5

Madame Leben blüht wie immer,

Der Tod schleicht jedem hinterher:

Sie bewohnt das gute Zimmer,

Im Treppenhaus, da wütet er.

– W. E. Henley,

›Madame Leben blüht wie immer‹


Nur Sarja Utrennjaja war schon wach, um sich an diesem Samstagmorgen von ihnen zu verabschieden. Sie nahm Wednesdays fünfundvierzig Dollar entgegen und bestand darauf, ihm eine Quittung auszustellen, die sie mit breiter, geschwungener Handschrift auf die Rückseite eines verfallenen Getränkecoupons schrieb. Sie sah im Morgenlicht ziemlich puppenhaft aus, das alte Gesicht sorgfältig geschminkt und das goldene Haar hoch aufgetürmt.

Wednesday küsste ihr die Hand. »Dank für Ihre Gastlichkeit, Verehrteste«, sagte er. »Sie und Ihre reizenden Schwestern sind und bleiben so strahlend wie der Himmel selbst.«

»Sie sind ein schlimmer alter Mann«, sagte sie und drohte ihm mit dem Finger. Dann umarmte sie ihn. »Passen Sie auf sich auf«, beschwor sie ihn. »Ich möchte nicht hören müssen, dass Sie für endgültig verschwunden sind.«

»Das würde mich ebenso bekümmern wie Sie, meine Liebe.«

Nun schüttelte sie Shadow die Hand. »Sarja Polunotschnaja hält sehr viel von Ihnen«, sagte sie. »Und ich auch.«

»Danke«, sagte Shadow. »Danke auch fürs Essen.«

Sie lüpfte eine Augenbraue. »Hat’s Ihnen geschmeckt? Sie sind gern wieder eingeladen.«

Wednesday und Shadow stiegen die Treppe hinunter. Shadow fasste in die Jackentasche. Der Silberdollar lag kalt in der Hand. Er war größer und schwerer als alle Münzen, mit denen er bisher gearbeitet hatte. Er palmierte ihn auf klassische Art, ließ die Hand ganz natürlich herabhängen, streckte sie dann, während die Münze nach vorn rutschte. Es schien ein natürlicher Platz für sie zu sein, mit dem denkbar leichtesten Druck zwischen Zeigefinger und kleinem Finger gehalten.

»Geschickt gemacht«, sagte Wednesday.

»Ich bin noch am Lernen«, sagte Shadow. »Was die Technik angeht, kann ich schon einiges. Das Schwerste daran ist, die Leute dazu zu kriegen, dass sie auf die falsche Hand gucken.«

»Wirklich?«

»Ja«, sagte Shadow. »Misdirection ist der Fachausdruck dafür.« Er ließ die mittleren Finger unter die Münze gleiten und schob sie zurück zum Handteller, wobei sie seiner Kontrolle entglitt. Die Münze fiel polternd zu Boden und hüpfte eine halbe Etage nach unten. Wednesday bückte sich und hob sie auf.

»Sie können es sich nicht leisten, mit Geschenken achtlos umzugehen«, sagte er. »Sachen wie diese, die müssen Sie festhalten. Schmeißen Sie sie nicht durch die Gegend.« Er untersuchte die Münze, betrachtete erst die Adlerseite, dann das Gesicht der Liberty auf der Vorderseite. »Ah, Lady Liberty. Schön ist sie, nicht wahr?« Er warf Shadow die Münze zu, der sie aus der Luft fing und verschwinden ließ – er tat so, als würde er sie in die linke Hand fallen lassen und in die Tasche stecken, behielt sie aber in der rechten. Die Münze ruhte offen auf dem Handteller. Es war ein beruhigendes Gefühl.

»Lady Liberty«, sagte Wednesday. »Wie so viele der Götter, die die Amerikaner in Ehren halten, ist sie Ausländerin. In diesem Fall Französin, obwohl die Franzosen mit Rücksicht auf amerikanische Empfindlichkeiten auf jener Statue, die sie der Stadt New York schenkten, ihren prächtigen Busen abgedeckt haben. Liberty …«, fuhr er fort, während er angesichts des gebrauchten Kondoms, das unten auf der Treppe lag, die Nase rümpfte und dieses dann angewidert an den Rand der Stufe stieß. »Da kann man drauf ausrutschen und sich den Hals brechen«, unterbrach er sich murmelnd. »Wie eine Bananenschale, nur mit schlechtem Geschmack und Ironie als Dreingabe.« Er stieß die Tür auf, und gleich standen sie im Sonnenlicht.

»Liberty«, dröhnte Wednesday, während sie zum Wagen gingen, »ist ein Luder, das man auf eine Matratze von Leichen betten muss.«

»Ach ja?«, sagte Shadow.

»Ist ein Zitat«, sagte Wednesday. »Von irgendeinem Franzosen. Dafür haben sie ’ne Statue in ihrem New Yorker Hafen: ein Luder, das sich mit Vorliebe auf dem Schinderkarren hat ficken lassen. Du kannst deine Fackel so hoch halten, wie du willst, meine Liebe, trotzdem hast du Ratten in deinem Gewand, und der kalte Saft läuft dir am Bein herunter.« Er schloss den Wagen auf und dirigierte Shadow auf den Beifahrersitz.

»Ich finde sie schön«, sagte Shadow, der die Münze aus der Nähe betrachtete. Libertys Silbergesicht erinnerte ihn ein bisschen an Sarja Polunotschnaja.

»Das«, sagte Wednesday und fuhr los, »ist die ewige Torheit der Männer. Immer auf der Jagd nach dem süßen Fleisch, ohne zu begreifen, dass es lediglich eine hübsche Hülle für die Knochen ist. Wurmfutter. Die ganze Nacht über reibt ihr euch an Wurmfutter. Nichts für ungut.«

Shadow erlebte zum ersten Mal, dass Wednesday derart aus sich herausging. Sein neuer Chef, befand er, hatte offenbar auch seine extrovertierten Phasen, denen dann aber langes, intensives Schweigen folgen konnte. »Sie sind also kein Amerikaner?«, fragte Shadow ihn.

»Niemand ist Amerikaner«, sagte Wednesday. »Jedenfalls nicht ursprünglich. Das ist es, worauf ich hinauswill.« Er blickte auf seine Uhr. »Wir haben noch ein paar Stunden totzuschlagen, bevor die Banken schließen. Übrigens, das war sehr gut gestern Abend, die Sache mit Tschernibog. Ich hätte ihn zwar letzten Endes auch herumgekriegt, aber durch Ihren Einsatz wird er doch erheblich engagierter zur Sache gehen, als er es sonst getan hätte.«

»Nur, weil er mich hinterher totschlagen darf.«

»So weit muss es nicht unbedingt kommen. Er ist, wie Sie selbst sehr richtig festgestellt haben, ziemlich alt, und sein todbringender Schlag führt vielleicht nur dazu, dass Sie, na ja, sagen wir, fürs Leben gelähmt bleiben. Ein hoffnungsloser Invalide. Sie haben also noch allerhand, worauf Sie sich freuen können, sollte Mister Tschernibog die anstehenden Probleme lebend überstehen …«

»Was aber durchaus in Frage steht?«, sagte Shadow zu Wednesday und nahm damit dessen Redeweise auf, ärgerte sich aber sofort über sich selbst.

»Scheiße, ja«, sagte Wednesday. Er bog auf den Parkplatz einer Bank ein. »Das hier«, sagte er, »ist die Bank, die ich ausrauben werde. Die machen aber erst in ein paar Stunden zu. Gehen wir rein und sagen Hallo.«

Er winkte Shadow, ihm zu folgen. Zögernd stieg Shadow aus dem Wagen. Falls der alte Mann etwas Dummes vorhatte, sah Shadow keinen Grund, warum sein Gesicht auf der Kamera zu sehen sein sollte. Aber die Neugier zog ihn mit, und so betrat auch er den Schalterraum. Er hielt den Kopf gesenkt, rieb sich ausführlich die Nase und tat sein Möglichstes, das Gesicht verborgen zu halten.

»Einzahlungsformulare, Ma’am?«, sprach Wednesday eine einsame Kassiererin an.

