3. Kapitel

Die Galauniform der Abiturienten hatte einen silberbetreßten Kragen. Die silberne Schnalle des Gurtes und die silbernen Knöpfe waren blankgeputzt. Der steife, graue Stoff noch warm vom Bügeleisen. Wir standen barhäuptig und still im großen Saal des Gymnasiums. Der feierliche Akt der Prüfung begann, indem wir alle den Gott der orthodoxen Kirche um Hilfe anflehten, wir vierzig, unter denen nur zwei der Staatskirche angehörten.

Der Pope im schweren Gold des festlichen Kirchengewandes, mit langen, duftenden Haaren, das große, goldene Kreuz in der Hand, begann das Gebet. Der Saal füllte sich mit Weihrauch, die Lehrer und die zwei Anhänger der Staatskirche knieten nieder.

Die Worte des Popen, im singenden Tonfall der orthodoxen Kirche gesprochen, klangen dumpf in unseren Ohren. Wie oft haben wir das, teilnahmslos und gelangweilt, im Laufe dieser acht Jahre gehört:

»… Für den Allerfrömmsten, Allermächtigsten, Allerchristlichsten Herrscher und Kaiser Nikolaus II. Alexandrowitsch Gottes Segen… und für alle Seefahrenden und Reisenden, für alle Lernenden und Leidenden, und für alle Krieger, die auf dem Felde der Ehre ihr Leben für Glauben, Zar und Vaterland gelassen, und für alle orthodoxen Christen Gottes Segen…«

Gelangweilt starrte ich auf die Wand. Dort hing im breiten, goldenen Rahmen, lebensgroß, einer byzantinischen Ikone gleichend, unter dem großen Doppeladler das Bildnis des Allerfrömmsten und Allermächtigsten Herrschers und Kaisers. Das Gesicht des Zaren war länglich, seine Haare blond, er blickte mit hellen, kalten Augen vor sich hin. Die Zahl der Orden an seiner Brust war gewaltig. Seit acht Jahren nahm ich mir vor, sie zu zählen, und verirrte mich stets in dieser Ordenspracht.

Früher hing neben dem Bild des Zaren das der Zarin. Dann nahm man es weg. Die Mohammedaner vom Lande nahmen an ihrem ausgeschnittenen Kleide Anstoß und gaben ihre Kinder nicht in die Schule.

Während der Pope betete, wurde unsere Stimmung feierlich. Immerhin, es war ein höchst aufregender Tag. Vom frühesten Morgen an tat ich das Äußerstmögliche, um ihn würdig zu bestehen. In der Frühe nahm ich mir vor, zu allen im Hause nett zu sein. Da aber die meisten noch schliefen, war diese Aufgabe nicht zu lösen. Auf dem Wege zur Schule gab ich jedem Bettler Geld. Sicher ist sicher. In meiner Aufregung gab ich einem sogar statt fünf Kopeken einen ganzen Rubel. Als er überschwenglich dankte, sagte ich mit Würde:

»Danke nicht mir, danke Allah, der meine Hand zum Geben benutzt hat!«

Unmöglich, nach einem so frommen Spruch durchzufallen.

Das Gebet war zu Ende. Im Gänsemarsch wanderten wir zum Prüfungstisch. Die Prüfungskommission glich dem Rachen eines vorsintflutlichen Ungeheuers: bärtige Gesichter, düstere Blicke, goldene Galauniformen. Das Ganze war sehr feierlich und furchterregend. Obwohl die Russen nur ungern einen Mohammedaner durchfallen lassen. Wir alle haben viele Freunde, und unsere Freunde sind kräftige Burschen mit Dolchen und Revolvern. Die Lehrer wissen es und fürchten sich vor den wilden Banditen, die ihre Schüler sind, nicht minder als ihre Schüler vor ihnen. Eine Versetzung nach Baku betrachten die meisten Professoren als eine Strafe Gottes. Fälle, wo Lehrer in dunklen Gassen überfallen und verprügelt wurden, sind nicht allzu selten. Die Folge davon war immer, daß die Täter unbekannt blieben und die Lehrer versetzt werden mußten. Deshalb drücken sie auch ein Auge zu, wenn der Schüler Ali Khan Schirwanschir ziemlich frech die Mathematikaufgabe beim Nachbar Metalnikow abschreibt. Nur einmal mitten im Abschreiben tritt der Lehrer an mich heran und zischt verzweifelt:

