20

es ist

frühling

und

der


bocksfüßige


luftballonMann flötet

weit

und

winzig

- e.e. cummings


Shadow steuerte den Mietwagen um etwa halb neun Uhr morgens aus dem Wald heraus, kam mit knapp siebzig Stundenkilometern den Hügel herunter und war nun wieder in Lakeside, nachdem er die Stadt drei Wochen zuvor für immer verlassen zu haben glaubte.

Er fuhr durch die Innenstadt, überrascht, wie wenig sie sich in den zurückliegenden Wochen, die doch ein ganzes Leben umfassten, verändert hatte. Er bog in die Zufahrt zum See, hielt auf halbem Wege an und stieg aus.

Auf dem zugefrorenen See standen keine Eisfischerhütten mehr, keine Fahrzeuge, niemand saß mehr mit seiner Schnur und einem Zwölferpack Bier an irgendwelche Angellöchern. Der See lag dunkel vor ihm: nicht länger von einer durchgehend weißen Schneeschicht bedeckt, stattdessen standen jetzt spiegelnde Wasserpfützen auf der Eisoberfläche; darunter war das Wasser schwarz, und das Eis selbst klar genug, dass die Dunkelheit durchschien. Der Himmel war grau, der eisige See aber düster und leer.

Fast leer.

Ein einziges Auto stand noch auf dem Eis, ganz in der Nähe der Brücke auf dem zugefrorenen See abgestellt, sodass jeder, der durch die Stadt fuhr, es unweigerlich zu sehen bekam. Es war ein schmutziggrünes Auto, eines von der Sorte, das man einfach auf irgendeinem Parkplatz stehen lässt, um es loszuwerden. Den Motor hatte man entfernt. Es war das Symbol einer Wette, das dort wartete, bis das Eis so brüchig und weich und gefährlich wurde, dass der See es für immer in sich aufnahm.

Über die kurze Zufahrt zum See hing eine Kette, und ein Warnschild untersagte jeden Zutritt: ACHTUNG, DÜNNES EIS. Unter der Aufschrift war eine handgemalte Folge von jeweils durchgestrichenen Piktogrammen zu sehen: KEINE AUTOS, KEINE FUSSGÄNGER, KEINE SCHNEEMOBILE. GEFAHR.

Shadow ignorierte die Warnungen und kletterte die Uferböschung hinunter. Es war rutschig – der Schnee war bereits geschmolzen, hatte den Boden in Matsch verwandelt, und das braune Gras bot kaum Halt. Er schlitterte zum See hinunter, schritt vorsichtig auf einen kurzen Holzsteg hinaus und betrat von dort aus den See.

Die Wasserschicht auf dem Eis, zusammengesetzt aus geschmolzenem Eis und geschmolzenem Schnee, war tiefer, als es von oben ausgesehen hatte, und das Eis unter dem Wasser war glatter und rutschiger als jede Eisbahn, sodass Shadow sich große Mühe geben musste, Halt zu finden. Er platschte durch das Wasser, das seine Stiefel bis zu den Schnürsenkeln bedeckte und nach innen sickerte. Eiswasser. Wo es hinkam, wurde alles taub. Er hatte ein seltsam distanziertes Gefühl, während er über den gefrorenen See stapfte, so als würde er sich selbst auf einer Kinoleinwand zusehen – in einem Film, dessen Hauptfigur er war: ein Detektiv vielleicht.

Er ging auf die Rostlaube zu, in dem schmerzhaften Bewusstsein, dass das Eis dafür viel zu mürbe und das Wasser darunter so kalt war, wie Wasser nur sein konnte, ohne zu gefrieren. Dennoch ging er weiter, rutschte und schlitterte. Mehrmals schlug er hin.

Leere Bierflaschen und – dosen, achtlos auf dem Eis liegen gelassen, säumten seinen Weg, und er kam an runden Löchern vorbei, die man zum Angeln ins Eis gefräst hatte, Löcher, mit schwarzem Wasser gefüllt, die nicht wieder zugefroren waren.

Die Rostlaube schien weiter entfernt zu sein, als es von der Straße aus den Anschein gehabt hatte. Er hörte von der Südseite her ein lautes Knacken, das wie das Zerbrechen eines Stocks klang, gefolgt von einem mächtigen Schnarren, als würde eine Basssaite, so lang wie der See, vibrieren. Das Eis knarrte und knirschte gewaltig wie eine alte Tür, die sich nur unter Protest bewegen ließ. Shadow ging festen Schrittes immer weiter, so weit es ihm möglich war.

Das ist glatter Selbstmord, flüsterte die Stimme der Vernunft in seinem Hinterkopf. Kannst du es nicht einfach gut sein lassen?

»Nein«, sagte er laut. »Ich muss es wissen.« Er ging weiter.

Er erreichte die Rostlaube, aber noch bevor er ganz da war, wusste er schon, dass er Recht gehabt hatte. Es ging etwas von dem Wagen aus, das einem fauligen Geruch und gleichzeitig einem schlechten Geschmack im Hals glich. Er ging um den Wagen herum und blickte ins Innere. Die Sitze waren fleckig und zerschlissen. Der Wagen war offensichtlich leer. Er versuchte eine der Türen zu öffnen. Sie waren verschlossen. Er probierte den Kofferraum. Ebenfalls verschlossen.

Hätte er doch eine Brechstange mitgebracht!

Er ballte seine behandschuhte Hand zur Faust. Er zählte bis drei, dann ließ er sie gegen das Fensterglas auf der Fahrerseite sausen.

Die Hand tat höllisch weh, aber das Seitenfenster war unversehrt.

Er erwog, es mit mehr Schwung zu versuchen – sicherlich würde er das Fenster eintreten können, falls er auf dem nassen Eis nicht ausrutschte und auf die Schnauze fiel. Aber das Letzte, was er bewirken wollte, war, die Rostlaube derart in Unruhe zu versetzen, dass das Eis darunter brach.

Er musterte das Auto. Dann griff er nach der Radioantenne – es war eine von denen, die selbsttätig hoch- und runterfahren sollte, aber diese hier war offensichtlich schon seit Jahrzehnten in der ausgefahrenen Stellung hängen geblieben –, und mit ein bisschen Hinundherbiegen gelang es ihm, sie am unteren Ende abzubrechen. Er nahm das dünne Ende der Antenne – einst hatte es in einem Metallknopf gesteckt, der aber längst abgefallen war – und bog es mit seinen kräftigen Fingern so zurecht, dass er einen gebrauchsfähigen Haken hatte.

Dann rammte er die ausgezogene Metallantenne zwischen Gummi und Fensterglas der Vordertür hindurch tief in deren Mechanismus hinein. Dort fischte er herum, drehte, bewegte, stocherte mit der Metallantenne, bis sie sich verfing: Und dann zog er sie nach oben.

Er fühlte, wie der behelfsmäßige Haken von der Verriegelung abrutschte, ohne etwas bewirkt zu haben.

Er seufzte. Stocherte noch einmal, langsamer, sorgfältiger diesmal. Er konnte sich ausmalen, wie das Eis unter ihm grummelte, wenn er sein Gewicht verlagerte. Und langsam … und …

Er hatte es. Er zog an der Antenne, und der Verriegelungsmechanismus der Vordertür sprang auf. Shadow fasste mit einer Handschuhhand nach dem Türgriff, drückte den Knopf und zog. Die Tür ging nicht auf.

Sie klemmt, dachte er, festgefroren. Weiter nichts.

Auf dem Eis rutschend, zog er weiter, und plötzlich flog die Tür der Rostlaube auf, sodass in alle Richtungen Eissplitter sprühten.

Im Innern des Autos war der Gestank schlimmer, es roch nach Krankheit und Verwesung. Shadow wurde übel.

Er griff unter das Armaturenbrett, fand den schwarzen Plastikhebel und zog ihn kräftig nach oben.

Von hinten ertönte das Knacken, mit dem die Kofferraumklappe aufsprang.

Shadow ging zurück aufs Eis, rutschte und plantschte um das Auto herum, indem er sich an der Seite festhielt.

Sie wird versenkt – im Kofferraum, dachte er.

Die Kofferraumklappe war zwei Fingerbreit geöffnet. Er fasste sie, hob sie hoch und öffnete sie ganz.

Der Geruch war übel, aber es hätte weit schlimmer sein können: Der Boden des Kofferraums war zwei, drei Zentimeter hoch mit halb geschmolzenem Eis gefüllt. Ein Mädchen lag im Kofferraum. Sie trug einen scharlachroten, mittlerweile befleckten Schneeanzug, ihr mattbraunes Haar war lang und ihr Mund geschlossen, sodass Shadow die blaue Gummizahnspange nicht sehen konnte, aber er wusste, dass sie da war. Die Kälte hatte das Mädchen konserviert, frisch gehalten, als hätte es in der Kühltruhe gelegen.

Die Augen waren weit geöffnet, offenbar hatte sie geweint, als sie gestorben war, und die auf ihren Wangen festgefrorenen Tränen waren noch nicht wieder aufgetaut.

»Du warst die ganze Zeit hier«, sagte Shadow zu Alison McGoverns Leiche. »Alle haben dich gesehen, wenn sie über die Brücke gefahren sind. Jede einzelne Person, die hier durch die Stadt gekommen ist, hat dich gesehen. Die Eisfischer sind jeden Tag an dir vorbeigegangen. Und keiner wusste Bescheid.«

Und dann begriff er, wie töricht das war.

Es gab jemanden, der Bescheid wusste. Jemand hatte sie hierher gebracht.

Er beugte sich in den Kofferraum – um zu sehen, ob er sie herausziehen konnte. Dabei drückte sein ganzes Gewicht auf den Wagen. Vielleicht war das der ausschlaggebende Faktor.

