Eine schmale Steinterrasse am Rande des Abgrunds. Gelbe Felsen, trocken, verwittert, baumlos. Steine, riesig, rauh, grob aufeinandergeschichtet. Dicht nebeneinander, viereckig und schmucklos, hängen am Abgrund die Hütten. Das flache Dach der einen Hütte bildet den Hof der höher gelegenen. Unten rauscht ein Bergbach, in der klaren Luft leuchten die Felsen. Ein schmaler Pfad windet sich durch das Gestein und verliert sich im Abgrund. Ein Aul — ein Bergdorf in Daghestan. Der Raum in der Hütte ist dunkel, mit dicken Matten bedeckt. Draußen stützen zwei Holzpfähle einen schmalen Dachvorsprung. Ein Adler, mit ausgebreiteten Flügeln, hängt wie versteinert in der Unendlichkeit des Himmels.
Ich liege auf dem kleinen Dachhof, den Bernstein der Wasserpfeife zwischen den Lippen. Ich sauge den kühlen Dunst in die Lungen. Die Schläfen werden kalt, der blaue Rauch entschwindet, vom schwachen Wind getragen. Eine mitleidige Hand hat Haschischkörner in das Tabakkraut gemischt. Die Augen blicken in den Abgrund und sehen Gesichter. Die Gesichter kreisen im schwimmenden Nebel. Vertraute Züge tauchen auf. Das Antlitz des Kriegers Rustern von dem Teppich an der Wand meines Zimmers in Baku.
Irgendwann lag ich dort, eingehüllt in dicke Seidendecken. Die Rippe schmerzte. Der Verband war weich und weiß. Leise Schritte im Nebenzimmer. Unterdrückte Worte. Ich lauschte. Die Worte wurden lauter. Die Stimme des Vaters:
»Es tut mir leid, Herr Polizeikommissar. Ich weiß selbst nicht, wo mein Sohn sich aufhält. Ich vermute, daß er zu seinem Onkel nach Persien geflohen ist. Ich bedauere es außerordentlich.«
Die Stimme des Kommissars klang lärmend:
»Gegen Ihren Sohn ist ein Verfahren wegen Mord eingeleitet worden. Ein Haftbefehl ist bereits erlassen. Wir werden ihn auch in Persien finden.«
»Ich würde es sehr begrüßen. Jedes Gericht würde meinen Sohn freisprechen. Eine Affekthandlung, durch die Ereignisse mehr als begründet. Im übrigen…«
Ich hörte das Rascheln frischer Geldnoten, oder ich glaubte es zu hören. Dann Schweigen. Und wieder die Stimme des Kommissars:
»Ja, ja. Diese jungen Leute. So rasch mit dem Dolch. Ich bin nur eine Amtsperson. Aber ich fühle mit. Der junge Mann soll sich nicht mehr in der Stadt zeigen. Den Haftbefehl muß ich aber nach Persien weitergeben.«
Die Schritte entfernten sich. Wieder tiefes Schweigen. Die Zierschrift auf dem Teppich war wie ein Labyrinth. Meine Augen verfolgten die Linien der Buchstaben und verirrten sich in dem schön geschwungenen »N«.
Gesichter beugten sich zu mir. Lippen flüsterten Unverständliches. Dann saß ich im Bett, aufgerichtet und verbunden, und vor mir standen Iljas Beg und Mehmed Haidar. Beide lächelnd, beide in Feldzugsuniform.
»Wir kommen, um Abschied zu nehmen. Wir sind an die Front versetzt worden.«
»Wieso?«
Iljas zupft an der Patronentasche.
»Ich habe Nino nach Hause gebracht. Sie schwieg die ganze Zeit. Dann ritt ich in die Kaserne. Nachmittags war alles bekannt. Melikow, der Regimentskommandeur, schloß sich ein und soff. Er wollte das Pferd nicht mehr sehen. Abends ließ er es erschießen. Dann meldete er sich zur Front. Das mit dem Kriegsgericht konnte mein Vater noch abwenden. Aber an die Front hat man uns versetzt. Gleich in die vordersten Linien.«
»Verzeiht mir. Ich habe euch auf dem Gewissen.«
Beide protestierten heftig:
»Nein, du bist ein Held, du hast wie ein Mann gehandelt. Wir sind sehr stolz.«
»Habt ihr Nino gesehen?«
Die beiden stehen da mit steifen Gesichtern.
