29. Kapitel

»Du warst eine sehr schwere Geburt, Ali Khan, und damals riefen wir noch keine europäischen Ärzte zu unsern Frauen.« Mein Vater saß vor mir auf dem Dache unseres Hauses und sprach mit leiser, wehmütiger Stimme:

»Als die Geburtswehen zu stark wurden, gaben wir deiner Mutter gestoßenen Türkisen- und Diamantenstaub. Aber es half nicht viel. Die Nabelschnur legten wir an die östliche Wand des Zimmers neben Schwert und Koran, damit du fromm und tapfer werdest. Dann trugst du sie als Amulett um den Hals und warst immer gesund. Als du drei Jahre alte wurdest, hast du die Nabelschnur verloren und begannst daraufhin zu kränkeln. Wir versuchten zuerst, die Krankheit abzulenken, und stellten Wein und Süßigkeiten in dein Zimmer. Wir ließen einen gefärbten Hahn durch das Zimmer laufen, aber auch dann ließ die Krankheit nicht nach. Da kam ein weiser Mann aus den Bergen und brachte eine Kuh. Wir schlachteten die Kuh, und der weise Mann schnitt ihr den Bauch auf und nahm die Eingeweide heraus. Er steckte dich in den Bauch der Kuh. Als er dich nach drei Stunden herausnahm, war deine Haut ganz rot. Von da ab warst du gesund.«

Aus dem Hause drang ein dumpfer, langer Schrei. Ich saß aufrecht und regungslos, und alles in mir war Gehör. Der Schrei wiederholte sich, gedehnt und klagend.

»Jetzt verflucht sie dich«, sagte der Vater ruhig, »jede Frau verflucht ihren Mann in den Stunden des Gebärens. In früheren Zeiten mußte die Frau nach der Geburt einen Hammel schlachten und mit seinem Blute die Lagerstätten des Mannes und des Kindes bespritzen, um das Unheil abzuleiten, das sie während ihrer Wehen über die beiden heraufbeschworen hatte.«

»Wie lange kann es dauern, Vater?«

»Fünf Stunden, sechs Stunden, vielleicht zehn Stunden. Sie hat schmale Hüften.«

Er verstummte. Vielleicht dachte er an die eigene Frau, die meine Mutter war und im Wochenbett starb. Plötzlich erhob er sich.

»Komm«, sagte er, und wir gingen zu den beiden roten Gebetteppichen in der Mitte des Daches. Die oberen Enden der Teppiche waren gen Mekka gewandt, in Richtung der heiligen Kaaba. Wir zogen die Schuhe aus. Wir stellten uns auf die Teppiche und falteten die Hände, mit der rechten Handfläche den linken Handrücken bedeckend.

»Das ist alles, was wir tun können, aber das ist mehr als alle Weisheit der Ärzte.«

Er beugte sich vor und sprach die arabischen Worte des Gebetes:

»Bismi ilahi rrahmani rahim — Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Allbarmherzigen…«

Ich folgte ihm. Ich kniete auf dem Gebetteppich, und meine Stirn berührte den Boden.

»Alhamdu lillahi rabi-1-alamin, arrahmani rahim, maliki jaumi din — Gelobt sei Gott, der Herr der Welten, der Allerbarmer, der Allbarmherzige, der Herr des Jüngsten Gerichtes…«

Ich saß auf dem Teppich, und meine Hände verdeckten mein Gesicht. Ninos Schreie streiften mein Ohr, aber ich erfaßte sie nicht mehr. Meine Lippen formten von selbst die Sätze des Korans:

»Ijjaka na budu waijjaka nastain — Dich verehren wir, und dich flehen wir um Gnade an…«

Meine Hände lagen jetzt auf meinen Knien. Es war sehr still, und ich hörte das Flüstern meines Vaters:

»Ihdina sirata-lmustaqim sirata lladina anammta alaihim — Führ uns auf den rechten Weg, auf den Weg derer, denen du gnädig bist…«

Die roten Linien des Gebetteppichs verschwammen vor meinen Augen. Mein Gesicht lag auf dem Teppich.

»Gaira lmagdumi alaihim wala ddalin — Denen du nicht zürnest und die du nicht irreführst…«

So lagen wir im Staube, vor dem Antlitz des Herrn. Wieder und immer wieder sprachen wir die Worte des Gebetes, die Gott einst dem Propheten in Mekka in der fremden Zunge der arabischen Nomaden eingegeben hatte. Ninos Schreie verstummten. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich, der Rosenkranz glitt durch meine Hände, und meine Lippen flüsterten die dreiunddreißig Namen des Herrn.

