3

Jede Stunde bringt eine Wunde. Die letzte ist tödlich.

– alte Redensart


Hinter dem Empfang des Motels America stand eine dünne junge Frau. Sie teilte Shadow mit, dass er bereits von seinem Freund eingetragen worden sei, und übergab ihm einen rechteckigen Plastikzimmerschlüssel. Sie hatte hellblondes Haar und wies im Gesicht gewisse Nagetierzüge auf, die am auffälligsten waren, wenn sie misstrauisch wirkte, aber mildere Formen annahmen, wenn sie lächelte. Sie weigerte sich, ihm Wednesdays Zimmernummer zu verraten, und bestand darauf, Wednesday über das Haustelefon anzurufen, um ihm mitzuteilen, dass sein Gast eingetroffen sei.

Wednesday trat aus einem Zimmer unten im Flur und winkte Shadow zu.

»Wie war die Beerdigung?«, fragte er.

»Sie ist vorbei«, sagte Shadow.

»Möchten Sie darüber reden?«

»Nein«, sagte Shadow.

»Gut.« Wednesday grinste. »Es wird heutzutage eh zu viel geredet, Gerede, immer nur Gerede. Dieses Land würde viel besser zurechtkommen, wenn die Leute lernten, still zu leiden.«

Wednesday ging zu seinem Zimmer voran, das dem von Shadow schräg gegenüberlag. Der ganze Raum war voller Landkarten, aufgefaltet, auf dem Bett ausgebreitet, an die Wände gepinnt. Wednesday hatte überall mit grellen Leuchtmarkierern hineingemalt, in leuchtendem Grün, schmerzendem Rosa und lebhaftem Orange.

»Ich bin von einem dicken Jungen entführt worden«, sagte Shadow. »Ich soll Ihnen sagen, dass Sie auf den Misthaufen der Geschichte gehören, während Leute wie er in Limos über die Schnellstraße des Lebens düsen. So ungefähr jedenfalls.«

»Kleiner Rotzlöffel«, sagte Wednesday.

»Sie kennen ihn?«

Wednesday zuckte die Achseln. »Ich weiß, wer er ist.« Er ließ sich schwer auf den einzigen Stuhl im Zimmer herabsinken. »Die haben keine Ahnung«, sagte er. »Die haben nicht die geringste Scheißahnung. Wie lange müssen Sie noch in der Stadt bleiben?«

»Weiß nicht. Vielleicht noch eine Woche. Ich sollte wohl noch Lauras Angelegenheiten abwickeln. Mich drum kümmern, was mit der Wohnung wird, ihre Klamotten weggeben, solche Sachen eben. Ihre Mutter wird zwar Zustände kriegen, aber die Frau hat es verdient.«

Wednesday nickte mit seinem mächtigen Kopf. »Na ja, je schneller Sie damit fertig sind, desto schneller können wir Eagle Point hinter uns lassen. Gute Nacht.«

Shadow ging über den Flur. Sein Zimmer war eine Kopie dessen von Wednesday, bis hin zu der Reproduktion eines bluttriefenden Sonnenuntergangs, die an der Wand über dem Bett hing. Er bestellte sich eine türkische Pizza, dann ließ er sich ein Bad ein und schüttete sämtliche vom Motel zur Verfügung gestellten kleinen Shampoofläschchen ins Wasser, damit es ordentlich schäumte.

Er war zu groß, um ausgestreckt in der Wanne liegen zu können, also ließ er es sich nach besten Kräften im Sitzen wohl sein. Shadow hatte sich ein heißes Bad versprochen, wenn er aus dem Gefängnis kommen würde, und Shadow hielt seine Versprechen.

Nicht lange nachdem er aus dem Bad gestiegen war, traf die Pizza ein. Shadow verspeiste sie und spülte mit einer Dose Rootbeer nach.

Shadow lag im Bett und dachte: Das ist mein erstes Bett in Freiheit, aber dieser Gedanke bereitete ihm weniger Genugtuung, als er sich vorgestellt hatte. Er ließ die Vorhänge offen, beobachtete die Lichter der Autos und Fastfood-Restaurants durchs Fenster und tröstete sich mit der Gewissheit, dass dort draußen eine andere Welt war, die er jederzeit aufsuchen konnte, wenn er wollte.