»Da drüben.«

»Sehr gut. Und falls ich eine Einlage außerhalb der Geschäftszeit zu machen hätte?«

»Selbes Formular.« Sie lächelte ihm zu. »Wo der Briefkasten ist, wissen Sie? Die Eingangstür links raus, in der Wand.«

»Ich danke Ihnen.«

Wednesday nahm mehrere Einzahlungsformulare an sich. Er grinste der Kassiererin zum Abschied zu, dann verließen Shadow und er das Gebäude wieder.

Wednesday blieb einen Moment auf dem Bürgersteig stehen und kratzte sich nachdenklich den Bart. Dann ging er hinüber zum Geldautomaten und zum Tag-Nacht-Tresor, die in die Hauswand eingelassen waren, und nahm sie in Augenschein. Er führte Shadow über die Straße zum Supermarkt, wo er ein Schokolade-Karamel-Eis für sich und eine Tasse heißen Kakao für Shadow kaufte. In die Wand neben dem Eingang war ein Münztelefon eingelassen, unterhalb einer Anschlagtafel mit »Zu vermieten«-Angeboten und kleinen Hunden und Katzen auf der Suche nach einem guten Zuhause. Wednesday schrieb sich die Nummer des Münztelefons auf. Erneut überquerten sie die Straße. »Was wir jetzt brauchen«, sagte Wednesday plötzlich, »ist Schnee. Ein schönes, lästiges Schneetreiben. Denken Sie doch mal ›Schnee‹ für mich, ja?«

»Hä?«

»Konzentrieren Sie sich darauf, diese Wolken – die da drüben, im Westen – größer und dunkler zu machen. Denken Sie grauer Himmel und peitschende Winde, die von der Arktis herwehen. Denken Sie Schnee.«

»Ich glaube nicht, dass das irgendwas nützt.«

»Unsinn. Auf alle Fälle wird es Ihren Kopf beschäftigen«, sagte Wednesday, indem er das Auto aufschloss. »Wir fahren jetzt zu einem Kopierladen. Beeilen Sie sich.«

Schnee, dachte Shadow auf dem Beifahrersitz, während er die heiße Schokolade schlürfte. Riesige, Schwindel erregende Klumpen von Schnee, die durch die Luft fallen, große Flecken von Weiß vor einem eisengrauen Himmel, Schnee, der einem die Zunge mit Kälte und Winter belegt, der einem mit seinem zögernden Aufprall das Gesicht küsst, bevor er einen einfriert. Riesige Zuckerwatteflocken, die eine Märchenwelt schaffen und alles so schön machen, dass man es nicht wieder erkennt …

Wednesday redete mit ihm.

»Was, wie bitte?«, sagte Shadow.

»Ich sagte, wir sind da. Sie waren wohl gerade woanders.«

»Ich dachte an Schnee«, sagte Shadow.

Im Kopierladen machte Wednesday sich daran, die Einzahlungsbelege aus der Bank zu fotokopieren. Von einem Angestellten ließ er sich zwei Sätze von je zehn Geschäftskarten drucken. Shadow bekam Kopfschmerzen und hatte ein unangenehmes Gefühl zwischen den Schulterblättern; er fragte sich, ob er beim Schlafen falsch gelegen hatte, ob die Kopfschmerzen ein unglückliches Vermächtnis der Nacht auf dem Sofa waren.

Wednesday saß am Computer, setzte einen Brief auf und entwarf, mit Hilfe des Angestellten, mehrere großformatige Schilder.

Schnee, dachte Shadow. Hoch oben in der Atmosphäre, kleine, vollkommene Kristalle, die sich um ein winziges Stückchen Staub bilden, jedes ein Spitzen ähnliches Werk fraktaler Kunst. Und jetzt klumpen sich die Schneekristalle zu Flocken zusammen, während sie hinunterfallen und Chicago mit ihrer weißen Fülle bedecken, Zentimeter für Zentimeter …

»Hier«, sagte Wednesday. Er reichte Shadow einen Becher Automatenkaffee, auf dem ein halb aufgelöster Klumpen Kaffeeweißer schwamm. »Ich glaube, das ist genug, finden Sie nicht auch?«

»Genug was?«

»Genug Schnee. Wir wollen doch nicht die ganze Stadt lahmlegen, oder?«

Der Himmel war von einem gleichmäßigen mattierten Grau. Schnee war zu erwarten. Jawohl.

»Das hab ich doch nicht wirklich gemacht?«, sagte Shadow. »Ich mein, hab ich nicht, oder?«

»Trinken Sie den Kaffee«, sagte Wednesday. »Ist total übles Zeug, aber es lindert die Kopfschmerzen.« Dann sagte er: »Gute Arbeit.«

Wednesday bezahlte und trug dann seine Schilder, Briefe und Karten nach draußen. Er öffnete den Kofferraum des Wagens, legte die Papiere in einen großen schwarzen Metallkoffer, ähnlich wie die bei Geldtransporten, und schloss den Kofferraum wieder. Er übergab Shadow eine Geschäftskarte.

»Wer«, sagte Shadow, »ist A. Haddock, Geschäftsführer, Eins-A-Sicherheitsdienst?«

»Das sind Sie.«

»A. Haddock?«

»Ja.«

»Wofür steht das ›A‹?«

»Alfredo? Alphonse? Augustine? Ambrose? Sie haben die freie Auswahl.«

»Oh. Verstehe.«

»Ich bin James O’Gorman«, sagte Wednesday. »Jimmy für meine Freunde. Sehen Sie? Ich hab auch eine Karte.«

Sie stiegen ins Auto. Wednesday sagte: »Wenn Sie ›A. Haddock‹ genauso gut denken können, wie Sie ›Schnee‹ gedacht haben, sollten wir jede Menge hübsches Geld zusammenbekommen, mit dem wir meine Freunde heute Abend dann bewirten können.«

»Ich geh nicht wieder ins Gefängnis.«

»Werden Sie nicht.«

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass ich nichts Illegales zu tun habe.«

»Tun Sie auch nicht. Na, vielleicht ein bisschen Beihilfe, ein bisschen Raubkomplott, natürlich in Verbindung mit der Entgegennahme geraubten Geldes, aber glauben Sie mir, Sie werden mit blütenweißer Weste aus dieser Sache hervorgehen.«

»Ist das bevor oder nachdem Ihr bejahrter slawischer Herkules mir den Schädel zertrümmert?«

»Seine Sehkraft lässt ständig nach«, sagte Wednesday. »Wahrscheinlich wird er Sie überhaupt nicht treffen. So, jetzt haben wir zwar noch immer etwas Zeit zu überbrücken, aber Gott sei Dank schließen die Banken an Samstagen ja schon um zwölf. Wollen wir zu Mittag essen?«

»O ja«, sagte Shadow. »Ich bin schon am Verhungern.«

»Ich weiß auch genau das richtige Lokal«, sagte Wednesday. Er summte beim Fahren irgendein fröhliches Lied, das Shadow nicht bestimmen konnte. Langsam schwebten Schneeflocken herab, genau wie Shadow sie sich vorgestellt hatte, und er empfand dabei einen seltsamen Stolz. Verstandesmäßig war ihm klar, dass er nichts mit dem Schnee zu tun hatte, genauso wie er wusste, dass der Silberdollar, den er in der Tasche trug, nie und nimmer der Mond gewesen war. Und dennoch …

Sie hielten vor einem großen, schuppenartigen Gebäude. Ein Schild teilte ihnen mit, dass das »Soviel Sie essen können«-Mittagsbüfett $ 4.99 koste. »Ich liebe diesen Laden«, sagte Wednesday.

»Gutes Essen?«, fragte Shadow.

»Kann man so nicht sagen«, antwortete Wednesday. »Aber das Ambiente ist einfach unschlagbar.«

Das Ambiente, das Wednesday so gefiel, bestand, wie sich nach dem Essen – Shadow hatte sich für Brathähnchen entschieden und sollte es nicht bereuen – herausstellte, aus einer Angelegenheit, die den ganzen hinteren Teil der Scheune einnahm: Es handelte sich dabei, wie die in der Mitte des Raumes herabhängende Fahne verkündete, um ein Räumungsverkaufsmagazin für Warenbestände aus liquidiertem Vermögen.

