14

People are in the dark, they don’t know what to do

I had a little lantern, oh but it got blown out too.

I’ m reaching out my hand. I hope you are too.

I just want to be in the dark with you.

– Greg Brown, ›In the Dark with You‹


Sie wechselten das Auto um fünf Uhr früh auf dem Dauerparkplatz des Flughafens von Minneapolis. Sie fuhren hinauf zur obersten Ebene des Parkhauses, die unter freiem Himmel lag.

Shadow nahm die orange Uniform, die Handschellen und die Fußfesseln, steckte sie in die braune Papiertüte, die vorübergehend seine Besitztümer enthalten hatte, faltete das Ganze zusammen und warf es in einen Abfalleimer.

Nachdem sie zehn Minuten gewartet hatten, trat ein Mann mit breitem, gewölbtem Brustkorb aus einer der Flughafentüren und kam zu ihnen herüber. Im Gehen aß er eine Portion Pommes von Burger King. Shadow erkannte ihn sofort: Er hatte hinten auf dem Rücksitz gesessen, als sie vom House on the Rock weggefahren waren, und er hatte so tief gesummt, dass der ganze Wagen vibrierte. Er trug einen mit weißen Strähnen durchzogenen Winterbart, den er zuvor nicht gehabt hatte. Er wirkte damit älter.

Der Mann wischte sich die fettigen Finger an seiner Jeans ab und streckte Shadow eine riesige Hand entgegen. »Ich habe von Allvaters Tod gehört«, sagte er. »Die werden dafür bezahlen, teuer bezahlen.«

»Wednesday war Ihr Vater?«

»Er war der Allvater«, sagte der Mann. Seine tiefe Stimme blieb im Hals stecken. »Sagen sie denen, allen, dass mein Volk da sein wird, wenn wir gebraucht werden.«

Tschernibog klaubte sich einen Tabakkrümel aus den Zähnen und spuckte ihn auf den gefrorenen Schneematsch. »Und wie viele macht das insgesamt? Zehn? Zwanzig?«

Dem Mann mit der breiten Brust sträubten sich die Barthaare. »Und sind nicht zehn von uns so viel wert wie hundert von denen? Wer würde es in der Schlacht mit auch nur einem aus meinem Volke aufnehmen können? Außerdem gibt es noch mehr von uns, am Rande der Städte. Ein paar sind in den Bergen. Einige in den Catskills, ein paar in den Freizeitorten in Florida. Sie halten ihre Äxte scharf. Sie kommen, wenn ich sie rufe.«

»Tu das, Elvis«, sagte Mr. Nancy. Shadow meinte jedenfalls, dass er Elvis gesagt hätte. Nancy hatte die Polizeiuniform inzwischen gegen eine dicke braune Strickjacke, Kordhosen und braune Halbschuhe getauscht. »Ruf sie herbei. Der alte Scheißer hätte es so gewollt.«

»Sie haben ihn hintergangen. Sie haben ihn umgebracht. Ich habe Wednesday zuerst ausgelacht, aber ich hatte Unrecht. Keiner von uns ist mehr sicher«, sagte der Mann, dessen Name wie Elvis klang. »Aber ihr könnt auf uns bauen.« Er klopfte Shadow sanft auf den Rücken, worauf dieser beinahe längelang hingeschlagen wäre. Es war, als würde einen eine Abrissbirne streicheln.

Tschernibog hatte sich auf dem Parkplatz umgesehen. Jetzt sagte er: »Du wirst die Frage verzeihen, aber unser neues Fahrzeug ist welches?«

Der Mann mit dem mächtigen Brustkorb streckte den Zeigefinger aus. »Da steht es«, sagte er.

Tschernibog schnaubte. »Das Ding da?«

Es war ein VW-Bus aus den Siebzigern. Auf dem Heckfenster prangte das Abziehbild eines Regenbogens.