»Nein, wir haben Nino nicht gesehen.«
Es klang sehr kühl.
Wir umarmten uns.
»Mach dir unseretwegen keine Sorgen. Wir werden uns schon an der Front zurechtfinden.«
Ein Lächeln, ein Gruß. Die Tür schloß sich.
Ich lag in den Kissen, die Augen auf das rote Teppichmuster gerichtet. Arme Freunde. Es ist meine Schuld. Ich versank in seltsame Wachträume. Alles Gegenwärtige war verschwunden. Ninos Gesicht schwebte im Nebel, bald lachend, bald ernst. Fremde Hände berührten mich. Jemand sagte auf persisch:
»Er soll Haschisch nehmen. Hilft sehr gegen das Gewissen.«
Jemand steckte mir Bernstein in den Mund, und durch die Fetzen des Wachtraums drangen Worte an mein Ohr:
»Verehrter Khan. Ich bin erschüttert. Welch gräßliches Unglück. Ich bin dafür, daß meine Tochter Ihrem Sohn nachreist. Sie sollen sofort heiraten.«
»Mein Fürst, Ali Khan kann nicht heiraten. Er ist jetzt Kanly, der Blutrache der Nachararjans preisgegeben. Ich habe ihn nach Persien geschickt. Sein Leben ist stündlich bedroht. Er ist nicht der richtige Mann für Ihre Tochter.«
»Safar Khan, ich flehe Sie an. Wir werden die Kinder schützen. Sie sollen weg. Nach Indien, nach Spanien. Meine Tochter ist entehrt. Nur die Ehe kann sie retten.«
»Es ist nicht die Schuld Ali Khans, mein Fürst. Im übrigen wird sich schon ein Russe finden, oder gar ein Armenier.«
»Ich bitte Sie. Ein harmloser, nächtlicher Ausflug. So verständlich in dieser Schwüle. Ihr Sohn hat übereilt gehandelt. Ein völlig falscher Verdacht. Er muß es gutmachen.«
»Wie dem auch sei, Fürst, Ali Khan ist Kanly, er kann nicht heiraten.«
»Ich bin auch nur ein Vater, Safar Khan.«
Die Stimmen verstummten. Es wurde ganz still. Die Körner des Haschisch sind rund und gleichen Ameisen.
Endlich fiel der Verband. Ich befühlte die Narbe. Das erste Ehrenmal an meinem Leib. Dann erhob ich mich. Tastenden Schrittes ging ich durch das Zimmer. Die Diener blickten mit scheuer Angst. Die Tür öffnete sich. Mein Vater trat ein. Mein Herz schlug heftig. Der Diener verschwand.
Eine Weile schwieg mein Vater. Er ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb er stehen.
»Täglich kommt die Polizei und nicht nur die Polizei. Alle Nachararjans suchen dich. Fünf von ihnen sind bereits nach Persien abgereist. Ich muß das Haus von zwanzig Mann bewachen lassen. Die Melikows haben dir übrigens auch Blutfehde erklärt. Wegen des Pferdes. Deine Freunde mußten an die Front.«
Ich schwieg und blickte zu Boden. Der Vater legte mir die Hand auf die Schulter. Seine Stimme klang weich:
»Ich bin stolz auf dich, Ali Khan, sehr stolz. Ich hätte genauso gehandelt.«
»Du bist zufrieden, Vater?«
»Beinahe restlos. Nur eines«, er umarmte mich und blickte mir tief in die Augen, »sag, warum hast du das Weib verschont?«
»Ich weiß nicht, Vater. Ich war müde.«
»Es wäre besser gewesen, mein Sohn. Jetzt ist es zu spät. Aber ich will dir nichts vorwerfen. Wir alle, die ganze Familie, sind sehr stolz.«
»Was soll nun werden, Vater?«
Er ging auf und ab und seufzte besorgt:
»Ja, hier kannst du nicht bleiben. Auch nach Persien darfst du nicht. Die Polizei und zwei mächtige Familien suchen dich. Das beste ist, du reist nach Daghestan. In einem Aul wird dich niemand finden. Dort traut sich kein Armenier hin und kein Polizist.«
»Für wie lange, Vater?«
»Für sehr lange. Bis die Polizei den Vorfall vergessen hat. Bis die feindlichen Familien sich mit uns versöhnt haben. Ich werde dich besuchen.«
Nachts fuhr ich weg. Nach Machatsch-Kale und dann in die Berge. Auf engen Pfaden, von kleinen, langmähnigen Pferden getragen. Zum fernen Aul, am Rande der wilden Schlucht.