Er könnte jetzt in seinem Bett zu Hause liegen, dachte Shadow, in der Wohnung, die er mit Laura geteilt hatte – im Bett, das er mit Laura geteilt hatte. Aber die Vorstellung, ohne sie dort zu sein, von ihren Sachen umgeben, ihrem Duft, ihrem Leben, die war einfach zu quälend …

Geh nicht hin, dachte Shadow. Er beschloss, an etwas anderes zu denken. Er dachte an Münzentricks. Shadow wusste, dass ihm die Art von Persönlichkeit abging, die ein Zauberer besitzen musste: Er konnte die Geschichten nicht ausspinnen, die so nötig waren, um die Zuschauer einzuwickeln; auch hatte er nicht den Wunsch, Kartentricks vorzuführen oder Papierblumen aus dem Nichts erscheinen zu lassen. Er wollte einfach nur Münzen manipulieren, ihm gefiel das Handwerkliche daran. Er begann die Münzenverschwindetricks aufzulisten, die er beherrschte, und das erinnerte ihn an die Münze, die er in Lauras Grab geworfen hatte, und daraufhin hörte er Audrey sagen, dass Laura mit Robbies Schwanz im Mund gestorben sei, und das gab ihm erneut einen kleinen Stich ins Herz.

Jede Stunde eine Wunde. Die letzte ist tödlich. Wo hatte er das gehört?

Er dachte an Wednesdays Kommentar über den Umgang mit Gefühlen und musste gegen seinen Willen lächeln: Shadow hatte allzu oft sagen hören, man solle seine Gefühle nicht unterdrücken, man solle seine Emotionen raus- und den Schmerz zulassen. Shadow fand, dass einiges dafür sprach, die Gefühle unter Verschluss zu halten. Wenn man es nur lange genug und gründlich genug tat, vermutete er, würde man recht bald gar nichts mehr fühlen.

Dann nahm ihn, ohne dass er es merkte, der Schlaf gefangen.

Er war unterwegs, er ging …

Er ging durch einen Raum, der größer als eine Stadt war, und wo er auch hinblickte, sah er Statuen und Skulpturen und grobschlächtige Bilder. Er stand neben der Statue einer frauenartigen Gestalt: Ihre nackten Brüste hingen flach und baumelnd am Brustkorb herab, um die Taille trug sie eine Kette mit abgetrennten Händen, in den eigenen Händen hielt sie scharfe Messer, und an Stelle eines Kopfes wuchsen ihr zwei Schlangen aus dem Hals, die Leiber gebogen, einander zugewandt, zum Angriff bereit. Es war etwas zutiefst Verstörendes an dieser Statue, etwas grundsätzlich und schreiend Verkehrtes. Shadow machte, dass er weiterkam.

Er wanderte durch die Halle. Die gemeißelten Augen aller Statuen, sofern sie Augen besaßen, schienen jeden seiner Schritte zu verfolgen.

In seinem Traum erkannte er, dass im Boden vor jeder Statue ein Name brannte. Der Mann mit dem weißen Haar, dem Halsband aus Zähnen, der Trommel in den Händen, war Leucetios; die breithüftige Frau, aus deren riesiger Spalte zwischen den Beinen Ungeheuer fielen, war Hubur; der Mann mit dem Widderkopf, der eine goldene Kugel trug, war Herischef.

Eine klare und pedantische Stimme sprach zu ihm, aber er konnte niemanden sehen.