»Das ist ein ausgezeichnetes Auto. Und es ist das Letzte, worin sie euch vermuten würden.«

Tschernibog ging um das Fahrzeug herum. Dann begann er zu husten, ein Lungen zerreißender Fünf-Uhr-morgens-Altmännerraucherhusten. Er zog den Schleim hoch und spuckte aus, legte die Hand an die Brust und massierte den Schmerz weg. »Ja. Der allerletzte Wagen, auf den sie kommen würden. Und was ist, wenn die Polizei uns anhält, weil sie die Hippies nach Dope filzen wollen? Hä? Wir sind nicht hier, um fröhlich mit dem Magic Bus rumzukutschieren. Wir wollen uns unauffällig unter die Leute mischen.«

Der Bärtige schloss den Bus auf. »Dann nehmen sie euch eben kurz unter die Lupe, sehen aber, dass ihr keine Hippies seid, und winken euch zum Abschied hinterher. Es ist die perfekte Tarnung. Außerdem konnte ich so kurzfristig nichts anderes auftreiben.«

Tschernibog schien gewillt, weiterzudiskutieren, aber Mr. Nancy griff vermittelnd ein. »Elvis, du hast uns nicht im Stich gelassen. Wir sind dir sehr dankbar. Was nun das andere Auto betrifft, das muss zurück nach Chicago.«

»Wir lassen es in Bloomington«, sagte der Bärtige. »Die Wölfe werden sich darum kümmern. Da braucht ihr keinen Gedanken dran zu verschwenden.« Er wandte sich wieder an Shadow. »Nochmals herzliches Beileid, ich teile Ihren Schmerz. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Und wenn die Wache an Sie fällt, seien Sie meiner Hochachtung versichert und meines Mitgefühls.« Er drückte Shadows Hand in seiner Baseballhandschuhfaust. Es tat weh. »Sagen Sie seiner Leiche Bescheid, wenn Sie sie sehen. Sagen Sie ihm, dass Alwis, Sohn des Windalf, ihm die Treue hält.«

Der VW-Bus roch nach Patschuli, alten Räucherstäbchen und Drehtabak. Ein verblichener rosa Teppich war auf dem Fußboden und an den Seitenwänden festgeklebt.

»Wer war denn das?«, sagte Shadow, als er mit knirschenden Gängen die Rampe hinunter aus dem Parkhaus fuhr.

»Wie er selber sagte: Alwis, Sohn des Windalf. Er ist der König der Zwerge. Gehört zum größten und mächtigsten unter den Zwergenvölkern.«

»Aber der war doch kein Zwerg«, stellte Shadow fest. »Der war doch, na, wie groß? Eins fünfundsiebzig, eins achtzig?«

»Was ihn zum Riesen unter den Zwergen macht«, warf Tschernibog von hinten ein. »Größter Zwerg in Amerika.«

»Was sollte das mit der Wache?«, fragte Shadow.

Die beiden alten Männer verharrten in Schweigen. Shadow warf Mr. Nancy einen Blick zu, aber der starrte nur aus dem Fenster.

»Was ist? Er hat irgendwas von einer Wache gesagt. Sie haben es doch auch gehört.«

Tschernibog ließ sich von der Rückbank vernehmen. »Sie werden es nicht tun müssen«, sagte er.

»Was tun?«

»Die Wache. Er redet zu viel. Diese Zwerge sabbeln den ganzen Tag. Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste. Vergessen Sie’s einfach.«


Nach Süden zu fahren war so, als würde man die Zeit vordrehen. Der Schnee wurde spärlicher und war bereits am nächsten Morgen, als sie Kentucky erreichten, ganz verschwunden. Der Winter in Kentucky war schon vorüber, und der Frühling streckte die Fühler aus. Shadow überlegte, ob es wohl irgendeine Gleichung gab, die den Vorgang erklären konnte – etwa, dass man alle fünfzig Meilen, die man nach Süden fuhr, je einen Tag in die Zukunft vorstieß.

Gern hätte er seinen Einfall zur Diskussion gestellt, aber Mr. Nancy war unlängst auf dem Beifahrersitz eingeschlafen, während Tschernibog unermüdlich von der Rückbank her schnarchte.

Die Zeit schien in diesem Moment ein dehnbares Konstrukt zu sein, eine Illusion, von ihm selbst heraufbeschworen, während er so dahinfuhr. Plötzlich war er sich der Vögel und anderer Tiere schmerzlich bewusst: Er sah die Krähen am Straßenrand oder auch auf der Straße, mitten im Weg, wo sie an überfahrenen Tieren pickten; über den Himmel zogen Vogelschwärme in Formationen, die fast etwas auszusagen schienen; Katzen starrten ihnen aus Vorgärten und von Zaunpfosten aus entgegen.