Wednesday ging hinaus zum Wagen und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Koffer zurück, den er mit auf die Herrentoilette nahm. Shadow rechnete sich aus, dass er noch früh genug, ob er nun wollte oder nicht, erfahren würde, was Wednesday vorhatte, weshalb er ein bisschen durch die Gänge schlenderte, um in Augenschein zu nehmen, was dort zum Verkauf stand: Kisten voller Kaffee, »nur zur Verwendung mit Kaffeemaschinen der Fluglinie«, Ninja-Turtles-Spielzeug und Xena-Figuren, Teddybären, die patriotische Lieder spielten, wenn man sie mit der Steckdose verband, Fleischkonserven, Galoschen und diverse andere Überschuhe, Marshmallows, Bill-Clinton-Armbanduhren, künstliche Miniaturweihnachtsbäume und Pfefferstreuer, die wie Tiere, Körperteile, Obst oder Nonnen geformt waren, sowie Shadows Lieblingsstück, einen »Nur noch eine echte Möhre hinzufügen«-Schneemann-Bausatz mit Kohlenaugen aus Plastik, einer Maiskolbenpfeife und einem Plastikhut.

Shadow dachte darüber nach, wie man den Mond scheinbar aus dem Himmel pflücken und daraus einen Silberdollar machen konnte und wie wohl es zuging, dass eine Frau aus ihrem Grab stieg und durch die ganze Stadt wandelte, um mit ihm zu reden.

»Ist das nicht ganz wunderbar hier?«, fragte Wednesday, als er aus der Herrentoilette trat. Die noch nassen Hände trocknete er sich mit einem Taschentuch ab. »Die Papiertücher da drinnen sind alle«, sagte er. Er hatte sich umgezogen. Er trug jetzt eine dunkelblaue Jacke, dazu passende Hosen, eine blaue Strickkrawatte, einen dicken blauen Pullover, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe. Shadow gab ihm zu verstehen, dass er wie ein Wachmann aussehe.

»Was kann ich dazu noch sagen, junger Mann.« Wednesday nahm einen Kasten mit schwimmenden Aquariumsfischen aus Plastik in die Hand (»Gehen nicht ein – und Sie brauchen sie nie zu füttern!«). »Da bleibt mir nur, Ihnen zu Ihrem Scharfsinn zu gratulieren. Wie wär’s mit Arthur Haddock? Arthur ist ein guter Name.«

»Zu banal.«

»Na ja, denken Sie sich selber einen aus. Gut. Fahren wir in die Stadt zurück. Ich glaube, wir erwischen jetzt genau die richtige Zeit für unseren Bankraub, und dann habe ich wieder ein bisschen Geld zur Verfügung.«

»Die meisten Leute«, sagte Shadow, »würden es sich einfach aus dem Bankautomaten ziehen.«

»Tja, komisch, das ist mehr oder weniger genau das, was ich vorhabe.«

Wednesday parkte den Wagen auf dem Supermarktparkplatz gegenüber der Bank. Aus dem Kofferraum holte er den Metallkoffer, ein Klemmbrett und ein Paar Handschellen. Er kettete sich den Koffer ans linke Handgelenk. Es schneite nach wie vor. Dann setzte er eine blaue Schirmmütze auf und heftete sich ein Stück Stoff auf die Brusttasche. EINS A SICHERHEIT stand sowohl auf der Mütze als auch auf dem Stoffstreifen. Er legte die Einzahlungsbelege auf sein Klemmbrett. Mit einem Mal wirkte er körperlich erschlafft. Er sah aus wie ein müder, aus dem Dienst ausgeschiedener Cop und schien sich irgendwie ein beachtliches Bäuchlein zugelegt zu haben.

»Also«, sagte er. »Sie machen ein paar Einkäufe in der Lebensmittelabteilung, dann halten Sie sich in der Nähe des Telefons auf. Falls jemand fragen sollte: Sie warten auf einen Anruf von Ihrer Freundin, deren Wagen liegen geblieben ist.«

»Und warum sollte sie mich ausgerechnet hier anrufen?«

»Woher zum Teufel sollen Sie das wissen?«

Wednesday setzte ein Paar verblichene rosa Ohrenschützer auf. Er machte den Kofferraum zu. Schneeflocken sanken auf seine dunkelblaue Mütze und die Ohrenschützer.

»Wie sehe ich aus?«, fragte er.

»Hanebüchen«, sagte Shadow.

»Hanebüchen?«

»Oder auch bescheuert.«

»Hm. Bescheuert und hanebüchen. Das ist gut.« Wednesday lächelte. Durch die Ohrenschützer wirkte er sowohl komisch als auch vertrauenswürdig und letzten Endes sogar liebenswert. Er marschierte über die Straße und schritt den Block entlang zum Bankgebäude, während Shadow in den Supermarkt ging, um ihn zu beobachten.

Wednesday klebte einen großen roten »Außer Betrieb«-Hinweis an den Bankautomaten. Er spannte ein rotes Band über den Briefkasten und heftete ein fotokopiertes Schild darüber. Shadow las es mit Belustigung.

WIR ARBEITEN LAUFEND DARAN, hieß es da, DEN SERVICE FÜR SIE ZU VERBESSERN. WIR BITTEN UM VERSTÄNDNIS FÜR VORÜBERGEHENDE UNANNEHMLICHKEITEN.

Schließlich drehte Wednesday sich um und stellte sich mit dem Gesicht zur Straße auf. Er wirkte durchgefroren und wie über Gebühr beansprucht.

Eine junge Frau kam und wollte den Geldautomaten benutzen. Wednesday schüttelte den Kopf und erklärte ihr, das Gerät sei außer Betrieb. Sie fluchte, entschuldigte sich gleich darauf fürs Fluchen und machte sich wieder davon.

Ein Auto fuhr heran, dem ein Mann entstieg, der einen kleinen grauen Sack und einen Schlüssel in der Hand hielt. Shadow sah, wie Wednesday sich bei dem Mann entschuldigte, ihn dann auf dem Klemmbrett unterschreiben ließ, den Einzahlungsbeleg überprüfte, gewissenhaft eine Quittung ausstellte und eine Weile mit sich zu Rate ging, welche Kopie er behalten solle, bevor er schließlich seinen großen schwarzen Metallkoffer öffnete und den Sack des Mannes hineintat.

Der Mann fror im Schnee, stampfte mit den Füßen und wartete, dass der alte Mann mit seinem blöden Papierkram fertig wurde, damit er seine Einnahmen abgeben, aus der Kälte kommen und weiterfahren konnte; endlich durfte er seine Quittung entgegennehmen, eilte ins warme Auto zurück und fuhr davon.

Wednesday überquerte, den Metallkoffer in der Hand, die Straße und kaufte sich am Supermarktstand einen Kaffee.

»Tag, junger Mann«, sagte er mit onkelhaftem Kichern, als er an Shadow vorbeikam. »Langt Ihnen die Kälte?«

Er stellte sich wieder vor der Bank auf und nahm graue Beutel und Umschläge von Leuten entgegen, die ihren Verdienst oder ihre Einnahmen an diesem Samstagnachmittag deponieren wollten, ein guter alter Wachmann mit seinen lustigen rosa Ohrenschützern.

Shadow kaufte sich ein paar Sachen zum Lesen – Turkey Hunting, People und, weil das Titelbild von Bigfoot so reizend war, eine Weekly World News – und beobachtete währenddessen aus dem Fenster die andere Straßenseite.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte ihn ein Schwarzer mittleren Alters mit weißem Schnäuzer. Er schien der Filialleiter zu sein.

»Danke, Mann, aber nein. Ich warte hier auf einen Anruf. Meine Freundin ist mit dem Auto liegen geblieben.«

»Wahrscheinlich die Batterie«, sagte der Mann. »Die Leute vergessen immer, dass diese Dinger nur drei, höchstens vier Jahre halten. Dabei ist es ja nicht so, dass sie ein Vermögen kosten würden.«

»Wem erzählen Sie das«, sagte Shadow.

»Nicht unterkriegen lassen, Langer«, sagte der Filialleiter und verschwand wieder zwischen den Regalen.

Der Schnee hatte das Geschehen auf der Straße in die Szenerie einer Schneekugel verwandelt, stimmig bis in alle Einzelheiten.

Shadow war beeindruckt. Da er die Unterhaltungen auf der anderen Straßenseite nicht hören konnte, war ihm, als würde er den ausdrucksstarken Darstellern eines Stummfilms zusehen: Der alte Wachmann war ruppig, ernsthaft – ein bisschen ungeschickt vielleicht, aber außerordentlich wohlmeinend. Jeder, der ihm sein Geld anvertraute, schätzte sich anschließend offenbar glücklich, ihn kennen gelernt zu haben.

