Glück und Angst mischten sich in den Gesichtern der Menschen. Quer über die Straßen hingen scharlachrote Transparente mit sinnlosen Aufschriften. Marktweiber standen an den Ecken und verlangten die Freiheit für die Indianer Amerikas und die Buschleute in Afrika. Die Front flutete zurück. Der Großfürst war verschwunden, und Scharen zerlumpter Soldaten lungerten in der Stadt herum. Nachts wurde geschossen, und am Tage plünderte die Menge die Läden.
Nino beugte sich über den Atlas.
»Ich suche ein friedliches Land«, sagte sie, und ihr Finger glitt über die bunten Grenzlinien.
»Vielleicht Moskau. Oder Petersburg«, sagte ich spöttisch. Sie zuckte die Achseln. Ihre Finger entdeckten Norwegen.
»Sicher ein friedliches Land«, sagte ich, »aber wie kommt man hin?«
»Man kommt nicht hin«, seufzte Nino.
»Amerika?«
»U-Boote«, sagte ich heiter.
»Indien, Spanien, China, Japan?«
»Entweder Krieg, oder man kommt nicht hin.«
»Ali Khan, wir sind in der Mausefalle.«
»Du hast es erkannt, Nino. Es ist sinnlos zu fliehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir unsere Stadt zur Vernunft bringen, wenigstens bis die Türken da sind.«
»Wozu habe ich einen Helden zum Mann!« sagte Nino vorwurfsvoll. »Ich habe eine Abneigung gegen Transparente, Aufrufe und Reden. Wenn es so weitergeht, fliehe ich zu deinem Onkel nach Persien.«
»Es geht nicht so weiter«, sagte ich und verließ das Haus.
Im Saale des islamischen Wohltätigkeitsvereines tagte eine Versammlung. Die besseren Herren, die einst im Hause meines Vaters sich um die Zukunft des Volkes sorgten, waren abwesend. Junge Leute mit guten Muskeln füllten den Raum. In der Tür traf ich Iljas Beg. Er und Mehmed Haidar waren von der Front zurückgekehrt. Der Thronverzicht des Zaren hatte sie von ihrem Eid befreit, und sie erschienen in der Stadt, braungebrannt, stolz und kraftstrotzend. Der Krieg war ihnen gut bekommen. Sie glichen Menschen, die den Blick in eine andere Welt geworfen haben und das Bild dieser andern Welt für immer in ihren Herzen tragen.
»Ali Khan«, sagte Iljas Beg, »wir müssen handeln. Der Feind steht an der Pforte der Stadt.«
»Ja, wir müssen uns verteidigen.«
»Nein, wir müssen angreifen.«
Er ging zur Tribüne. Er sprach laut und im Kommandoton:
»Mohammedaner! Ich will noch einmal die Lage unserer Stadt darstellen. Seit dem Beginn der Revolution bröckelt die Front auseinander. Russische Deserteure aller Parteirichtungen, bewaffnet und raublustig, lagern vor Baku. In der Stadt gibt es nur eine einzige mohammedanische militärische Formation. Das sind wir, die Freiwilligen der ›Wilden Division‹. Wir sind den Russen zahlenmäßig und was die Munition anlangt unterlegen. Die zweite Kampfeinheit in unserer Stadt ist der Militärbund der armenischen nationalistischen Partei ›Daschnaktütün‹. Die Führer dieser Partei, Stepa Lalai und Andronik, haben sich mit uns in Verbindung gesetzt. Sie bilden aus den armenischen Einwohnern der Stadt eine Armee, die nach Karabagh und Armenien gebracht werden soll, um diese Länder zu schützen. Wir haben den Plan der Bildung dieser Armee sowie ihres Ausmarsches nach Armenien gebilligt. Dafür richten die Armenier gemeinsam mit uns ein Ultimatum an die Russen. Wir verlangen, daß russische Soldaten und Flüchtlinge nicht mehr über unsere Stadt geleitet werden. Lehnen die Russen unser Angebot ab, so sind wir, vereint mit den Armeniern, in der Lage, unsere Forderungen auf militärischem Wege durchzusetzen. Mohammedaner, tretet der ›Wilden Division‹ bei, ergreift die Waffen. Der Feind steht vor der Tür.«
Ich hörte zu. Es roch nach Kampf und Blut. Seit vielen Tagen übte ich im Hofe der Kaserne die Handhabung des Maschinengewehres. Nun sollte das neue Wissen eine nützliche Anwendung finden. Mehmed Haidar stand neben mir und spielte mit dem Patronengurt. Ich beugte mich zu ihm.