Tschernibog erwachte schnaubend und setzte sich langsam auf. »Ich hab einen seltsamen Traum gehabt«, sagte er. »Ich hab geträumt, dass ich in Wirklichkeit Bjelbog bin. Seit jeher glaubt die Welt, es gäbe zwei von uns, den Lichtgott und den Gott des Dunkels, aber jetzt, wo wir beide alt sind, habe ich festgestellt, dass es die ganze Zeit immer nur ich war, ich, der ihnen Geschenke gemacht, und ich, der die Geschenke wieder weggenommen hat.« Er brach den Filter von einer Lucky Strike, steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an.

Shadow kurbelte das Fenster hinunter.

»Haben Sie denn keine Angst vor Lungenkrebs?«, fragte er.

»Ich bin der Krebs«, sagte Tschernibog. »Und vor mir selbst habe ich keine Angst.«

Nancy mischte sich ein. »Leute wie wir kriegen keinen Krebs. Wir kriegen auch keine Arteriosklerose, keine Parkinson’sche und keine Syphilis. Wir sind ziemlich schwer totzukriegen.«

»Wednesday hat man getötet«, sagte Shadow.

Er fuhr von der Straße, um zu tanken, und stellte den Bus anschließend neben einem Restaurant ab, wo sie ein frühes Frühstück einnehmen wollten. Als sie eintraten, begann das Münztelefon neben dem Eingang zu läuten.

Ihre Bestellung wurde von einer älteren, besorgt lächelnden Frau aufgenommen, die zuvor an einem Tisch gesessen und das Taschenbuch Stimme des Herzens von Jenny Kerton gelesen hatte. Die Frau seufzte, drehte sich dann um und ging zum Telefon, nahm ab und sagte: »Ja.« Dann schaute sie in den Saal zurück, sagte: »Jau. Scheint, als wären sie’s. Bleiben Sie einen Moment dran«, und kam auf Mr. Nancy zu.

»Es ist für Sie«, sagte sie.

»Okay«, sagte Mr. Nancy. »Ach, und Ma’am, achten Sie doch bitte drauf, dass die Pommes auch richtig knusprig sind. Angebrannt, praktisch.« Er ging zum Münztelefon. »Am Apparat.«

»Und was veranlasst Sie zu glauben, dass ich dumm genug wäre, Ihnen zu trauen?«, sagte er.

»Das finde ich«, sagte er. »Ich weiß, wo es ist.«

»Ja«, sagte er. »Natürlich wollen wir ihn. Das wissen Sie doch. Und wir wissen, dass Sie ihn loswerden möchten. Also erzählen Sie keinen Scheiß.«

Er legte auf und kehrte zum Tisch zurück.

»Wer war das?«, fragte Shadow.

»Hat er nicht gesagt.«

»Und was wollte er?«

»Sie bieten uns einen Waffenstillstand an, um den Leichnam zu übergeben.«

»Die lügen«, sagte Tschernibog. »Die wollen uns nur einwickeln, und dann bringen sie uns um. Genau wie bei Wednesday. – So hab ich’s früher auch immer gemacht«, fügte er mit düsterem Stolz noch hinzu.

»Es ist auf neutralem Boden«, sagte Nancy. »Wirklich neutralem.«

Tschernibog kicherte. Es klang, als klapperte eine Metallkugel in einem ausgetrockneten Schädel. »Das hab ich auch immer gesagt. Kommt an einen neutralen Platz, hab ich gesagt, und in der Nacht haben wir dann losgeschlagen und sie alle umgebracht. Das waren noch Zeiten.«

Mr. Nancy zuckte die Achseln. Er biss geräuschvoll in seine dunkelbraunen Pommes frites und grinste dann anerkennend. »Das sind gute Fritten«, sagte er.

»Wir dürfen diesen Leuten nicht trauen«, sagte Shadow.