Plötzlich fuhren Cops vor der Bank vor, und Shadow sank der Mut. Wednesday tippte grüßend an die Mütze und schlenderte auf den Streifenwagen zu. Er sagte Hallo und schüttelte den Beamten durchs offene Fenster die Hand, dann nickte er und fuhr suchend durch seine Taschen, bis er eine Geschäftskarte und einen Brief gefunden hatte, die er anschließend durchs Autofenster reichte. Dann nippte er an seinem Kaffee.

Das Telefon klingelte. Shadow nahm den Hörer ab und tat sein Bestes, möglichst gelangweilt zu klingen. »Eins-A-Sicherheitsdienst«, sagte er.

»Kann ich bitte mit A. Haddock sprechen?«, bat der Polizist auf der anderen Straßenseite.

»Ja, Andy Haddock am Apparat«, sagte Shadow.

»Yeah, Mr. Haddock, hier ist die Polizei«, sagte der Cop im Auto gegenüber. »Sie haben einen Mann an der First Illinois Bank stehen, Ecke Market und Second.«

»Äh, ja. Das ist richtig. Jimmy O’Gorman. Stimmt irgendwas nicht, Officer? Er führt sich doch ordentlich auf? Oder ist er etwa am Trinken?«

»Nein, kein Problem, Sir. Ihr Mann verhält sich tadellos. Wollte mich nur davon überzeugen, dass alles in Ordnung ist.«

»Sie können Jim sagen, Officer, wenn er wieder beim Trinken erwischt wird, dann ist er gefeuert. Okay? Arbeitslos. Auf der Straße. Wir fahren auf der Null-Toleranz-Schiene hier bei Eins-A-Sicherheit.«

»Ich glaube wirklich nicht, dass es mir zukommt, ihm das zu sagen, Sir. Er macht seine Sache sehr gut. Wir sind nur etwas besorgt, weil solche Dinge eigentlich von zwei Leuten erledigt werden sollten. Es ist ziemlich riskant, einen einzelnen unbewaffneten Wachmann mit solchen großen Geldsummen hantieren zu lassen.«

»Wem sagen Sie das. Genauer gesagt, erzählen Sie das mal diesen Knickstiefeln bei der First Illinois. Es sind immerhin meine Männer, die ich diesem Risiko aussetzen muss. Gute Männer. Männer wie Sie.« Shadow fand langsam Geschmack an seiner angenommenen Identität. Er fühlte sich mit Andy Haddock eins werden, eine angekaute billige Zigarette im Aschenbecher, einen Stapel Papierkram vor sich, der an diesem Samstagnachmittag seiner Erledigung harrte, eine Suite im Schaumburg und eine Geliebte in einer kleinen Wohnung am Lake Shore Drive. »Ehrlich, Sie machen mir den Eindruck eines intelligenten jungen Mannes, Officer, äh …«

»Myerson.«

»… Officer Myerson. Wenn Sie mal einen Job fürs Wochenende brauchen oder aus irgendeinem Grund bei der Polizei mal die Schnauze voll haben, rufen Sie uns an. Gute Leute können wir immer gebrauchen. Haben Sie meine Karte?«

»Ja, Sir.«

»Werfen Sie sie nicht weg«, sagte Andy Haddock. »Rufen Sie mich an.«

Der Streifenwagen fuhr weg, und Wednesday schlurfte durch den Schnee zurück, um sich der kleinen Schlange von Menschen zu widmen, die ihm ihr Geld aushändigen wollten.

»Alles in Ordnung?« Der Filialleiter steckte den Kopf hervor. »Mit Ihrer Freundin?«

»Es war tatsächlich die Batterie«, sagte Shadow. »Jetzt bleibt mir nichts übrig, als zu warten.«

»Frauen«, sagte der Filialleiter. »Ich hoffe, Ihre ist das Warten wert.«

Winterdämmerung stieg herab, und der Nachmittag spielte die Grautonpalette durch. Die Lichter gingen an. Immer noch gaben die Menschen bei Wednesday ihr Geld ab. Plötzlich, wie auf ein Zeichen, das Shadow nicht mitbekommen hatte, ging Wednesday zur Hauswand, entfernte die Außer-Betrieb-Schilder und stapfte über die matschige Straße auf den Parkplatz zu. Shadow wartete einen Moment, dann folgte er ihm.

Wednesday saß hinten im Wagen. Er hatte den Metallkoffer geöffnet und war dabei, alles was er eingesammelt hatte, planmäßig in ordentlichen Stapeln auf dem Rücksitz auszulegen.

»Fahren Sie«, sagte er. »Wir wollen zur First Illinois Bank drüben an der State Street.«

»Die gleiche Vorstellung noch mal?«, fragte Shadow. »Wäre das nicht etwas reichlich übermütig?«

»Aber nicht doch«, sagte Wednesday. »Wir bringen nur ein bisschen was auf die Bank.«

Während Shadow fuhr, saß Wednesday auf dem Rücksitz und sortierte: Er zog ganze Bündel von Geldscheinen aus den Einzahlungsbeuteln, ließ die Schecks und Kreditkartenbelege zurück und holte Bargeld aus einigen, aber beileibe nicht allen Briefumschlägen. Er packte das Bargeld in den Metallkoffer. Shadow fuhr bei der Bank vor, hielt aber nicht beim Eingang, sondern fünfzig Meter weiter außerhalb der Reichweite der Kameras. Wednesday stieg aus und schob die Umschläge durch den Briefkastenschlitz. Dann öffnete er die Klappe zum Tag-Nacht-Tresor und schob die grauen Beutel hinein. Er schloss die Klappe wieder und kletterte auf den Beifahrersitz.

»Fahren Sie zur Interstate 90«, sagte Wednesday. »Folgen Sie den Hinweisschildern nach Westen in Richtung Madison.«

Shadow fuhr los.

Wednesday warf noch einen Blick zurück auf die entschwindende Bankfiliale. »So, mein Junge«, sagte er fröhlich. »Das wird zur allgemeinen Verwirrung beitragen. Aber um an das richtig große Geld ranzukommen, muss man diese Aktion an einem Sonntagmorgen, etwa um vier Uhr dreißig, durchziehen, wenn die Clubs und die Bars die Einnahmen von Samstagnacht vorbeibringen. Wenn man die richtige Bank erwischt, den richtigen Mann, der das Geld bringt – der große und ehrliche Typ wird gern genommen, manchmal hat er auch noch ein paar starke Männer dabei, aber die Jungs sind nicht unbedingt die Schlausten –, dann kann man bei geringem Aufwand am Abend eine Viertelmillion Dollar einsacken.«

»Wenn das Ganze so leicht ist«, sagte Shadow, »wieso machen es dann nicht alle?«

»Es ist eine nicht gänzlich risikofreie Beschäftigung«, sagte Wednesday, »schon gar nicht morgens um halb fünf.«

»Sie meinen, die Cops sind da misstrauischer?«

»Gar nicht mal. Aber die kräftigen Jungs. Da kann es leicht zu unangenehmen Situationen kommen.«

Er blätterte ein Bündel Fünfziger durch, fügte einen kleineren Stoß Zwanziger hinzu, wog das Ganze in der Hand und reichte es Shadow. »Hier«, sagte er. »Ihr erster Wochenlohn.«

Shadow steckte das Geld, ohne nachzuzählen, ein. »Das ist es also, was Sie so treiben?«, sagte er. »Als Broterwerb?«

»Selten. Eigentlich nur, wenn kurzfristig größere Summen benötigt werden. Grundsätzlich hole ich mir mein Geld von Leuten, die es überhaupt nicht merken, dass sie angeschmiert werden, die sich nicht beschweren und die oft sogar Schlange stehen, um sich wieder anschmieren zu lassen.«

»Dieser Sweeney hat gemeint, Sie wären ein Schwindler.«

»Da mag er Recht haben. Aber das ist das Wenigste, was ich bin. Und am allerwenigsten das, wofür ich Sie brauche, Shadow.«


Während sie durch die Dunkelheit fuhren, wirbelte Schnee durch den Scheinwerferkegel auf die Windschutzscheibe. Es hatte eine nahezu hypnotische Wirkung.

