2. Kapitel

Wir saßen auf dem flachen, windgeschützten Dache unseres Hauses: mein Vater, mein Onkel und ich. Es war sehr warm. Weiche, vielfarbige Teppiche aus Karabagh mit barbarisch-grotesken Mustern waren auf dem Dach ausgebreitet, und wir saßen mit gekreuzten Beinen darauf. Hinter uns standen Diener mit Laternen. Vor uns auf dem Teppich lag die ganze Sammlung orientalischer Leckerbissen — Honigkuchen, kandiertes Obst, Hammelfleisch am Spieß und Reis mit Huhn und Rosinen.

Ich bewunderte, wie schon oft, die Eleganz meines Vaters und meines Onkels. Ohne die linke Hand zu rühren, rissen sie breite Brotfladen ab, formten daraus eine Tüte, füllten sie mit Fleisch und führten sie zum Munde. Mit vollendeter Grazie steckte der Onkel drei Finger der rechten Hand in die fette, dampfende Reisspeise, nahm ein Häuflein, quetschte es zu einer Kugel und führte diese zum Mund, ohne auch nur ein Körnchen Reis fallen zu lassen.

Bei Gott, die Russen bilden sich so viel ein auf ihre Kunst, mit Messer und Gabel zu essen, obwohl es auch der Dümmste in einem Monat erlernen kann. Ich esse bequem mit Messer und Gabel und weiß, was sich am Tische der Europäer gehört. Aber obwohl ich schon achtzehn bin, kann ich nicht mit so vollendeter Vornehmheit wie mein Vater oder mein Onkel mit bloß drei Fingern der rechten Hand die lange Reihe der orientalischen Speisen vertilgen, ohne auch nur die Handfläche zu beschmutzen. Nino nennt unsere Eßart barbarisch. Im Hause Kipiani ißt man immer am Tisch und europäisch. Bei uns nur, wenn russische Gäste geladen sind, und Nino ist entsetzt bei dem Gedanken, daß ich auf dem Teppich sitze und mit der Hand esse. Sie vergißt, daß ihr eigener Vater erst mit zwanzig Jahren die erste Gabel in die Finger bekam.

Das Essen war zu Ende. Wir wuschen uns die Hände, und der Onkel betete kurz. Dann wurden die Speisen weggebracht. Kleine Teetassen mit schwerem, dunklem Tee wurden gereicht, und der Onkel begann zu sprechen, wie alle alten Leute nach einem guten Mahl zu sprechen pflegen — breit und etwas geschwätzig. Mein Vater sagte nur wenige Worte, ich schwieg, denn so verlangt es die Sitte. Nur mein Onkel sprach, und zwar, wie immer, wenn er nach Baku kam, von den Zeiten des großen Nassr ed-Din-Schah, an dessen Hofe er eine wichtige, doch mir nicht ganz klare Rolle gespielt hatte.

»Dreißig Jahre«, sagte der Onkel, »saß ich auf dem Teppich der Gunst des Königs der Könige. Dreimal hat mich Seine Majestät auf seine Reisen ins Ausland mitgenommen. Während dieser Reisen habe ich die Welt des Unglaubens besser kennengelernt als irgendeiner. Wir besuchten kaiserliche und königliche Paläste und die berühmtesten Christen der Zeit. Es ist eine seltsame Welt, und am seltsamsten behandelt sie die Frauen. Die Frauen, selbst Frauen von Königen und Kaisern, gehen sehr nackt durch die Paläste, und niemanden empört es, vielleicht weil die Christen keine richtigen Männer sind, vielleicht aus einem andern Grund. Gott allein weiß es. Dafür empören sich die Ungläubigen über ganz harmlose Dinge.

Einmal war Seine Majestät beim Zaren zum Essen geladen. Neben ihm saß die Zarin. Auf dem Teller Seiner Majestät lag ein sehr schönes Stück Huhn. Seine Majestät nahm das schöne, fette Stück ganz vornehm mit drei Fingern der rechten Hand und legte es von seinem Teller auf den Teller der Zarin, um ihr dadurch gefällig zu sein. Die Zarin wurde ganz blaß und begann vor Schreck zu husten. Später erfuhren wir, daß viele Höflinge und Prinzen des Zaren über die Liebenswürdigkeit des Schahs ganz erschüttert waren. So niedrig steht die Frau im Ansehen der Europäer! Man zeigt ihre Nacktheit der ganzen Welt und braucht nicht höflich zu sein. Der französische Botschafter durfte sogar nach dem Essen die Frau des Zaren umarmen und sich mit ihr bei den Klängen gräßlicher Musik durch den Saal drehen. Der Zar selbst und viele Offiziere seiner Garde schauten zu, doch keiner schützte die Ehre des Zaren.

