An den ersten Tagen des persischen Herbstes besetzte die Enver-Armee Baku. Die Nachricht lief durch Basare, Teestuben und Ministerien. Die letzten Verteidiger der Stadt, ausgehungert und von den Ihren abgesprengt, landeten in den Häfen Persiens und Turkestans. Sie erzählten von der roten Fahne mit dem weißen Halbmond, die siegreich über der alten Zitadelle flatterte. Arslan Aga veröffentlichte in Teheraner Zeitungen phantastische Schilderungen vom Einzug der Türken, und Onkel Assad es Saltaneh verbot die Zeitungen, denn er haßte die Türken und glaubte, den Engländern damit einen Gefallen zu tun. Mein Vater fuhr zum Premierminister, und dieser erlaubte nach einigem Zögern die Wiederaufnahme der Schiffsverbindung zwischen Baku und Persien. Wir reisten nach Enseli, und der Dampfer »Nassreddin« nahm die Schar der Vertriebenen auf, die in die befreite Heimat zurückkehrten.
In Baku standen am Pier rüstige Soldaten mit hohen Fellmützen. Iljas Beg salutierte mit dem Degen, und der türkische Oberst hielt eine Ansprache, in der er sich bemühte, das weiche Stambul-Türkisch den rohen Klängen unseres heimatlichen Dialektes anzupassen. Wir zogen in unser verwüstetes, ausgeraubtes Haus, und für Tage und Wochen verwandelte sich Nino in eine Hausfrau. Sie verhandelte mit den Zimmerleuten, durchstöberte Möbelgeschäfte und rechnete mit sorgenvollem Gesicht die Längen und Breiten unserer Zimmer aus. Sie führte geheimnisvolle Unterredungen mit Architekten, und eines Tages füllte sich das Haus mit dem Lärm der Arbeiter und dem Geruch von Farbe, Holz und Mörtel.
Inmitten dieses häuslichen Durcheinanders stand Nino, strahlend und ihrer Verantwortung bewußt, denn sie hatte freie Hand bei der Auswahl der Möbel, Stilarten und Tapeten gehabt.
Abends berichtete sie beschämt und glückselig:
»Zürne nicht deiner Nino, Ali Khan. Ich habe Betten bestellt, richtige Betten statt Diwans. Die Tapeten werden hell sein, und die Teppiche werden den Boden bedecken. Das Kinderzimmer wird weiß gestrichen. Es soll alles ganz anders werden als im persischen Harem.«
Sie umschlang meinen Hals und rieb ihr Gesicht an meiner Wange, denn sie hatte ein schlechtes Gewissen. Dann drehte sie den Kopf zur Seite, die schmale Zunge glitt über ihre Lippen und versuchte angestrengt die Nasenspitze zu erreichen. So tat sie immer vor schweren Lebensaufgaben, Prüfungen, Ärztebesuchen oder Beerdigungen. Ich dachte an das Fest des Jünglings Hussein und ließ sie gewähren, obwohl es ein schmerzlicher Gedanke war, die Teppiche mit Füßen treten zu müssen und an europäischen Tischen zu sitzen. Mir verblieb nur das flache Dach mit dem Blick auf die Wüste. Einen Umbau des Daches hatte Nino nicht vorgeschlagen.
Kalk, Staub und Lärm erfüllten das Haus. Ich saß auf dem Dach mit meinem Vater, hielt den Kopf zur Seite geneigt, ließ genau wie Nino die Zunge um die Lippen gleiten und hatte schuldbewußte Augen. In den Blicken des Vaters lag Spott.
»Nichts zu machen, Ali Khan. Haushalt ist der Bereich der Frau. Nino hat sich in Persien gut gehalten, obwohl es ihr nicht leichtfiel. Jetzt bist du an der Reihe. Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe: Baku ist Europa geworden. Für immer! Das kühle Dunkel der verschlossenen Zimmer und die roten Teppiche an der Wand gehören nach Persien.«
»Und du, Vater?«
»Auch ich gehöre nach Persien, und ich fahre hin, so bald ich dein Kind gesehen habe. Ich werde in Schimran in unserem Hause wohnen und warten, bis auch dort weiße Tapeten und Betten eingeführt werden.«
»Ich muß hierbleiben, Vater.«
Er nickte ernst.