»Dies sind Götter, die man vergessen hat und die daher so gut wie tot sind. Man findet sie nur noch in trockenen Geschichtsbüchern. Sie sind verschwunden, alle verschwunden, aber ihre Namen und ihre Bilder bleiben uns.«

Shadow bog um eine Ecke und wusste gleich, dass er in einem anderen Raum war, größer noch als der erste. Er reichte weiter, als das Auge sehen konnte. Shadow stand vor einem Mammutschädel, braun und glänzend, und einem behaarten, ockerfarbenen Umhang, der von einer kleinen Frau mit missgestalteter linker Hand getragen wurde. Gleich daneben drei Frauen, alle aus demselben Granitfels gemeißelt, die an den Hüften zusammenflossen; ihre Gesichter machten einen unfertigen, hastig hingeworfenen Eindruck, während Brüste und Genitalien mit detailwütiger Sorgfalt ausgeführt waren. Und dann war da noch ein flugunfähiger Vogel, den Shadow nicht erkannte: doppelt so groß wie er selbst, mit dem Schnabel eines Raubvogels, aber menschlichen Armen, und so weiter und so fort.

Die Stimme fing wieder an zu sprechen, als wendete sie sich an eine Schulklasse. »Dies sind die Götter, die der Erinnerung entschwunden sind. Selbst ihre Namen sind vergessen. Die Menschen, die sie angebetet haben, sind ebenso untergegangen wie ihre Götter. Ihre Totems sind seit langem gestürzt und zerbrochen. Ihre letzten Priester sind gestorben, ohne ihre Geheimnisse weiterzugeben.

Götter sind sterblich. Und wenn sie wahrhaftig sterben, bleiben sie unbeweint und unbesungen. Ideen sind schwieriger umzubringen als Menschen, aber auch sie können schließlich sterben.«

Da war ein leises Rauschen, das sich jetzt in der Halle auszubreiten begann, ein Flüstern, das Shadow in seinem Traum eine eisige und unerklärliche Furcht einflößte. Eine alles verschlingende Panik ergriff ihn dort in der Halle der Götter, die in Vergessenheit gesunken waren – tintenfischgesichtige Götter und Götter, die nichts weiter waren als mumifizierte Hände oder stürzende Felsen oder Waldbrände …

Shadow erwachte, das Herz pochte ihm wie ein Vorschlaghammer in der Brust, die Stirn war nass, aber er war völlig munter. Die roten Ziffern auf der Nachttischuhr verrieten ihm, dass es 1:03 Uhr war. Das Licht des »Motel-America«-Schilds fiel ins Zimmer. Verwirrt erhob sich Shadow und ging in das winzige Bad. Er pinkelte, ohne das Licht einzuschalten, und kehrte dann ins Zimmer zurück. Der Traum war im Innern noch frisch und lebendig, aber Shadow konnte sich nicht erklären, warum er ihm solche Angst eingejagt hatte.

Das Licht, das von draußen hereindrang, war nicht sehr hell, aber Shadows Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Eine Frau saß auf seiner Bettkante.

Er kannte sie. Er hätte sie unter Tausenden erkannt, selbst unter Hunderttausenden. Sie trug noch immer das marineblaue Kostüm, in dem man sie begraben hatte.

Ihre Stimme kam nur als Flüstern, aber wie ein vertrautes. »Ich nehme an«, sagte Laura, »du wirst mich fragen wollen, was ich hier mache.«

Shadow schwieg.

Er setzte sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl und fragte schließlich: »Bist das du?«

»Ja«, sagte sie. »Mir ist kalt, Hündchen.«

»Du bist tot, Kleines.«

»Ja«, sagte sie. »Ja, das stimmt.« Sie klopfte neben sich aufs Bett. »Komm her und setz dich zu mir«, sagte sie.

»Nein«, sagte Shadow. »Ich glaube, ich bleibe erst mal, wo ich bin. Es gibt da ein paar Punkte, die der Klärung bedürfen.«

»Zum Beispiel die Tatsache, dass ich tot bin?«

»Möglich, aber ich dachte eher an die Art und Weise, wie du gestorben bist. Du und Robbie.«

»Ach«, sagte sie. »Das.«

Shadow roch – vielleicht bildete er sich das auch nur ein – eine Duftmischung aus Fäulnis, Blumen und Konservierungsmitteln. Seine Frau – seine Exfrau … nein, korrigierte er sich, seine verstorbene Frau – saß auf dem Bett und sah ihn unverwandt an.