In Berlin bot sich uns ein noch seltsameres Schauspiel. Wir wurden in die Oper geführt. Auf der großen Bühne stand eine sehr dicke Frau und sang abscheulich. Die Oper hieß ›Die Afrikanerin‹. Die Stimme der Sängerin mißfiel uns sehr. Kaiser Wilhelm bemerkte es und bestrafte die Frau auf der Stelle. Im letzten Akt erschienen viele Neger und legten auf der Bühne einen großen Scheiterhaufen an. Die Frau wurde gefesselt und langsam verbrannt. Wir waren darüber sehr befriedigt. Später sagte uns jemand, das Feuer wäre symbolisch. Doch wir glaubten nicht daran, denn die Frau schrie dabei genau so gräßlich wie die Ketzerin Hürriet ül Ain, die der Schah kurz vorher in Teheran verbrennen ließ.«

Der Onkel schwieg, in Gedanken und Erinnerungen versunken. Dann seufzte er tief und fuhr fort:

»Eines aber kann ich von den Christen nicht verstehen: sie haben die besten Waffen, die besten Soldaten und die besten Fabriken, die alles Notwendige erzeugen, um Feinde zu erschlagen. Jeder Mensch, der etwas erfindet, um andere Menschen bequem, schnell und in Massen umzubringen, wird hoch geehrt, bekommt viel Geld und einen Orden. Das ist schön und gut. Denn Krieg muß es geben. Auf der andern Seite aber bauen die Europäer Krankenhäuser, und ein Mensch, der etwas gegen den Tod erfindet, oder ein Mensch, der im Kriege feindliche Soldaten kuriert und ernährt, wird gleichfalls hoch geehrt und bekommt einen Orden. Der Schah, mein hoher Herr, hat sich immer darüber gewundert, daß man Menschen, die Entgegengesetztes leisten und Entgegengesetztes wollen, gleich hoch belohnt. Er sprach darüber einmal mit dem Cäsar in Wien, doch auch der Cäsar konnte ihm dies nicht erklären. Uns dagegen verachten die Europäer sehr, weil uns die Feinde Feinde sind, weil wir sie töten und nicht schonen. Sie verachten uns, weil wir vier Frauen haben dürfen, obwohl sie selbst oft mehr als vier haben, und weil wir so leben und regieren, wie uns Gott befohlen hat.«

Der Onkel verstummte. Es wurde dunkel. Sein Schatten glich einem hageren, alten Vogel. Er richtete sich auf, hüstelte greisenhaft und sagte inbrünstig:

»Und trotzdem, obwohl wir alles tun, was unser Gott von uns verlangt, und die Europäer nichts, was ihr Gott von ihnen verlangt, nimmt ihre Macht und ihre Kraft dauernd zu, während unsere abnimmt. Wer kann mir erklären, woher das kommt?«

Wir konnten es ihm nicht sagen. Er erhob sich, ein alter, müder Mann, und torkelte hinunter in sein Zimmer.

Mein Vater folgte ihm. Die Diener nahmen die Teetassen weg. Ich blieb allein auf dem Dach. Ich wollte nicht schlafen gehen.

Dunkelheit lag über unserer Stadt, die einem Tier glich, das auf der Lauer liegt, sprung- und spielbereit. Es waren eigentlich zwei Städte, und die eine lag in der andern wie die Nuß in der Schale.

Die Schale, das war die Außenstadt, außerhalb der alten Mauer. Die Straßen waren dort breit, die Häuser hoch, die Menschen geldgierig und lärmend. Diese Außenstadt entstand aus dem Öl, das aus unserer Wüste kommt und Reichtum bringt. Dort waren Theater, Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, Polizisten und schöne Frauen mit nackten Schultern. Wenn in der Außenstadt geschossen wurde, so geschah es immer nur des Geldes wegen. In der Außenstadt begann die geographische Grenze Europas. Nino lebte in der Außenstadt.

Innerhalb der Mauer waren die Häuser eng und krumm wie die Klingen der orientalischen Degen. Gebettürme der Moscheen durchstachen den milden Mond und waren ganz anders als die Bohrtürme des Hauses Nobel. An der östlichen Mauer der alten Stadt erhob sich der Mädchenturm. Mehmed Jussuf Khan, Herrscher zu Baku, erbaute ihn zu Ehren seiner Tochter, die er ehelichen wollte. Die Ehe wurde nicht vollzogen. Die Tochter stürzte sich vom Turm, als der liebesgierige Vater die Treppe zu ihrem Gemach emporeilte. Der Stein, an der ihr Mädchenhaupt zerschellte, heißt der Stein der Jungfrau. Bräute bringen ihm vor der Hochzeit manchmal Blumen dar.