»Nicht so auffällig, Schirwanschir, wir sind nicht allein.«

Die schriftliche Mathematik klappte reibungslos. Vergnügt schlenderten wir die Nikolaistraße hinunter, fast schon nicht mehr wie Schüler. Für morgen war das schriftliche Russisch angesagt. Das Thema kam, wie immer, im versiegelten Paket aus Tiflis. Der Direktor erbrach den Umschlag und las feierlich:

»Die weiblichen Gestalten Turgenjews als ideale Verkörperungen der russischen Frauenseele.«

Ein bequemes Thema. Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich mußte nur die russischen Frauen loben, dann war das Spiel gewonnen. Schriftliche Physik war schwerer. Doch, wo die Weisheit versagte, half eben die bewährte Kunst des Abschreibens. So klappte auch die Physik, worauf die Kommission den Delinquenten einen Tag Ruhe gewährte.

Dann kam das Mündliche. Da half keine List. Man mußte auf einfache Fragen schwierige Antworten geben. Die erste Prüfung galt der Religion. Der Gymnasial-Mullah, im langen, wallenden Überwurf, mit der grünen Schärpe eines Nachkommen des Propheten umgürtet, sonst immer bescheiden im Hintergrund, saß plötzlich vorne am Tisch. Er hatte für seine Schüler ein mildes Herz. Mich fragte er nur nach der Glaubensformel und entließ mich mit der höchsten Note, nachdem ich brav das schiitische Glaubensbekenntnis hergesagt hatte.

»Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Prophet und Ali der Statthalter Allahs.«

Das letztere war besonders wichtig; denn das allein unterschied den frommen Schiiten von den verirrten Brüdern der sunnitischen Richtung, denen aber immerhin die Gnade Allahs wohl nicht ganz versagt war. So lehrte uns der Mullah; denn er war ein liberaler Mann.

Der Geschichtslehrer war dafür um so weniger liberal. Ich zog den Zettel mit der Frage, las sie, und mir war gar nicht wohl zumute: »Der Sieg Madatows bei Gandscha« stand darauf. Auch dem Lehrer war nicht sehr behaglich. In der Schlacht von Gandscha erschlugen die Russen hinterlistig jenen berühmten Ibrahim Khan Schirwanschir, mit dessen Hilfe Hassan Kuli einst dem Fürsten Zizianaschwili den Kopf abgeschnitten hatte.

»Schirwanschir, Sie können von Ihrem Recht Gebrauch machen und Ihre Frage umtauschen.«

Die Worte des Lehrers klangen sanft. Ich blickte mißtrauisch auf die gläserne Schale, in der wie Lotterielose die Zettel mit den Prüfungsfragen lagen. Jeder Schüler hatte das Recht, den gezogenen Zettel einmal umzutauschen. Er verlor dadurch nur den Anspruch auf die höchste Note. Ich wollte aber das Schicksal nicht herausfordern. Über den Tod meines Ahnen wußte ich wenigstens Bescheid. In der Glasschale lagen aber noch völlig rätselhafte Fragen über die Reihenfolge der Friedrichs, der Wilhelms und der Friedrich Wilhelms in Preußen oder über die Ursachen der amerikanischen Befreiungskriege. Wer sollte sich da noch auskennen? Ich schüttelte den Kopf.

»Danke, ich behalte meine Frage.«

Dann erzählte ich, so artig ich konnte, von dem Prinzen Abbas Mirza von Persien, der mit einer Armee von 40000 Mann von Täbris auszog, um die Russen aus Aserbaidschan zu verjagen. Wie der Armenier General Madatow mit 5000 Mann ihn bei Gandscha traf und mit Kanonen auf die Perser schießen ließ, worauf Prinz Abbas Mizra vom Pferde fiel und sich in einen Graben verkroch, die gesamte Armee auseinanderlief und Ibrahim Khan Schirwanschir mit einer Schar von Recken beim Versuch, über den Fluß zu entkommen, gefangen und erschossen wurde.

»Der Sieg beruhte weniger auf der Tapferkeit der Truppen als auf der technischen Überlegenheit der Kanonen Madatows. Die Folgen des russischen Sieges war der Friede von Turkmentschai, bei dem die Perser einen Tribut zahlen mußten, dessen Eintreibung fünf Provinzen verwüstete.«

Dieser Schluß kostete mich das »Gut«. Ich hätte sagen müssen:

»Die Ursache des Sieges war der beispiellose Mut der Russen, die den achtfach überlegenen Feind in die Flucht zwangen. Die Folge des Sieges war der Friede von Turkmentschai, der den Persern den Anschluß an die westliche Kultur und die westlichen Märkte ermöglichte.«

Wie dem auch sei, die Ehre meines Ahnen war mir so viel wert wie der Unterschied zwischen Gut und Genügend.