»Ich weiß. Du liebst diese Stadt, und Nino liebt Europa. Mich aber stört die neue Fahne, der Lärm des neuen Staates und der Geruch der Gottlosigkeit, der über unserer Stadt hängt.«
Er blickte ruhig vor sich hin und glich plötzlich seinem Bruder Assad es Saltaneh.
»Ich bin ein alter Mann, Ali Khan. Das Neue ist mir zuwider. Du mußt hierbleiben. Du bist jung und mutig, und das Land Aserbaidschan wird dich brauchen.«
In der Dämmerung wanderte ich durch die Straßen meiner Stadt. Türkische Patrouillen standen an den Ecken, hart und stramm, mit gedankenlosen Blicken. Ich sprach mit den Offizieren, und sie erzählten von den Moscheen Stambuls und den Sommerabenden von Tatlysu. Am alten Gouverneursgebäude flatterte die Fahne des neuen Staates, und in der Schule war das Parlament untergebracht. Die alte Stadt schien in ein maskenballartiges Leben getaucht. Der Rechtsanwalt Feth Ali Khan war Premierminister und erließ Gesetze, Verordnungen und Befehle. Mirza Assadullah, der Bruder jenes Assadullah, der alle Russen in der Stadt umbringen wollte, war Außenminister und schloß Verträge mit den Nachbarländern ab. Das ungewohnte Gefühl der staatlichen Selbständigkeit riß mich mit, und ich liebte plötzlich die neuen Wappen, Uniformen, Ämter und Gesetze. Zum erstenmal war ich wirklich zu Hause in meinem eigenen Land. Die Russen schlichen schüchtern an mir vorbei, und meine ehemaligen ‘Schullehrer grüßten mich ehrerbietig.
Abends wurden im Klub einheimische Weisen gespielt, man durfte die Mützen aufbehalten, und Iljas Beg und ich bewirteten die türkischen Offiziere, die von der Front kamen und zur Front zogen. Sie erzählten von der Belagerung Bagdads und von dem Feldzug durch die Sinaiwüste. Sie kannten die Sanddünen Tripolitaniens, die kotigen Wege Galiziens und die Schneestürme in den armenischen Bergen. Sie tranken Sekt, ungeachtet der Gebote des Propheten, und sprachen von Enver und dem kommenden Reiche Turan, in dem alle Menschen türkischen Blutes vereint sein sollten. Ich hing an ihrem Munde voller Staunen und Hingabe, denn das Ganze war unwirklich und schattenhaft, wie ein schöner, unvergeßlicher Traum. Am Tage ertönte in den Straßen der Stadt Militärmusik. Der Pascha, hoch zu Roß, mit sternbedeckter Brust, ritt die Front ab und grüßte die neue Fahne. Stolz und Dankbarkeit erfüllten uns, wir vergaßen alle Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten und wären bereit gewesen, die sehnige Hand des Paschas zu küssen und für den osmanischen Kalifen zu sterben. Nur Seyd Mustafa stand abseits, und in seinem Gesicht lagen Haß und Verachtung. Zwischen den Sternen und Halbmonden, die die Brust des Paschas bedeckten, entdeckte er ein bulgarisches Militärkreuz und grollte dem Symbol des fremden Glaubens an der Brust eines Muslims.
Nach der Parade saßen Iljas, Seyd und ich an der Strandpromenade, herbstliches Laub fiel von den Bäumen, und meine Freunde stritten erbittert über die Grundsätze des neuen Staates. Aus den Feldzügen und den Kämpfen bei Gandscha, aus den Gesprächen mit jungtürkischen Offizieren, aus den Erfahrungen des Krieges gewann Iljas Beg die feste Überzeugung, daß nur rascheste europäische Reformen unser Land vor einer neuen russischen Invasion schützen könnten.
»Man kann Festungen bauen, Reformen einführen und Straßen ziehen und dennoch ein guter Mohammedaner bleiben«, rief er pathetisch.
