5. Kapitel

»Als unsere glorreichen Ahnen, o Khan, dieses Land betraten, um sich einen großen und ge fürchteten Namen zu machen, da riefen sie ›Kara bak!‹ — Siehe… da liegt Schnee! Als sie sich aber den Bergen näherten und den Urwald sahen, da riefen sie ›Karabagh!‹ — Schwarzer Garten! Und seitdem heißt dieses Land Karabagh. Früher aber hieß es Sünik und noch früher Agwar. Denn du mußt wissen, o Khan, wir sind ein sehr altes und berühmtes Land.«

Mein Wirt, der alte Mustafa, bei dem ich mich in Schuscha eingemietet hatte, schwieg voll Würde, trank ein Gläschen karabaghischen Fruchtschnapses, schnitt sich ein Stück von dem seltsamen Käse ab, der aus unzähligen Fäden geflochten wird und wie ein Frauenzopf aussieht, und schwatzte weiter:

»In unsern Bergen wohnen die Karanlik, die dunklen Geister, und bewachen unsere Schätze, das weiß jeder. In den Wäldern aber stehen heilige Steine und fließen heilige Bäche. Bei uns gibt es alles. Geh durch die Stadt und schau, ob jemand arbeitet — fast niemand. Schau, ob jemand traurig ist — niemand! Ob jemand nüchtern ist — niemand! Staune, Herr!!«

Ich staunte über die köstliche Verlogenheit dieses Volkes. Es gibt keine Geschichte, die sie zur Verherrlichung ihres kleinen Landes nicht erfinden würden. Gestern wollte mir erst ein dicker Armenier einreden, daß die christliche Maras-Kirche in Schuscha fünftausend Jahre alt sei.

»Lüg doch nicht so«, sagte ich ihm, »das ganze Christentum ist noch keine zweitausend Jahre alt. Eine christliche Kirche kann doch nicht vor Christus erbaut worden sein.«

Der Dicke war sehr beleidigt und sagte vorwurfsvoll:

»Natürlich, du bist ein Mensch mit Bildung. Aber laß dich von einem alten Mann belehren: bei andern Völkern ist das Christentum möglicherweise erst zweitausend Jahre alt. Uns, das Volk von Karabagh, erleuchtete aber der Heiland schon dreitausend Jahre früher. So ist es.«

Fünf Minuten später erzählte mir derselbe Mann seelenruhig, daß der französische Marschall Murat ein Armenier aus Schuscha war. Er sei als Kind nach Frankreich gegangen, um auch dort den Namen Karabaghs berühmt zu machen.

Schon auf dem Wege nach Schuscha sagte der Kutscher, als wir über eine kleine Steinbrücke kamen:

»Diese Brücke hat Alexander der Große erbaut, als er zu unsterblichen Taten nach Persien zog.«

An der niederen Brüstung war groß die Jahreszahl »1897« eingemeißelt. Ich zeigte sie dem Kutscher, doch dieser winkte ab:

»Ach, Herr, das haben die Russen später eingesetzt, um unsern Ruhm zu schmälern.«

Schuscha war eine wunderliche Stadt. Fünftausend Meter hoch, von Armeniern und Mohammedanern bewohnt, bildete sie seit Jahrhunderten eine Brücke zwischen Kaukasus, Persien und Türkei. Es war eine schöne Stadt, umgeben von Bergen, Wäldern und Flüssen. Auf den Bergen und in den Tälern erhoben sich kleine Lehmhütten, die man hier in kindlicher Vermessenheit Paläste nannte. Dort wohnten die eingeborenen Feudalen, die armenischen Meliks und Nacharars und die mohammedanischen Begs und Agalars. Stundenlang saßen diese Menschen an der Schwelle ihrer Häuser, rauchten ihre Pfeifen und erzählten einander, wie oft Rußland und der Zar von Generälen aus Karabagh gerettet worden seien und was wohl aus dem großen Reich geworden wäre, wenn es kein Karabagh gäbe.