Nun war es zu Ende. Der Direktor hielt eine feierliche Ansprache. Voll Würde und sittlichen Ernstes erklärte er uns für reif, und dann sprangen wir wie freigelassene Sträflinge die Treppe hinab. Die Sonne blendete uns. Der gelbe Sand der Wüste bedeckte den Straßenasphalt mit feinsten Körnchen, der Polizist von der Ecke, der uns acht Jahre gnädig beschützt hatte, kam, gratulierte und bekam von jedem fünfzig Kopeken. Wie eine Horde von Banditen ergossen wir uns lärmend und schreiend über die Stadt.

Ich eilte nach Hause und wurde empfangen wie Alexander nach dem Siege über die Perser. Die Diener blickten mich schreckerfüllt an. Mein Vater küßte mich ab und schenkte mir die Gewährung dreier Wünsche, die ich nach Belieben wählen konnte. Mein Onkel meinte, ein so weiser Mann gehöre unbedingt an den Hof von Teheran, wo er es sicherlich weit bringen würde.

Verstohlen schlich ich mich, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ans Telephon. Zwei Wochen lang hatte ich mit Nino nicht gesprochen. Eine weise Regel gebietet dem Manne, den Umgang mit Frauen zu meiden, wenn er vor wichtigen Lebensfragen steht. Jetzt hob ich den Griff des unförmigen Apparates, drehte die Klingel und rief hinein:

»33–81.«

Ninos Stimme meldete sich:

»Bestanden, Ali?«

»Ja, Nino.«

»Gratuliere, Ali!«

»Wann und wo, Nino?«

»Um fünf am Teich im Gouverneursgarten, Ali.«

Mehr zu sprechen war nicht gestattet. Hinter meinem Rücken lauerten die neugierigen Ohren der Verwandten, Diener und Eunuchen. Hinter Ninos Rücken die vornehme Frau Mama. Also Schluß. Stimme ohne Körper ist sowieso etwas so Ungewöhnliches, daß man an ihr keine richtige Freude hat.

Ich ging hinauf in das große Zimmer meines Vaters. Er saß auf dem Diwan und trank Tee. Neben ihm der Onkel. Diener standen an den Wänden und starrten mich an. Die Matura war noch lange nicht zu Ende. An der Schwelle des Lebens mußte der Vater dem Sohn in aller Form und öffentlich die Weisheit des Lebens übermitteln. Es war rührend und etwas altmodisch.

»Mein Sohn, jetzt, da du ins Leben trittst, ist es notwendig, daß ich dich noch einmal an die Pflichten eines Muslim mahne. Wir leben hier im Lande des Unglaubens. Um nicht unterzugehen, müssen wir an alten Sitten und an alten Bräuchen festhalten. Bete oft, mein Sohn, trink nicht, küsse keine fremden Frauen, sei gut zu den Armen und Schwachen und immer bereit, das Schwert zu ziehen und für den Glauben zu fallen. Wenn du im Felde stirbst, so wird es mir, dem alten Mann, wehe tun, wenn du aber in Unehren am Leben bleibst, werde ich alter Mann mich schämen. Vergib nie den Feinden, mein Sohn, wir sind keine Christen. Denke nicht an morgen, das macht feige, und vergiß nie den Glauben Mohammeds, in schiitischer Auslegung der Richtung des Imam Dschafar.«

Onkel und Diener hatten feierlich verträumte Gesichter. Sie hörten den Worten des Vaters zu, als wären sie eine Offenbarung. Dann erhob sich mein Vater, nahm mich an der Hand und sagte mit plötzlich bebender und unterdrückter Stimme:

»Und um eines flehe ich dich an: Befasse dich nicht mit Politik! Alles, was du willst, nur keine Politik.«

Ich schwor leichten Herzens. Das Gebiet der Politik lag mir fern. Nino war meines Wissens kein politisches Problem. Mein Vater umarmte mich nochmals. Jetzt war ich endgültig reif.

Um halb fünf schlenderte ich, immer noch in großer Gymnasiastengala, die Festungsgasse zur Strandpromenade hinab. Dann nach rechts, am Gouverneurspalais vorbei, zum Garten, der mit so ungeheurer Mühe in der wüsten Erde Bakus angelegt worden war.