Der Seyd runzelte die Stirn und hatte müde Augen.
»Geh einen Schritt weiter, Iljas Beg«, meinte er kühl, »sag, man kann Wein trinken, Schweinefleisch essen und dennoch ein guter Mohammedaner bleiben. Denn die Europäer haben schon längst entdeckt, daß Wein gesund und Schweinefleisch nahrhaft ist. Natürlich kann man dennoch ein guter Mohammedaner sein, nur wird der Erzengel an der Schwelle des Paradieses es nicht glauben wollen.«
Iljas lachte.
»Zwischen Exerzieren und Schweinefleischessen ist noch ein gewaltiger Unterschied.«
»Aber nicht zwischen Schweinefleischessen und Weintrinken. Die türkischen Offiziere trinken öffentlich Sekt und tragen Kreuze an der Brust.«
»Seyd«, fragte ich, »kann man ein guter Mohammedaner sein und auf Betten schlafen und mit Messer und Gabel essen?«
Der Seyd lächelte fast zärtlich.
»Du wirst immer ein guter Mohammedaner bleiben. Ich habe dich am Tage des Moharrem gesehen.«
Ich schwieg. Iljas Beg schob seine Militärmütze zurecht.
»Ist es wahr, daß du ein europäisches Haus bekommst, mit modernen Möbeln und hellen Tapeten?«
»Ja, das ist wahr, Iljas Beg.«
»Das ist gut«, sagte er entschieden, »wir sind jetzt eine Hauptstadt. Fremde Gesandte werden ins Land kommen. Wir brauchen Häuser, in denen wir sie empfangen können, und wir brauchen Damen, die sich mit den Damen der Diplomaten unterhalten können. Du hast die richtige Frau, Ali Khan, und du bekommst das richtige Haus. Du solltest im Außenministerium arbeiten.«
Ich lachte.
»Iljas Beg, du beurteilst meine Frau, mein Haus und mich, als wären wir Pferde, die zum Rennen der internationalen Verständigung starten sollen. Du glaubst, daß ich mein Haus nur im Hinblick auf unsere internationalen Interessen umbauen lasse.«
»So müßte es sein«, sagte Iljas hart, und plötzlich fühlte ich, daß er recht hatte, daß alles in uns diesem neuen Staate dienen müsse, der aus der kargen, sonnendurchglühten Erde Aserbaidschans emporwachsen sollte.
Ich ging heim, und als Nino erfuhr, daß ich nichts gegen Parkettböden und Ölbilder an der Wand hätte, da lachte sie vergnügt, und ihre Augen blitzten auf, wie einst im Walde, bei der Quelle von Pechachpur.
In dieser Zeit ritt ich oft in die Wüste hinaus. Ich sah die Sonne blutüberströmt im Westen untergehen und vergrub mich für Stunden in den weichen Sand. Die türkischen Truppen zogen an mir vorbei. Die Offiziere aber hatten plötzlich verstörte und gespannte Gesichter. Der Lärm unseres Staates hatte für uns das ferne Donnern der Kanonen des Weltkrieges übertönt. Irgendwo, weit, weit weg, wichen bulgarische Regimenter vor dem Ansturm des Feindes.
»Durchbruch. Die Front kann nicht mehr hergestellt werden«, sagten die Türken und tranken keinen Sekt mehr.
Spärliche Nachrichten kamen und wirkten wie Blitzschläge. Im fernen Hafen von Mudros bestieg ein gebückter Mann den britischen Panzerkreuzer »Agamemnon«. Der gebückte Mann war Hussein Reuf Bey, Marineminister des Hohen Ottomanischen Reiches, Bevollmächtigter des Kalifen zum Abschluß des Waffenstillstandes. Er beugte sich über einen Tisch, setzte seinen Namen unter ein Stück Papier, und die Augen des Paschas, der in unserer Stadt herrschte, füllten sich mit Tränen.