»Das hier ist das einzige Land der Welt«, sagte Wednesday in die Stille hinein, »das sich einen Kopf darüber macht, was es ist.«

»Bitte?«

»Alle andern wissen, was sie sind. Niemand verspürt je die Notwendigkeit, sich auf die Suche nach dem Herzen Norwegens zu machen. Oder die Seele Mocambiques aufzuspüren. Die wissen, wer sie sind.«

»Und …?«

»Hab nur laut gedacht.«

»Sie sind also schon in vielen Ländern gewesen?«

Wednesday erwiderte nichts darauf. Shadow warf ihm einen Seitenblick zu. »Nein«, sagte Wednesday seufzend. »Nein, bin ich nicht.«

Sie hielten, um zu tanken, und Wednesday ging mit Koffer und der Wachmannjacke zur Toilette. Zurück kehrte er in einem hellen Anzug mit tadellosen Bügelfalten, braunen Schuhen und einem knielangen braunen Mantel, der so aussah, als könnte er aus Italien kommen.

»Wenn wir in Madison sind, was kommt dann?«

»Nehmen Sie den Highway 14 in Richtung Westen nach Spring Green. Wir werden alle an einem Ort namens House on the Rock zusammentreffen. Schon mal dort gewesen?«

»Nein«, sagte Shadow. »Aber ich hab die Hinweisschilder gesehen.«

Die Hinweise auf das Haus auf dem Felsen waren in diesem Teil der Welt allgegenwärtig: versteckte, uneindeutige Schilder überall in Illinois und Minnesota und Wisconsin, wahrscheinlich bis runter nach Iowa, wie Shadow vermutete, Schilder, die in all ihrer Rätselhaftigkeit nachdrücklich auf die Existenz des House on the Rock aufmerksam machten. Shadow hatte beim Anblick der Schilder Überlegungen darüber angestellt. Balancierte das Haus irgendwo gefährlich weit oben auf dem Felsen? Was war so interessant an dem Felsen? An dem Haus? Diese Gedanken waren aber nur flüchtiger Natur gewesen. Shadow hatte nicht die Angewohnheit, Sehenswürdigkeiten am Wegesrand zu besichtigen.

In Madison verließen sie die Interstate und fuhren an der Kuppel des Kapitolgebäudes vorbei, wiederum eine perfekte Schneekugelszenerie, und von da an ging es über Landstraßen weiter. Nach fast einer Stunde Fahrt durch Ortschaften mit Namen wie Black Earth bogen sie in eine schmale Zufahrt ein, vorbei an mehreren gewaltigen, schneebestäubten Blumenkübeln, um die sich echsenartige Drachen schlangen. Der von Bäumen gesäumte Parkplatz war weit gehend leer.

»Die schließen bald«, sagte Wednesday.

»Was ist das hier jetzt eigentlich für ein Laden?«, fragte Shadow, als sie über den Parkplatz auf ein niedriges, wenig beeindruckendes Holzgebäude zugingen.

»Es ist eine Sehenswürdigkeit«, sagte Wednesday. »Eine der großartigsten. Soll heißen, es ist ein Ort der Macht.«

»Wie bitte?«

»Es ist ganz einfach«, sagte Wednesday. »In anderen Ländern haben die Menschen im Laufe der Zeit die Orte der Macht erkannt. Manchmal handelte es sich um ein Naturgebilde, manchmal war es einfach ein Ort, der irgendetwas Besonderes hatte. Sie wussten, dass sich dort etwas Bedeutendes zutrug, dass es dort einen Fokuspunkt, eine Art Kanal oder Fenster zum Immanenten gab. Also bauten sie Tempel oder Kathedralen oder errichteten Steinkreise oder … Na ja, Sie verstehen wohl, worum es geht.«

»Kirchen gibt es aber auch in den Vereinigten Staaten überall«, sagte Shadow.

»In jeder Stadt. Mitunter in jeder Straße. Aber alle, im genannten Zusammenhang, so bedeutsam wie eine Zahnarztpraxis. Nein, auch in den USA empfangen die Menschen noch immer den Ruf, jedenfalls einige davon; sie fühlen sich aus der transzendentalen Leere angerufen und reagieren darauf, indem sie aus Bierflaschen das Modell eines Ortes bauen, den sie nie besucht haben, oder indem sie ein riesiges Fledermaushaus in Gegenden errichten, die von Fledermäusen traditionell gemieden werden. Sehenswürdigkeiten: Menschen fühlen sich von Orten angezogen, wo sie, in anderen Gegenden der Welt, den Teil ihrer selbst erkennen würden, der wahrhaft transzendent ist; hier aber kaufen sie sich einen Hotdog und gehen ein bisschen herum und sind auf einer Ebene, die sie kaum beschreiben können, recht zufrieden, auf der Ebene darunter aber fühlen sie sich zutiefst unbefriedigt.«

»Sie haben da ein paar ganz schön abgedrehte Theorien«, sagte Shadow.

»Daran ist nichts Theoretisches, junger Mann«, sagte Wednesday. »Das müssten Sie mittlerweile eigentlich mitbekommen haben.«

Es war nur ein Kartenverkaufsfenster geöffnet. »In einer halben Stunde schließen wir«, sagte das junge Mädchen dort. »Bedenken Sie, dass ein vollständiger Rundgang mindestens zwei Stunden dauern würde.«

Wednesday zahlte für zwei Tickets.

»Wo ist der Felsen?«, fragte Shadow ihn.

»Unter dem Haus«, sagte Wednesday.

»Und wo ist das Haus?«

Wednesday legte einen Finger auf die Lippen. Sie gingen los. Weiter drinnen hörte man einen Pianisten etwas spielen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit Ravels Bolero sein sollte. Das Gebäude schien eine geometrisch rekonfigurierte Junggesellenbude aus den Sechzigerjahren zu sein, mit offenem Mauerwerk, Florteppichen und grandios hässlichen pilzförmigen Farbglaslampenschirmen. Oberhalb einer Wendeltreppe befand sich ein weiterer mit Schnickschnack voll gepackter Raum.

»Man sagt, das hier sei von Frank Lloyd Wrights missratenem Zwillingsbruder gebaut worden«, sagte Wednesday. »Frank Lloyd Wrong.« Er kicherte über seinen Witz.

»Den Spruch hab ich schon mal auf einem T-Shirt gesehen«, sagte Shadow.

Weiter ging es, treppauf und treppab, und schließlich waren sie in einem langen, sehr langen gläsernen Raum, der wie eine Nadel über die laublose schwarzweiße Landschaft hundert Meter unter ihnen hinausragte. Shadow blieb stehen und betrachtete den herabfallenden wirbelnden Schnee.

»Dies ist also das House on the Rock?«, fragte er verwirrt.

»Mehr oder weniger. Das hier ist das Unendlichkeitszimmer, Teil des eigentlichen Hauses, allerdings nachträglich hinzugefügt. Aber nein, mein junger Freund, was das Haus uns zu bieten hat, das haben wir noch nicht einmal angekratzt.«

»Wenn’s nach Ihrer Theorie geht«, sagte Shadow, »dann wäre Walt Disney World also der heiligste Ort von ganz Amerika.«

Wednesday runzelte die Stirn und strich sich über den Bart. »Walt Disney hat ein paar Orangenhaine mitten in Florida gekauft und darauf eine Touristenstadt gebaut. Mit Magie hat das nicht das Geringste zu tun. Im ursprünglichen Disneyland könnte allerdings etwas Reales enthalten sein. Da könnte Macht drinstecken, wenn auch verdreht und schwer zugänglich. Einige Gegenden in Florida sind immerhin voller echtem Zauber. Man muss nur die Augen aufmachen. Ah, wenn ich an die Meerjungfrauen von Weeki Wachee denke … Folgen Sie mir, hier geht’s lang.«

Von überall her erklang Musik – klimpernde, unangenehme Musik, immer ein ganz klein wenig neben dem Takt. Wednesday steckte einen Fünfdollarschein in einen Wechselautomaten und bekam dafür eine Hand voll messingfarbene Metallmünzen. Eine davon warf er Shadow zu, der sie auffing und – weil er merkte, dass er von einem kleinen Jungen beobachtet wurde – zwischen Daumen und Zeigefinger hoch hielt, um sie dann verschwinden zu lassen. Der kleine Junge lief zu seiner Mutter, die gerade einen der allgegenwärtigen Weihnachtsmänner begutachtete – ÜBER 6000 IN DIESER AUSSTELLUNG!, wie es auf einem Schild hieß –, und zupfte eindringlich an ihrem Mantelsaum.