Es war ein freies und seltsames Gefühl. Der Stadthauptmann fuhr in seinem Wagen vorbei, und ich brauchte weder strammzustehen noch militärisch zu grüßen, wie ich es acht Jahre lang hatte tun müssen. Die silberne Kokarde mit den Initialen des Bakuer Gymnasiums hatte ich feierlich von der Mütze abgetrennt. Ich lustwandelte als Privatmann, und einen Augenblick lang hatte ich sogar den Wunsch, mir öffentlich eine Zigarette anzuzünden. Die Abneigung gegen Tabak war aber doch stärker als die Versuchung der Freiheit. Ich ließ das Rauchen sein und bog in den Park ein.

Es war ein großer, staubiger Garten mit spärlichen, traurig dreinblickenden Bäumen und asphaltübergossenen Wegen. Rechts erhob sich die alte Festungsmauer. In der Mitte glänzten im weißen Marmor die dorischen Säulen des Stadtklubs. Zahllose Bänke füllten den Raum zwischen den Bäumen aus. Einige verstaubte Palmen gewährten drei Flamingos Obdach, die starr in die rote Kugel der untergehenden Sonne blickten. Unweit des Klubs war der Teich, das heißt ein ungeheures, mit Steinplatten ausgelegtes, rundes und tiefes Bassin, das nach der Absicht der Stadtverwaltung mit Wasser gefüllt und von schwimmenden Schwänen belebt werden sollte. Es blieb aber bei der guten Absicht. Wasser war teuer, und Schwäne gab es im ganzen Lande nicht. Das Bassin starrte ewig leer zum Himmel, wie das zerfressene Auge eines toten Zyklopen.

Ich setzte mich auf eine Bank. Die Sonne leuchtete hinter dem wirren Durcheinander der grauen, viereckigen Häuser und ihrer flachen Dächer. Der Schatten des Baumes hinter mir wurde lang. Eine Frau mit blaugestreiftem Schleier und klappernden Pantoffeln ging vorbei. Aus dem Schleier blickte raubvogelartig eine lange, gebogene Nase. Die Nase schnupperte mich an. Ich blickte weg. Eine seltsame Müdigkeit überfiel mich. Es war schön, daß Nino keinen Schleier trug und keine lange, gebogene Nase hatte. Nein, ich würde Nino nicht in den Schleier stecken. Oder vielleicht doch? Ich wußte es nicht mehr genau. Ich sah das Gesicht Ninos im Scheine der untergehenden Sonne. Nino Kipiani — schöner georgischer Name, ehrbare Eltern mit europäischen Neigungen. Was ging es mich an? Nino hatte eine helle Haut und große, lachende, funkelnde, dunkle kaukasische Augen unter langen, zarten Wimpern. Nur die Georgierin hat solche Augen voll milder Fröhlichkeit. Niemand sonst. Keine Europäerin. Keine Asiatin. Schmale, halbmondartige Augenbrauen und das Profil der Madonna. Ich wurde traurig. Der Vergleich betrübte mich. Es gibt so viele Vergleiche für einen Mann im Orient. Für diese Frauen bleibt nur der mit der christlichen Mirjam, dem Sinnbild einer fremden, unverständlichen Welt.

Ich senkte den Kopf. Vor mir lag der Asphaltweg des Gouverneursgartens, vom Staub der großen Wüste bedeckt. Der Sand blendete. Ich schloß die Augen. Da ertönte an meiner Seite ein freies, heiteres Lachen.

»Heiliger Georg! Da sieh den Romeo, der in der Erwartung seiner Giulietta einschläft.«

Ich sprang auf. Neben mir stand Nino. Sie trug noch immer die sittsame, blaue Uniform des Lyzeums der hl. Tamar. Sie war sehr schlank, viel zu schlank für den Geschmack des Orients. Doch gerade dieser Fehler erweckte in mir ein zärtliches Mitgefühl. Sie war siebzehn Jahre alt, und ich kannte sie seit dem ersten Tag, an dem sie die Nikolaistraße hinauf zum Lyzeum ging.

Nino setzte sich. Ihre Augen leuchteten hinter dem feinen Netz der gebogenen georgischen Wimpern.

»Also doch bestanden? Ich hatte ein wenig Angst um dich.«

Ich legte meinen Arm um ihre Schulter.

»Es war ein bißchen aufregend. Aber du siehst, Gott hilft dem Frommen.«

Nino lächelte.

»In einem Jahr mußt du bei mir die Rolle des lieben Gottes übernehmen. Ich rechne damit, daß du bei unserer Prüfung unter meiner Bank sitzen und mir in der Mathematik die Auflösungen zuflüstern wirst.«

Das war abgemacht seit vielen Jahren, seit dem Tage, als Nino zwölfjährig und in Tränen aufgelöst in der großen Pause zu uns hinübergelaufen kam und mich in ihr Klassenzimmer schleppte, wo ich dann eine ganze Stunde hindurch unter ihrer Bank saß und ihr die Lösung der mathematischen Aufgaben zuflüsterte. Seit jenem Tage bin ich in den Augen Ninos ein Held.