Jemand berührte meine Schulter. Ich hob den Kopf, sah ein lächelndes Gesicht und hörte unverständliche Worte. Ich erhob mich. Ich fühlte die Blicke des Vaters auf mir ruhen und stieg langsam die Treppe hinab.

Die Fenster in Ninos Zimmer waren verhängt. Ich näherte mich dem Bette. Ninos Augen waren voll Tränen. Ihre Wangen waren eingefallen. Sie lächelte still und sagte plötzlich auf tatarisch, in der einfachen Sprache unseres Volkes, die sie kaum beherrschte:

»Kis dir, Ali Khan, tschoch gusel bir kis. O kadar bahtiarim — Es ist ein Mädchen, Ali Khan, ein herrliches Mädchen, ich bin so glücklich.«

Ich ergriff ihre kalten Hände, und sie schloß die Augen.

»Laß sie nicht einschlafen, Ali Khan, sie muß noch eine Weile wach bleiben«, sagte jemand hinter meinem Rücken.

Ich streichelte ihre trockenen Lippen, und sie blickte zu mir auf, ruhig und ermattet. Eine Frau in weißer Schürze näherte sich dem Bett. Sie hielt mir ein Bündel hin, und ich sah ein kleines, runzliges Spielzeug, mit winzigen Fingerchen und großen, ausdruckslosen Augen. Das Spielzeug weinte mit verzogenem Gesicht.

»Wie schön sie ist«, sagte Nino verzückt und spreizte die Finger, die Bewegungen des Spielzeugs nachahmend. Ich hob die Hand und berührte furchtsam das Bündel, aber das Spielzeug schlief bereits mit ernstem und gerunzeltem Gesicht.

»Wir werden es Tamar nennen, zu Ehren des Lyzeums«, flüsterte Nino, und ich nickte, denn Tamar war ein schöner Name, gleich gebräuchlich bei Christen und Muslims.

Jemand führte mich aus dem Zimmer. Neugierige Blicke streiften mich, und mein Vater nahm mich an der Hand. Wir gingen in den Hof.

»Wir wollen in die Wüste hinausreiten«, sagte er, »Nino darf bald einschlafen.«

Wir bestiegen die Pferde und sausten im wilden Galopp durch die gelbsandigen Dünen. Mein Vater sprach etwas, doch nur mit Mühe verstand ich, daß er mich zu trösten versuchte. Ich begriff nicht, warum, denn ich war sehr stolz, eine runzlige, schlafende Tochter zu haben, mit grüblerischem Gesicht und ausdruckslosen Augen.


Tage zogen vorbei, wie Steine an der Schnur des Rosenkranzes. Nino hielt das Spielzeug an ihrer Brust. Nachts sang sie ihm leise georgische Weisen vor und schüttelte gedankenvoll den Kopf beim Anblick ihres kleinen, runzligen Ebenbildes. Zu mir war sie grausam und überheblich wie nie zuvor, denn ich war nur ein Mann, unfähig, zu gebären, zu stillen und mit Windeln umzugehen. Ich saß im Ministerium, wühlte in den Akten, und sie rief mich gnädig an und meldete gewaltige Ereignisse und umstürzlerische Taten.

»Ali Khan, das Spielzeug hat gelacht und spreizte die Hände in Richtung der Sonne.«

»Es ist ein sehr kluges Spielzeug, Ali Khan, ich zeigte ihm eine Glaskugel, und es blickte nach ihr.«

»Hör zu, Ali Khan, das Spielzeug zeichnet mit dem Finger Linien auf seinem Bauch. Es scheint ein begabtes Spielzeug zu sein.«

Doch während das Spielzeug Linien auf seinem Bauche zeichnete und mit aufgeregten Blicken eine Glaskugel verfolgte, spielten im fernen Europa erwachsene Menschen mit Grenzen, Armeen und Staaten. Ich las die Berichte auf meinem Tisch und blickte auf die Landkarte, auf der die fragwürdigen Grenzen der künftigen Welt verzeichnet waren. Geheimnisvolle Menschen mit schwer aussprechbaren Namen saßen in Versailles und bestimmten das Schicksal des Orients. Nur ein einziger Mann, ein blonder türkischer General aus Ankara, wagte noch verzweifelten Widerstand gegen die Sieger. Unser Land Aserbaidschan wurde von den europäischen Mächten als selbständig anerkannt, und es kostete mich einige Mühe, den begeisterten Iljas Beg mit der Nachricht zu ernüchtern, daß englische Regimenter für immer aus dem Gebiet unserer souveränen Republik abzögen.