»Hündchen«, sagte sie. »Könntest du – meinst du, du könntest mir unter Umständen – eine Zigarette besorgen?«

»Ich dachte, du hättest damit aufgehört.«

»Hatte ich auch«, sagte sie. »Aber jetzt mache ich mir wegen der gesundheitlichen Risiken keine Gedanken mehr. Außerdem glaube ich, dass es gut für meine Nerven wäre. Draußen im Empfang ist ein Automat.«

Shadow zog sich Jeans und T-Shirt an und ging barfuß hinaus in den Empfangsraum. Der Nachtportier, ein Mann mittleren Alters, las gerade in einem Buch von John Grisham. Shadow zog eine Packung Virginia Slims aus dem Automaten. Er bat den Nachtportier um Streichhölzer.

»Sie sind in einem Nichtraucherzimmer«, sagte der Portier. »Denken Sie bitte daran, das Fenster zu öffnen.« Er reichte Shadow ein Streichholzbriefchen und einen Plastikaschenbecher mit dem Motel-America-Logo.

»Alles klar«, sagte Shadow. Er ging ins Zimmer zurück. Sie hatte sich inzwischen oben auf seine zerwühlten Decken hingelegt. Shadow machte das Fenster auf und gab ihr dann Zigaretten und Streichhölzer. Ihre Finger waren kalt. Sie entzündete ein Streichholz, und da sah er, dass ihre sonst immer makellosen Fingernägel zerkaut und ramponiert waren, zudem hatte sie Dreck darunter.

Laura zündete sich die Zigarette an, inhalierte und blies das Streichholz aus. Sie nahm einen weiteren Zug. »Ich schmecke nichts«, sagte sie. »Ich glaube, das bringt nichts.«

»Tut mir Leid«, sagte er.

»Mir auch«, sagte Laura.

Wenn sie inhalierte, glühte die Zigarettenspitze auf und er konnte ihr Gesicht erkennen.

»Also«, sagte sie, »sie haben dich rausgelassen.«

»Ja.«

Die Spitze der Zigarette glühte orange. »Ich bin immer noch dankbar. Ich hätte dich da nicht hineinziehen dürfen.«

»Je nun«, sagte er, »ich war bereit, es zu tun. Ich hätte ja auch Nein sagen können.« Er fragte sich, warum er keine Angst vor ihr hatte – warum der Traum von einem Museum ihn in Furcht und Schrecken versetzte, während er ohne weiteres mit einem wandelnden Leichnam umgehen konnte.

»Ja«, sagte sie. »Hättest du können. Du Riesentölpel.« Rauch umkränzte ihr Gesicht. In dem trüben Licht wirkte sie überaus schön. »Willst du Näheres über mich und Robbie wissen?«

»Denke schon.«

Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Du warst im Gefängnis«, sagte sie. »Und ich brauchte jemanden zum Reden. Ich brauchte eine Schulter, an der ich mich ausweinen konnte. Du warst nicht da. Ich war unglücklich.«

»Das tut mir Leid.« Shadow wurde bewusst, dass irgendetwas an ihrer Stimme anders war als sonst, und er versuchte zu bestimmen, was es war.

»Ich weiß. Also haben wir uns zum Kaffeetrinken verabredet. Um zu besprechen, was zu tun ist, wenn du entlassen wirst. Wie schön es wäre, dich wiederzusehen. Er hat nämlich viel von dir gehalten. Er hat sich darauf gefreut, dir deinen alten Job wieder zu geben.«

»Ja.«

»Und dann ist Audrey eine Woche weggefahren, um ihre Schwester zu besuchen. Das war, oh, ein Jahr, dreizehn Monate nachdem du weggegangen warst.« Ihrer Stimme fehlte jeglicher Ausdruck, jedes Wort kam flach und dumpf, wie Kieselsteine, die einer nach dem anderen in einen tiefen Brunnen plumpsen. »Robbie ist vorbeigekommen. Wir haben uns zusammen betrunken. Dann haben wir es auf dem Fußboden vom Schlafzimmer miteinander gemacht. Es war toll. Es war richtig gut.«