»Was macht dein Onkel mit seinem Harem?« fragte Nino.

Ich machte ein ernstes Gesicht. Eigentlich waren die Angelegenheiten des Harems ein Geheimnis. Vor Ninos harmloser Neugier aber schmolzen alle Gesetze der östlichen Sittsamkeit. Meine Hand vergrub sich in ihre weichen, schwarzen Haare.

»Der Harem meines Onkels ist im Begriff, in die Heimat abzureisen. Die westliche Medizin soll überraschenderweise geholfen haben. Allerdings ist der Beweis noch nicht erbracht. Guter Hoffnung ist vorläufig erst der Onkel und nicht die Tante Zeinab.«

Nino runzelte ihre kindliche Stirn.

»Schön ist das alles nicht. Mein Vater und meine Mutter sind sehr dagegen, der Harem ist etwas Schändliches.«

Sie sprach wie eine Schülerin, die ihre Klassenarbeit hersagt. Meine Lippen berührten ihr Ohr.

»Ich werde keinen Harem haben, Nino, ganz bestimmt nicht.«

»Aber du wirst vermutlich deine Frau in den Schleier stecken!«

»Vielleicht, je nachdem. Ein Schleier ist ganz nützlich. Er schützt vor Sonne, Staub und fremden Blicken.«

Nino errötete.

»Du wirst immer ein Asiate bleiben, Ali, was stören dich fremde Blicke? Eine Frau will gefallen.«

»Aber nur ihrem Mann. Ein offenes Gesicht, ein nackter Rücken, ein zur Hälfte entblößter Busen, durchsichtige Strümpfe auf schlanken Beinen — das alles sind Versprechen, die eine Frau erfüllen muß. Ein Mann, der von einer Frau so viel sieht, will auch mehr sehen. Um den Mann vor solchen Wünschen zu schützen, ist der Schleier da.«

Nino sah mich verwundert an.

»Glaubst du, daß in Europa siebzehnjährige Mädchen und neunzehnjährige Knaben auch über solche Dinge reden?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Dann wollen wir auch nicht mehr darüber sprechen«, sagte Nino streng und preßte die Lippen zusammen.

Meine Hand glitt über ihre Haare. Sie hob den Kopf. Der letzte Strahl der untergehenden Sonne fiel auf ihre Augen. Ich beugte mich zu ihr… Ihre Lippen öffneten sich sanft und willenlos. Ich küßte sie sehr lang und sehr ungebührlich. Sie atmete schwer. Ihre Augen schlossen sich, und die Schatten ihrer Wimpern verdeckten ihr Gesicht. Dann riß sie sich los. Wir schwiegen und starrten in die Dämmerung. Nach einer Weile erhoben wir uns etwas verschämt. Hand in Hand gingen wir aus dem Garten.

»Ich sollte doch einen Schleier tragen«, sagte sie vor dem Ausgang.

»Oder dein Versprechen erfüllen.«

Sie lächelte verlegen. Es war alles wieder gut und einfach. Ich begleitete sie bis zu ihrem Haus.

»Ich komme natürlich zu eurem Ball!« sagte sie zum Abschied.

Ich hielt ihre Hand. »Was machst du im Sommer, Nino?«

»Im Sommer? Wir fahren nach Schuscha in Karabagh. Du sollst dir aber nichts einbilden. Das bedeutet noch lange nicht, daß auch du nach Schuscha fahren sollst.«

»Also schön, dann sehen wir uns im Sommer in Schuscha.«

»Du bist unausstehlich. Ich weiß nicht, warum ich dich gern habe.«

Die Tür fiel hinter ihr zu. Ich ging nach Hause. Der Eunuch des Onkels, der mit dem weisen Gesicht einer ausgetrockneten Eidechse, grinste mich an.

»Georgische Frauen sind sehr schön, Khan. Man soll sie nicht so offen küssen, im Garten, wo viele Leute vorbeigehen.«

Ich kniff ihn in seine fahle Wange. Ein Eunuch darf sich jede Frechheit leisten. Er ist weder Mann noch Frau. Er ist ein Neutrum.

Ich ging zu meinem Vater.

»Du hast mir drei Wünsche geschenkt. Den ersten weiß ich schon. Ich will diesen Sommer allein in Karabagh verbringen.«

Der Vater blickte mich lange an und nickte dann lächelnd.

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