30. Kapitel

Ich sitze an der Mauer der großen Moschee von Gandscha. Ein Suppenteller steht vor mir, und Soldaten mit müden Gliedern liegen im Hof. Vom Flusse her kläffen die Maschinengewehre. Ihr böses Bellen dringt in den Moscheehof, und die Republik Aserbaidschan hat nur noch wenige Tage zu leben.

Ich sitze abseits im großen Hof. Mein Heft liegt vor mir, und ich fülle es mit hastigen Zeilen, die die Vergangenheit noch einmal festhalten sollen.

Wie war das, damals, vor acht Tagen, in dem kleinen Hotelzimmer in Gandscha?

»Du bist wahnsinnig«, sagte Iljas Beg.

Es war drei Uhr nachts, und Nino schlief im Nebenzimmer.

»Du bist wahnsinnig«, wiederholte er und ging im Zimmer auf und ab.

Ich saß am Tisch, und die Meinung Iljas Begs war für mich das Unwichtigste auf Erden.

»Ich bleibe hier. Die Freischärler kommen. Wir werden kämpfen. Ich fliehe nicht aus meinem Lande.«

Ich sprach leise und wie im Traume. Iljas Beg blieb stehen und sah mich traurig und trotzig an.

»Ali Khan, wir sind zusammen zur Schule gegangen und balgten uns mit den Russen in der großen Pause. Ich ritt hinter dir, als du den Wagen Nachararjans verfolgtest. Ich brachte Nino in meinem Sattel nach Hause, und wir kämpften zusammen an der Pforte Zizianaschwilis. Jetzt mußt du fort. Ninos wegen, deinetwegen, des Landes wegen, das dich vielleicht noch einmal brauchen wird.«

»Du bleibst hier, Iljas Beg, und ich bleibe auch.«

»Ich bleibe hier, weil ich allein auf der Welt bin, weil ich Soldaten zu führen weiß und dem Lande die Erfahrungen zweier Feldzüge zu bieten habe. Du geh nach Persien, Ali Khan.«

»Ich kann nicht nach Persien gehen. Ich kann auch nicht nach Europa.«

Ich trat ans Fenster. Unten brannten die Fackeln und klirrte das Eisen.

»Ali Khan, unsere Republik hat keine acht Tage mehr zu leben.«

Ich nickte gleichgültig. Menschen zogen am Fenster vorbei, und ich sah Waffen in ihren Händen.

Ich hörte Schritte im Nebenzimmer und wandte mich um. Nino stand in der Tür mit verschlafenen Augen.

»Nino«, sagte ich, »der letzte Zug nach Tiflis geht in zwei Stunden.«

»Ja, wir wollen fahren, Ali Khan.«

»Nein, du fährst mit dem Kind. Ich komme später nach. Ich muß noch hierbleiben. Aber du mußt fort. Es ist nicht so wie damals in Baku. Es ist alles anders, und du kannst nicht hierbleiben, Nino. Du hast jetzt dein Kind.«

Ich sprach, draußen brannten die Fackeln, und Iljas Beg stand in der Ecke des Zimmers mit gesenktem Haupt.

Der Schlaf wich aus Ninos Augen. Sie ging langsam zum Fenster und blickte hinaus. Sie sah zu Iljas hinüber, und er mied ihre Blicke. Sie trat in die Mitte des Zimmers und neigte den Kopf zur Seite.

»Das Spielzeug«, sagte sie, »und du willst nicht mit?«

»Ich kann nicht, Nino.«

»Dein Ahne fiel an der Brücke von Gandscha. Ich weiß es seit der Maturaprüfung in Geschichte.«

Nino setzte sich auf den Boden und schrie plötzlich auf, wie ein wundes Tier an der Schwelle des Todes. Ihre Augen waren trocken, und ihr Körper zitterte. Sie schrie, und Iljas stürzte aus dem Zimmer.

»Ich komme doch nach, Nino. Ich komme bestimmt nach, in wenigen Tagen.«

Sie schrie, und unten sangen die Menschen das wilde Lied von der sterbenden Republik.

Plötzlich verstummte Nino und sah vor sich hin mit starren Augen. Dann erhob sie sich. Ich nahm die Koffer. Das Bündel mit dem Spielzeug lag in meinem Arm, und wir gingen schweigend die Hoteltreppe hinunter. Iljas Beg wartete im Wagen. Wir fuhren durch die überfüllten Straßen zum Bahnhof.

»Drei, vier Tage, Nino«, sprach Iljas, »nur drei, vier Tage, und Ali Khan ist bei Ihnen.«

»Ich weiß«, Nino nickte still. »Wir werden zuerst in Tiflis bleiben, und dann fahren wir nach Paris. Wir werden ein Haus mit einem Garten haben, und das nächste Kind wird ein Knabe sein.«

»So wird es sein, Nino, genau so.«

Meine Stimme klang klar und zuversichtlich. Sie drückte meine Hand und blickte in die Ferne.