»Wir sind jetzt endgültig frei«, schwärmte er, »kein Fremder auf dem Boden unseres Landes.«

»Sieh her, Iljas Beg«, sagte ich und führte ihn zur Karte, »unsere natürliche Stütze wären Türkei und Persien, doch beide sind jetzt machtlos. Wir hängen im luftleeren Raum, und vom Norden her drängen hundertsechzig Millionen Russen, die nach unserem Öl dürsten. Solange die Engländer hier sind, traut sich kein Russe, ob rot oder weiß, über die Grenze. Ziehen die Engländer ab, so bleiben zur Verteidigung von Aserbaidschan nur du und ich und die paar Regimenter, die unser kleines Land aufstellen kann.«

»Ach was«, Iljas Beg schüttelte sorglos den Kopf, »wir haben ja unsere Diplomaten, um mit den Russen Freundschaftsverträge abzuschließen. Die Armee hat anderes zu tun. Hier«, er zeigte auf die Südgrenze des Landes, »wir müssen zur armenischen Grenze. Drüben sind Aufstände. General Mechmandar, der Kriegsminister, hat bereits den Befehl gegeben.«

Es war aussichtslos, ihn zu überzeugen, daß die Diplomatie erst dann einen Sinn hat, wenn sie vom Militär richtig gestützt wird.

Die englischen Regimenter zogen ab, die Straßen waren festlich beflaggt, unsere Truppen marschierten zur armenischen Grenze, und bei Jalama, an der russich-aserbaidschanischen Grenzstation, blieben eine Grenzpatrouille und einige Beamte. Im Ministerium gingen wir an die Ausarbeitung von Verträgen sowohl mit den weißen wie mit den roten Russen, und mein Vater fuhr nach Persien zurück. Nino und ich begleiteten ihn zum Pier. Er blickte uns traurig an und fragte nicht, ob wir ihm folgen wollten.

»Was wirst du in Persien tun, Vater?«

»Wahrscheinlich heiraten«, antwortete er gleichmütig und küßte uns feierlich und versonnen, »ich werde euch hin und wieder besuchen, und wenn dieser Staat zerfallen sollte — nun, ich habe einige Güter in Masendaran.«

Er bestieg die Falltreppe, stand auf Deck und winkte lange, uns, der alten Mauer, dem breiten Mädchenturm, der Stadt und der Wüste, die langsam seinen Blicken entschwanden.

In der Stadt war es heiß, und die Fenster des Ministeriums waren halb verhängt. Die russischen Beauftragten kamen und hatten gelangweilte und verschlagene Gesichter. Sie unterschrieben gleichgültig und eilig den endlosen Vertrag, der in Paragraphen, Absätze und Fußnoten zerfiel.

Staub und Sand bedeckten unsere Straßen, heißer Wind wirbelte Papierfetzen durch die Luft, die fürstlichen Schwiegereltern fuhren über den Sommer nach Georgien, und bei Jalama standen immer noch eine Patrouille und wenige Beamte.

»Assadullah«, wandte ich mich an den Minister, »jenseits von Jalama stehen dreißigtausend Russen.«

»Ich weiß«, sagte er finster, »unser Stadtkommandant meint, es handle sich nur um Manöver.«

»Und wenn es keine sind?«

Er sah mich gereizt an.

»Unsere Sache ist es, Verträge abzuschließen. Alles andere liegt in der Hand Gottes.«

Ich ging durch die Straßen und sah ein paar wackere Gardisten mit aufgepflanzten Bajonetten, die das Gebäude des Parlaments bewachten. Im Parlament drohten die russischen Arbeiter mit Streik, falls die Regierung die Ölzufuhr nach Rußland nicht freigebe.

Männer füllten die Kaffeehäuser, lasen Zeitungen und spielten Nardy. Kinder balgten sich im heißen Staub. Die Stadt war von Sonnenglut übergossen, und vom Gebetturm ertönte der Ruf:

»Steht auf zum Gebet! Steht auf zum Gebet! Das Gebet ist besser als der Schlaf!«

Ich schlief nicht, ich lag auf dem Teppich mit geschlossenen Augen und sah die Grenzstation Jalama von dreißigtausend russischen Soldaten bedroht.

»Nino«, sagte ich, »es ist heiß, das Spielzeug ist die Sonne nicht gewohnt, und du liebst Bäume, Schatten und Wasser. Willst du über den Sommer zu deinen Eltern nach Georgien?«

»Nein«, sagte sie streng, »ich will nicht.«

Ich schwieg, und Nino runzelte gedankenvoll die Stirn.

»Wir sollten aber gemeinsam verreisen, Ali Khan, es ist heiß in der Stadt. Du hast doch ein Gut bei Gandscha, inmitten von Gärten und Weinreben. Fahren wir hin, du bist dort wie zu Hause, und das Spielzeug hat Schatten.«

Ich konnte nichts einwenden. Wir fuhren ab, und die Wagen unseres Zuges prangten im vollen Schmuck der neuen aserbaidschanischen Hoheitszeichen.

