Die Farben der Landkarte waren grell und verworren. Die Namen der Orte, Gebirge und Flüsse gingen ineinander über und waren unleserlich. Die Karte lag auf dem Diwan ausgebreitet, und ich saß davor mit bunten Fähnchen in der Hand. Neben mir hatte ich eine Zeitung liegen, in deren Spalten die Namen der Orte, Gebirge und Flüsse ebenso verdruckt waren wie auf der bunten Karte. Ich beugte mich über beide und versuchte fleißig, die Fehler der Zeitung mit der Unleserlichkeit der Landkarte in Einklang zu bringen. Ich steckte ein grünes Fähnchen in einen kleinen Kreis. Neben dem Kreis stand gedruckt »Elisabethpol (Gandscha)«. Die letzten fünf Buchstaben verdeckten bereits die Berge von Sanguldak. Nach Mitteilung der Zeitung hatte der Rechtsanwalt Feth Ali Khan von Choja in Gandscha die freie Republik Aserbaidschan ausgerufen. Die Reihe der grünen Fähnchen östlich von Gandscha stellte die Armee dar, die Enver zur Befreiung unseres Landes entsandt hatte. Rechts näherten sich die Regimenter Nuri Paschas der Stadt Agdasch. Links besetzte Mursal Pascha die Täler von Elissu. In der Mitte kämpften die Bataillone der Freiwilligen. Die Karte war jetzt klar und übersichtlich. Langsam schloß sich der türkische Ring um das russische Baku. Noch einige Verschiebungen der grünen Fähnchen, und die roten Fahnen des Feindes würden sich im wirren Haufen auf dem großen Klecks mit der Aufschrift Baku zusammendrängen.
Jahja Kuli, der Eunuch, stand hinter meinem Rücken und verfolgte angestrengt das seltsame Spiel, das ich trieb. Das Verpflanzen der Fähnchen auf dem bunten Papier mochte ihm wie dunkle Beschwörungskünste eines mächtigen Zauberers erscheinen. Vielleicht verwechselte er die Ursache mit der Wirkung und dachte, daß ich lediglich die grünen Fähnchen in dem roten Fleck Baku aufzustellen brauchte, um mit Hilfe übersinnlicher Kräfte meine Stadt den Händen der Ungläubigen zu entreißen. Er wollte mich nicht bei diesem geheimnisvollen Werk stören und erstattete lediglich mit monotoner, ernster Stimme seinen pflichtgemäßen Bericht:
»O Khan, als ich ihr die Nägel mit roter Henna färben wollte, warf sie die Schale um und kratzte mich, obwohl ich das teuerste Henna genommen hatte, das nur aufzutreiben war. Frühmorgens führte ich sie zum Fenster, nahm ihren Kopf ganz zart in meine Hände und wollte, daß sie den Mund öffne. Es ist doch meine Pflicht, o Khan, ihre Zähne zu sehen. Sie riß sich aber los, hob ihre rechte Hand und schlug auf meine linke Wange. Es hat nicht sehr geschmerzt, war aber entehrend. Verzeih deinem Sklaven, Khan, aber ich traue mich nicht, die Haare von ihrem Körper zu entfernen. Sie ist eine seltsame Frau. Sie trägt keine Amulette und nimmt keine Mittel, um ihr Kind zu schützen. Zürne nicht mir, Khan, wenn es ein Mädchen wird, zürne Nino Hanum. Sie muß von einem bösen Geist besessen sein, denn sie zittert, wenn ich sie berühre. Ich kenne an der Moschee Abdul-Asim eine alte Frau. Sie versteht sich auf das Austreiben böser Geister. Vielleicht wäre es gut, sie hierher zu befehlen. Bedenke, Khan: sie wäscht ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser, damit ihre Haut verderbe. Sie putzt ihre Zähne mit harten Bürsten, so daß das Zahnfleisch blutet, anstatt wie alle Leute sie mit dem rechten Zeigefinger zu putzen, der vorher in duftende Salbe getaucht ist. Nur ein böser Geist kann ihr solche Gedanken eingegeben haben.«
Ich hörte ihm kaum zu. Fast täglich erschien er in meinem Zimmer und erstattete seine einförmigen Berichte. Seine Augen waren von ehrlicher Sorge erfüllt, denn er war ein pflichtbewußter Mensch und fühlte sich für mein künftiges Kind verantwortlich. Nino führte mit ihm einen verspielten, aber zähen Kampf. Sie warf nach ihm mit Kissen, spazierte unverschleiert auf der Mauer des Hauses, warf seine Amulette aus dem Fenster und bedeckte die Wände ihrer Zimmer mit Photographien all ihrer georgischen Vettern. Er meldete mir das alles betrübt und erschrocken, und abends saß Nino vor mir auf dem Diwan und entwarf den Schlachtplan für den nächsten Tag.