»Auf diese Auskunft hätte ich gut verzichten können.«

»Ja? Sorry. Es fällt schwer, das Richtige zu sagen, wenn man tot ist. Es ist irgendwie wie ein Foto. Es kommt nicht so drauf an.«

»Für mich kommt es schon drauf an.«

Laura zündete sich eine neue Zigarette an. Ihre Bewegungen waren flüssig und geschickt, kein bisschen steif. Für einen Moment fragte sich Shadow, ob sie überhaupt tot war. Vielleicht war das Ganze nur ein besonders ausgefeilter Trick. »Ja«, sagte sie. »Das kann ich nachvollziehen. Na ja, wir haben unsere Affäre weitergeführt – obwohl wir es nicht so genannt haben, wir haben es gar nicht bezeichnet –, mehr oder weniger die letzten zwei Jahre.«

»Wolltest du mich seinetwegen verlassen?«

»Warum sollte ich? Du bist doch mein großer Bär. Du bist mein Hündchen. Du hast für mich getan, was du getan hast. Ich habe drei Jahre gewartet, dass du zu mir zurückkommst. Ich liebe dich.«

Er versagte es sich, »Ich liebe dich auch« zu sagen. Diese Worte wollte er nicht aussprechen. Jetzt nicht mehr. »Also, was ist neulich Nacht passiert?«

»In der Nacht, als ich umgekommen bin?«

»Ja.«

»Tja, Robbie und ich sind aus gewesen, um die Überraschungsparty für dich zu besprechen. Sie wäre so toll geworden. Und ich habe ihm gesagt, dass es mit uns aus ist. Aus und vorbei. Jetzt, wo du zurückkommen würdest, ginge es nicht anders.«

»Tja. Danke, Kleines.«

»Keine Ursache, Liebling.« Der Anflug eines Lächelns wischte über ihr Gesicht. »Wir wurden gefühlsselig. Es war rührend. Wir wurden albern. Ich wurde ziemlich betrunken. Er nicht. Er musste ja fahren. Wir sind nach Hause gefahren, und ich habe verkündet, dass ich ihm zum Abschied noch mal einen blasen würde, ein letztes Mal mit Gefühl, und dann hab ich ihm die Hose aufgezogen und es ihm besorgt.«

»Schwerer Fehler.«

»Wem sagst du das. Ich bin mit der Schulter gegen den Schaltknüppel gestoßen, Robbie hat versucht, mich aus dem Weg zu stoßen, um den Gang wieder einzulegen, da sind wir ins Schleudern gekommen und dann gab es einen lauten Knall, und ich weiß noch, wie sich alles zu drehen anfing, und ich dachte nur noch: ›Ich werde sterben.‹ Der Gedanke war ganz leidenschaftslos. Daran kann ich mich noch erinnern. Ich hatte keine Angst. Und weiter weiß ich nichts mehr.«

Es roch nach verschmortem Plastik. Die Zigarette, begriff Shadow – sie war bis zum Filter heruntergebrannt. Laura schien es nicht bemerkt zu haben.

»Was machst du hier, Laura?«

»Darf eine Frau etwa nicht ihren Mann besuchen?«

»Du bist tot. Ich war heute Nachmittag bei deiner Beerdigung.«

»Ja.« Sie verstummte und starrte ins Nichts. Shadow erhob sich und ging zu ihr hin. Er nahm ihr den glimmenden Zigarettenstummel aus der Hand und warf ihn aus dem Fenster.

»Nun?«

Sie suchte seinen Blick. »Ich weiß jetzt auch nicht viel mehr als vorher, als ich noch lebte. Und das meiste von dem, was ich jetzt mehr weiß als vorher, das kann ich nicht in Worte fassen.«

»Normalerweise bleiben Leute, die gestorben sind, in ihren Gräbern«, sagte Shadow.