»Also, ich bin älter als Sie und schlauer als Sie, und ich sehe besser aus als Sie«, sagte Mr. Nancy, indem er auf den Boden der umgedrehten Ketschupflasche einhämmerte, um das Ketschup über die verbrannten Fritten zu häufen. »Ich kann an einem Nachmittag mehr Frauen flachlegen als Sie in einem Jahr. Ich kann tanzen wie ein Engel, kämpfen wie ein in die Ecke getriebener Bär, besser Pläne schmieden als ein Fuchs, singen wie eine Nachtigall …«

»Und mit all dem wollen Sie auf was hinaus?«

Nancys braune Augen senkten sich in Shadows. »Und die andere Seite muss die Leiche genauso dringend loswerden, wie wir sie haben wollen.«

»Es gibt keinen solchen neutralen Ort«, sagte Tschernibog.

»Einen gibt es«, sagte Mr. Nancy. »Es ist die Mitte.«


Den genauen Mittelpunkt einer Sache zu bestimmen könne sich schon unter normalen Umständen als problematisch erweisen. Bei lebenden Dingen – Menschen beispielsweise, oder auch Kontinenten – komme das spezielle Problem der Ungreifbarkeit hinzu: Was ist der Mittelpunkt eines Menschen? Wo liegt die Mitte eines Traums? Und im Fall der USA stellt sich die Frage: Soll man Alaska dazurechnen, wenn man den Mittelpunkt zu finden versucht? Oder Hawaii? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei einmal ein riesiges Modell der USA hergestellt worden, ein Pappmodell der miteinander verbundenen achtundvierzig Staaten, und um den Mittelpunkt zu bestimmen, ließ man dieses Modell auf einem Stift balancieren, bis man exakt den Punkt gefunden hatte, an dem es das Gleichgewicht hielt.

In größtmöglicher Annäherung – bei der Übertragung vom Modell auf die Wirklichkeit – ergab sich also, dass der exakte Mittelpunkt des Festlands der Vereinigten Staaten einige Meilen von Lebanon, Kansas, entfernt auf Johnny Gribs Schweinefarm lag. In den Dreißigerjahren hätten die Einwohner von Lebanon gern ein Denkmal in der Mitte der Farm aufgestellt, aber Johnny Grib meinte, er wolle nicht, dass Millionen von Touristen bei ihm ankämen, die überall herumtrampelten und die Schweine erschreckten, daher errichtete man das Monument für den geografischen Mittelpunkt der Vereinigten Staaten zwei Meilen nördlich der Stadt. Ein Park wurde angelegt, darin ein Denkmal aus Stein aufgestellt und dieses mit einer Messingtafel versehen. Der Feldweg, der von der Stadt herführte, bekam eine Asphaltdecke, und um für den sicher zu erwartenden Ansturm der Touristen gerüstet zu sein, baute man sogar neben das Denkmal ein Motel. Und dann wartete man.

Die Touristen kamen nicht. Kein Mensch kam.

Heute handele es sich um einen traurigen kleinen Park mit einer Kapelle auf Rädern, in die nicht einmal eine kleine Trauergesellschaft passen würde, und einem Motel, dessen Fenster wie tote Augen anmuteten.

»Und aus diesem Grund«, fasste Mr. Nancy zusammen, während sie nach Humansville, Missouri (Einw. 1084), hineinfuhren, »besteht der exakte Mittelpunkt von Amerika aus einem winzigen heruntergekommenen Park, einer leeren Kirche, einem Steinhaufen und einem verfallenen Motel.«

»Schweinefarm«, sagte Tschernibog. »Du hast gerade gesagt, der wirkliche Mittelpunkt von Amerika ist eine Schweinefarm.«

»Es geht nicht darum, was in Wirklichkeit ist«, sagte Mr. Nancy. »Es geht darum, was die Leute glauben, dass es der Fall ist. Es ist doch sowieso alles imaginär. Darum ist es von Bedeutung. Kämpfen tun die Leute nur um imaginäre Dinge.«

»Meine Art von Leuten?«, fragte Shadow. »Oder Ihre Art?«

Nancy schwieg. Tschernibog gab ein Geräusch von sich, das man als Kichern, genauso gut aber auch als Schnauben interpretieren konnte.