Sieben Stunden fuhren wir von der kleinen Eisenbahnhaltestelle mit dem Pferdewagen die steilen Serpentinen nach Schuscha hinauf — wir, das heißt ich und mein Kotschi. Kotschis sind dem Beruf nach bewaffnete Diener, der Neigung nach Räuber. Sie bewachen die Häuser und die Menschen in den Häusern. Sie haben martialische Gesichter, sind mit Waffen behängt und in düsteres Schweigen gehüllt. Vielleicht birgt dieses Schweigen die Erinnerungen an heldenhafte Raubtaten, vielleicht birgt es gar nichts. Mein Vater gab mir den Kotschi mit auf den Weg, damit er mich vor den Fremden oder die Fremden vor mir schütze. Das war mir nicht ganz klar geworden. Der Mann war gefällig, irgendwie mit dem Hause Schirwanschir verschwägert, und zuverlässig, wie es Verwandte nur im Orient sein können.

Fünf Tage saß ich nun in Schuscha, wartete auf Ninos Ankunft, ließ mir von früh bis spät erzählen, daß alle reichen, tapferen oder sonstwie bedeutenden Menschen der Welt von hier stammen, schaute mir den Stadtpark an und zählte die Kirchenkuppeln und Minaretts. Schuscha war offensichtlich eine sehr fromme Stadt. Siebzehn Kirchen und zehn Moscheen waren für 60000 Einwohner reichlich genug. Hinzu kamen noch unzählige Heiligtümer in der Nähe der Stadt und an erster Stelle natürlich das berühmte Grab, die Kapelle und die zwei Bäume des heiligen Sary Beg, wohin mich die karabaghischen Prahlhänse schon am ersten Tag schleppten.

Das Grab des Heiligen ist eine Stunde von Schuscha entfernt. Alljährlich pilgert zu ihm die ganze Stadt und feiert Gelage im heiligen Hain. Besonders fromme Leute legen den Weg dorthin auf den Knien zurück. Das ist beschwerlich, hebt aber außerordentlich das Ansehen des Pilgers. Die Bäume am Grabe des Heiligen dürfen nicht berührt werden. Wer auch nur ein Blatt am Baume anrührt, wird sofort gelähmt. So gewaltig ist die Macht des heiligen Sary Beg! Welche Wunder dieser Heilige vollbracht hat, konnte mir niemand erklären. Dafür berichteten mir die Leute ausführlich, wie er einst, von Feinden verfolgt, hoch zu Roß den Berg hinaufritt, auf dessen Gipfel noch heute Schuscha steht. Ganz nahe schon waren seine Verfolger. Da holte sein Pferd zu einem gewaltigen Sprung aus, über den Berg, über die Felsen, über die ganze Stadt Schuscha hinweg. An der Stelle, wo das Pferd landete, kann der Fromme auch heute noch, tief in den Stein gegraben, die Hufeisenspur des edlen Tieres sehen. So versicherten mir wenigstens die Leute. Als ich einige Bedenken über Möglichkeit dieses Sprunges äußerte, sagten sie entrüstet: »Aber, Herr, es war doch ein Pferd aus Karabagh!« Und dann erzählten sie mir die Sage vom karabaghischen Pferd: Alles sei in ihrem Lande schön. Am schönsten aber sei das Pferd von Karabagh, jenes berühmte Pferd, für das Aga Mohammed, Schah von Persien, seinen ganzen Harem abgeben wollte. (Wußten meine Freunde, daß Aga Mohammed ein Eunuch war?) Dieses Pferd sei beinahe heilig. Jahrhundertelang hatten die Weisen gegrübelt und gepaart, bis dieses Wunder der Zucht geboren war: das beste Pferd der Welt, das berühmte rotgelbe Edeltier aus Karabagh.

Von so viel Lob neugierig gemacht, bat ich, mir eines der herrlichen Rosse zu zeigen. Meine Begleiter blickten mich mitleidig an.

»Es ist leichter, in den Harem des Sultans einzudringen, als in den Stall des Karabagher Pferdes. Es gibt in ganz Karabagh keine zwölf echte rotgelbe Tiere. Wer sie sieht, wird zum Pferdedieb. Nur wenn Krieg ist, besteigt der Besitzer sein rotgelbes Wunder.«

Ich mußte mich also mit dem begnügen, was man mir von dem sagenhaften Pferd erzählte, und kehrte nach Schuscha zurück. Da saß ich nun, hörte mir das Geschwätz des alten Mustafa an, wartete auf Nino und fühlte mich wohl in diesem Märchenland.