»Komm nach der Versammlung mit Iljas zu mir. Auch Seyd Mustafa wird dasein. Wir wollen die Lage besprechen.«
Er nickte. Ich ging heim. Nino sorgte hausfraulich für den Tee. Die Freunde kamen bald. Sie waren bewaffnet, selbst hinter dem grünen Gurt des Seyds steckte ein Dolch. Eine merkwürdige Stille war in uns. Die Stadt am Vorabend des Kampfes war bedrückend und fremd. Noch gingen die Menschen durch die Straßen, ihren Geschäften nach oder spazieren. Ihr Treiben hatte aber etwas Unwirkliches, Gespensterhaftes, als hätten sie bereits eine Vorahnung von der baldigen Sinnlosigkeit ihres alltäglichen Tuns.
»Habt ihr genug Waffen?« fragte Iljas Beg.
»Fünf Gewehre, acht Revolver, ein Maschinengewehr und Munition. Außerdem ist ein Keller da für die Frauen und Kinder.«
Nino hob plötzlich den Kopf.
»Ich gehe nicht in den Keller«, sagte sie fest, »auch ich werde mein Haus verteidigen.«
Sie sprach hart und verbissen.
»Nino«, antwortete Mehmed Haidar ruhig, »wir werden schießen, und Sie werden die Wunden verbinden.«
Da senkte Nino die Augen. Ihre Stimme klang gepreßt:
»Mein Gott, unsere Straßen werden zu Schlachtfeldern. Das Theater zum Generalstabsquartier. Es wird bald schwerer sein, über die Nikolaistraße zu gehen, als früher nach China zu reisen. Um zum Lyzeum der Königin Tamar zu gelangen, wird man entweder die Weltanschauung ändern oder eine Armee besiegen müssen. Ich sehe euch bewaffnet auf dem Bauch durch den Gouverneursgarten kriechen, und am Bassin, wo ich mich früher mit Ali Khan traf, wird ein Maschinengewehr aufgestellt sein. Wir wohnen in einer seltsamen Stadt.«
»Es wird zu keinem Kampfe kommen«, sagte Iljas. »Die Russen werden unser Ultimatum annehmen.«
Mehmed Haidar lachte finster.
»Ich vergaß zu erzählen: auf dem Wege hierher traf ich Assadullah. Er sagte, daß die Russen ablehnen. Sie verlangen, daß wir alle Waffen abliefern. Ich gebe meine Waffe nicht ab.«
»Das bedeutet Kampf«, sagte Iljas, »für uns und für unsere armenischen Verbündeten.« Nino schwieg. Ihr Gesicht war dem Fenster zugewandt. Seyd Mustafa schob seinen Turban zurecht.
»Allah, Allah«, sagte er, »ich war nicht an der Front. Ich bin nicht so klug wie Ali Khan. Aber ich kenne das Gesetz. Es ist schlimm, wenn Mohammedaner im Kampfe auf die Treue von Ungläubigen angewiesen sind. Es ist überhaupt schlimm, auf jemanden angewiesen zu sein. So lautet das Gesetz, und so ist das Leben. Wer führt die armenischen Truppen? Stepa Lalai! Ihr kennt ihn. Im Jahre 1905 haben Mohammedaner seine Eltern erschlagen. Ich glaube nicht, daß er es vergessen hat. Ich glaube überhaupt nicht, daß Armenier für uns gegen die Russen kämpfen werden. Wer sind überhaupt diese Russen? Zerlumptes Pack, Anarchisten, Räuber. Ihr Führer heißt Stepan Schaumjan und ist ein Armenier. Armenischer Anarchist und armenischer Nationalist werden sich viel schneller einigen als mohammedanischer Nationalist und armenischer Nationalist. Das ist das Geheimnis des Blutes. Es wird zum Zerwürfnis kommen, so wahr der Koran ist.«
»Seyd«, sagte Nino, »es gibt außer Blut noch die Vernunft. Wenn die Russen siegen, wird es weder dem Lalai noch dem Andronik gut ergehen.«
Mehmed Haidar lachte plötzlich auf.