»Was meinst du, Ali Khan«, sagte sie und rieb sich gedankenvoll das Kinn, »soll ich nachts einen dünnen Wasserschlauch auf sein Gesicht richten oder lieber am Tage eine Katze nach ihm werfen? Nein, ich weiß was anderes. Ich werde täglich an der Fontäne turnen, und er muß mitturnen, denn er wird zu fett. Oder noch besser: ich kitzle ihn einfach, bis er stirbt. Ich habe gehört, daß man vom Kitzeln sterben kann, und er ist wahnsinnig kitzlig.«
Sie brütete düstere Rachepläne, bis sie einschlief, und am nächsten Tag meldete der Eunuch entsetzt:
»Ali Khan, Nino Hanum steht am Bassin und macht mit Armen und Beinen sehr seltsame Bewegungen. Ich fürchte mich, Herr. Sie beugt ihren Körper nach vorne und nach hinten, als hätte sie gar keine Knochen. Vielleicht ehrt sie auf diese Weise eine unbekannte Gottheit. Sie will, daß ich ihre Bewegungen nachahme. Aber ich bin ein frommer Muslim, Khan, und werfe mich nur vor Allah in den Staub. Ich habe große Angst um ihre Knochen und um mein Seelenheil.«
Es hätte keinen Sinn, den Eunuchen hinauszuschmeißen. An seiner Stelle wäre ein anderer gekommen, denn ohne Eunuchen ist ein Haushalt undenkbar. Niemand anderer kann die Weiber beaufsichtigen, die im Haus beschäftigt sind, niemand anderer kann rechnen, das Geld aufbewahren und die Ausgaben prüfen. Einzig und allein der Eunuch, der Wunschlose und Unbestechliche.
Deshalb schwieg ich und blickte auf die grüne Linie der Fähnchen, die Baku umschloß… Der Eunuch hüstelte dienstbeflissen.
»Soll ich die alte Frau von der Moschee Abdul-Asim herbestellen?«
»Wozu, Jahja Kuli?«
»Um die bösen Geister aus Nino Hanums Leib auszutreiben.«
Ich seufzte, denn die weise Frau von der Moschee Abdul-Asim wird den Geistern Europas kaum gewachsen sein.
»Nicht nötig, Jahja Kuli. Ich verstehe mich selbst auf Geisterbeschwörungen. Ich werde gelegentlich alles ordnen. Doch jetzt ist meine Zauberkraft durch diese Fähnchen in Anspruch genommen.«
In den Augen des Eunuchen zeigte sich Furcht und Neugierde.
»Wenn die grünen Fähnchen die roten verdrängt haben, dann ist deine Heimat befreit? Nicht wahr, Khan?«
»So ist es, Jahja Kuli.«
»Und kannst du nicht gleich die grünen Fähnchen dahin stellen, wo sie hingehören?«
»Das kann ich nicht, Jahja Kuli, meine Kraft reicht nicht aus.«
Er sah mich voller Sorge an.
»Du solltest Gott bitten, daß er dir die Kraft dazu gebe. Nächste Woche beginnt das Fest des Monats Moharrem. Wenn du im Moharrem Gott anflehst, wird er dir die Kraft verleihen.«
Ich faltete die Karte zusammen und war müde, verwirrt und traurig zugleich. Es wurde auf die Dauer unbehaglich, dem Plappern des Eunuchen zuzuhören. Nino war nicht zu Hause. Ihre Eltern waren nach Teheran gekommen, und Nino verbrachte lange Stunden in der kleinen Villa, in der die fürstliche Familie Wohnung genommen hatte. Heimlich traf sie sich dort mit andern Europäern, ich wußte davon und schwieg, denn sie tat mir sehr leid. Der Eunuch stand regungslos, meine Befehle abwartend. Ich dachte an Seyd Mustafa. Mein Freund war für kurze Zeit aus Mesched nach Teheran gekommen. Ich sah ihn selten, denn er verbrachte seine Tage in Moscheen, an Heiligengräbern und mit weisen Gesprächen mit zerlumpten Derwischen.