»O Khan«, sagte Mustafa, »deine Ahnen haben Kriege geführt, du aber bist ein gelehrter Mensch und hast das Haus des Wissens besucht. Du wirst also auch von den schönen Künsten gehört haben. Die Perser sind stolz auf Saadi, Hafis und Firdausi, die Russen auf Puschkin, und weit im Westen gab es einen Dichter, der hieß Goethe und hat ein Gedicht über den Teufel geschrieben.«

»Stammen alle diese Dichter auch aus Karabagh?« unterbrach ich ihn.

»Das nicht, edler Gast, aber unsere Dichter sind besser, auch wenn sie sich weigern, Klänge in tote Buchstaben einzufangen. In ihrem Stolz schreiben sie ihre Gedichte nicht nieder, sondern sagen sie nur auf.«

»Welche Dichter meinst du? Die Aschuken?«

»Ja, die Aschuken«, sagte der Alte gewichtig, »sie wohnen in den Dörfern bei Schuscha und haben morgen einen Wettbewerb. Willst du hinfahren und staunen?«

Ich wollte. Am nächsten Tag fuhr unser Wagen die Serpentinen hinab, zum Dorfe Tasch-Kenda, der Hochburg der kaukasischen Dichtkunst.

Fast in jedem Dorfe Karabaghs sitzen einheimische Sänger, die den Winter über dichten und im Frühjahr in die Welt hinausziehen, um in Palästen und Hütten ihre Lieder vorzutragen. Drei Dörfer aber gibt es, die ausschließlich von Dichtern bewohnt sind und zum Zeichen der hohen Achtung, die der Orient vor der Poesie hegt, seit alters her von allen Abgaben und Steuern an die einheimischen Feudalen befreit sind. Eines dieser Dörfer ist Tasch-Kenda.

Der erste Blick genügte, um festzustellen, daß die Bewohner dieses Dorfes keine gewöhnliche Bauern waren. Die Männer trugen lange Haare, Seidengewänder und blickten einander mißtrauisch an. Die Frauen liefen hinter ihren Männern her, machten einen gedrückten Eindruck und trugen die Musikinstrumente. Das Dorf war voll von reichen Armeniern und Mohammedanern, die aus dem ganzen Lande herbeiströmten, um die Aschuken zu bewundern. Am kleinen Hauptplatz des Dichterdorfes versammelte sich die schaulustige Menge. In der Mitte standen die beiden streitbaren Sängerfürsten, die hier einen erbitterten Zweikampf ausfechten sollten. Sie blickten einander höhnisch an. Ihre langen Haare flatterten im Wind. Der eine Aschuk rief:

»Deine Kleidung stinkt nach Mist, dein Antlitz gleicht dem Gesicht eines Schweines, dein Talent ist dünn wie das Haar am Bauche einer Jungfrau, und für etwas Geld bist du bereit, ein Schmähgedicht auf dich selbst zu dichten.«

Der andere antwortete grimmig und bellend:

»Du trägst das Gewand eines Lustknaben und hast die Stimme eines Eunuchen. Du kannst dein Talent nicht verkaufen, da du nie welches gehabt hast. Du lebst von den Krümchen, die vom festlichen Tisch meiner Gaben herabfallen.«

So beschimpften sie sich inbrünstig und etwas eintönig eine ganze Weile. Das Volk klatschte Beifall. Dann erschien ein grauhaariger Greis mit dem Gesicht eines Apostels und nannte zwei Themen für den Wettbewerb, ein lyrisches und ein episches: »Der Mond über dem Araxes« und »Der Tod Aga Mohammed Schahs«.