Das Eis unter den Vorderrädern gab in diesem Moment nach, vielleicht von seinen Bewegungen, vielleicht auch nicht. Die Schnauze des Wagens sackte ruckartig in das dunkle Wasser hinab. Durch die offene Fahrertür strömte Wasser ins Innere. Wasser schwappte Shadow um die Füße, obwohl das Eis, auf dem er stand, noch fest war. Er sah sich eilig um und überlegte, wie er hier wegkommen konnte – aber dann war es zu spät, das Eis kippte jäh weg, warf ihn gegen den Wagen und das tote Mädchen im Kofferraum; das Heck des Wagens sank, und Shadow sank mit ihm in die kalten Fluten des Sees hinein. Es war der 23. März, morgens, zehn nach neun.

Bevor er unterging, holte er noch tief Luft und schloss die Augen, aber die Kälte des Wassers traf ihn wie eine Mauer und verschlug ihm den Atem.

Er taumelte im trüben Eiswasser abwärts, gezogen von der Rostlaube.

Er war unter dem See, in der Dunkelheit und Kälte, hinuntergedrückt von seiner Kleidung, seinen Handschuhen und Stiefeln, eingewickelt und gefangen in seinem Mantel, der schwerer und unförmiger zu werden schien, als man es für möglich halten sollte.

Er sank immer noch weiter. Er versuchte sich vom Auto wegzustoßen, aber es zog ihn mit sich, und dann gab es einen Knall, den er weniger mit den Ohren als mit dem ganzen Körper wahrnahm, und sein linker Fuß verdrehte sich im Knöchel, geriet unter den Wagen, als dieser auf dem Boden des Sees aufsetzte. Er war gefangen, Panik ergriff ihn.

Er öffnete die Augen.

Er wusste, dass es dort unten finster war, sein Verstand sagte ihm, dass es zu dunkel war, um irgendwas zu sehen; dennoch konnte er sehen, er sah alles. Er konnte Alison McGoverns weißes Gesicht sehen, das ihn aus dem offenen Kofferraum anstarrte. Auch andere Autos sah er – die Rostlauben vergangener Jahre, verrostete Wrackteile, halb im Schlamm des Seebodens versunken. Was haben sie wohl auf den See gezerrt, fragte sich Shadow, bevor es Autos gab?

Jedes Auto, daran gab es keinen Zweifel, beherbergte ein totes Kind im Kofferraum. Es waren Dutzende … alle hatten sie auf dem Eis gestanden, vor den Augen der Welt, den ganzen kalten Winter hindurch. Alle waren sie in den kalten Fluten versunken, als der Winter zu Ende ging.

Hier also ruhten sie: Lemmi Hautala und Jessie Lovat und Sandy Olsen und Jo Ming und Sarah Lindquist und all die anderen. Unten, wo es still und kalt war …

Er zog an seinem Fuß. Er steckte fest, während der Druck auf die Lunge allmählich unerträglich wurde. Ein stechender, furchtbarer Schmerz befiel seine Ohren. Langsam atmete er aus, Luftblasen schwebten vor seinem Gesicht.

Bald, dachte er, bald werde ich Luft brauchen. Oder ich ersticke.

Er bückte sich, legte beide Hände um die Stoßstange der Rostlaube und drückte, legte alles hinein, was er an Kräften hatte. Nichts passierte.

Es ist nur die Karosserie, sagte er sich. Den Motor haben sie ja rausgenommen. Das war immerhin der schwerste Teil am Auto. Du schaffst es. Drück einfach weiter.

Er drückte.

Quälend langsam, Millimeter um Millimeter, glitt der Wagen im Schlamm vorwärts, und Shadow konnte schließlich den Fuß aus dem Schlamm unter dem Wagen hervorziehen, strampelte und versuchte sich abzustoßen. Er kam nicht weg. Der Mantel, sagte er sich. Es ist der Mantel. Er steckt fest, hat sich irgendwo verfangen. Er zog die Arme aus den Ärmeln und fummelte mit tauben Fingern an dem gefrorenen Reißverschluss. Dann riss er mit beiden Händen an den Seiten des Reißverschlusses, bis er fühlte, wie der Mantel nachgab und zerriss. Hastig befreite er sich aus seiner Umklammerung und stieß sich nach oben ab, weg vom Auto.

Er spürte die Bewegung, hatte aber keine Orientierung, kein Gefühl von oben und unten, er drohte zu ersticken und der Schmerz in Brust und Kopf war nicht mehr zu ertragen, ganz sicher würde er gleich einatmen müssen, im kalten Wasser atmen und also sterben. Und dann stieß er mit dem Kopf gegen etwas Festes.

Eis. Er war gegen das Eis an der Wasseroberfläche gestoßen. Er trommelte mit beiden Fäusten dagegen, aber er hatte keine Kraft mehr in den Armen, hatte nichts, wo er sich festhalten, wo er sich abstützen konnte. Die Welt hatte sich in die frostige Finsternis unter dem Wasserspiegel aufgelöst. Da war nichts mehr als eisige Kälte.

Das ist doch lächerlich, dachte er. Und dann, als er sich an einen alten Tony-Curtis-Film erinnerte, den er als Kind gesehen hatte: Ich sollte mich auf den Rücken drehen, das Eis nach oben drücken und das Gesicht dagegenpressen, um Luft zu kriegen, dann könnte ich wieder atmen, irgendwo ist da Luft, aber er hing nur im Wasser und fror, konnte keinen Muskel mehr bewegen, und gälte es sein Leben: Das aber tat es allerdings.

Die Kälte wurde erträglich. Wurde sogar warm. Und er dachte: Ich sterbe. Diesmal lag Zorn in dem Gedanken, eine tiefe Wut, und er nahm den Schmerz und den Zorn in die Hand und schlug damit um sich, zwang Muskeln zur Aktivität, die bereits jede Aktivität hatten einstellen wollen.

Er drückte mit der Hand nach oben und fühlte, wie sie an der Kante des Eises entlangschrammte und in die Luft hinausstieß. Fuchtelnd suchte er Halt, fühlte eine andere Hand die seine ergreifen – und ziehen.

Er schlug mit dem Kopf gegen das Eis, sein Gesicht schabte an dessen Unterseite entlang, und dann war er mit dem Kopf draußen, an der Luft, er konnte sehen, wie er durch das Loch im Eis emportauchte, und für einen Moment konnte er nichts anderes tun als zu atmen, sich das schwarze Seewasser aus Nase und Mund laufen zu lassen, mit den Augen zu blinzeln, die zunächst nichts anderes wahrnahmen als blendendes Tageslicht und Umrisse, und jemand zog jetzt an ihm, zerrte ihn mit Gewalt aus dem Wasser, redete auf ihn ein, er würde sich hier zu Tode frieren, also los jetzt, Mann, ziehen, und Shadow wand und wälzte sich wie ein an Land gehendes Robbenmännchen und schüttelte sich hustend und prustend.

Er atmete in tiefen Zügen, streckte sich längelang auf dem knackenden Eis aus, das auch nicht mehr lange halten würde, wie er wohl wusste, was ihm aber rein gar nichts nützte. Seine Gedanken entwickelten sich nur langsam, mit sirupartiger Zähigkeit.

»Lassen Sie mich einfach liegen«, versuchte er zu sagen. »Ich komm zurecht.« Er brachte die Worte nur undeutlich heraus, alles kam zum Stillstand.

Er musste sich nur ein bisschen ausruhen, das war alles, einfach ausruhen, dann würde er gleich wieder aufstehen und zurückgehen. Dass er hier nicht ewig liegen bleiben konnte, war klar.

Es gab einen Ruck; Wasser spritzte ihm ins Gesicht. Sein Kopf wurde gehoben. Shadow fühlte, wie er, auf dem Rücken rutschend, übers Eis geschleift wurde, und wollte protestieren, wollte erklären, dass er doch nur eine winzig kleine Ruhepause brauche – irgendwie ein bisschen Schlaf, war das etwa zu viel verlangt? –, und dann wäre alles in Ordnung. Wenn man ihn einfach nur in Ruhe lassen könnte.

Er glaubte eigentlich nicht, dass er eingeschlafen war, aber er stand jetzt auf einer riesigen Ebene, und da war ein Mann mit dem Kopf und den Schultern eines Bisons und eine Frau mit dem Kopf eines gewaltigen Kondors, und zwischen ihnen stand Whiskey Jack, sah ihn traurig an und schüttelte den Kopf.

Whiskey Jack drehte sich um und entfernte sich langsam von Shadow. Der Büffelmann schloss sich ihm an. Auch die Donnervogelfrau ging weg, zog dann den Kopf ein, trat sich mit den Füßen ab und glitt hinauf in die Lüfte.

Shadow hatte ein Gefühl des Verlusts. Er wollte ihnen nachrufen, wollte sie bitten zurückzukommen, ihn nicht abzuschreiben, aber jetzt löste sich alles auf, wurde gestaltlos: Sie waren verschwunden, die Prärie verblasste, und zurück blieb eine große Leere.


Der Schmerz war durchdringend: Es war, als würde jede einzelne Zelle in seinem Körper, jeder kleine Nerv, schmelzen und aufwachen und unmissverständlich auf seine Gegenwart hinweisen, indem er ihn brennend piesackte.

Eine Hand lag an seinem Hinterkopf, hatte ihn an den Haaren gepackt, während eine andere Hand ihm das Kinn stützte. Er schlug die Augen in der Erwartung auf, sich in irgendeinem Krankenhaus wiederzufinden.

Seine Füße waren nackt. Er hatte Jeans an. Von der Hüfte aufwärts war er ebenfalls nackt. Dampf hing in der Luft. An der Wand gegenüber sah er einen Rasierspiegel, ein kleines Waschbecken und eine blaue Zahnbürste in einem mit Zahnpasta verschmierten Becher.