»Ist das so? Tun sie das wirklich, Hündchen? Ich habe das auch immer geglaubt. Jetzt bin ich mir da aber nicht mehr so sicher. Vielleicht.« Sie stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. Im Licht des Motelschilds war ihr Gesicht so schön wie eh und je. Das Gesicht der Frau, für die er ins Gefängnis gegangen war.

Das Herz schmerzte ihm in der Brust, als würde es jemand in der Faust zusammendrücken. »Laura …?«

Sie sah ihn nicht an. »Du hast dich auf ein paar üble Sachen eingelassen, Shadow. Du wirst großen Mist bauen, wenn nicht jemand auf dich aufpasst. Und dieser Jemand werde ich sein; ich passe auf dich auf. Und danke für dein Geschenk.«

»Welches Geschenk?«

Sie fasste in die Tasche ihrer Bluse und zog die Goldmünze heraus, die er zu einem früheren Zeitpunkt des Tages in ihr Grab geworfen hatte. Es haftete immer noch schwarze Erde daran. »Vielleicht lass ich sie mir an eine Kette machen. Das war sehr lieb von dir.«

»Keine Ursache.«

Sie wandte sich jetzt um und blickte ihn mit Augen an, die ihn sowohl zu sehen als auch zu übersehen schienen. »Ich glaube, es gibt verschiedene Aspekte unserer Ehe, an denen wir werden arbeiten müssen.«

»Kleines«, sagte er zu ihr. »Du bist tot.«

»Das ist natürlich einer der Aspekte.« Sie schwieg. »Okay«, sagte sie dann. »Ich gehe jetzt. Es ist besser, wenn ich gehe.« Und völlig natürlich und ungezwungen drehte sie sich um, legte Shadow die Hände auf die Schultern und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben, ganz so, wie sie ihn immer zum Abschied geküsst hatte.

Befangen beugte er sich hinab, um sie auf die Wange zu küssen, aber sie drehte im gleichen Moment das Gesicht und drückte ihm die Lippen auf den Mund. Ihr Atem roch leicht nach Mottenkugeln.

Lauras Zunge schnellte in Shadows Mund hinein. Sie war kalt und trocken, schmeckte nach Zigaretten und Gallenflüssigkeit. Sofern Shadow noch irgendwelche Zweifel gehegt hatte, ob seine Frau nun tot war oder nicht, waren diese jetzt ausgeräumt.

Er fuhr zurück.

»Ich liebe dich«, sagte sie schlicht. »Ich werde mich um dich kümmern.« Sie ging zur Tür. Er hatte einen seltsamen Geschmack im Mund. »Schlaf ein bisschen, Hündchen«, sagte sie zu ihm. »Und bring dich nicht in Schwierigkeiten.«

Sie öffnete die Tür. Das Neonlicht im Flur war nicht sehr schmeichelhaft – Laura sah darin wie eine Tote aus, aber andererseits galt das im Grunde ja für alle Leute.

»Du hättest mich bitten können, über Nacht zu bleiben«, sagte sie mit ihrer ausdruckslosen Stimme.

»Nein, lieber nicht«, sagte Shadow.

»Das kommt noch, Schatz«, sagte sie. »Noch bevor das alles hier vorbei ist, wirst du es tun.« Sie wandte sich ab und ging den Flur hinunter.

Shadow sah durch die Tür. Der Nachtportier las unverändert in seinem John Grisham und blickte kaum auf, als sie an ihm vorbeiging. Dicke Klumpen Friedhofserde hafteten an ihren Schuhen. Und dann war sie verschwunden.

Als Shadow endlich ausatmete, kam es wie ein lang gezogenes Seufzen. Sein Herz pochte arhythmisch. Er ging durch den Flur und klopfte bei Wednesday an die Tür. Noch während er das tat, überfiel ihn die überaus bizarre Vorstellung, von schwarzen Flügeln geschüttelt zu werden, als würde eine gewaltige Krähe durch ihn hindurchfliegen, in den Flur hinaus und weiter in die Welt dahinter.

Wednesday öffnete. Er hatte ein weißes Motelhandtuch um die Hüften geschlungen, war aber sonst nackt. »Was zum Teufel wollen Sie?«, sagte er.