»Jahja Kuli«, sagte ich endlich, »fahr zu Seyd Mustafa. Er wohnt an der Moschee Sepahselar. Bitte ihn, mir die Ehre seines Besuches zu erweisen.«
Der Eunuch ging. Ich blieb allein. Meine Kraft reichte in der Tat nicht aus, um die grünen Fähnchen nach Baku zu versetzen. Irgendwo in den Steppen meiner Heimat kämpften die Bataillone der Türken. Darunter die Truppen der Freiwilligen mit der neuen Fahne Aserbaidschans. Ich kannte die Fahne, ich kannte die Zahl der Truppen und die Kämpfe, in denen sie fochten. In den Reihen der Freiwilligen kämpfte Iljas Beg. Ich sehnte mich nach dem Schlachtfeld mit dem morgendlichen Hauch des frischen Taus. Der Weg zur Front war mir verschlossen. Englische und russische Formationen bewachten die Grenzen. Die breite Brücke über den Araxes, die Iran mit dem Schauplatz des Krieges verband, war jetzt mit Stacheldraht, Maschinengewehren und Soldaten abgesperrt. Wie eine Schnecke in ihr Haus, so verkroch sich das Land Iran in seine wohlbehütete Ruhe. Kein Mensch, keine Maus, keine Fliege durfte in das verpestete Gebiet gelangen, in dem gekämpft, geschossen und wenig gedichtet wurde. Dagegen waren viele Flüchtlinge aus Baku gekommen: darunter Arslan Aga, das schwatzhafte Kind mit unruhigen Gebärden. Er lief durch die Teestuben und schrieb Artikel, in denen er die Siege der Türken mit den Feldzügen Alexanders verglich. Ein Artikel wurde verboten, denn der Zensor witterte in der Verherrlichung Alexanders einen geheimen Ausfall gegen Persien, das einst von Alexander besiegt wurde. Seitdem bezeichnete sich Arslan Aga als Märtyrer seiner Gesinnung. Er besuchte mich und erzählte mir sehr genau von den Heldentaten, die ich bei der Verteidigung Bakus vollbracht haben sollte. In seiner Phantasie waren Legionen von Feinden an meinem Maschinengewehr vorbeimarschiert, in der ausschließlichen Absicht, von mir erschossen zu werden. Er selbst hatte die Zeit der Kämpfe im Keller einer Druckerei verbracht, beim Abfassen patriotischer Aufrufe, die nirgends verkündet wurden. Er las sie mir vor und bat mich, ihm die Gefühle mitzuteilen, die ein Held beim Nahkampf verspürt. Ich stopfte ihm den Mund mit Süßigkeiten und führte ihn hinaus. Er hinterließ den Geruch der Druckerschwärze und ein dickes, unbeschriebenes Heft, in dem ich die Gefühle des Helden im Nahkampf niederlegen sollte. Ich blickte auf die weißen Bogen, dachte an Ninos traurige und abwesende Blicke, dachte an mein verworrenes Leben und ergriff die Feder. Nein, nicht um die Gefühle des Helden im Nahkampf niederzuschreiben, sondern um den Weg aufzuzeichnen, der uns, Nino und mich, in die duftenden Gärten von Schimran geführt und das Lächeln aus ihren Augen gebannt hatte.
Ich saß und schrieb mit der geschlitzten, persischen Bambusfeder. Ich ordnete die losen Notizen, die ich noch in der Schule begonnen hatte, und die Vergangenheit erstand vor mir. Bis Seyd Mustafa ins Zimmer trat und sein pockennarbiges Gesicht an meine Schulter drückte.