In Wednesdays Schlepptau trat Shadow kurz nach draußen, und dann folgten sie den Schildern zu den Straßen der Vergangenheit.

»Vor vierzig Jahren hat Alex Jordan – sein Gesicht ist auf der Marke, die in Ihrer Handfläche klebt, Shadow – damit begonnen, auf einem hohen, überstehenden Felsen ein Haus zu bauen, auf Grund und Boden, der ihm nicht gehörte, und nicht einmal er selbst hätte Ihnen erklären können, warum er das tat. Die Leute strömten herbei, um ihm bei der Errichtung zuzusehen – neugierige Leute, verständnislose Leute und solche, die weder das eine noch das andere waren und Ihnen keinen einleuchtenden Grund hätten angeben können, warum sie kamen. Also tat er, was jeder vernünftige männliche Amerikaner seiner Generation getan hätte: Er ließ die Leute Eintritt zahlen. Wenn auch nicht viel – pro Person einen Nickel. Oder einen Quarter. Und er baute immer weiter, und die Leute kamen und kamen.

Also nahm er all die Quarter und Nickel und machte etwas, was noch größer und seltsamer war. Er baute diese Lagerhäuser unten unter dem Haus und packte sie mit Dingen voll, die man sich angucken konnte, und die Leute kamen zuhauf, um sie sich anzugucken. Jedes Jahr kommen Millionen von Menschen hierher.«

»Warum?«

Wednesday lächelte nur. Sie betraten die schwach beleuchteten, von Bäumen gesäumten Straßen von gestern. Steiflippige viktorianische Porzellanpuppen starrten in großer Vielfalt durch staubige Ladenfenster, allesamt wie Requisiten aus einem respektablen Horrorfilm. Unter den Füßen Kopfsteinpflaster, über den Köpfen die Dunkelheit eines Daches, im Hintergrund misstönende Musik. Sie kamen an einem Glaskasten mit kaputten Puppen und an einer überdimensionierten goldenen Spieldose vorbei, die in einer Vitrine stand. Sie passierten die Zahnarztpraxis und die Drogerie (»WOLLEN SIE IHRE POTENZ WIEDER HERSTELLEN? NEHMEN SIE O’LEARYS MAGNETISCHEN GÜRTEL!«).

Am Ende der Straße befand sich ein großer gläserner Kasten, in dem eine Schaufensterpuppe saß, die wie eine wahrsagende Zigeunerin gekleidet war.

»Na denn«, dröhnte Wednesday über die mechanische Musik hinweg, »zu Beginn einer jeden Abenteuerfahrt oder Unternehmung steht es uns gut an, die Nornen zu befragen. Wollen wir also diese Sibylle als unsere Urd bezeichnen, hä?« Er warf eine bronzene House-on-the-Rock-Münze in den Schlitz. Mit abgehackten mechanischen Bewegungen hob die Zigeunerin einen Arm und ließ ihn dann wieder sinken. Ein Zettel kam aus dem Schlitz gefallen.

Wednesday nahm ihn, las, was darauf geschrieben stand, grunzte, faltete ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche.

»Wollen Sie ihn mir gar nicht zeigen? Ich zeige Ihnen auch meinen«, sagte Shadow.

»Welch Schicksal uns beschieden, das müssen wir mit uns selbst ausmachen«, sagte Wednesday steif. »Ich würde Ihren gar nicht sehen wollen.«

Shadow warf selbst eine Münze in den Schlitz. Er nahm seinen Zettel in Empfang. Er las ihn.


JEDES ENDE IST EIN NEUER ANFANG.

DEINE GLÜCKSZAHL IST EIN HOHN.

DEINE GLÜCKSFARBE IST STUMPF.

MOTTO:

WIE DER VATER, SO DER SOHN.


Shadow verzog das Gesicht. Er faltete die Weissagung zusammen und steckte sie sich in die Innentasche.

Sie gingen weiter ins Innere, einen roten Korridor entlang, an Zimmern vorbei, die voller Stühle und Sessel waren, auf denen Violinen, Bratschen und Celli lehnten und sich, wenn man eine Münze hineinwarf, selbst spielten oder jedenfalls diesen Anschein erweckten. Tasten wurden gedrückt, Becken geschlagen und komprimierte Luft durch Rohre in Klarinetten und Oboen geblasen. Mit säuerlicher Belustigung registrierte Shadow, dass die von mechanischen Armen betätigten Bogen der Streichinstrumente deren Saiten, die oftmals lose waren oder ganz fehlten, gar nicht berührten. Er überlegte, ob all die Klänge, die er hörte, tatsächlich durch Luftstrom und Anschlag verursacht oder ob auch Tonbänder eingesetzt wurden.

Sie waren, wie ihm schien, schon mehrere Meilen weit gegangen, als sie zu einem als »Das Mikado« bezeichneten Zimmer gelangten, dessen eine Wand ein pseudoorientalischer Albtraum à la 19. Jahrhundert war, in dem finster wirkende mechanische Trommler auf Becken und Trommeln einschlugen, während sie aus ihrem drachenverseuchten Unterschlupf nach draußen starrten. Im Augenblick vergingen sie sich in grandioser Manier an Saint-Saens’ Danse Macabre.

Tschernibog saß auf einer Wandbank gegenüber dem Mikado-Automaten und klopfte mit den Fingern den Takt. Flöten piepsten, Glocken klirrten.

Wednesday setzte sich neben ihn. Shadow entschied sich dafür, stehen zu bleiben. Tschernibog streckte den linken Arm aus und schüttelte erst Wednesday, dann Shadow die Hand. »Hat ja gut geklappt«, sagte er. Er lehnte sich zurück und erfreute sich allem Anschein nach an der Musik.

Der Danse Macabre gelangte zu einem stürmischen und dissonanten Ende. Die Tatsache, dass all die künstlichen Instrumente ganz leicht verstimmt waren, verstärkte den außerweltlichen Charakter des Ortes. Ein neues Stück hob an.

»Wie war euer Bankraub?«, fragte Tschernibog. »Alles gut gelaufen?« Er stand auf, wobei er augenscheinlich nur widerwillig von dem Mikado und seiner donnernden, schrillen Musik Abschied nahm.

»Hat geflutscht wie eine Schlange im Butterfass«, sagte Wednesday.

»Ich krieg eine Rente vom Schlachthof«, sagte Tschernibog. »Mehr verlang ich nicht.«

»Das wird nicht ewig währen«, sagte Wednesday. »Nichts dauert ewig.«

Weitere Korridore, weitere Musikautomaten. Shadow bemerkte, dass sie nicht den für Touristen vorgesehenen Weg durch die verschiedenen Räume einschlugen, sondern offenbar einer von Wednesday selbst entworfenen Route folgten. Sie gingen eine abschüssige Strecke entlang, und Shadow fragte sich verwirrt, ob sie in der Richtung nicht schon unterwegs gewesen waren.

Tschernibog packte Shadow am Arm. »Schnell, kommen Sie her«, sagte er, indem er ihn zu einem großen Glaskasten zog. Der Kasten enthielt das Diorama eines Kirchhofs, und vor der Kirchentür lag ein Landstreicher und schlief. TRAUM DES TRINKERS besagte das dazugehörige Schild und erläuterte, dass es sich um einen Münzeinwurfautomaten aus dem 19. Jahrhundert handelte, der ursprünglich in einem englischen Bahnhof gestanden habe. Nur der Münzenschlitz sei so verändert worden, dass er die bronzenen Marken des House on the Rock aufnehmen könne.

»Stecken Sie das Geld da rein«, sagte Tschernibog.

»Warum?«, fragte Shadow.

»Sie werden sehen. Ich zeig’s Ihnen.«

Shadow warf die Münze ein. Der Betrunkene auf dem Kirchfriedhof hob die Flasche an die Lippen. Einer der Grabsteine kippte zur Seite, und es kam eine Leiche zum Vorschein, die Greifbewegungen machte; ein anderer Stein drehte sich, und an die Stelle der Grabblumen trat ein grinsender Schädel. Ein Gespenst tauchte rechts der Kirche auf, während linker Hand ein Etwas mit flüchtig aufscheinendem, spitzem, beklemmend vogelartigem Gesicht, ein Bosch’scher Nachtmahr, geschmeidig von einem Grabstein ins Schattige glitt und nicht mehr gesehen ward. Dann öffnete sich die Kirchentür, ein Priester trat heraus und die Geister, Spukgespenster und Leichen verschwanden, sodass der Priester und der Trinker allein auf dem Kirchhof zurückblieben. Der Priester sah missbilligend auf den Betrunkenen hernieder, dann zog er sich zurück, die Tür fiel hinter ihm zu, und der Trinker war wieder allein.

