wir nach dem Kriege tun?« fragte Nino.
»Nach dem Kriege? Dasselbe wie jetzt. Durch Baku spazieren, Freunde besuchen, nach Karabagh reisen und Kinder in die Welt setzen. Es wird sehr schön sein.«
»Ich will einmal nach Europa.«
»Gerne. Nach Paris, nach Berlin, einen Winter lang.«
»Ja, einen Winter lang.«
»Nino, gefällt dir unser Land nicht mehr? Wenn du willst, leben wir in Tiflis.«
»Danke, Ali, du bist sehr gut zu mir. Wir bleiben in Baku.«
»Nino, ich glaube, es gibt nichts Besseres als Baku.«
»So? Hast du denn so viele Städte gesehen?«
»Nein, aber wenn du willst, reise ich mit dir um die Welt.«
»Und sehnst dich dabei die ganze Zeit nach der alten Mauer und einem seelenvollen Gespräch mit Seyd Mustafa. Aber es macht nichts. Ich liebe dich. Bleibe, wie du bist.«
»Weißt du, Nino, ich hänge an unserer Heimat, an jedem Stein, an jedem Sandkörnchen der Wüste.«
»Ich weiß. Es ist seltsam — Liebe zu Baku. Für die Fremden ist unsere Stadt nur heiß, staubig, öldurchtränkt.«
»Ja, weil sie Fremde sind.«
Sie legte ihren Arm um meine Schulter. Ihre Lippen berührten meine Wangen.
»Aber wir sind keine Fremden und wollen es nie werden. Wirst du mich immer lieben, Ali Khan?«
»Natürlich, Nino.«
Der Wagen war in der unteren Station angelangt. Eng umschlungen gingen wir durch die Golowinskystraße. Linker Hand lag ein ausgedehnter Park mit schön geschwungenen Gittern. Die Einfahrt war verschlossen. Zwei Soldaten, reglos und atemlos, wie versteinert, hielten die Wache. Über dem vergitterten Tor schwebte majestätisch der vergoldete kaiserliche Doppeladler. Der Park gehörte zum Palais des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, Statthalters des Zaren im Kaukasus.
Plötzlich blieb Nino stehen. »Schau«, sagte sie und zeigte auf den Park. Hinter dem Gitter, im Schatten der Pinienallee, schritt langsam ein langer, hagerer Mann mit graumelierten Haaren. Jetzt wandte er sich um, und ich erkannte die großen, von kaltem Wahn erfüllten Augen des Großfürsten. Sein Gesicht war länglich. Die Lippen fest verschlossen. Im Schatten der Pinie glich er einem großen, edlen und wilden Tier.
»Woran denkt er jetzt, Ali Khan?«
»An die Zarenkrone, Nino.«
»Sie würde ihm gut zu den grauen Haaren stehen. Was wird er tun?«
»Man sagt, er wird den Zaren stürzen.«
»Komm, Ali Khan, ich fürchte mich.«
Wir entfernten uns von dem schön geschwungenen Gitter. Nino sagte:
»Du solltest nicht auf den Zaren schimpfen und nicht auf den Großfürsten. Sie schützen uns vor den Türken.«
»Er ist eine Schere der glühenden Zange, in der dein Land steckt.«
»Mein Land? Und deines?«
»Bei uns ist es anders. Wir sind in keiner Zange. Wir liegen auf dem Amboß, und der Großfürst hält den Hammer. Deshalb hassen wir ihn.«
»Und ihr schwärmt für Enver Pascha. Ein Unsinn, du wirst den Einzug Envers nie erleben. Der Großfürst wird siegen.«
»Allah Barif, Gott allein weiß es«, sagte ich friedliebend.