»Seyd«, sagte ich, »mein Leben ist in Unordnung geraten. Der Weg zur Front ist abgeschnitten, Nino lacht nicht mehr, und ich vergieße Tinte anstatt Blut. Was soll ich tun, Seyd Mustafa?«
Mein Freund sah mich ruhig und durchdringend an. Er trug schwarze Gewänder, und sein Gesicht war abgemagert. Sein hagerer Körper schien unter der Last eines Geheimnisses gebückt. Er setzte sich hin und sprach:
»Mit den Händen kannst du nichts erreichen, Ali Khan. Aber ein Mensch besitzt mehr als bloß Hände. Siehe mein Gewand, und du wirst wissen, was ich meine. In der Welt des Unsichtbaren liegt die Macht über die Menschen. Streife das Geheimnis, und du wirst der Macht teilhaftig.«
»Ich verstehe dich nicht, Seyd. Meine Seele schmerzt, und ich suche einen Weg aus der Finsternis.«
»Du bist dem Irdischen zugewandt, Ali Khan, und vergißt den Unsichtbaren, der das Irdische lenkt. Im Jahre 680 der Flucht fiel bei Kerbela, von Feinden des Glaubens verfolgt, Hussein, der Enkel des Propheten. Er war der Erlöser und der Geheimnisreiche. Mit seinem Blute zeichnete der Allmächtige die sinkende und aufgehende Sonne. Zwölf Imame herrschten über die Gemeinschaft der Schia, über uns Schiiten: der erste war Hussein, und der letzte ist der Imam des letzten Tages, der Unsichtbare, der heute noch insgeheim das Volk der Schia führt. Überall in seinem Wirken sichtbar und dennoch ungreifbar ist der verborgene Imam. Ich sehe ihn im Aufgang der Sonne, im Wunder der Saat, im Sturm des Meeres. Ich höre seine Stimme im Knattern des Maschinengewehrs, im Seufzer einer Frau und im Wehen des Windes. Und der Unsichtbare gebietet: Trauer sei das Los der Schia, Trauer um das Blut Husseins, das im Sande der Wüste bei Kerbela vergossen wird. Ein Monat des Jahres ist der Trauer geweiht. Der Monat Moharrem. Wer ein Leid hat, weine im Monat der Trauer. Am zehnten Tage des Moharrem erfüllt sich das Los der Schia; denn dies ist der Todestag des Märtyrers… Das Leid, das der Jüngling Hussein auf sich nahm, dieses Leid muß auf die Schultern der Frommen gelegt werden. Wer einen Teil dieses Leides auf sich nimmt, wird eines Teiles der Gnade teilhaftig. Deshalb kasteit sich der Fromme im Monat Moharrem, und im Schmerz der Selbstkasteiung offenbart sich dem Verwirrten der Weg der Gnade und die Lust der Erlösung. Dieses ist das Geheimnis des Moharrem.«
»Seyd«, sagte ich müde und gereizt, »ich fragte dich, wie ich die Freude in mein Haus zurückrufen soll, denn dumpfe Angst erfüllt mich, und du erzählst mir Weisheiten aus der Unterrichtsstunde für Religion. Soll ich durch die Moscheen laufen und mit eisernen Ketten meinen Rücken schlagen? Ich bin fromm und erfülle die Gebote der Lehre. Ich glaube an das Geheimnis des Unsichtbaren, aber ich glaube nicht, daß der Weg zu meinem Glück über das Mysterium des heiligen Hussein führt.«
»Ich glaube es, Ali Khan. Du fragtest mich nach dem Weg, und ich nenne ihn dir. Ich weiß keinen andern. Iljas Beg vergießt sein Blut an der Front bei Gandscha. Du kannst nicht nach Gandscha. Deshalb weihe dein Blut dem Unsichtbaren, der es am zehnten Tage des Moharrem von dir fordert. Sage nicht, daß das heilige Opfer sinnlos ist — nichts ist sinnlos in der Welt des Leides. Kämpfe im Moharrem für die Heimat, wie Iljas bei Gandscha.«
Ich schwieg. In den Hof fuhr die Kutsche mit den geschliffenen Glasfenstern und Ninos Gesicht wurde hinter den Scheiben undeutlich sichtbar. Die Tür zum Haremsgarten öffnete sich, und Seyd Mustafa hatte es plötzlich sehr eilig.
»Komm morgen zu mir in die Moschee Sepahselar. Dann können wir weitersprechen.«