Es war eine zutiefst beklemmende Geschichte. Viel beklemmender, fand Shadow, als Münzeinwurfgeschichten von Rechts wegen sein dürften.

»Wissen Sie, warum ich Ihnen das zeigen wollte?«, fragte Tschernibog.

»Nein.«

»Das ist die Welt, wie sie ist. Die wirkliche Welt. Sie steckt da drin, in diesem Kasten.«

Sie wanderten durch einen blutfarbenen Raum mit alten Kinoorgeln, riesigen Orgelpfeifen und, so wie es aussah, gewaltigen, aus einer Brauerei entwendeten kupfernen Gärungsbottichen.

»Wo wollen wir eigentlich hin?«, fragte Shadow.

»Zum Karussell.«

»Aber da sind wir doch schon etliche Male an den Hinweisschildern vorbeigelaufen.«

»Er geht seinen eigenen Weg. Wir gehen in einer Spirale. Manchmal ist es der längste Weg, der am schnellsten zum Ziel führt.«

Shadow taten langsam die Füße weh. Ihm erschien diese Weisheit äußerst unplausibel.

Ein Automat spielte »Octopus’s Garden« in einem Raum, der sich über viele Stockwerke erhob und dessen Zentrum zur Gänze von der Nachbildung eines großen schwarzen, walähnlichen Ungeheuers eingenommen wurde, welches die lebensgroße Nachbildung eines Bootes in seinem gewaltigen Fiberglasmaul hielt. Weiter ging es zur Travel Hall, wo sie das geflieste Auto, den funktionstauglichen Hühnerspoiler von Daniel Düsentrieb und an der Wand die rostenden Reklametafeln für Burma-Shave-Rasiercreme erblickten:


SORGEN ÜBER SORGEN,

DAS LEBEN IST HART.

GUCK IN DEN SPIEGEL,

UND WEG MIT DEM BART.

BURMA SHAVE


las sich eine davon – und ein anderes:


DU ÜBERSAHST IN DEINEM ÜBERMUT,

IN DER KURVE ÜBERHOL’N IST NICHT GUT.

DENN DIESER WEG, GEVATTER,

FÜHRT SCHNURSTRACKS ZUM BESTATTER.

BURMA SHAVE


Mittlerweile befanden sie sich am unteren Ende einer Rampe und hatten eine Eisdiele vor sich. Dem Anschein nach hatte sie zwar geöffnet, aber das junge Mädchen, das dort damit beschäftigt war, die Tische abzuwischen, machte eher den Eindruck, dass man bereits geschlossen habe, daher gingen sie weiter zu einer Pizzeria/Cafeteria. Dort saß ein einziger Gast, ein älterer Schwarzer, der einen hellen karierten Anzug und kanariengelbe Handschuhe trug. Es handelte sich um einen klein gewachsenen Mann, die Sorte von kleinen alten Männern, bei denen man immer dachte, dass sie im Verlauf der Jahre geschrumpft waren, aber er verspeiste einen mächtigen Eisbecher mit vielen Kugeln und trank aus einem extragroßen Kaffeebecher. In dem Aschenbecher, der vor ihm stand, brannte ein schwarzer Zigarillo.

»Dreimal Kaffee«, sagte Wednesday zu Shadow. Er suchte die Toilette auf.

Shadow kaufte den Kaffee und ging damit zu Tschernibog, der sich zu dem alten Schwarzen gesetzt hatte und verstohlen an einer Zigarette zog, als hätte er Angst, dabei ertappt zu werden. Der andere Mann arbeitete zufrieden an seinem Eisbecher und ließ den Zigarillo weitgehend unbeachtet; als Shadow herankam, nahm er jedoch einen tiefen Zug und blies zwei Rauchringe aus – zuerst einen ganz großen und dann einen kleineren, der sauber durch den ersten hindurchschwebte – und grinste dazu, als wäre er außergewöhnlich erbaut von sich selbst.

»Shadow, das ist Mr. Nancy«, sagte Tschernibog.

Der alte Mann erhob sich und streckte die gelb behandschuhte Rechte aus. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte er mit blendendem Lächeln. »Ich glaube zu wissen, wer Sie sind. Sie arbeiten für den einäugigen Bastard, stimmt’s?« Es klang ein leichtes Näseln in seiner Stimme mit, die Andeutung eines Dialekts, der westindischen Ursprungs sein mochte.

»Ich arbeite tatsächlich für Mr. Wednesday«, sagte Shadow. »Behalten Sie doch bitte Platz.«

Tschernibog tat einen Zug an seiner Zigarette. »Ich glaube«, erklärte er düster, »dass wir, also Leute unseres Schlags, Zigaretten deshalb so gern mögen, weil sie uns an die Gaben erinnern, die man einst für uns verbrannt hat, an den Rauch, der aufstieg, wenn die Menschen uns um Zustimmung für etwas oder um eine Gunst gebeten haben.«

»Mir haben sie auf diese Tour nie was gegeben«, sagte Nancy. »Das Beste, was ich erhoffen konnte, war ein Haufen Obst, vielleicht ein bisschen Ziegen-Curry, ein großes kaltes, aber schwaches Getränk und eine spitzbusige Alte, die mir Gesellschaft leisten sollte.« Er legte grinsend seine weißen Zähne frei und zwinkerte Shadow zu.

»Heutzutage«, sagte Tschernibog mit reglosem Gesicht, »haben wir gar nichts.«

»Na ja, ich kriege nicht annähernd mehr so viel Obst wie früher«, sagte Mr. Nancy mit glänzenden Augen. »Aber ich hab da draußen in der Welt für mein Geld auch immer noch nichts gefunden, das an ein Paar pralle Möpse heranreicht. Manche Leute meinen, man soll immer erst gucken, was es abzustauben gibt, aber ich kann euch verraten, dass es immer noch die Möpse sind, die mich an einem kalten Morgen in Fahrt bringen.« Nancy fing an zu lachen. Es war ein schnaufendes, rasselndes, gutmütiges Lachen, und Shadow stellte fest, dass er wider seine Absicht Gefallen an dem alten Mann fand.

Wednesday kehrte von der Toilette zurück und schüttelte Nancy die Hand. »Shadow, möchten Sie was essen? Ein Stück Pizza? Oder ein Sandwich?«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte Shadow.

»Ich will Ihnen mal was sagen«, sagte Mr. Nancy. »Die Zeit zwischen den Mahlzeiten kann lang werden. Wenn Ihnen jemand was zu essen anbietet, dann nehmen Sie es. Ich bin nicht mehr so jung, wie ich mal war, aber eins kann ich Ihnen verraten: Man sagt nie Nein, wenn sich eine Gelegenheit bietet, zu pissen, zu essen oder sich für ’ne halbe Stunde aufs Ohr zu legen. Können Sie mir folgen?«

»Ja. Aber ich habe wirklich keinen Hunger.«

»Sie sind groß.« Nancys alte Augen, die die Farbe von Mahagoni hatten, bohrten sich in Shadows hellgraue Augen. »Sind ein richtig langes Ende, aber ich muss Ihnen sagen, Sie sehen nicht allzu intelligent aus. Ich hab einen Sohn, der ist dumm wie trocken Brot, und an den erinnern Sie mich.«

»Wenn Sie gestatten, fasse ich das als Kompliment auf«, sagte Shadow.