Nun war ich da, im sicheren Schutz der daghestanischen Gastfreundschaft. Kanly, sagten die Menschen und sahen mich verständnisvoll an. Sanfte Hände mischten Haschisch in den Tabak. Ich rauchte viel. Ich schwieg, von Visionen geplagt. Der Freund meines Vaters, Kasi Mullah, der den Schatten seiner Gastfreundschaft über mich ausgebreitet hatte, betreute mich. Er sprach viel, und die Splitter seiner Worte zerrissen die fiebrigen Traumbilder der mondübergossenen Landstraße.
»Träume nicht, Ali Khan, denke nicht, Ali Khan. Hör mir zu. Kennst du schon die Geschichte von Andalal?«
»Andalal«, sagte ich ausdruckslos.
»Weißt du, was Andalal ist? Es war ein schönes Dorf, vor sechshundert Jahren. Dort regierte ein guter, kluger und tapferer Fürst. Das Volk vertrug so viel Tugend nicht. Deshalb kam es zum Fürsten und sagte: ›Wir sind deiner überdrüssig, verlasse uns.‹ Da weinte der Fürst, bestieg sein Pferd, nahm Abschied von den Seinen und zog in die Ferne, nach Persien. Dort wurde er ein großer Mann. Das Ohr des Schahs gehörte ihm. Er bezwang Länder und Städte. In seiner Seele hegte er aber einen Groll gegen Andalal. Deshalb sagte er: ›In den Tälern von Andalal liegen Edelsteine und Gold in großen Mengen. Wir wollen das Land erobern.‹ Mit einem Riesenheer zog der Schah in die Berge. Das Volk von Andalal aber sagte: ›Ihr seid zahlreich, doch ihr sitzt unten. Wir sind weniger zahlreich, sitzen aber oben. Und am höchsten ist Allah, der allein ist, und dennoch mächtiger als wir beide.‹ Und so zog das Volk in den Kampf. Männer, Frauen und Kinder. Voran kämpften die Söhne des Fürsten, die im Lande geblieben waren. Die Perser wurden geschlagen. Als erster floh der Schah, als letzter der Verräter, der ihn nach Andalal geführt hatte. Zehn Jahre vergingen. Alt wurde der Fürst und bekam Heimweh. Er verließ seinen Palast in Teheran und ritt in die Heimat. Die Einwohner erkannten den Verräter, der das feindliche Heer ins Land geführt hatte. Sie spuckten aus und schlossen die Türen. Den ganzen Tag ritt der Fürst durch das Dorf und fand keinen Freund. Da ging er zum Kadi und sagte: ›Ich kam in die Heimat, um meine Schuld zu büßen. Verfahre mit mir, wie das Gesetz gebietet.‹ — ›Bindet ihn‹, sagte der Kadi und verkündete:
›Nach dem Gesetze der Väter muß der Mann lebendig begraben werden‹, und das Volk rief: ›Es sei so.‹ Der Kadi war aber gerecht. ›Was kannst du zu deiner Verteidigung anführen?‹ fragte er, und der Fürst sprach: ›Nichts. Ich bin schuldig. Es ist gut, daß hier die Gesetze der Väter geachtet werden. Aber dann auch die Gesetze, die da lauten: Wer gegen den Vater kämpft, sei getötet. Ich verlange mein Recht. Meine Söhne kämpften gegen mich. Sie sollen an meinem Grabe geköpft werden.‹ — ›So sei es‹, sagte der Kadi und weinte zusammen mit dem Volk. Denn die Söhne des Fürsten waren geschätzt und angesehen. Doch das Gesetz mußte erfüllt werden. Der Verräter wurde lebendigen Leibes begraben, und seine Söhne, die besten Krieger des Landes, über seinem Grabe geköpft.«
»Fades Geschwätz«, brummte ich, »weißt du nichts Besseres? Dein Held war der letzte in diesem Lande und ist vor sechshundert Jahren gestorben, und ein Verräter war er auch.«
Kasi Mullah schnaufte verletzt.