Die Informationsfluss wurde nur äußerst langsam verarbeitet, alle Daten einzeln und nacheinander.

Die Finger brannten. Die Zehen brannten.

Er begann vor Schmerz zu wimmern.

»Ruhig, Mike. Ganz ruhig«, sagte eine Stimme, die er kannte.

»Was?«, sagte er oder versuchte es jedenfalls. »Was ist los?« Es klang angestrengt und seltsam.

Er lag in einer Badewanne. Das Wasser war heiß. Er glaubte, dass es heiß war, aber sicher konnte er sich da nicht sein. Jedenfalls reichte es ihm bis zum Hals.

»Jemanden, der am Erfrieren ist, vor ein Feuer zu legen, ist das Dümmste, was man machen kann. Das Zweitdümmste ist, ihn in Decken zu wickeln – vor allem, wenn er in nassen, kalten Sachen steckt. Decken isolieren, die Kälte würde also in seinem Körper bleiben. Das Drittdümmste – und das ist meine ganz persönliche Meinung – wäre, ihm das Blut zu entnehmen, es aufzuwärmen und wieder einzuflößen. So machen es die Ärzte heutzutage. Kompliziert, teuer. Dumm.« Die Stimme kam von oberhalb seines Kopfes.

»Das Klügste und Schnellste, was man tun kann, ist das, was die Seeleute seit Hunderten von Jahren mit jemandem machen, der über Bord gegangen ist. Man legt den Betreffenden in heißes Wasser. Nicht zu heiß. Aber eben heiß. Nur damit Sie’s wissen, Sie waren so gut wie tot, als ich Sie da draußen auf dem Eis gefunden hab. Wie fühlen Sie sich inzwischen, Houdini?«

»Es tut weh«, sagte Shadow. »Mir tut alles weh. Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Das mag wohl sein, so wie´s aussieht. Können Sie den Kopf jetzt selber hoch halten?«

»Vielleicht.«

»Ich lasse Sie jetzt los. Wenn Sie anfangen unterzugehen, zieh ich Sie wieder hoch.«

Die Hände lösten sich von seinem Kopf.

Er merkte, wie er in der Wanne nach vorn glitt. Er streckte die Hände aus, drückte sie gegen die Seitenwände und lehnte sich zurück. Das Badezimmer war klein. Die Wanne war aus Metall, das Email fleckig und zerkratzt.

Ein alter Mann schob sich in sein Gesichtsfeld. Er sah besorgt aus.

»Geht’s besser?«, fragte Hinzelmann. »Bleiben Sie einfach liegen und entspannen Sie sich. Ich hab die Hütte schön aufgeheizt. Sie sagen mir Bescheid, wenn Sie so weit sind, ich habe einen Bademantel, den Sie anziehen können. Ihre Jeans werfe ich zusammen mit den anderen Sachen in den Trockner. Klingt das gut, Mike?«

»So heiße ich nicht.«

»Wenn Sie’s sagen.« Unbehagen machte sich auf dem koboldhaften Gesicht des alten Mannes breit.

Shadow hatte kein rechtes Zeitgefühl: Er blieb in der Badewanne liegen, bis das Brennen aufhörte und Finger und Zehen sich ohne Schmerzen biegen ließen. Hinzelmann half Shadow beim Aufstehen und ließ das warme Wasser ab. Shadow setzte sich auf den Wannenrand, dann zogen sie ihm gemeinsam die Jeans aus.

Ohne größere Probleme zwängte er sich in einen Frotteebademantel, der ihm zu klein war, ging, auf den Alten gestützt, ins Wohnzimmer der Hütte und ließ sich auf ein altes Sofa sinken. Er war müde und schlapp: zutiefst erschöpft, aber am Leben. Im Kamin brannte ein Holzfeuer. Eine Hand voll überrascht dreinschauender Hirschköpfe verstaubte ringsum an den Wänden, wo sie sich zwischen mehrere große, mit Lack überzogene Fische drängen mussten.

Hinzelmann entfernte sich mit Shadows Jeans, gleich darauf setzte im Zimmer nebenan das Rattern des Wäschetrockners kurz aus, dann nahm er seine Tätigkeit wieder auf. Der Alte kehrte mit einem dampfenden Becher zurück.

»Das ist Kaffee«, sagte er, »also ein Stimulans. Ich hab zusätzlich einen Schuss Schnaps reingekippt. Nur ganz wenig. Das haben wir früher immer so gemacht, auch wenn Ärzte heutzutage nicht dazu raten.«

Shadow nahm den Kaffee mit beiden Händen entgegen. Auf dem Becher war eine Mücke abgebildet und dazu die Botschaft: SPENDEN SIE BLUT – BESUCHEN SIE WISCONSIN!!

»Danke«, sagte er.

»Dazu sind Freunde da«, sagte Hinzelmann. »Eines Tages werden vielleicht Sie mir das Leben retten können. Einstweilen aber lassen Sie’s gut sein.«

Shadow schlürfte den Kaffee. »Ich dachte, ich wäre tot.«

»Sie haben Glück gehabt. Ich war oben auf der Brücke – ich hatte mir mehr oder weniger ausgerechnet, dass heute der große Tag sein würde, in meinem Alter kriegt man da ein Gefühl dafür – und da stehe ich also mit meiner alten Taschenuhr und sehe, wie Sie raus auf den See laufen. Ich hab gerufen, aber es ist kaum anzunehmen, dass Sie mich haben hören können. Dann seh ich, wie der Wagen untergeht und Sie gleich mit, und da dachte ich, dass wir Sie nicht mehr wiedersehen werden, also bin ich rauf aufs Eis. Mir ist dabei ganz anders geworden. Sie müssen fast zwei Minuten unter Wasser gewesen sein. Plötzlich seh ich Ihre Hand aus dem Loch kommen, das der Wagen beim Untergehen gemacht hat – es war, als wenn man einen Geist erblickt, wie Sie da …« Er ließ den Satz in der Schwebe. »Wir haben beide verdammtes Glück gehabt, dass das Eis nicht eingebrochen ist, als ich Sie ans Ufer gezogen habe.«

Shadow nickte.

»Das haben Sie gut gemacht«, sagte er zu Hinzelmann, und der Alte strahlte übers ganze Koboldgesicht.

Irgendwo im Haus hörte Shadow eine Tür zugehen. Er schlürfte weiter seinen Kaffee.

Jetzt, wo er wieder klar denken konnte, begann er sich einige Fragen zu stellen.

Zum Beispiel fragte er sich, wie ein alter Mann, der nur halb so groß und vielleicht grade mal ein Drittel so schwer war wie er, imstande sein sollte, ihn in bewusstlosem Zustand übers Eis zu schleifen oder ihn die Böschung hinauf zum Auto zu schleppen. Er fragte sich, wie Hinzelmann ihn ins Haus und in die Badewanne gekriegt hatte.

Hinzelmann ging zum Kaminfeuer, nahm die Zange und platzierte sorgsam ein dünnes Holzscheit auf die Flammen.

»Möchten Sie wissen, warum ich draußen auf dem Eis war?«

Hinzelmann zuckte die Achseln. »Das geht mich nichts an.«

»Wissen Sie, was ich nicht verstehe …«, sagte Shadow. Er hielt inne, um noch einmal seine Gedanken zu ordnen. »Ich verstehe nicht, warum Sie mir das Leben gerettet haben.«

»Nun«, sagte Hinzelmann, »so bin ich eben erzogen worden. Wenn man sieht, dass ein Mitmensch in Schwierigkeiten ist …«

»Nein«, sagte Shadow. »So meinte ich das nicht. Ich mein, Sie haben doch alle diese Kinder umgebracht. Jeden Winter eins. Ich bin der Einzige, der Ihnen draufgekommen ist. Sie müssen gesehen haben, wie ich den Kofferraum geöffnet habe. Warum haben Sie mich also nicht einfach ertrinken lassen?«

Hinzelmann legte den Kopf schief. Er kratzte sich bedächtig an der Nase und schaukelte vor und zurück, als müsste er nachdenken. »Tja«, sagte er. »Gute Frage. Vermutlich deshalb, weil ich einer bestimmten Person noch etwas schuldete. Und ich stehe für meine Schulden immer gerade.«

»Wednesday?«

»Genau der.«

»Es hatte einen guten Grund, mich in Lakeside zu verstecken, oder? Es gab einen Grund, warum niemand mich hier finden können sollte.«

Hinzelmann schwieg. Er nahm eine schwere schwarze Schürstange von ihrem Haken an der Wand und stieß sie ins Feuer, worauf eine Wolke orangefarbener Funken und Rauch aufschoss. »Das hier ist mein Zuhause«, sagte er bockig. »Es ist eine gute Stadt.«

Shadow trank den Kaffee aus. Er stellte den Becher auf den Fußboden, was eine ausgesprochen anstrengende Tätigkeit war. »Wie lange sind Sie schon hier?«

»Lange genug.«

»Und Sie haben den See gemacht?«

Hinzelmann warf ihm einen überraschten Blick zu. »Ja«, sagte er. »Ich habe den See gemacht. Er wurde schon als See bezeichnet, als ich hier ankam, aber da war es nicht mehr als eine Quelle, ein Mühlenteich und ein kleines Flüsschen.« Er hielt inne. »Ich hatte mir ausgerechnet, dass dieses Land für meinesgleichen die Hölle ist. Es frisst uns auf. Ich wollte aber nicht gefressen werden. Also haben wir einen Handel geschlossen. Ich gab ihnen den See, ich gab ihnen Wohlstand …«