Die Geleise glichen langen Schlangen, und der Zug tauchte aus der Dunkelheit auf wie ein böses Ungetüm.

Sie küßte mich flüchtig.

»Leb wohl, Ali Khan. In drei Tagen sehen wir uns.«

»Natürlich, Nino, und dann nach Paris.«

Sie lächelte, und ihre Augen waren wie weicher Samt. Ich blieb am Bahnhof stehen, unfähig, mich zu rühren, wie angewurzelt an den harten Asphalt. Iljas Beg brachte sie in ihr Abteil. Sie blickte zum Fenster hinaus und war still und verloren wie ein kleiner, erschrockener Vogel. Sie winkte, als der Zug abfuhr, und Iljas Beg sprang vom Wagen.

Wir fuhren zur Stadt. Ich dachte an die Republik, die nur noch wenige Tage zu leben hatte.

Der Morgen graute, und die Stadt glich einem Waffenlager. Die Bauern kamen aus den Dörfern und brachten verborgen gehaltene Maschinengewehre und Munition. Jenseits des Flußufers, im armenischen Stadtteil, fielen vereinzelte Schüsse. Drüben lag bereits Rußland. Die rote Reiterarmee ergoß sich über das Land, und in der Stadt tauchte ein Mann auf mit buschigen Augenbrauen, gebogener Nase und tiefsitzenden Augen: Prinz Mansur Mirza Kadschar. Niemand wußte, wer er war und woher er kam. Er stammte aus der kaiserlichen Sippe der Kadscharen, und an seiner Mütze leuchtete der silberne Löwe von Iran. Er ergriff die Führung mit der Selbstverständlichkeit eines Erben des großen Aga Mohammed. Russische Bataillone zogen gegen Gandscha, und die Stadt füllte sich mit Flüchtlingen aus Baku. Sie berichteten von erschossenen Ministern, von verhafteten Parlamentariern und von Leichen, die, an einen Stein gebunden, in die Tiefe des Kaspischen Meeres versenkt wurden.

»In der Moschee Taza Pir hat man einen Klub eingerichtet, und die Russen verprügelten Seyd Mustafa, als er an der Mauer beten wollte. Sie banden ihn fest und steckten ihm Schweinefleisch in den Mund. Später floh er nach Persien, zu seinem Onkel nach Mesched. Seinen Vater haben die Russen umgebracht.«

Arslan Aga, der diese Nachricht brachte, stand vor mir und blickte auf die Waffen, die ich zu verteilen hatte.

»Ich will mitkämpfen, Ali Khan.«

»Du?! Du tintenbeflecktes Ferkelchen?«

»Ich bin kein Ferkelchen, Ali Khan. Ich liebe mein Land wie jeder andere. Mein Vater ist nach Tiflis geflohen. Gib mir Waffen.«

Sein Gesicht war ernst, und seine Augen zuckten.

Ich gab ihm Waffen, und er marschierte in der Kolonne, die ich zum Ausfall über die Brücke führte. Russische Soldaten besetzten die Straßen jenseits der Brücke. Wir stießen im Nahkampf aufeinander, im Staube der Mittagssonne. Ich sah breite Fratzen und blinkende, dreikantige Bajonette. Wilde Wut erfaßte mich.

»Irali — vorwärts!« rief jemand, und wir senkten die Bajonette. Blut und Schweiß vermengten sich. Ich hob den Gewehrkolben, ein Schuß streifte meine Schulter. Der Schädel des Russen platzte unter dem Schlag des Kolbens. Graues Gehirn ergoß sich über den Staub der Straße. Ich stürzte mit gezücktem Dolch über einen Feind und sah im Fallen, wie Arslan Aga seinen Dolch in das Auge eines russischen Soldaten stieß.

Von weitem ertönte der metallische Klang der Trompete. Wir lagen hinter einer Straßenecke und schossen blindlings auf die armenischen Häuser. Nachts krochen wir über die Brücke zurück, und Iljas Beg, mit Patronengurten behängt, saß auf der Brücke und stellte die Maschinengewehre auf. Wir gingen in den Moscheehof, und beim Scheine der Sterne erzählte mir Iljas, wie er als kleines Kind einmal im Meer badete und, vom Wirbel ergriffen, beinahe ertrunken wäre. Dann löffelten wir die Suppe, aßen Pfirsiche, und Arslan Aga kauerte vor uns und hatte blutende Lücken in den Zähnen. Nachts kroch er zu mir herüber und zitterte am ganzen Körper.