Die beiden Dichter blickten gen Himmel. Dann sangen sie. Sie sangen von dem grimmigen Eunuchen Aga Mohammed, der nach Tiflis zog, um im dortigen Schwefelbad seine Manneskraft wieder zu gewinnen. Als das Bad versagte, zerstörte der Eunuche die Stadt und ließ alle Frauen und Männer grausam hinrichten. Aber auf dem Rückwege in Karabagh ereilte ihn sein Schicksal. Als er in Schuscha übernachtete, wurde er, in seinem Zelte schlafend, erdolcht. Der große Schah hat vom Leben nichts gehabt. Er hungerte in den Feldzügen. Aß schwarzes Brot und trank saure Milch. Er eroberte unzählige Länder und war ärmer als ein Bettler aus der Wüste. Der Eunuche Aga Mohammed.

Das alles wurde in klassischen Strophen vorgetragen, wobei der eine sehr ausführlich die Qualen eines Eunuchen im Lande der schönsten Frauen schilderte, und der andere mit besonderer Genauigkeit die Hinrichtung dieser Frauen beschrieb. Die Zuhörer waren zufrieden. Schweiß tropfte von der Stirn der Dichter. Dann rief der sanftere der beiden: »Wem gleicht der Mond über dem Araxes?«

»Dem Antlitz deiner Geliebten«, unterbrach ihn der Grimmige.

»Mild ist das Gold dieses Mondes«, rief der Sanfte.

»Nein, er ist wie der Schild eines großen gefallenen Kriegers«, antwortete der Grimmige.

So erschöpften sie nach und nach ihren Vorrat an Vergleichen. Dann sang jeder ein Lied von der Schönheit des Mondes, vom Araxes, der sich wie ein Mädchenzopf durch die Ebene windet, und von Verliebten, die nachts zu den Ufern kommen und in den Mond schauen, der sich im Wasser des Araxes spiegelt…

Zum Sieger wurde der Grimmige erklärt, der mit boshaftem Lächeln als Siegespreis die Laute des Gegners empfing. Ich näherte mich ihm. Er blickte trübe vor sich, während seine Messingschale sich mit Münzen füllte.

»Freust du dich des Sieges?« fragte ich.

Er spuckte verächtlich aus.

»Es ist kein Sieg, Herr, früher gab es Siege. Vor hundert Jahren. Damals durfte der Sieger dem Besiegten den Kopf abhauen. Hoch war damals die Achtung vor der Kunst. Jetzt sind wir verweichlicht. Niemand gibt sein Blut für ein Gedicht her.«

»Du bist jetzt der beste Dichter des Landes.«

»Nein«, sagte er. Seine Augen wurden sehr traurig. »Nein«, wiederholte er, »ich bin nur ein Handwerker. Ich bin kein echter Aschuk.«

»Wer ist ein echter Aschuk?«

»Im Monat Ramasan«, sagte der Grimmige, »gibt es eine geheimnisvolle Nacht, die Nacht Kadir. In dieser Nacht schläft die Natur für eine Stunde ein. Ströme hören auf zu fließen, die bösen Geister hören auf, die Schätze zu bewachen. Man kann Gras wachsen und Bäume sprechen hören. Aus den Flüssen erheben sich die Nymphen, und die Menschen, die in der Nacht Kadir gezeugt werden, sind Weise und Dichter. In der Nacht Kadir muß der Aschuk den Propheten Elias anrufen, den Schutzheiligen aller Dichter. Zur richtigen Zeit erscheint der Prophet, gibt dem Dichter aus einer Schale zu trinken und sagt: ›Von nun an bist du ein echter Aschuk und wirst alles in der Welt mit meinen Augen sehen.‹ Der also Begnadete beherrscht die Elemente; Tiere und Menschen, Winde und Meere gehorchen seiner Stimme, denn in seinem Wort ist die Kraft des Allmächtigen.«

Der Grimmige setzte sich zu Boden und stützte mit den Händen sein Gesicht. Dann weinte er kurz und böse. Er sagte: »Aber niemand weiß, welche Nacht die Nacht Kadir ist und welche Stunde dieser Nacht die Stunde des Schlafes. Deshalb gibt es keine echten Aschuks.«

Er stand auf und ging. Einsam, finster, verschlossen. Ein Steppenwolf im grünen Paradies von Karabagh.

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