Shadow versuchte es sich im hinteren Teil des Busses gemütlich zu machen. Er war nur zu wenig Schlaf gekommen. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Schlimmer noch als das Gefühl, das er im Gefängnis gehabt hatte; schlimmer auch als das Gefühl, das er gehabt hatte, als Laura zu ihm gekommen war, um ihm von dem Bankraub zu erzählen. Das hier war wirklich übel. Er hatte ein Prickeln im Nacken, ihm war schlecht, und er wurde in mehreren Wellen von Angstgefühlen heimgesucht.

In Humansville hielt Mr. Nancy vor einem Supermarkt und ging hinein. Shadow folgte ihm, während Tschernibog auf dem Parkplatz blieb und eine rauchte.

Ein junger blonder Mann, fast noch ein Junge, war dabei, die Regale mit den Frühstücksflocken aufzufüllen.

»He«, sagte Mr. Nancy.

»He«, sagte der junge Mann. »Es ist wahr, oder? Sie haben ihn umgebracht?«

»Ja«, sagte Mr. Nancy. »Sie haben ihn umgebracht.«

Der junge Mann knallte mehrere Packungen Cornflakes ins Regal. »Die glauben, sie könnten uns einfach wie einen Haufen Kakerlaken zerquetschen«, sagte er. An seinem Handgelenk hing ein glanzloses Silberarmband. »Aber so leicht lassen wir uns nicht zerquetschen, oder?«

»Nein«, sagte Mr. Nancy.

»Ich werde da sein, Sir«, sagte der junge Mann, und seine blassblauen Augen blitzten.

»Ich habe nichts anderes erwartet, Gwydion«, sagte Mr. Nancy.

Mr. Nancy kaufte mehrere große Flaschen Cola, einen Sechserpack Toilettenpapier, eine Schachtel übel aussehende schwarze Zigarillos, ein Büschel Bananen und eine Packung Doublemint-Kaugummi. »Er ist ein guter Junge. Ist im siebten Jahrhundert rübergekommen. Aus Wales.«

Mit dem Bus mäanderten sie erst nach Westen weiter, dann ging es wieder in Richtung Norden. Der Frühling sank in die Sackgasse des Winters zurück. Kansas zeigte ein freudloses Grau aus einsamen Wolken, leeren Fenstern und verlorenen Herzen. Shadow hatte einiges Geschick im Aufspüren von geeigneten Radiosendern erworben, wobei immer zwischen den gegensätzlichen Interessen der Mitreisenden zu vermitteln war: Während Mr. Nancy Wortbeiträge und Tanzmusik schätzte, bevorzugte Tschernibog klassische Musik, je düsterer, desto besser, und zwischendurch durfte es auch gern einer der extremeren Evangelikalensender sein. Shadow selbst hatte eine Vorliebe für Oldies.

Am späteren Nachmittag hielten sie auf Tschernibogs Bitte am Stadtrand von Cherryvale, Kansas (Einw. 2464). Tschernibog führte sie auf eine Wiese vor der Stadt. Es waren immer noch Schneereste auf den Bäumen zu sehen, und das Gras hatte die Farbe von Schmutz.

»Wartet hier«, sagte Tschernibog.

Er ging allein zur Mitte der Wiese. Dort blieb er, von den späten Februarwinden umweht, eine ganze Weile stehen. Zuerst ließ er nur den Kopf hängen, dann begann er zu gestikulieren.

»Es sieht aus, als würde er mit jemandem reden«, sagte Shadow.

»Geister«, sagte Mr. Nancy. »Sie haben ihm hier gehuldigt, vor über hundert Jahren. Sie haben ihm Blutopfer dargebracht, mit dem Hammer verspritzte Trinkopfer. Nach einiger Zeit haben die Bewohner der Stadt dann herausgefunden, warum so viele von den Fremden, die durch die Stadt kamen, nie zurückkehrten. Das hier ist die Stelle, wo viele der Leichen versteckt wurden.«

Tschernibog gesellte sich wieder zu ihnen. Er hatte jetzt schwarze Strähnen im grauen Haar, sogar der Schnauzbart schien dunkler geworden zu sein. Er lächelte und entblößte dabei seinen Eisenzahn. »Jetzt fühl ich mich gut. Ah. Einige Dinge erhalten sich, und am längsten erhält sich Blut.«

Sie gingen über die Wiese zurück zum VW-Bus. Tschernibog zündete sich eine Zigarette an, hustete diesmal aber nicht mehr. »Sie haben es mit dem Hammer gemacht«, sagte er. »Wotan, der hat immer von Galgen und Speeren geredet, aber für mich gibt es nur eins …« Er streckte seinen nikotingelben Zeigefinger aus und klopfte Shadow damit kraftvoll gegen die Stirn, genau in die Mitte.