»Was, für dumm gehalten zu werden wie jemand, der den Tag verschlafen hat, an dem die Gehirne verteilt wurden?«

»Mit einem Mitglied Ihrer Familie verglichen zu werden.«

Mr. Nancy drückte seinen Zigarillo aus, dann schnipste er ein imaginäres Stückchen Asche von einem seiner gelben Handschuhe. »Sie sind, wenn man es recht besieht, vielleicht gar nicht mal die schlechteste Wahl, die unser altes Einauge treffen konnte.« Er sah zu Wednesday hoch. »Hast du irgendeine Vorstellung, wie viele von uns heute Abend da sein werden?«

»Ich habe alle benachrichtigt, die ich ausfindig machen konnte«, sagte Wednesday. »Natürlich werden nicht alle in der Lage sein zu kommen. Und einige«, mit einem anzüglichen Blick auf Tschernibog, »wollen vielleicht auch nicht. Ich glaube dennoch, wir dürfen zuversichtlich sein und einige Dutzend von uns erwarten. Und die Botschaft wird sich verbreiten.«

Sie bahnten sich ihren Weg vorbei an einer Ausstellung von Harnischen (»Viktorianische Fälschungen«, verkündete Wednesday mit Blick auf die hinter Glas aufgereihten Exponate, »moderne Fälschungen, Helm aus dem 12. Jahrhundert auf einer Nachbildung aus dem 17. Jahrhundert, und da, der linke Panzerhandschuh ist aus dem 15. Jahrhundert …«), und schließlich stieß Wednesday eine Tür auf, führte seine Begleiter außen um das Gebäude herum (»Ich vertrage dieses ewige Raus und Rein nicht sonderlich«, sagte Nancy. »Ich bin nicht mehr so jung, wie ich mal war, und bin an wärmeres Klima gewöhnt«), einen überdachten Weg entlang auf eine andere Tür zu, und dann waren sie im Karussellsaal.

Dampforgelmusik ertönte: ein Strauß-Walzer, mitreißend und mitunter dissonant. Die Wand, durch die sie eintraten, war mit antiken Karussellpferden behängt, Hunderten davon; einige hatten einen neuen Farbanstrich, andere ein Staubtuch bitter nötig; über ihnen hingen Dutzende von geflügelten Engeln, die ziemlich offensichtlich aus weiblichen Schaufensterpuppen zusammengebaut waren; einige hatten ihre asexuellen Brüste entblößt, andere hatten ihre Perücke verloren und starrten kahl und blind aus der Dunkelheit heraus.

Und dann war da das Karussell.

Ein Schild verkündete, es sei das größte der Welt, machte Angaben darüber, wie viel es wog und wie viele tausend Glühbirnen in den Kronleuchtern zu finden waren, die in gotischer Fülle an ihm herabhingen, und untersagte allen Besuchern, es zu besteigen oder auf einem der Tiere zu reiten.

Und was für Tiere! Shadow glotzte, wider Willen beeindruckt, die Hunderte von lebensgroßen Geschöpfen an, die im Kreis auf der Plattform des Karussells standen. Sowohl Lebewesen aus der Wirklichkeit als auch Geschöpfe der Fantasie und dann noch Metamorphosen von beidem: Eine jede Kreatur unterschied sich von allen anderen. Er sah Nixe und Wassermann, Zentaur und Einhorn, Elefanten (einer riesig, der andere winzig), Bulldogge, Frosch und Phönix, Zebra, Tiger, Mantikor und Basilisk, vor eine Kutsche gespannte Schwäne, einen weißen Ochsen, einen Fuchs, Zwillingswalrosse, sogar eine Seeschlange, alle leuchtend bunt und überaus echt: Sie alle drehten sich mit der Plattform, selbst als der Walzer zu Ende ging und ein neuer begann. Das Karussell verlangsamte dabei nicht einmal die Fahrt.

»Was soll das Ganze?«, fragte Shadow. »Ich mein, okay, das größte der Welt, Hunderte von Tieren, Tausende von Glühbirnen, nur dreht es sich die ganze Zeit, aber niemand fährt mit.«

»Es ist nicht dazu da, befahren zu werden, nicht von Menschen«, sagte Wednesday. »Es ist dazu da, bewundert zu werden. Es ist dazu da, da zu sein

»Wie eine Gebetsmühle, die immer rundherum geht«, sagte Mr. Nancy. »Um Macht zu sammeln.«

»Und wo treffen wir die anderen Leute?«, sagte Shadow. »Sie haben doch gesagt, wir würden uns hier mit ihnen treffen. Hier ist aber alles leer.«

Wednesday zeigte sein grausiges Grinsen. »Shadow«, sagte er. »Sie fragen zu viel. Sie werden nicht dafür bezahlt, Fragen zu stellen.«

»’tschuldigung.«

»Also, kommen Sie mal her und helfen Sie uns hinauf«, sagte Wednesday. Er ging zu der Stelle der Plattform, wo die Hinweistafel des Karussells stand. Sie war mit der nachdrücklichen Mahnung versehen, es nicht zu betreten.

Shadow überlegte, ob er etwas dazu sagen sollte, aber stattdessen half er ihnen, einem nach dem anderen, auf den Sims zu gelangen. Wednesday machte einen überaus schwergewichtigen Eindruck, Tschernibog kletterte aus eigener Kraft hinauf und stützte sich dabei nur auf Shadows Schulter, und Nancy schien praktisch überhaupt nichts zu wiegen. Die alten Männer stiegen also alle auf den Sims, und dann, ein Schritt und ein kleiner Hopser, betraten sie die kreisende Karussellplattform.

»Na, was denn?«, bellte Wednesday. »Wollen Sie nicht kommen?«

Nicht ohne gehörige Vorbehalte und einen hastigen Blick in die Runde auf etwaiges House-on-the-Rock-Personal schwang Shadow sich auf den Sims neben dem »Größten Karussell der Welt«. Amüsiert, und freilich auch ein bisschen verwirrt, stellte er fest, dass die mit dem Besteigen des Karussells verbundene Regelverletzung ihm weit mehr zu schaffen machte als die Tatsache, dass er am Nachmittag bei einem Bankraub assistiert hatte.

Die alten Männer suchten sich jeweils ein Reittier aus. Wednesday bestieg einen güldenen Wolf. Tschernibog kletterte auf einen geharnischten Zentauren, dessen Gesicht ganz von einem Metallhelm verdeckt war. Nancy wand sich kichernd auf den Rücken eines gewaltigen brüllenden Löwen, den der Bildhauer mitten im Sprung eingefangen hatte. Er tätschelte die Flanke des Löwen. Der Strauß-Walzer trug sie majestätisch ringsherum.

Wednesday lächelte, und Nancy lachte vergnügt, ein Altmännergackern, und sogar der düstere Tschernibog schien seinen Spaß zu haben. Shadow hatte ein Gefühl, als würde ihm eine Last vom Rücken genommen: Drei alte Männer vergnügten sich auf dem größten Karussell der Welt. Und selbst wenn jemand käme und sie alle hinauswürfe! War es das nicht wert, war es nicht alles wert, hinterher sagen zu können, man sei auf dem größten Karussell der Welt gefahren? War es das nicht wert, auf einem dieser glorreichen Ungeheuer geritten zu sein? Shadow begutachtete eine Bulldogge, dann ein Nixengeschöpf und einen Elefanten mit goldenem Baldachinsitz, stieg aber schließlich auf den Rücken einer Kreatur, die den Kopf eines Adlers und den Körper eines Tigers hatte, und hielt sich gut fest.

Der Rhythmus des Walzers An der schönen blauen Donau sang, dröhnte und klingelte in seinem Kopf, die Lichter von tausend Krönleuchtern glitzerten und schillerten, und einen Herzschlag lang war Shadow wieder ein Kind, denn alles was es brauchte, um ihn glücklich zu machen, war die Karussellfahrt: Er hielt ganz still, ritt seinen Adlertiger im Mittelpunkt von allem, und die Welt drehte sich um ihn herum.

Shadow hörte sich über die Musik hinweg lachen. Er war glücklich. Es war, als wären die letzten sechsunddreißig Stunden nie gewesen, als wären die letzten drei Jahre nie gewesen, als hätte sein Leben sich in den Tagtraum eines kleinen Kindes aufgelöst, das auf dem Karussell im Golden Gate Park von San Francisco fuhr, auf seiner ersten Reise zurück in die Staaten, einer Marathontour mit Schiff und Auto, seine Mutter steht daneben und beobachtet ihn stolz, während er selbst an seinem schmelzenden Eis lutscht, sich festhält und hofft, dass die Musik nie zu Ende geht, das Karussell niemals langsamer wird, die Fahrt nie aufhört. Er drehte und drehte und drehte sich …

Dann gingen die Lichter aus, und Shadow erblickte die Götter.


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