»Und alles, was sie dafür zahlen mussten, war ein Kind pro Winter.«

»Gute Kinder«, sagte Hinzelmann und schüttelte bedächtig den alten Kopf. »Es waren alles gute Kinder. Ich hab solche ausgewählt, die ich mochte. Mit Ausnahme von Charlie Nelligan. Der war aus der Art geschlagen, der Bursche. Das war, was – 1924? 1925? Ja, so war die Abmachung.«

»Die Leute in der Stadt«, sagte Shadow. »Mabel. Marguerite. Chad Mulligan. Wissen die Bescheid?«

Hinzelmann schwieg. Er zog das Schüreisen aus dem Feuer: Eine Handbreit der Spitze glühte in einem dumpfen Orange. Shadow wusste, dass der Griff des Eisens garantiert zu heiß zum Anfassen war, aber das schien Hinzelmann, der jetzt erneut im Feuer stocherte, nicht zu stören. Er schob das Schüreisen mit der Spitze voran in die Flammen und ließ es dort liegen. Dann sagte er: »Sie wissen, dass sie an einem guten Ort leben. Während alle anderen Orte und Städte im Bezirk, ach was, in diesem ganzen Teil des Bundestaats, zugrunde gehen. Ja, das wissen sie.«

»Und das ist Ihr Werk?«

»Diese Stadt hier«, sagte Hinzelmann. »Ich kümmere mich um sie. Hier geschieht nichts ohne mein Wissen und ohne mein Einverständnis. Verstehen Sie? Niemand kommt hierher, den ich nicht hier haben will. Deswegen hat Ihr Vater Sie ja hergeschickt. Er wollte nicht, dass Sie in der freien Wildbahn rumlaufen und Aufmerksamkeit erregen. Das ist alles.«

»Und nun haben Sie ihn verraten.«

»Keineswegs. Er war ein Gauner. Aber ich komme immer für meine Schulden auf.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Shadow.

Hinzelmann wirkte gekränkt. Er zupfte an einer weißen Haarsträhne an seiner Schläfe. »Ich halte mein Wort.«

»Nein. Das stimmt nicht. Laura ist hierher gekommen. Sie sprach davon, dass etwas sie gerufen hat. Und was ist von dem Zufall zu halten, der Sam Black Crow und Audrey Burton an ein und demselben Abend in die Stadt geführt hat? Irgendwie glaube ich nicht mehr an Zufälle.

Sam Black Crow und Audrey Burton. Zwei Menschen, die beide wussten, wer ich in Wirklichkeit war, Menschen, die wussten, dass es Leute gab, die nach mir suchten. Wenn die eine versagt hätte, nehme ich mal an, sollte die andere einspringen, nicht wahr? Aber wenn sie beide versagt hätten? Wer war sonst noch alles auf dem Weg nach Lakeside, Hinzelmann? Mein alter Gefängniswärter, vielleicht um übers Wochenende dem Eisfischen zu frönen? Lauras Mutter?« Shadow stellte fest, dass er wütend war. »Sie wollten mich aus Ihrer Stadt haben. Aber das durften Sie Wednesday natürlich nicht sagen, also haben Sie es auf einem anderen Weg versucht.«

Im Feuerschein wirkte Hinzelmann eher wie ein Wasserspeier als wie ein Kobold. »Das hier ist eine gute Stadt«, wiederholte er. Ohne sein Lächeln sah er wächsern und leichenhaft aus. »Sie hätten womöglich zu viel Aufmerksamkeit erregt. Nicht gut für die Stadt.«

»Sie hätten mich draußen auf dem Eis lassen sollen«, sagte Shadow. »Sie hätten mich im See lassen sollen. Ich habe den Kofferraum der Rostlaube geöffnet. Bisher ist Alison noch drin festgefroren. Aber das Eis wird schmelzen, ihre Leiche wird nach oben treiben. Und dann wird man auf den Grund tauchen und sehen, was man dort noch so alles finden kann. Ihre ganze Ansammlung von Kindern. Wahrscheinlich sind einige der Leichen noch ganz gut erhalten.«

Hinzelmann bückte sich und ergriff das Schüreisen. Er gab nicht mehr vor, damit im Feuer rühren zu wollen; er hielt es wie ein Schwert, oder auch einen Taktstock, und wedelte mit der orangeweiß glühenden Spitze in der Luft. Rauch stieg von ihr auf. Shadow wurde sich sehr eindringlich der Tatsache bewusst, dass er so gut wie nackt war; zudem war er immer noch erschöpft und schwerfällig, weit davon entfernt, sich verteidigen zu können.

»Sie wollen mich töten?«, sagte Shadow. »Nur zu. Tun Sie’s. Ich bin sowieso ein toter Mann. Ich weiß, dass Ihnen diese Stadt gehört – es ist Ihre kleine Welt. Aber wenn Sie glauben, dass niemand nach mir suchen wird, leben Sie in einer Traumwelt. Es ist vorbei, Hinzelmann. So oder so, das Spiel ist aus.«

Hinzelmann stemmte sich hoch und benützte das Schüreisen als Gehstock. Dort, wo er die rot glühende Spitze aufsetzte, versengte er damit den Teppich. Er sah Shadow an. Die Tränen standen ihm in den blassblauen Augen. »Ich liebe diese Stadt«, sagte er. »Es gefällt mir, ein verschrobener alter Mann zu sein, meine Geschichten zu erzählen, Tessie zu fahren und eisfischen zu gehen. Wissen Sie noch, was ich Ihnen gesagt habe? Was zählt, ist nicht der Fisch, den man am Abend nach Hause bringt. Was zählt, ist der Seelenfrieden.«

Er schob die Spitze des Schüreisens in Shadows Richtung. Shadow konnte dessen Hitze aus geringer Entfernung spüren.

»Ich könnte Sie töten«, sagte Hinzelmann. »Kein Problem. Es wäre nicht das erste Mal. Sie sind nämlich nicht der Erste, der mir draufgekommen ist. Chad Mulligans Vater, der hat es auch rausgekriegt. Ich hab ihn beseitigt, so wie ich auch Sie beseitigen kann.«

»Mag sein«, sagte Shadow. »Aber wie lange noch, Hinzelmann? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Heute haben sie Computer, Hinzelmann. Und blöd sind sie auch nicht. Sie sind in der Lage, bestimmte Muster zu erkennen. Früher oder später werden sie kommen und Fragen stellen, wenn hier jedes Jahr ein Kind verschwindet. Wie sie auch nach mir suchen werden. Sagen Sie – wie alt sind Sie eigentlich?« Er spannte die Finger um ein Sofakissen und machte sich bereit, sich damit den Kopf zu schützen. Einen ersten Schlag würde er auf diese Weise abwehren können.

Hinzelmann machte ein ausdrucksloses Gesicht. »Sie haben mir ihre Kinder schon gegeben, noch bevor die Römer in den Schwarzwald kamen«, sagte er. »Ich war ein Gott, bevor ich zum Kobold wurde.«

»Vielleicht ist es an der Zeit weiterzuziehen«, sagte Shadow.

Hinzelmann starrte ihn an. Dann stieß er die Spitze des Schüreisens wieder in die Glut. »Das ist nicht so einfach. Wieso glauben Sie, dass ich die Stadt verlassen könnte, selbst wenn ich wollte, Shadow? Ich bin mit dieser Stadt verwachsen. Wollen Sie mich vertreiben, Shadow? Sind Sie etwa Ihrerseits bereit, mich zu töten? Damit ich gehen kann?«

Shadow blickte zu Boden. Auf dem Teppich waren immer noch dort, wo die Schüreisenspitze ihn berührt hatte, Funken zu sehen. Hinzelmann, der Shadows Blick gefolgt war, trat auf die Glut und drückte sie mit dem Fuß aus. Vor Shadows innerem Auge erschienen, ohne dass er sie gerufen hätte, Kinder, mehr als hundert, deren Haare sich wie Seetang langsam um ihre Gesichter schlangen. Der Ausdruck, mit dem ihre blinden Augen auf ihn gerichtet waren, war vorwurfsvoll.

Er wusste, dass er sie hängen ließ. Er wusste nur nicht, was er sonst tun sollte.

»Ich kann Sie nicht töten«, sagte er. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

Er schüttelte den Kopf. Er fühlte sich so beschissen, wie man sich nur fühlen kann. Gar nicht mehr wie ein Held oder Detektiv – nur noch wie ein beschissener Verräter, der mit strengem Finger in die Dunkelheit wedelt, bevor er ihr den Rücken zukehrt.

»Wollen Sie ein Geheimnis erfahren?«, fragte Hinzelmann ihn.

»Nur zu«, sagte Shadow schweren Herzens. Er hatte eigentlich genug von Geheimnissen.

»Dann passen Sie auf.«

Wo eben noch Hinzelmann gestanden hatte, stand auf einmal ein kleiner Junge, der nicht älter als fünf Jahre war. Sein dunkelbraunes Haar war lang gewachsen. Er war, abgesehen von einem abgewetzten Lederriemen, den er um den Hals trug, völlig nackt. Er war von zwei Schwertern durchbohrt, das eine ging durch die Brust, das andere begann an der Schulter und trat unterhalb des Brustkorbs wieder aus. Unaufhörlich strömte das Blut aus den Wunden und floss am Körper des Jungen hinunter zu Boden, wo es Lachen bildete. Die Schwerter sahen unvorstellbar alt aus.

Der kleine Junge starrte Shadow mit Augen an, in denen nichts als Schmerz lag.

Und Shadow dachte bei sich: Natürlich. So macht man sich einen Stammesgott, eine Methode, die so gut wie jede andere ist. Man musste es ihm nicht erklären. Er wusste es.