»Bitte lassen Sie das«, sagte Shadow höflich.

»Bitte lassen Sie das«, äffte Tschernibog ihn nach. »Eines Tages werde ich meinen Hammer nehmen und noch ganz anders mit Ihnen umspringen, mein Freund, schon vergessen?«

»Keineswegs«, sagte Shadow. »Aber wenn Sie mir noch mal an den Kopf klopfen, breche ich Ihnen die Hand.«

Tschernibog schnaubte. Dann sagte er: »Dankbar sollten sie sein, die Leute hier. Es hat sich so viel Kraft angesammelt. Noch dreißig Jahre nachdem sie mein Volk gezwungen hatten unterzutauchen, hat dieses Land, genau dieses Stückchen Land, uns den größten Kinostar aller Zeiten geschenkt. Sie war die Größte, die es je gab.«

»Judy Garland?«, fragte Shadow.

Tschernibog schüttelte kurz und knapp den Kopf.

»Er meint Louise Brooks«, sagte Mr. Nancy.

Shadow entschied sich dafür, nicht nachzufragen, wer Louise Brooks war. Stattdessen sagte er: »Jetzt noch mal was anderes, als Wednesday sich mit denen getroffen hat, geschah das doch unter Zusicherung von freiem Geleit.«

»Ja.«

»Und jetzt wollen wir uns Wednesdays Leiche von ihnen holen, wieder im Rahmen eines Waffenstillstands.«

»Ja.«

»Und wir wissen, dass sie mich tot sehen oder zumindest aus dem Weg haben wollen.«

»Die wollen uns alle tot sehen«, sagte Nancy.

»Also, was ich nicht verstehe: Warum sollen wir davon ausgehen, dass sie sich diesmal fair verhalten, obwohl sie es bei Wednesday nicht getan haben?«

»Das«, sagte Tschernibog, »ist der Grund, warum wir uns am Mittelpunkt treffen. Der ist …« Er runzelte die Stirn. »Wie heißt das Wort? Das Gegenteil von heilig.«

»Profan«, sagte Shadow, ohne nachzudenken.

»Nein«, sagte Tschernibog. »Ich meine, wenn ein Ort weniger heilig ist als alle anderen. Von negativer Heiligkeit sozusagen. Orte, wo man keine Tempel bauen kann. Orte, wo kein Mensch hinkommt, oder wenn doch, so schnell wie möglich wieder verschwindet. Orte, an denen Götter sich nur aufhalten, wenn sie dazu gezwungen sind.«

»Keine Ahnung«, sagte Shadow. »Ich glaube nicht, dass es dafür ein Wort gibt.«

»Ganz Amerika hat ein bisschen was davon«, sagte Tschernibog. »Deshalb sind wir hier auch nicht willkommen. Aber der Mittelpunkt, der Mittelpunkt ist am schlimmsten. Wie ein Minenfeld. Wir bewegen uns dort alle viel zu vorsichtig, als dass wir es wagen würden, den Waffenstillstand zu verletzen.«

Sie waren beim Bus angekommen. Tschernibog tätschelte Shadow am Oberarm. »Keine Angst«, versicherte er ihm düster. »Niemand wird Sie töten. Niemand außer mir.«


Shadow fand den Mittelpunkt Amerikas am Abend desselben Tages, noch bevor es ganz dunkel wurde. Der Punkt lag an einem sanften Hang nordwestlich von Lebanon. Shadow fuhr um den kleinen Park herum, an der winzigen Kapelle und dem steinernen Monument vorbei, aber dann, als er das einstöckige Fünfzigerjahre-Motel am Rande des Parks erblickte, wurde ihm auf einmal klamm ums Herz. Ein großer, schwarz lackierter Militärgeländewagen stand davor – er sah wie ein Jeep im Zerrspiegel aus, so gedrungen, sinnlos und hässlich wie ein Panzerwagen. In dem Gebäude brannten keine Lichter.