»Ich fürchte mich, Ali Khan, ich bin so feige.«

»Dann lege die Waffen weg und fliehe über die Felder zum Pulafluß, nach Georgien.«

»Ich kann nicht, ich will kämpfen, denn ich liebe mein Land wie jeder andere, auch wenn ich eine feige Seele bin.«

Ich schwieg, und wieder graute der Morgen. In der Ferne donnerten die Geschütze, und Iljas Beg stand mit dem Feldstecher am Gebetturm neben dem Prinzen aus dem kaiserlichen Hause der Kadscharen. Die Trompete blies klagend und lockend, vom Minarett flatterte die Fahne, und jemand stimmte das Lied vom Reiche Turan an.

»Ich habe Verschiedenes gehört«, sagte ein Mann, mit träumerischen Augen und todgeweihtem Gesicht. »In Persien ist ein Mann erstanden, Reza ist sein Name, er führt Soldaten an und jagt die Feinde vor sich her. Kemal sitzt in Ankara. Um ihn ist ein Heer versammelt. Wir kämpfen nicht vergebens. Fünfundzwanzigtausend Mann marschieren uns zu Hilfe.«

»Nein«, sagte ich, »nicht fünfundzwanzigtausend, zweihundertfünfzig Millionen marschieren. Muslims der ganzen Welt. Aber Gott allein weiß, ob sie rechtzeitig ankommen werden.«

Ich ging zur Brücke. Ich saß hinter dem Maschinengewehr, und die Patronengurte glitten durch meine Finger, als wären sie Rosenkränze. Neben mir, meinem Nachbar die Patronengurte reichend, saß Arslan Aga. Sein Gesicht war blaß, und er lächelte. An der russischen Linie zeigte sich Bewegung, mein Maschinengewehr hämmerte wie rasend los. Drüben blies die Trompete zur Attacke. Irgendwo hinter den armenischen Häusern ertönten die Klänge des Budjonny-Marsches. Ich blickte hinab und sah das trockene, rissige Flußbett. Russen liefen über den Platz, knieten nieder, zielten, schossen, und ihre Kugeln streiften die Brücke. Ich antwortete mit wildem Feuer. Die Russen sanken zu Boden wie Marionetten, und hinter ihnen entstanden immer neue Reihen, die der Brücke entgegenliefen und in den Staub des Flußufers niederstürzten. Ihrer waren Tausende, und das dünne Kläffen des einsamen Maschinengewehrs klang kraftlos auf der Brücke von Gandscha.

Arslan Aga schrie auf, hoch und klagend, wie ein kleines Kind. Ich schielte hinüber. Er lag auf der Brücke, und Blut floß aus seinem geöffneten Mund. Ich drückte am Knopf des Maschinengewehrs. Feuerregen überzog die Russen, und ihre Trompete blies zur Attacke.

Meine Mütze fiel in den Fluß, vielleicht durchschossen, vielleicht weggefegt vom Wind, der mir ins Gesicht schlug.

Ich riß den Kragen auf und entblößte auch die Brust; zwischen mir und dem Feind lag die Leiche Arslan Agas. Man konnte also feige sein und dennoch wie ein Held fürs Vaterland sterben.

Drüben blies die Trompete zum Rückzug, das Maschinengewehr verstummte, und ich saß schweißbedeckt und hungrig auf der Brücke und wartete auf Ablösung.

Sie kam; schwere, ungelenke Menschen schoben die Leiche Arslans schützend vor das Maschinengewehr. Ich ging zur Stadt.


Jetzt sitze ich hier, im Schatten der Moscheemauer, und löffle die Suppe. Drüben, am Eingang der Moschee, steht Prinz Mansur, und Iljas Beg beugt sich über die Landkarte. Große Müdigkeit überkommt mich. In einigen Stunden werde ich wieder auf der Brücke stehen, und die Republik Aserbaidschan hat nur noch wenige Tage zu leben.

Genug. Ich will schlafen, bis mich die Trompete zu dem Fluß ruft, an dessen Ufer mein Ahne Ibrahim Khan Schirwanschir sein Leben ließ für die Freiheit des Volkes.


Ali Khan Schirwanschir fiel um viertel nach fünf, an der Brücke von Gandscha, auf seinem Posten hinter dem Maschinengewehr. Seine Leiche stürzte in das trockene Flußbett. Nachts stieg ich hinab, um sie zu bergen. Sie war von acht Kugeln durchbohrt. In seiner Tasche fand ich dieses Heft. Wenn Gott erlaubt, überbringe ich es seiner Frau. Wir bestatteten ihn in der frühen Morgenstunde im Moscheehof kurz bevor die Russen zur letzten Attacke übergingen. Das Leben unserer Republik ist zu Ende wie das Leben Ali Khan Schirwanschirs.


Rittmeister Iljas Beg,

Sohn des Seinal Aga

aus dem Dorfe Binigady bei Baku.

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