Noch einmal ertönte in den Straßen Bakus das Lied vom Reiche Turan, doch diesmal klang es wie ein Trauergesang. In Glacehandschuhen, stramm im Sattel sitzend, ritt der Pascha die Front ab. Die türkischen Gesichter waren starr. Die Fahne des heiligen Hauses Osman wurde eingerollt, die Trommeln wirbelten, und der Pascha führte die Hand im Glacehandschuh an die Stirn. Die Kolonnen zogen aus der Stadt und hinterließen das traumhafte Bild der Moscheen von Stambul, der luftigen Paläste am Bosporus und des hagern Mannes, der Kalif war und den Mantel des Propheten auf seinen Schultern trug.
Ich stand an der Strandpromenade, als sich wenige Tage später hinter der Insel Nargin die ersten Schiffe mit englischen Besatzungstruppen zeigten. Der General hatte blaue Augen, einen kurzen Schnurrbart und breite, starke Hände. Neuseeländer, Kanadier und Australier fluteten in die Stadt. Der Union Jack flatterte neben der Fahne unseres Landes, und Feth Ali Khan rief mich an und bat mich, ich möge in sein Ministerium kommen.
Ich besuchte ihn, und er saß im tiefen Lehnsessel, den feurigen Blick auf mich gerichtet.
»Ali Khan, warum sind Sie noch nicht im Staatsdienst?«
Ich wußte es selbst nicht. Ich sah die dicken Mappen auf seinem Schreibtisch und empfand Gewissensbisse.
»Ich gehöre ganz der Heimat, Feth Ali Khan, verfügen Sie über mich.«
»Wie ich höre, haben Sie eine affenartige Begabung für fremde Sprachen. Wie schnell können Sie Englisch lernen?«
Ich lächelte verwirrt.
»Feth Ali, ich brauche kein Englisch zu lernen. Ich kann es schon lange.«
Er schwieg, den großen Kopf an den Sesselrücken gelehnt.
»Wie geht es Nino?« fragte er plötzlich, und ich wunderte mich, daß unser Premierminister, alle Gesetze der Sittsamkeit außer acht lassend, sich nach meiner Frau erkundigte.
»Danke, Exzellenz, meiner Frau geht es gut.«
»Kann sie auch Englisch?«
»Ja.«
Er schwieg und zupfte an seinem breiten Schnurrbart.
»Feth Ali Khan«, sagte ich ruhig, »ich weiß, was Sie wollen. Mein Haus ist in einer Woche fertig. In Ninos Schrank hängen Dutzende von Abendkleidern. Wir sprechen Englisch, und die Sektrechnung bezahle ich selbst.«
Unter seinem Schnurrbart zuckte ein flüchtiges Lächeln.
»Ich bitte um Verzeihung, Ali Khan«, seine Augen wurden weich, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Wir brauchen Menschen wie Sie. Unser Land ist arm an Leuten, die europäische Frauen haben, einen alten Namen führen, Englisch sprechen und ein Haus besitzen. Ich zum Beispiel habe nie Geld gehabt, um Englisch zu lernen, geschweige denn, ein Haus zu besitzen oder eine europäische Frau.«
Er schien müde und ergriff die Feder.
»Von heute ab sind Sie Attache im Dezernat für Westeuropa. Melden Sie sich beim Außenminister Assadullah. Er wird Ihnen Ihre Arbeit erklären. Und… und… aber werden Sie nicht gleich böse… kann Ihr Haus schon in fünf Tagen fertig sein? Ich schäme mich selbst, eine solche Bitte an Sie richten zu müssen.«
»Jawohl, Exzellenz«, sagte ich fest und spürte dabei ein Gefühl in mir aufsteigen, als hätte ich soeben einen alten, treuen und geliebten Freund böswillig verleugnet und verlassen.
Ich ging nach Hause. Ninos Finger waren mit Lehm und Farbe bedeckt. Sie stand auf der Leiter und hämmerte an einem Nagel herum, der ein Ölgemälde tragen sollte. Sie wäre sehr verwundert gewesen, wenn ich ihr gesagt hätte, daß sie damit dem Vaterlande einen Dienst erwies. Ich sagte es nicht, sondern küßte ihre schmutzigen Finger und genehmigte einen Eisschrank, geeignet zur Aufbewahrung ausländischer Weine.