Man nimmt sich ein Baby und zieht es im Dunkeln auf, lässt es niemanden sehen, niemanden berühren; man füttert es gut, während die Jahre vergehen, füttert es reichlicher als alle anderen Kinder des Dorfes, und dann, im Winter des fünften Jahres, wenn die Nacht am längsten ist, zerrt man das verängstigte Kind aus seiner Hütte in den Kreis der rituellen Feuer hinein, und man durchbohrt es mit Klingen aus Eisen und Bronze. Dann räuchert man den kleinen Körper über einem Holzkohlenfeuer, bis er richtig getrocknet ist, wickelt ihn in Pelze ein und trägt ihn mit sich von Lager zu Lager, tief im Schwarzwald, opfert ihm Tiere und Kinder, auf dass es dem Stamm Glück bringe. Wenn das Ding am Ende vor Alter auseinander fällt, steckt man die zerbrechlichen Knochen in einen Kasten und betet den Kasten an; bis eines Tages die Knochen verstreut und vergessen sind und die Stämme, die den Kindgott im Kasten angebetet haben, gar nicht mehr existieren; und dann wird sich kaum noch jemand an den Kindgott, den Glücksbringer des Dorfes, erinnern, es sei denn, als ein – guter oder böser – Geist oder eben: ein Kobold.

Shadow fragte sich, was für ein Mensch da vor 150 Jahren über den Atlantik und ins nördliche Wisconsin gekommen sein mochte, in dessen Erinnerung Hinzelmann immer noch gelebt hatte: ein Holzfäller vielleicht oder ein Kartograph.

Und dann war das blutüberströmte Kind wieder verschwunden, und auch das Blut, und nur ein alter Mann mit weißem Haarflaum und koboldigem Lächeln stand da, die Pulloverärmel noch klatschnass, weil er Shadow in das lebensrettende Bad getaucht hatte.

»Hinzelmann?« Die Stimme kam vom Eingang der Hütte her.

Hinzelmann drehte sich um. Auch Shadow drehte sich um.

»Ich wollte nur berichten«, sagte Chad Mulligan mit angespannter Stimme, »dass die Rostlaube durchs Eis gegangen ist. Als ich über die Brücke gefahren bin, habe ich gesehen, dass sie verschwunden war, und mir gedacht, ich komme mal kurz vorbei und mache Meldung, für den Fall, dass du es nicht mitgekriegt hast.«

Er hatte die Pistole in der Hand. Sie war auf den Fußboden gerichtet.

»He, Chad«, sagte Shadow.

»Hallo, mein Freund«, sagte Chad Mulligan. »Ich habe eigentlich eine Mitteilung bekommen, in der es hieß, dass Sie in der Haft gestorben sind. Herzinfarkt.«

»Was sagt man dazu?«, sagte Shadow. »Sieht so aus, als müsste ich ununterbrochen sterben.«

»Er ist urplötzlich hierher gekommen, Chad«, sagte Hinzelmann. »Er hat mich bedroht.«

»Nein«, sagte Chad Mulligan. »Hat er nicht. Ich bin seit zehn Minuten hier, Hinzelmann. Hab alles gehört, was du gesagt hast. Auch das über meinen alten Herrn. Das über den See.« Er kam weiter ins Zimmer herein. Die Pistole ließ er weiterhin nach unten gerichtet. »Herrgott, Hinzelmann. Man kann gar nicht durch diese Stadt fahren, ohne den verdammten See zu sehen. Er ist im Mittelpunkt von allem. Was zum Teufel soll ich jetzt tun?«

»Du musst ihn verhaften. Er hat gesagt, er will mich umbringen«, sagte Hinzelmann, ein verängstigter alter Mann in einer staubigen Hütte. »Chad, ich bin so froh, dass du da bist.«

»Nein«, sagte Chad Mulligan. »Ganz bestimmt nicht.«

Hinzelmann seufzte. Wie resigniert bückte er sich und zog das Schüreisen aus dem Feuer. Die Spitze glühte hellorange.

»Leg das wieder hin, Hinzelmann. Leg es langsam zurück, halt die Hände hoch, damit ich sie sehen kann, und dreh dich zur Wand um.«

Ein Ausdruck blanker Furcht lag auf dem Gesicht des Alten, und Shadow hätte beinahe Mitleid mit ihm gehabt, aber dann erinnerte er sich an die gefrorenen Tränen auf Alison McGoverns Wangen. Hinzelmann rührte sich nicht. Er legte das Schüreisen nicht weg. Er drehte sich nicht zur Wand um. Shadow wollte gerade nach ihm greifen, ihm die Schürstange entringen, da warf der alte Mann das glühende Eisen in Mulligans Richtung.

Es war ein eher ungeschickter Wurf – als würde er nur der Form halber ausgeführt –, und gleichzeitig war Hinzelmann schon auf dem Weg zur Tür.

Das Schüreisen streifte Mulligan am linken Arm.

Der Lärm des Schusses in den engen Räumlichkeiten des Alten war ohrenbetäubend.

Ein Schuss in den Kopf, und das war’s.

»Sie sollten sich lieber anziehen«, sagte Mulligan. Seine Stimme kam dabei dumpf und leblos.

Shadow nickte. Er ging ins Nebenzimmer, öffnete den Wäschetrockner und zog seine Sachen heraus. Die Jeans waren noch feucht, aber er schlüpfte trotzdem hinein. Als er vollständig angekleidet – bis auf den Mantel, der irgendwo im eisigen Schlamm des Sees lag, und den Stiefeln, die er nicht finden konnte – ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Mulligan bereits mehrere glimmende Holzscheite aus dem Kamin gezogen.

»Das ist ein schwarzer Tag für einen Cop, an dem er Brandstiftung begehen muss, um einen Mord zu vertuschen«, sagte Mulligan. Dann musterte er Shadow. »Sie brauchen Schuhe«, sagte er.

»Ich weiß nicht, wo er meine Stiefel hingetan hat«, sagte Shadow.

»Mist«, sagte Mulligan. Und dann: »Tut mir Leid, Hinzelmann.« Er packte den Alten am Kragen und an der Gürtelschnalle und hievte ihn Kopf voran in den offenen Kamin. Das weiße Haar knisterte und flackerte, und sofort begann sich im Zimmer ein Geruch von angesengtem Fleisch auszubreiten.

»Es war kein Mord. Es war Notwehr«, sagte Shadow.

»Ich weiß, was er war«, sagte Mulligan knapp. Er hatte seine Aufmerksamkeit bereits den im Zimmer verteilten rauchenden Scheiten zugewandt. Er schob eines davon ans Sofa heran und schnappte sich eine alte Ausgabe der Lakeside News, deren einzelne Seiten er zusammenknüllte und auf das Scheit fallen ließ. Das Zeitungspapier wurde braun und ging schließlich in Flammen auf.

»Kommen Sie nach draußen«, sagte Chad Mulligan.

Bevor sie das Haus verließen, öffnete er noch die Fenster und stellte das Schloss der Vordertür so ein, dass es zuschnappte, wenn die Tür zufiel.

Shadow folgte ihm barfuß zum Streifenwagen. Mulligan machte ihm die Beifahrertür auf, Shadow stieg ein und wischte sich die Füße an der Matte ab. Dann streifte er sich seine Socken über, die inzwischen einigermaßen trocken waren.

»Wir können Ihnen bei Hennings ein Paar Stiefel holen«, sagte Mulligan.

»Wie viel haben Sie vorhin mitgehört?«, fragte Shadow.

»Genug«, sagte Mulligan. Und gleich darauf: »Zu viel.«

Sie fuhren schweigend zum Kaufhaus Hennings. Als sie dort angekommen waren, fragte der Polizeichef ihn: »Welche Schuhgröße?«

Shadow sagte es ihm.

Mulligan ging in den Laden. Er kehrte mit einem Paar dicker Wollsocken und einem Paar Bauernstiefel aus Leder zurück. »War alles, was sie in Ihrer Größe vorrätig hatten«, sagte er. »Es sei denn, Sie hätten lieber Gummistiefel gehabt. Aber das konnte ich mir nicht recht vorstellen.«

Shadow zog die Socken und die Stiefel an. Sie passten tadellos. »Danke«, sagte er.

»Haben Sie ein Auto?«, fragte Mulligan.

»Steht an der Straße, die zum See führt. In der Nähe der Brücke.«

Mulligan ließ den Motor an und fuhr vom Parkplatz des Kaufhauses herunter.

»Was ist aus Audrey geworden?«, fragte Shadow.

»Einen Tag nachdem man Sie abgeholt hat, meinte sie, dass sie mich als Freund schätzen würde, aber es könnte mit uns nicht klappen, wo wir doch verwandt seien und alles, und dann ist sie nach Eagle Point zurückgefahren. Hat mir das verflixte Herz gebrochen.«

»Lässt sich nachvollziehen«, sagte Shadow. »Nehmen Sie’s nicht persönlich. Hinzelmann hat sie hier nicht mehr gebraucht.«

Sie kamen wieder an Hinzelmanns Haus vorbei. Aus dem Schornstein kroch eine dicke weiße Rauchwolke.

»Sie ist nur in die Stadt gekommen, weil er sie hier haben wollte. Sie hat ihm geholfen, mich aus der Stadt zu vertreiben. Ich hatte wohl Aufmerksamkeit erregt, die er nicht gebrauchen konnte.«

»Und ich hab gedacht, sie mag mich.«

Sie hielten neben Shadows Mietwagen. »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Shadow.