Sie parkten neben dem Motel, und im selben Moment trat ein Mann in Chauffeursuniform und – mütze aus dem Motel und wurde von den Scheinwerfern des Busses erfasst. Er legte höflich grüßend die Hand an die Mütze, stieg in den Geländewagen und fuhr davon.

»Großes Auto, kleiner Schwanz«, sagte Mr. Nancy.

»Glauben Sie, dass es hier überhaupt Betten gibt?«, fragte Shadow. »Ich hab schon seit Tagen nicht mehr in einem Bett geschlafen. Aber die Bude hier sieht mir so aus, als würde sie nur darauf warten, abgerissen zu werden.«

»Sie gehört Jägern aus Texas«, sagte Mr. Nancy. »Die kommen einmal im Jahr hier rauf. Fragen Sie mich nicht, was die hier jagen. Jedenfalls reicht das, damit der Ort nicht gänzlich verdammt und zerstört wird.«

Sie stiegen aus dem Bus. Vor dem Motel wurden sie von einer Frau erwartet, die Shadow nicht kannte. Sie war perfekt geschminkt, perfekt frisiert. Sie erinnerte ihn an all die Nachrichtensprecherinnen aus dem Frühstücksfernsehen, die immer in einem Studio herumsaßen, das vergeblich den Eindruck eines Wohnzimmers zu vermitteln versucht.

»Reizend, Sie zu sehen«, sagte sie. »Also, Sie müssen Tschernibog sein. Ich habe viel von Ihnen gehört. Und Sie sind Anansi, immer den Schalk im Nacken, wie? Und Sie, Sie müssen Shadow sein. Sie haben uns ja wirklich eine fröhliche Jagd beschert, nicht wahr?« Sie ergriff seine Hand, drückte sie fest und sah ihm dabei in die Augen. »Ich bin Media. Schön, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe, wir können das, was heute Abend zu erledigen ist, so angenehm wie möglich hinter uns bringen.«

Die Eingangstür öffnete sich. »Irgendwie kann ich nicht glauben, Toto«, sagte der dicke Junge, den Shadow zuletzt in einer Stretchlimo gesehen hatte, »dass wir noch in Kansas sind.«

»Wir sind aber in Kansas«, sagte Mr. Nancy. »Obwohl wir es heute fast ganz durchquert haben müssen. Verdammt noch mal, ist das eine flache Gegend.«

»Der Schuppen hier hat kein Licht, keinen Strom und kein heißes Wasser«, sagte der dicke Junge. »Und nichts für ungut, aber ihr Leute brauchtet dringend heißes Wasser. Ihr riecht, als wärt ihr seit einer Woche nicht aus dem Bus da herausgekommen.«

»Ich glaube, es besteht überhaupt keine Veranlassung für so was«, sagte die Frau glattzüngig. »Hier sind wir alle Freunde. Kommt doch rein. Wir zeigen Ihnen Ihre Zimmer. Wir haben die ersten vier Zimmer genommen. Ihr verstorbener Freund liegt im fünften. Alle Zimmer hinter dem fünften sind leer – Sie haben die freie Auswahl. Ich fürchte, wir sind hier nicht im Vier Jahreszeiten, aber wo ist man das schon, außer vielleicht im Vier Jahreszeiten?«

Sie hielt ihnen die Tür zum Empfang auf. Es roch nach Schimmel, nach Feuchtigkeit, Staub und Verfall.

Ein Mann saß fast ganz im Dunkeln im Empfangsraum. »Seid ihr hungrig, Leute?«

»Ich kann immer was verdrücken«, sagte Mr. Nancy.