Viel Blut rann durch die Gassen unserer Stadt — Menschenblut. Und dieses vergossene Blut macht uns stark und tapfer.

Dicht vor unserem Haus erhebt sich die Pforte des Fürsten Zizianaschwili, und auch hier floß einmal Blut, schönes, edles Menschenblut. Es war vor Jahren, als unser Land noch zu Persien gehörte und dem Gouverneur von Aserbaidschan tributpflichtig war. Der Fürst war General in der Armee des Zaren und belagerte unsere Stadt. In der Stadt herrschte Hassan Kuli Khan. Er öffnete die Tore der Stadt, ließ den Fürsten herein und erklärte, er ergebe sich dem großen, weißen Zaren. Der Fürst ritt, nur von wenigen Offizieren begleitet, in die Stadt hinein. Auf dem Platze hinter dem Tor wurde ein Gelage veranstaltet. Scheiterhaufen brannten, ganze Ochsen wurden am Spieß geröstet. Fürst Zizianaschwili war bezecht, er legte sein müdes Haupt auf die Brust Hassan Kuli Khans. Da zog mein Urahne, Ibrahim Khan Schirwanschir, einen großen, krummen Dolch und reichte ihn dem Herrscher. Hassan Kuli Khan nahm den Dolch und durchschnitt langsam die Kehle des Fürsten. Blut spritzte auf sein Gewand, aber er schnitt weiter, bis der Kopf des Fürsten in seiner Hand blieb. Der Kopf wurde in einen Sack mit Salz gelegt, und mein Ahne brachte ihn nach Teheran zum König der Könige. Der Zar aber beschloß, den Mord zu rächen. Er sandte viele Soldaten. Hassan Kuli Khan schloß sich im Palast ein, betete und dachte an das Morgen. Als die Soldaten des Zaren über die Mauer stiegen, floh er durch den unterirdischen Gang, der heute verschüttet ist, ans Meer und dann nach Persien. Bevor er den unterirdischen Gang betrat, schrieb er an die Eingangstüre einen einzigen, aber sehr weisen Satz: »Wer an morgen denkt, kann nie tapfer sein.«

Auf dem Heimweg von der Schule streifte ich oft durch den zerfallenden Palast. Seine Gerichtshalle mit den mächtigen maurischen Säulengängen liegt öde und verlassen da. Wer in unserer Stadt Recht sucht, muß zum russischen Richter außerhalb der Mauer gehen. Das tun aber nur wenige Querulanten. Nicht etwa, weil die russischen Richter schlecht oder ungerecht wären. Sie sind milde und gerecht, aber auf eine Art, die unserem Volke nicht behagt. Ein Dieb kommt ins Gefängnis. Er sitzt dort in einer sauberen Zelle, bekommt Tee, ja sogar Zucker zum Tee. Niemand hat etwas davon, am wenigsten der Bestohlene. Das Volk zuckt darüber die Achseln und macht sich sein Recht selber. Am Nachmittag kommen die Kläger in die Moschee, die weisen Alten sitzen im Kreis und richten nach dem Gesetze der Scharia, nach dem Gesetze Allahs: »Aug um Aug, Zahn um Zahn.« In der Nacht huschen manchmal durch die Gassen vermummte Gestalten. Ein Dolch blitzt auf, ein kleiner Schrei, und die Gerechtigkeit ist vollzogen. Blutfehden ziehen sich von Haus zu Haus. Doch selten läuft jemand zum russischen Richter, und tut er es, so verachten ihn die Weisen, und die Kinder strecken ihm auf der Straße die Zunge heraus.

Manchmal wird durch die nächtlichen Gassen ein Sack getragen. Aus dem Sack tönt unterdrücktes Stöhnen. Am Meer ein leises Aufplätschern, der Sack verschwindet. Am nächsten Tag sitzt dann ein Mann auf dem Boden seines Zimmers, sein Gewand ist zerfetzt, sein Auge voll Tränen, er hat das Gesetz Allahs erfüllt — der Ehebrecherin den Tod.

Viele Geheimnisse birgt unsere Stadt. Ihre Winkel sind voll seltsamer Wunder. Ich liebe diese Wunder, diese Winkel, das nächtlich raunende Dunkel und das stumme Meditieren an den glutstillen Nachmittagen im Hofe der Moschee. Gott hat mich hier zur Welt kommen lassen als Muslim schiitischer Lehre, der Glaubensrichtung des Imam Dschafar. So er mir gnädig ist, möge er mich hier auch sterben lassen, in derselben Straße, in demselben Haus, in dem ich zur Welt kam. Mich und Nino, die eine georgische Christin ist, mit Messer und Gabel ißt, lachende Augen hat und dünne, duftige Seidenstrümpfe trägt.

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