»Ich weiß nicht«, sagte Mulligan. Sein immer etwas gequältes Gesicht schien, erstmals seit sie Hinzelmanns Hütte verlassen hatten, wieder etwas lebendiger zu werden. Aber auch noch gequälter. »Ich schätze, da gibt es zwei, drei Möglichkeiten. Entweder« – er bildete aus zwei Fingern eine Pistole, steckte sich die Spitzen in den Mund und nahm sie wieder heraus – »jage ich mir eine Kugel durch den Kopf. Oder ich warte noch ein paar Tage, bis das Eis weitgehend weg ist, binde mir einen Betonklotz an die Beine und springe von der Brücke. Oder Tabletten. Herrje. Vielleicht sollte ich eine Weile herumfahren, raus in irgendwelche Wälder. Und da Tabletten nehmen. Möchte doch nicht, dass einer von meinen Leuten die Sauerei wegmachen muss. Soll sich der Bezirk drum kümmern, hm?« Seufzend schüttelte er den Kopf.

»Sie haben Hinzelmann nicht getötet, Chad. Er ist schon vor langer Zeit gestorben, weit weg von hier.«

»Nett, dass Sie das sagen, Mike. Aber ich hab ihn trotzdem getötet. Ich habe einen Mann kaltblütig erschossen, und dann habe ich die Spuren beseitigt. Aber wenn Sie mich fragen, warum um alles in der Welt ich das getan habe, dann kann ich es Ihnen ums Verrecken nicht sagen.«

Shadow streckte die Hand aus und berührte Mulligan damit am Arm. »Diese Stadt hat Hinzelmann gehört«, sagte er. »Ich glaube, Sie hatten, was die Vorgänge da draußen betrifft, kaum eine andere Wahl. Ich glaube, er hat Sie irgendwie dorthin gerufen. Er wollte, dass Sie hören, was Sie gehört haben. Es war eine Art Falle für Sie. Für ihn war das wahrscheinlich der einzige Weg, hier wegzukommen.«

Mulligans unglücklicher Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Shadow konnte sehen, dass der Polizeichef kaum etwas von dem aufnahm, was er ihm zu sagen versuchte. Er hatte Hinzelmann getötet und ihm einen Scheiterhaufen errichtet, und jetzt würde er, Hinzelmanns letztem Willen gehorchend, Selbstmord begehen.

Shadow schloss die Augen und versuchte sich an den Punkt in seinem Kopf zu erinnern, den er aufgesucht hatte, als Wednesday ihn Schnee hatte machen lassen: den Punkt, der die Dinge bewegte, von einem Kopf zum anderen. Er legte ein Lächeln auf, das er nicht empfand, und sagte: »Chad. Lass es los.« Da war eine Wolke im Kopf des Mannes, eine dunkle, bedrohliche Wolke, Shadow konnte sie fast sehen, und er stellte sich vor, während er sich auf sie konzentrierte, dass sie sich wie der Morgennebel auflöste. »Chad«, sagte er nachdrücklich und versuchte die Wolke zu durchdringen, »diese Stadt wird sich jetzt verändern. Sie wird nicht mehr die einzige gute Stadt in einer krisengeschüttelten Region sein. Sie wird sehr viel mehr wie alle anderen Städte in diesem Teil der Welt sein. Es wird sehr viel mehr Probleme geben. Immer mehr Leute werden arbeitslos. Immer mehr Leute verlieren den Kopf. Immer mehr Leute tun sich gegenseitig weh. Immer mehr üble Sachen laufen ab. Man wird einen erfahrenen Polizeichef brauchen. Die Stadt braucht Sie.« Und dann sagte er: »Marguerite braucht Sie.«

Etwas verschob sich in der Sturmwolke, die Chad Mulligans Kopf ausfüllte. Shadow konnte die Veränderung fühlen. Und dann strengte er sich noch mehr an, rief sich Marguerite Olsens praktisch veranlagte braune Hände vor Augen, ihre dunklen Augen und ihre langen, langen Haare. Er stellte sich vor, wie sie den Kopf zur Seite legte und andeutungsweise lächelte, wenn sie etwas lustig fand. »Sie wartet auf Sie«, sagte Shadow, und er wusste, während er das sagte, dass es so war.

»Margie?«, sagte Chad Mulligan.

Und in diesem Moment – hinterher hätte er nicht zu sagen vermocht, wie er es gemacht hatte, und er bezweifelte sehr, dass er es je würde wieder tun können – griff Shadow in Chad Mulligans Inneres hinein, ganz selbstverständlich, und er pflückte die Vorgänge jenes Nachmittags so präzise und leidenschaftslos heraus, wie ein Rabe das Auge aus einem überfahrenen Tier klaubt.

Die Falten auf Chads Stirn glätteten sich, und er blinzelte schläfrig.

»Gehen Sie Margie besuchen«, sagte Shadow. »War schön, Sie zu sehen, Chad. Passen Sie auf sich auf.«

»Klar«, sagte Chad Mulligan und gähnte.

Eine Meldung knisterte durchs Funkgerät, und Chad griff nach dem Handapparat. Shadow stieg aus dem Wagen.

Er ging zu seinem Mietauto. Er sah das flache Grau des Sees im Mittelpunkt der Stadt. Er dachte an die toten Kinder, die auf dem Grund warteten.

Bald würde Alison an die Oberfläche treiben …

Als Shadow erneut an Hinzelmanns Hütte vorbeifuhr, sah er, dass aus der Rauchwolke inzwischen Flammen geworden waren. Er konnte bereits das Heulen einer Sirene hören.

Er fuhr nach Süden zum Highway 51. Er war im Begriff, seiner letzten Verabredung nachzukommen. Aber vorher, dachte er, wollte er noch in Madison Halt machen, um sich zu verabschieden.


Am meisten Vergnügen bereitete es Samantha Black, wenn sie das Café abends wieder schließen konnte. Das war unheimlich beruhigend: Es gab ihr das Gefühl, sie würde wieder Ordnung in die Welt bringen. Sie legte dann eine CD von den Indigo Girls auf und erledigte die abschließenden Arbeiten des Tages in ihrem eigenen Tempo und nach ihren eigenen Methoden. Als Erstes reinigte sie die Espressomaschine. Dann machte sie noch eine letzte Runde, um sich zu vergewissern, dass alle Teller und Tassen in die Küche zurückgebracht waren und dass die Zeitungen, die am Ende des Tages immer im ganzen Café verstreut lagen, eingesammelt und säuberlich neben der Eingangstür gestapelt waren, um ihrer Wiederverwertung zugeführt zu werden.

Sie liebte das Café. Es bestand aus einer langen, gewundenen Folge von Räumen, in denen Sessel und Sofas und niedrige Tische standen, und lag in einer Straße, die von Secondhand-Buchläden gesäumt war.

Sie deckte die übrig gebliebenen Stücke Käsekuchen ab und stellte sie über Nacht in den großen Kühlschrank, dann nahm sie ein Tuch und wischte letzte Krümel auf. Sie genoss es, allein zu sein.

Ein Klopfen am Fenster riss sie aus ihrer Versunkenheit und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die wirkliche Welt. Sie ging zur Tür und ließ eine etwa gleichaltrige Frau ein, die ihr purpurrotes Haar in Zöpfchen gebunden hatte. Ihr Name war Natalie.

»Hallo«, sagte Natalie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Sam genau zwischen Wange und Mundwinkel einen gezielten Kuss. Mit solch einem Kuss konnte man alles Mögliche ausdrücken. »Bist du fertig?«

»Fast.«

»Möchtest du ins Kino?«

»Klar. Gern. Ich hab hier aber noch gut fünf Minuten zu tun. Setz dich doch so lange und guck dir die Onion an.«

»Ich hab die Ausgabe von dieser Woche schon gelesen.« Sie setzte sich auf einen Sessel in der Nähe der Tür, stöberte in dem fürs Recycling freigegebenen Stapel Zeitungen, bis sie etwas von Interesse gefunden hatte, und begann zu lesen, während Sam das letzte Geld aus der Kasse sammelte und im Safe deponierte.

Seit einer Woche schliefen sie jetzt miteinander. Sam fragte sich, ob es das jetzt war, die Beziehung, auf die sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte. Sie rief sich in Erinnerung, dass es lediglich chemische Botenstoffe und Pheromone im Gehirn waren, die sie glücklich machten, wenn sie Natalie sah, und vielleicht war das schon alles; dennoch, unbestreitbar blieb, dass sie lächeln musste, wenn sie Natalie sah, und dass sie sich, wenn sie zusammen waren, aufgehoben und wohl fühlte.

»In dieser Zeitung hier«, sagte Natalie, »ist schon wieder so ein Artikel drin. ›Wandel in Amerika?‹«

»Und, gibt es einen?«

»Das sagen sie nicht. Sie meinen, vielleicht ja, aber sie wissen nicht, wie, und sie wissen nicht, warum, und vielleicht stimmt es auch gar nicht.«

Sam lächelte breit. »Tja«, sagte sie, »damit ist so ziemlich jede Möglichkeit abgedeckt, was?«

»Sieht so aus.« Natalie seufzte und kehrte zu ihrer Lektüre zurück.

Sam wusch das Spültuch aus und faltete es. »Ich glaube, es ist nichts weiter als die Tatsache, dass sich plötzlich alles so gut anfühlt, trotz Regierung und was weiß ich. Vielleicht Vorboten des Frühlings. Es war ein langer Winter, und was bin ich froh, dass er vorbei ist.«

»Ich auch.« Eine Pause. »In dem Artikel heißt es, dass viele Leute von seltsamen Träumen berichten würden. Ich kann eigentlich nicht behaupten, dass ich in letzter Zeit verrückte Träume gehabt hätte. Jedenfalls nicht verrückter als sonst auch.«

Sam blickte sich um, um noch einmal zu prüfen, ob sie etwas übersehen hatte. Nein, nichts. Eine angenehme Arbeit, zur besten Zufriedenheit ausgeführt. Sie band die Schürze ab und hängte sie in der Küche auf. Dann kam sie zurück und löschte die Lichter. »Ich hatte in letzter Zeit schon ein paar abgedrehte Träume«, sagte sie. »Die sind sogar so merkwürdig geworden, dass ich tatsächlich angefangen habe, ein Traumtagebuch zu führen, um alles aufzuschreiben, wenn ich aufwache. Wenn ich sie mir dann allerdings durchlese, ergeben sie überhaupt keinen Sinn.«

Sie zog sich ihren Mantel an und schlüpfte in die Einheitsgrößenhandschuhe.