»Verzeiht, Freunde«, sagte er dann, »ich dachte nur, wie es den Armeniern ergehen wird, falls wir siegen. Wenn die Türken Armenien überfluten, werden doch wir ihr Land nicht verteidigen.«
Iljas Beg wurde sehr böse.
»So was darf man weder sagen noch denken. Die armenische Frage wird sehr einfach gelöst: Die Bataillone, die Lalai aufstellt, wandern nach Armenien aus. Mit den Soldaten ziehen ihre Familien. In einem Jahr gibt es keinen Armenier mehr in Baku. Sie haben dann ein Land für sich und wir ein Land für uns. Wir werden einfach zwei Nachbarvölker.«
»Iljas Beg«, sagte ich, »Seyd hat nicht unrecht. Du vergißt das Geheimnis des Blutes. Stepa Lalai, dessen Eltern von Mohammedanern erschlagen wurden, müßte ein Schurke sein, vergäße er die Pflicht des Blutes.«
»Oder ein Politiker, Ali Khan, ein Mensch, der den Drang seines Blutes bändigt, um das Blut seines Volkes zu schonen. Wenn er klug ist, hält er zu uns. In seinem Interesse und im Interesse seines Volkes.«
Wir stritten, bis der Abend einbrach. Dann sagte Nino:
»Was immer ihr seid, Politiker oder Menschen, ich möchte, daß ihr in einer Woche wieder hier seid. Mit heilen Gliedern. Denn sollte in der Stadt gekämpft werden…«
Sie sprach nicht weiter.
Nachts lag sie neben mir und schlief nicht. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Lippen feucht. Sie starrte zum Fenster hinaus und schwieg. Ich umarmte sie. Sie wandte mir das Gesicht zu und sagte leise: »Wirst du auch kämpfen, Ali Khan?«
»Natürlich, Nino.«
»Ja«, sagte sie, »natürlich.«
Plötzlich ergriff sie mein Gesicht und drückte es an ihre Brust. Sie küßte mich wortlos, mit weitgeöffneten Augen. Eine wilde Leidenschaft ergriff sie. Sie preßte sich an mich, schweigend und unersättlich, von Lust, Todesangst und Hingabe erfüllt. Ihr Gesicht war wie in eine andere Welt getaucht, in eine Welt, zu der nur sie allein Zugang hatte. Plötzlich fiel sie zurück, hielt meinen Kopf dicht vor ihre Augen und sagte kaum hörbar:
»Ich werde das Kind Ali nennen.«
Dann schwieg sie wieder, den verschleierten Blick zum Fenster gewandt.
Der alte Gebetturm erhob sich schlank und zierlich im fahlen Mondschein. Die Schatten der Festungsmauer waren dunkel und drohend. Aus der Ferne tönte das Geklirr von Eisen. Jemand schliff einen Dolch, und es klang wie eine Verheißung. Dann läutete das Telephon. Ich erhob mich und torkelte durch die Dunkelheit. In der Muschel ertönte die Stimme Iljas Begs:
»Die Armenier haben sich mit den Russen verbündet. Sie fordern die Entwaffnung aller Mohammedaner. Bis morgen drei Uhr. Wir lehnen natürlich ab. Du bedienst das Maschinengewehr an der Mauer, links vom Tore Zizianaschwilis. Ich schicke noch dreißig Mann. Bereite alles zur Verteidigung des Tores vor.«
Ich legte den Hörer ab. Nino saß im Bett und starrte mich an. Ich nahm den Dolch und prüfte seine Schneide.
»Was gibt’s, Ali?«
»Der Feind steht vor den Mauern, Nino.«
Ich zog mich an und rief die Diener. Sie kamen, breit, stark und ungelenk. Ich gab jedem ein Gewehr. Dann ging ich zum Vater. Er stand vor dem Spiegel, und der Diener bürstete seinen Tscherkessenrock.