»Es geht um etwas, was Sie wissen sollten«, sagte Shadow. »Vielleicht war es ein Traum – aber das war es nicht –, oder vielleicht habe ich zu viel synthetischen Krötenhautrauch von dem dicken Jungen eingeatmet, oder wahrscheinlich werde ich einfach verrückt …«

»Ja, ja. Spucken Sie’s schnell aus«, sagte Wednesday. »Ich bin hier gerade mit gewissen Tätigkeiten befasst.«

Shadow schielte ins Zimmer hinein. Er konnte erkennen, dass jemand im Bett lag, der ihn jetzt beobachtete. Ein Laken, das über kleine Brüste gezogen war. Hellblondes Haar, etwas Rattenhaftes im Gesicht. Er senkte die Stimme. »Ich habe gerade meine Frau gesehen«, sagte er. »Sie war bei mir im Zimmer.«

»Einen Geist, meinen Sie? Sie haben einen Geist gesehen?«

»Nein. Keinen Geist. Einen festen Körper. Sie war es. Sicher, sie ist tot, aber es war kein Geist. Ich habe sie berührt. Sie hat mich geküsst.«

»Verstehe.« Wednesday warf der Frau im Bett einen schnellen Blick zu. »Bin gleich wieder da, meine Liebe«, sagte er.

Sie gingen quer durch den Flur zu Shadows Zimmer. Wednesday schaltete die Lampen ein. Er sah sich den Zigarettenstummel im Aschenbecher an. Er kratzte sich die Brust. Die Brustwarzen waren dunkel, die Nippel eines alten Mannes, und die Behaarung war grau meliert. Eine weiße Narbe zog sich über eine Seite des Rumpfes. Er schnupperte ein paarmal, dann zuckte er die Achseln.

»Okay«, sagte er. »Ihre tote Frau ist also aufgetaucht. Angst gehabt?«

»Ein bisschen.«

»Sehr vernünftig. Von den Toten krieg ich immer das kalte Grausen. Sonst noch was?«

»Ich bin bereit, Eagle Point zu verlassen. Lauras Mutter kann sich um die Wohnung und all die anderen Sachen kümmern. Sie kann mich sowieso nicht leiden. Von mir aus können wir los, sobald Sie so weit sind.«

Wednesday lächelte. »Freut mich zu hören, mein Junge. Wir fahren gleich morgens los. Jetzt sehen Sie aber zu, dass Sie etwas Schlaf kriegen. Ich hab etwas Scotch bei mir im Zimmer, falls Sie eine Einschlafhilfe brauchen. Wie wär’s?«

»Nein. Ich komme schon zurecht.«

»Dann stören Sie mich bitte nicht weiter. Ich habe noch eine lange Nacht vor mir.«

»Gute Nacht«, sagte Shadow.

»Genau«, sagte Wednesday und schloss dann hinter sich die Tür.

Shadow setzte sich aufs Bett. Der Geruch von Zigaretten und Konservierungsmitteln hing noch in der Luft. Er hatte den Wunsch, um Laura zu trauern; das schien ihm angemessener zu sein, als sich von ihr aufscheuchen oder – wie er sich jetzt, wo sie weg war, eingestand – doch etwas Angst einjagen zu lassen. Es war an der Zeit zu trauern. Er schaltete die Lichter aus, legte sich aufs Bett und dachte an Laura, so wie sie gewesen war, bevor er ins Gefängnis ging. Er erinnerte sich an die erste Zeit ihrer Ehe, als sie noch jung waren und glücklich und närrisch und unfähig, die Hände voneinander zu lassen.

Es war lange her, dass Shadow zuletzt geweint hatte, so lange, dass er sich nicht erinnern konnte, wann es gewesen war. Nicht einmal beim Tod seiner Mutter hatte er Tränen vergossen.

Aber jetzt begann er zu weinen, wurde geradezu geschüttelt von schmerzvollem Schluchzen, und zum ersten Mal, seit er ein kleiner Junge war, weinte Shadow sich in den Schlaf.

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