»Ich habe mal ein bisschen Traumdeutung gemacht«, sagte Natalie. Natalie hatte schon ein bisschen von allem gemacht, von geheimnisvollen Selbstverteidigungstechniken über heilige Schwitzzeremonien bis hin zu Fengshui und Jazztanz. »Erzähl mir deine Träume. Ich analysiere sie dir.«

»Okay.« Sam schloss die Tür auf und löschte die letzten Lampen. Sie ließ Natalie hinaus, trat auf die Straße und machte die Eingangstür des Cafés fest hinter sich zu. »Manchmal habe ich von Leuten geträumt, die aus dem Himmel fielen. Manchmal bin ich unter der Erde und spreche mit einer Frau, die einen Bisonkopf hat. Und manchmal träume ich von dem Typen, den ich letzten Monat mal in einer Bar geküsst habe.«

Natalie schnaubte. »Etwas, was du mir hättest erzählen müssen?«

»Vielleicht. Aber nicht in dem Sinne. Es war ein Verpiss-dich-Kuss.«

»Du wolltest dem Typen damit sagen, er solle sich verpissen?«

»Nein, ich wollte damit allen anderen Anwesenden sagen, dass sie sich verpissen sollen. Man muss irgendwie dabei gewesen sein.«

Natalies Schuhe klapperten auf dem Bürgersteig. Sam stapfte neben ihr her. »Das Auto, das ich habe, gehört ihm.«

»Dieses lila Teil, das du bei deiner Schwester stehen hast?«

»Genau.«

»Was ist denn mit dem Typen los? Will er sein Auto nicht wiederhaben?«

»Keine Ahnung. Vielleicht sitzt er im Gefängnis. Vielleicht ist er tot.«

»Tot?«

»Glaub schon.« Sam holte tief Luft. »Noch vor zwei Wochen war ich mir sicher, dass er tot ist. Außersinnliche Wahrnehmung. Oder so. Also, irgendwie wusste ich’s jedenfalls genau. Aber dann hab ich angefangen zu glauben, dass er vielleicht doch nicht tot ist. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es nicht so weit her mit meiner ASW.«

»Und das Auto behältst du einfach?«

»Bis jemand kommt und es holt. Wahrscheinlich hätte er es auch nicht anders gewollt.«

Natalie sah Sam an, einmal, zweimal. Dann sagte sie: »Wo hast du denn die her?«

»Was?«

»Die Blumen. Die, die du in der Hand hältst. Wo kommen die plötzlich her? Hast du sie schon gehabt, als wir aus dem Café raus sind? Da hätte ich sie doch sehen müssen.«

Sam sah nach unten. Dann grinste sie. »Du bist ja so lieb. Ich hätte etwas sagen sollen, als du sie mir gegeben hast, oder?«, meinte sie. »Die sind reizend. Vielen Dank. Aber wäre nicht Rot angemessener gewesen?«

Es waren Rosen, die Stängel mit Papier umwickelt, sechs Stück mit weißen Köpfen.

»Die kommen nicht von mir.« Natalie zog die Lippen straff.

Beide sagten sie kein weiteres Wort mehr, bis sie im Kino waren.

Als Sam in jener Nacht nach Hause kam, stellte sie die Rosen in eine improvisierte Vase. Später goss sie sie in Bronze, und im Allgemeinen behielt sie die Geschichte, wie sie sie bekommen hatte, für sich, nur Caroline, die Nachfolgerin von Natalie, bekam die Erzählung von den Geisterrosen zu hören, eines Nachts, als sie beide sehr betrunken waren, und Caroline bestätigte Sam, dass es eine wirklich sehr seltsame und gespenstische Geschichte sei, wenn sie auch insgeheim kein Wort davon glaubte, sodass auch dies in Ordnung ging.


Shadow hatte in der Nähe eines öffentlichen Telefons geparkt. Er rief die Auskunft an und bekam dort ihre Nummer.

Nein, wurde ihm mitgeteilt. Sie sei nicht da. Wahrscheinlich immer noch im Café.

Er hielt auf dem Weg zum Café, um Blumen zu kaufen.

Er fand das Café, überquerte die Straße und stellte sich in den Eingang eines Antiquariats, wartete und beobachtete.

Das Café machte um acht zu, und um zehn nach acht sah Shadow Sam Black Crow aus der Tür treten. Sie war in Begleitung einer kleineren Frau, deren zu Zöpfen geflochtenes Haar einen eigenartigen Rotton aufwies. Sie hielten sich fest bei der Hand, als könnten sie durch simples Händchenhalten die Welt in die Schranken weisen, und unterhielten sich, genauer: Meistenteils redete Sam und die Freundin hörte zu. Shadow hätte gern gewusst, was Sam da zu erzählen hatte. Sie lächelte beim Reden.

Die beiden Frauen überquerten die Straße und gingen an der Stelle vorbei, wo Shadow stand. Die bezopfte Frau passierte ihn in weniger als einem halben Meter Entfernung; er hätte die Hand ausstrecken und sie berühren können. Dennoch nahmen sie ihn überhaupt nicht wahr.

Er sah sie die Straße hinuntergehen und empfand einen kleinen Stich, so als wäre in seinem Innern ein Mollakkord angeschlagen worden.

Es war ein guter Kuss gewesen, überlegte Shadow, aber Sam hatte ihn nie so angesehen, wie sie jetzt die Zopffrau ansah, und sie würde es wohl auch niemals tun.

»Ach, zum Teufel. Dafür haben wir Peru«, sprach er vor sich hin, während Sam sich von ihm entfernte. »Und El Paso. Das wird uns immer bleiben.«

Dann eilte er hinter Sam her und drückte ihr die Blumen in die Hand. Damit sie sie ihm nicht zurückgeben konnte, rannte er sofort wieder weg.

Er ging zurück zu seinem Wagen den Hügel hinauf, fuhr los und folgte den Wegweisern nach Chicago. Er hielt sich an die erlaubte Höchstgeschwindigkeit oder blieb knapp darunter.

Das Letzte, was er noch zu tun hatte, stand bevor.

Er hatte es nicht eilig.


Die Nacht verbrachte er in einem Motel. Als er am nächsten Morgen aufstand, fiel ihm auf, dass seine Sachen immer noch nach dem Grund des Sees rochen. Er zog sie trotzdem an. Er nahm an, dass er sie nicht mehr lange benötigen würde.

Shadow bezahlte seine Rechnung. Er fuhr zu dem Sandsteinhaus. Er fand es ohne Schwierigkeiten. Es war kleiner, als er es in Erinnerung hatte.

Er stieg in gleichmäßigem Tempo die Treppen hoch – nicht zu schnell, weil das nur bedeutet hätte, dass es ihm mit dem Sterben eilig war, und nicht zu langsam, weil das wiederum bedeutet hätte, dass ihn Angst plagte. Jemand hatte das Treppenhaus geputzt: Die schwarzen Mülltüten waren verschwunden. Es roch nicht mehr nach vergammeltem Gemüse, sondern nach dem Chlor von Bleichmitteln.

Die rot angestrichene Tür im Obergeschoss stand weit offen: Der Geruch vergangener Mahlzeiten hing in der Luft. Shadow hielt kurz inne, dann drückte er den Klingelknopf.

»Ich komme!«, rief eine Frauenstimme, und gleich darauf kam Sarja Utrennjaja, zwergenhaft und überwältigend blond, aus der Küche und scharwenzelte, während sie die Hände an ihrer Schürze abwischte, auf ihn zu. Sie hatte sich verändert, stellte Shadow fest. Sie sah glücklich aus. Sie trug Rouge auf den Wangen, und ihre alten Augen funkelten. Als sie ihn erblickte, bildete ihr Mund ein großes O, und sie rief: »Shadow? Sie sind zu uns zurückgekommen?« Sie eilte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Er bückte sich, um sie umarmen zu können, und sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Wie schön, Sie zu sehen!«, sagte sie. »Aber jetzt müssen Sie wieder gehen.«

Shadow betrat die Wohnung. Alle Zimmertüren standen weit offen (naturgemäß mit Ausnahme der von Sarja Polunotschnaja), und auch alle Fenster, die er zu Gesicht bekam, waren geöffnet. Eine sanfte Brise strich unregelmäßig durch den Flur.

»Sind Sie gerade beim Frühjahrsputz?«, sagte er zu Sarja Utrennjaja.

»Wir erwarten einen Gast«, erklärte sie ihm. »Sie müssen jetzt wieder gehen. Noch einen schnellen Kaffee zuvor?«

»Ich bin gekommen, um Tschernibog aufzusuchen«, sagte Shadow. »Die Zeit ist gekommen.«

Sarja Utrennjaja schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein«, sagte sie. »Suchen Sie ihn nicht auf. Keine gute Idee.«

»Ich weiß«, sagte Shadow. »Aber wissen Sie, das Einzige, was ich über den Umgang mit Göttern wirklich gelernt habe, ist, dass man eine Vereinbarung, wenn man sie denn schon trifft, auch einhält. Die Götter dürfen gegen die Regeln verstoßen, wann immer es ihnen gefällt. Wir nicht. Selbst wenn ich versuchen würde, einfach zu verschwinden, meine Füße würden mich immer wieder zurücktragen.«

Sie schob die Unterlippe nach oben und sagte: »Ist wohl wahr. Aber gehen Sie für heute weg. Kommen Sie morgen wieder. Er wird dann fort sein.«

»Wer ist da?«, rief eine Frauenstimme vom Ende des Flurs her. »Sarja Utrennjaja, mit wem sprichst du? Die Matratze hier, ich schaff’s irgendwie nicht, sie allein zu wenden.«

Shadow ging den Flur hinunter und sagte: »Guten Morgen, Sarja Wetschernjaja. Kann ich behilflich sein?«, worauf die Frau in dem Zimmer vor Überraschung aufschrie und die Ecke der Matratze, die sie gerade in der Hand hielt, fallen ließ.