Eine breite, staubige und lange Straße führte vom Bahnhof zur Stadt Gandscha. Niedrige Häuser umgaben die Kirchen und Moscheen. Ein trockenes Flußbett trennte das mohammedanische vom armenischen Viertel, und ich zeigte Nino den Stein, an dem vor hundert Jahren mein Ahne Ibrahim den russischen Kugeln erlegen war. Draußen auf unserem Gut lagen träge Büffel regungslos und faul bis über die Brust im kalten Wasser. Es roch nach Milch, und die Trauben hatten die Größe von Kuhaugen. Die Schädel der Bauern waren in der Mitte ausrasiert und trugen rechts und links lange, nach vorne gekämmte Haarbüschel. Das kleine Haus mit der Holzveranda war von Bäumen umgeben, und das Spielzeug lachte beim Anblick der Pferde, Hunde und Hühner.

Wir richteten uns im Hause ein, und ich vergaß für Wochen das Ministerium, die Verträge und die Grenzstation Jalama. Wir lagen im Gras, und Nino kaute an den bitteren Halmen. Ihr Gesicht, von Sonne gebräunt, war klar und friedlich wie der Himmel über Gandscha. Sie war zwanzig Jahre alt und immer noch viel zu schlank für die Begriffe des Orients.

»Ali Khan, dieses Spielzeug gehört aber ganz mir. Das nächste Mal wird es ein Knabe sein, den kannst du haben.«

Dann entwarf sie ausführliche Pläne für die Zukunft des Spielzeuges, in denen Tennis, Oxford, französische und englische Sprachstudien vorkamen, ganz nach europäischem Muster.

Ich schwieg, denn das Spielzeug war noch sehr klein, und bei Jalama standen dreißigtausend Russen. Wir spielten im Gras und aßen auf breiten Teppichen im Schatten der Bäume. Nino schwamm in dem kleinen Fluß, etwas oberhalb der Stelle, an der die Büffel badeten. Bauern mit runden, kleinen Mützen kamen herbei, verbeugten sich vor ihrem Khan und brachten Körbe mit Pfirsichen, Äpfeln und Trauben. Wir lasen keine Zeitungen und bekamen keine Briefe, die Welt endete für uns am Rande des Gutes, und es war beinahe so schön wie im Aul in Daghestan.

An einem späten Sommerabend saßen wir im Zimmer und hörten von weitem dumpfes Pferdegetrappel. Ich trat auf die Veranda, und eine schlanke Gestalt im schwarzen Tscherkessenrock sprang vom Pferd.

»Iljas Beg«, rief ich und streckte ihm die Hände entgegen. Er erwiderte nicht den Gruß. Er stand im Scheine der Petroleumlampe, und sein Gesicht war grau und eingefallen.

»Die Russen sind in Baku«, sagte er hastig.

Ich nickte, als wäre es mir längst bekannt. Nino stand hinter mir, und ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen:

»Wie ist das geschehen, Iljas Beg?«

»In der Nacht kamen die Züge von Jalama, besetzt mit russischen Soldaten. Sie schlossen die Stadt ein, und das Parlament kapitulierte. Alle Minister, die nicht fliehen konnten, wurden verhaftet, das Parlament aufgelöst. Die russischen Arbeiter stellten sich auf die Seite ihrer Landsleute. Es gab keine Soldaten in Baku, und die Armee stand auf verlorenem Posten an der Grenze Armeniens. Ich will Freischaren sammeln.«

Ich wandte mich um. Nino verschwand im Hause, während die Diener die Pferde vor den Wagen spannten. Sie packte die Sachen und sprach mit dem Spielzeug leise und in der Sprache ihrer Ahnen. Dann fuhren wir durch die Felder, Iljas ritt neben uns. In der Ferne leuchteten die Lichter von Gandscha, und für einen Augenblick fühlte ich, wie Gegenwart und Vergangenheit in mir ineinander übergingen. Ich sah Iljas Beg, mit dem Dolch im Gurt, blaß und ernst, und Nino, gefaßt und stolz, wie einst beim Melonenfeld von Mardakjany.

Nachts kamen wir in Gandscha an. Die Straßen waren voller Menschen, die Gesichter voller Aufregung und Spannung. Auf der Brücke, die Armenier und Mohammedaner voneinander trennte, standen Soldaten mit schußbereiten Gewehren, und die Fackeln beleuchteten die Fahne Aserbaidschans am Balkon des Regierungsgebäudes.

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