»Wo ist dein Platz, Ali Khan?«
»An der Pforte Zizianaschwilis.«
»Gut so. Ich bin im Saal des Wohltätigkeitsvereins, beim Stab«, sein Säbel klirrte, und er zupfte am Schnurrbart, »sei tapfer, Ali. Die Feinde dürfen nicht über die Mauer. Wenn sie den Platz vor dem Tor besetzen, überzieh sie mit Maschinengewehrfeuer. Assadullah wird die Bauern aus den Dörfern holen und dem Feinde durch die Nikolaistraße in den Rücken fallen«, er steckte den Revolver ein und blinzelte müde, »um acht Uhr geht der letzte Dampfer nach Persien. Nino soll unbedingt wegfahren. Wenn die Russen siegen, werden sie alle Frauen schänden.«
Ich ging in mein Zimmer. Nino sprach ins Telephon:
»Nein, Mama«, hörte ich, »ich bleibe hier. Es droht ja keine Gefahr. Danke, Papa, sei unbesorgt, wir haben Nahrungsvorräte genug. Ja, vielen Dank. Aber laßt mich nun endlich in Ruhe. Ich komme nicht, nein und nochmals nein.«
Es klang wie ein Schrei. Sie hängte ab.
»Du hast recht, Nino«, sagte ich, »bei deinen Eltern wird es auch nicht sicher sein. Um acht Uhr geht der Dampfer nach Persien. Pack deine Sachen.«
Ihr Gesicht wurde glutrot.
»Du schickst mich weg, Ali Khan?«
Ich habe Nino noch nie so erröten gesehen.
»In Teheran bist du sicher, Nino. Wenn die Feinde siegen, werden sie alle Frauen schänden.«
Sie hob den Kopf und sagte trotzig:
»Mich wird man nicht schänden, mich nicht. Sei unbesorgt, Ali.«
»Fahr nach Persien, Nino, noch ist es Zeit.«
»Laß das«, sagte sie streng. »Ali, ich fürchte mich sehr. Vor dem Feind, vor dem Kampf, vor all den schrecklichen Dingen, die uns erwarten. Und ich bleibe dennoch da. Helfen kann ich dir nicht. Aber ich gehöre zu dir. Ich muß hierbleiben, und damit Schluß.«
Es blieb dabei. Ich küßte ihre Augen und war sehr stolz. Sie war eine gute Frau, obwohl sie mir widersprach. Ich verließ das Haus.
Der Morgen graute. Staub hing in der Luft. Ich bestieg die Mauer. Meine Diener lagen mit Gewehren hinter den steinernen Zinnen. Die dreißig Mann Iljas Begs beobachteten wachsam den menschenleeren Dumaplatz. Schnurrbärtig mit braunen Gesichtern lagen sie da, schwerfällig, schweigend und verbissen. Das Maschinengewehr mit dem kleinen Mündungstrichter glich einer russischen Nase, emporgestülpt und breit. Es war sehr still ringsum. Hin und wieder liefen Verbindungsleute die Mauer entlang. Sie brachten kurze Meldungen. Irgendwo verhandelten noch Geistliche und Greise und versuchten im letzten Augenblick, das Wunder der Versöhnung zu vollbringen.
Die Sonne ging auf. Die Glut strömte vom Himmel und sammelte sich in den Steinen. Ich sah zu meinem Haus hinüber. Auf dem Dache saß Nino. Ihr Gesicht war der Sonne zugewandt. Um die Mittagszeit kam sie zur Mauer. Sie brachte Essen und Trinken und blickte neugierig auf das Maschinengewehr. Sie schwieg und kauerte im Schatten, bis ich sie nach Hause schickte.
Es war ein Uhr. Vom Gebetturm sang Seyd Mustafa klagend und feierlich sein Gebet. Dann kam er zu uns, ein Gewehr unbeholfen hinter sich herschleifend. In seinem Gurt steckte der Koran. Ich blickte auf den Dumaplatz jenseits der Mauer. Ich sah Staub und einige ängstlich gebückte Gestalten, die rasch über den Platz eilten. Eine verschleierte Frau lief schimpfend und stolpernd ihren Kindern nach, die auf dem Platz spielten.
Eins, zwei, drei. Der Schlag der Rathausglocke durchbrach dröhnend die Stille. Und zu gleicher Zeit, als ob diese Glockenschläge geheimnisvoll die Tür in eine andere Welt geöffnet hätten, ertönten, vom Rande der Stadt kommend, die ersten Schüsse…