Das Schlafzimmer hatte den Frühjahrsputz wirklich nötig: Dicke Schichten von Staub bedeckten jede Fläche, ob Holz, ob Glas, und unzählige Teilchen schwebten und tanzten in den durchs offene Fenster einfallenden Sonnenstrahlen, aufgescheucht durch gelegentliche Zugluft und das träge Flattern der vergilbten Spitzenvorhänge.

Er konnte sich noch an das Zimmer erinnern. Es war dasjenige, das Wednesday in jener Nacht bekommen hatte. Bjelbogs Zimmer.

Sarja Wetschernjaja musterte ihn unsicher. »Die Matratze«, sagte sie. »Sie muss mal gewendet werden.«

»Kein Problem«, sagte Shadow. Er schnappte sich die Matratze, hob sie mühelos hoch und drehte sie um. Es handelte sich um ein altes Holzbett, weshalb die mit Federn gefüllte Matratze immerhin fast so viel wie ein ausgewachsener Mann wog. Der Staub flog auf und wirbelte umher, als sie wieder aufs Bett klatschte.

»Warum sind Sie hier?«, fragte Sarja Wetschernjaja ihn. Es klang nicht übermäßig freundlich.

»Ich bin hier«, sagte Shadow, »weil vor einiger Zeit, im Dezember, ein junger Mann mit einem alten Gott Dame gespielt und verloren hat.«

Das graue Haar der alten Frau lag in einem straffen Knoten fest auf dem Kopf. Sie schürzte die Lippen. »Kommen Sie morgen wieder«, sagte Sarja Wetschernjaja.

»Das geht nicht«, sagte er schlicht.

»Also meinetwegen, ist ja Ihre Beerdigung. Gut, jetzt setzen Sie sich erst mal hin. Sarja Utrennjaja bringt Ihnen Kaffee. Tschernibog wird bald zurück sein.«

Shadow ging durch den Flur zum Wohnzimmer. Es war genauso, wie er es in Erinnerung hatte, nur dass diesmal das Fenster offen stand. Die graue Katze lag auf der Armlehne des Sofas. Sie öffnete ein Auge, als Shadow hereinkam, schlief dann aber unbeeindruckt weiter.

Hier hatte das Damespiel mit Tschernibog stattgefunden: Hier hatte er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um den alten Mann dazu zu bewegen, sich Wednesdays letztem verhängnisvollem Trickbetrug anzuschließen. Frische Luft kam durchs offene Fenster geweht und blies den Mief weg.

Sarja Utrennjaja kam mit einem roten Holztablett herein. Eine kleine emaillierte Tasse mit dampfendem schwarzem Kaffee stand darauf, daneben eine Untertasse mit kleinen Schokoraspel-Keksen. Sie stellte alles vor ihm auf dem Tisch ab.

»Ich bin Sarja Polunotschnaja begegnet«, sagte er. »Sie ist zu mir gekommen, als ich unter der Welt war, und hat mir den Mond gegeben, um meinen Weg zu beleuchten. Sie hat im Gegenzug auch etwas von mir genommen. Ich weiß aber nicht mehr, was.«

»Sie mag Sie«, sagte Sarja Utrennjaja. »Sie träumt immer so viel. Und sie bewacht uns alle. Sie ist so mutig.«

»Wo ist Tschernibog?«

»Der findet, wie er sagt, den Frühjahrsputz ungemütlich. Er geht nach draußen, kauft sich Zeitungen und sitzt im Park. Kauft sich Zigaretten. Vielleicht kommt er heute gar nicht wieder. Sie müssen nicht warten. Gehen Sie doch einfach. Kommen Sie morgen wieder.«

»Ich werde warten«, sagte Shadow. Es war nicht irgendwelche Magie, die ihn dazu zwang, so viel war ihm klar. Es lag allein an ihm. Es war eine letzte Sache, die zu geschehen hatte, und falls es die letzte Sache war, die geschah, nun, dann hatte er sich immerhin aus eigenem Antrieb hinbegeben. Danach würde es keine Verpflichtungen mehr geben, keine Geheimnisse, keine Geister.

Er schlürfte den heißen Kaffee, der so schwarz und süß war, wie er ihn vom ersten Mal her kannte.

Bald darauf hörte er eine tiefe männliche Stimme im Flur und er setzte sich aufrecht. Mit Genugtuung stellte er fest, dass ihm die Hand nicht zitterte. Die Tür ging auf.

»Shadow?«

»Hi«, sagte Shadow. Er blieb sitzen.

Tschernibog trat ins Zimmer. Er hatte eine zusammengefaltete Chicago Sun-Times bei sich, die er auf den Couchtisch legte. Er starrte Shadow zuerst nur an und streckte dann zaghaft die Rechte aus. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.

»Ich bin gekommen«, sagte Shadow. »War unsere Abmachung. Du hast deinen Teil erfüllt. Jetzt kommt mein Teil.«

Tschernibog nickte. Er legte die Stirn in Falten. Das Sonnenlicht glitzerte auf seinem grauen Haar und dem Schnauzbart, sodass beides fast golden schimmerte. »Ist …« Die Furchen auf seiner Stirn wurden noch tiefer. »Ist nicht …« Er brach ab. »Vielleicht solltest du wieder gehen. Ist kein guter Zeitpunkt.«

»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst«, sagte Shadow. »Ich bin bereit.«

Tschernibog seufzte. »Du bist ein sehr dummer Junge. Weißt du das?«

»Glaub schon.«

»Du bist ein dummer Junge. Aber auf dem Berggipfel hast du etwas sehr Gutes getan.«

»Ich hab getan, was ich tun musste.«

»Gut möglich.«

Tschernibog ging zur alten Holzanrichte hinüber, bückte sich und zog darunter einen Diplomatenkoffer hervor. Er drehte an den Verschlüssen, die daraufhin mit sattem Klicken aufsprangen. Er öffnete den Koffer. Er nahm einen Hammer heraus und wog ihn prüfend. Es schien sich um die kleinere Version eines Vorschlaghammers zu handeln. Der Holzgriff war fleckig.

Dann erhob er sich. »Ich schulde dir viel«, sagte er. »Mehr, als du ahnst. Deinetwegen verändern sich die Dinge. Es herrscht Frühling. Der wahre Frühling.«

»Ich weiß, was ich getan habe«, sagte Shadow. »Ich hatte kaum eine andere Wahl.«

Tschernibog nickte. In seinen Augen lag etwas, das Shadow bei ihm noch nie gesehen zu haben glaubte. »Hab ich dir je von meinem Bruder erzählt?«

»Bjelbog?« Shadow trat in die Mitte des aschefleckigen Teppichs. Er ging auf die Knie. »Du hast erzählt, dass du ihn lange nicht gesehen hast.«

»Stimmt«, sagte der alte Mann und hob dabei den Hammer. »Es ist ein langer Winter gewesen, mein Junge. Ein sehr langer Winter. Aber jetzt geht er zu Ende.« Bedächtig schüttelte er den Kopf, als würde eine Erinnerung in ihm wach. »Mach die Augen zu.«

Shadow schloss die Augen, hob den Kopf und wartete.

Der Kopf des Vorschlaghammers war kalt, eiskalt, berührte seine Stirn aber nur so sanft wie ein Kuss.

»Rumms! Da«, sagte Tschernibog. »Das war’s.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das Shadow völlig unvertraut war, ein lockeres, entspanntes Lächeln, wie Sonnenschein an einem Sommertag. Der Alte ging wieder zum Koffer, legte den Hammer hinein, schloss den Koffer und schob ihn unter die Anrichte.

»Tschernibog?«, sagte Shadow. Und dann: »Bist du überhaupt Tschernibog?«

»Ja. Heute noch«, sagte der Alte. »Ab morgen wird’s dann nur noch Bjelbog sein. Aber für heute gilt noch Tschernibog.«

»Warum dann das Ganze eben? Warum hast du mich nicht getötet, solange du konntest?«

Der alte Mann zog eine filterlose Zigarette aus einer Packung, die er in der Tasche stecken hatte. Er nahm eine große Streichholzschachtel vom Kaminsims und gab sich Feuer. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein. »Weil«, sagte er nach einer ganzen Weile, »es zwar auf der einen Seite Blut gibt. Auf der anderen aber auch Dankbarkeit. Es war wahrhaftig ein langer, langer Winter.«

Shadow richtete sich auf und klopfte sich die Staubflocken von den Knien.

»Danke«, sagte er.

»Bitte«, sagte der Alte. »Wenn du mal wieder Dame spielen willst, weißt du ja, wo du mich findest. Das nächste Mal werde aber ich die weißen Steine nehmen.«

»Danke. Mach ich vielleicht irgendwann«, sagte Shadow. »Aber erst mal nicht.« Er sah in die blitzenden Augen des Alten und fragte sich, ob die schon immer derart kornblumenblau gewesen waren. Sie schüttelten sich die Hand, aber keiner von beiden sagte Auf Wiedersehen.

Er drückte Sarja Utrennjaja zum Abschied einen Kuss auf die Wange, Sarja Wetschernjaja bekam einen Handkuss, und dann verließ Shadow diesen Ort, indem er immer zwei Treppenstufen auf einmal nahm.

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