»Weißt du nichts von Imam Schamil?«
»Ich weiß alles von Imam Schamil.«
»Unter Schamil war das Volk glücklich. Fünfzig Jahre ist es her. Das Volk war glücklich, es gab keinen Wein, es gab keinen Tabak. Dem Dieb wurde die rechte Hand abgehauen, aber es gab fast keine Diebe. Bis die Russen kamen. Da erschien der Prophet dem Imam Schamil. Der Prophet befahl den Gasawat, den Heiligen Krieg, und Schamil führte ihn. Alle Völker der Berge waren mit furchtbaren Schwüren an Schamil gebunden. Auch das Volk der Tschetschenen. Aber die Russen waren stark. Sie bedrohten die Tschetschenen. Sie verbrannten ihre Dörfer und zerstörten ihre Felder. Da fuhren die Weisen des Volkes nach Dargo, zum Sitze des Imams, um ihn anzuflehen, er möge sie von ihrem Schwur befreien. Sie sahen ihn und wagten nicht zu sprechen. Sie gingen zur Hanum, der Mutter des Imams. Die Hanum hatte ein weiches Herz. Sie weinte über das Leid der Tschetschenen. ›Ich werde dem Imam sagen, er soll euch vom Schwur befreien.‹ Die Hanum war einflußreich. Der Imam war ein guter Sohn. Einst hatte er gesagt: ›Verflucht sei, wer seiner Mutter Kummer bereitet.‹ Als die Hanum mit ihm sprach, sagte er: ›Der Koran verbietet Verrat. Der Koran verbietet, der Mutter zu widersprechen. Meine Weisheit reicht nicht mehr aus. Ich will beten und fasten, damit Allah meine Gedanken erhelle.‹ Drei Tage und drei Nächte fastete der Imam. Dann trat er vor das Volk und sprach: ›Allah verkündete mir das Gebot: der erste, der mit mir über Verrat spricht, sei zu hundert Stockhieben verurteilt. Die erste, die mit mir über Verrat sprach, war die Hanum, meine Mutter. Ich verurteile sie zu hundert Stockhieben.‹ Die Hanum wurde geholt. Die Krieger rissen ihr den Schleier herunter, warfen sie auf die Stufen der Moschee und hoben die Stöcke. Nur einen Hieb empfing die Mutter des Imams. Da fiel der Imam in die Knie, weinte und rief: ›Eisern sind die Gesetze des Allmächtigen. Keiner kann sie aufheben. Auch ich nicht. Eins läßt der Koran zu. Die Kinder können die Strafe der Eltern auf sich nehmen und so übernehme ich den Rest der Strafe.‹ Der Imam entblößte sich, legte sich vor dem ganzen Volke auf die Stufen der Moschee und rief: ›Schlagt mich, und so wahr ich Imam bin, ich köpfe euch, wenn ich merke, daß die Hiebe nicht mit voller Stärke geführt werden.‹ Neunundneunzig Hiebe empfing der Imam. Blutüberströmt lag er da. In Fetzen zerrissen war seine Haut, entsetzt blickte das Volk. Keiner wagte mehr über Verrat zu sprechen. So wurden die Berge regiert. Vor fünfzig Jahren. Und das Volk war glücklich.« Ich schwieg. Der Adler am Himmel war verschwunden. Es dämmerte. Auf dem Gebetturm der kleinen Moschee erschien der Mullah. Kasi Mullah breitete den Gebetteppich aus. Wir beteten, gen Mekka gewandt. Die arabischen Gebete klangen wie alte Kriegslieder.
»Geh jetzt, Kasi Mullah. Du bist ein Freund. Ich werde schlafen.«
Er sah mich mißtrauisch an. Seufzend mischte er die Haschischkörner. Dann ging er, und ich hörte, wie er zum Nachbar sagte:
»Kanly sehr krank!«
Und der Nachbar antwortete:
»Niemand bleibt lange krank in Daghestan.«
Ich lag am Rande des Dachhofes und blickte in den Abgrund.
Nachararjan, was machen deine Goldbarren in Schweden?
Ich schloß die Augen.
Warum schwieg Nino? Warum schwieg sie?