»Fahrer ist los, eine große Tüte Hamburger zu besorgen«, sagte der Mann. »Wird bald zurück sein.« Er hob den Kopf. Es war eigentlich zu dunkel, um Gesichter erkennen zu können, aber er sagte: »Eh, Langer. Sie sind Shadow, wie? Das Arschloch, das Woody und Stone umgebracht hat.«

»Nein«, sagte Shadow. »Das war jemand anders. Aber ich weiß, wer Sie sind.« Immerhin hatte er sich schon mal im Kopf des Mannes befunden. »Sie sind Town. Haben Sie inzwischen schon mit Woods Frau geschlafen?«

Mr. Town fiel vom Stuhl. In einem Kinofilm hätte das komisch gewirkt, im richtigen Leben sah es einfach nur ungeschickt aus. Er war schnell wieder aufgestanden und kam auf Shadow zu. Shadow sah ihn von oben an und sagte: »Fangen Sie nichts an, was Sie nicht auch zu Ende bringen wollen.«

Mr. Nancy legte Shadow eine Hand auf den Oberarm. »Waffenpause, denken Sie dran«, sagte er. »Wir sind am Mittelpunkt.«

Mr. Town wandte sich ab, beugte sich über den Empfangstresen und griff nach drei Schlüsseln. »Sie sind unten am Ende des Flurs untergebracht«, sagte er. »Hier.«

Er übergab die Schlüssel an Mr. Nancy und verschwand dann im Schatten des Flurs. Sie hörten, wie eine Zimmertür erst geöffnet und dann wieder zugeknallt wurde.

Mr. Nancy reichte einen der Schlüssel an Shadow weiter, einen anderen an Tschernibog. »Liegt im Bus vielleicht eine Taschenlampe?«, fragte Shadow.

»Nein«, sagte Mr. Nancy. »Aber es ist nur Dunkelheit. Vor Dunkelheit müssen Sie sich nicht fürchten.«

»Tu ich auch nicht«, sagte Shadow. »Ich fürchte mich nur vor den Leuten in der Dunkelheit.«

»Dunkelheit ist gut«, sagte Tschernibog. Er schien keine Schwierigkeiten zu haben, sich zurechtzufinden, sondern führte sie schnurstracks den finsteren Gang entlang und fand die Schlüssellöcher, ohne lange herumzufummeln. »Ich bin in Zimmer Nummer zehn«, teilte er ihnen mit. Und dann sagte er: »Media. Ich glaube, von der habe ich schon mal gehört. Ist das nicht die Frau, die ihre Kinder umgebracht hat?«

»Andere Frau«, sagte Mr. Nancy, »gleiches Kaliber.«

Mr. Nancy war in Zimmer Nummer acht, und Shadow richtete sich gegenüber den beiden in Zimmer Nummer neun ein. Es roch feucht, staubig und verlassen. Ein Bettgestell stand da, mit Matratze, aber ohne Laken. Die Abenddämmerung warf etwas Licht ins Zimmer. Shadow setzte sich auf die Matratze, streifte sich die Schuhe ab und streckte sich lang aus. In den letzten Tagen war er einfach zu viel Auto gefahren.

Möglicherweise schlief er.

Er war zu Fuß unterwegs.

Ein kalter Wind zerrte an seiner Kleidung. Die winzigen Schneeflocken waren kaum mehr als kristalliner Staub, der aufgeregt im Wind herumzuckte.

Bäume waren zu sehen, so lautlos wie nur zur Winterzeit. Zu beiden Seiten erhoben sich Berge. Es war ein später, winterlich dunkler Nachmittag: Himmel und Schnee hatten die gleiche tiefpurpurne Tönung angenommen. Irgendwo vor ihm – bei diesem Licht waren Entfernungen unmöglich abzuschätzen – flackerten die Flammen eines Feuers, gelb und orange.

Ein grauer Wolf stapfte vor ihm durch den Schnee.

Shadow blieb stehen. Auch der Wolf verharrte, drehte sich um und wartete. Eines seiner Augen schimmerte gelblichgrün. Shadow zuckte die Achseln und ging weiter auf die Flammen zu, während der Wolf wieder voranlief.

Das Feuer brannte in der Mitte eines Hains. Bestimmt einhundert Bäume standen da, Bäume, die in zwei Reihen gepflanzt waren. Irgendwelche Umrisse hingen von den Bäumen. Am Ende der beiden Reihen befand sich ein Gebäude, das ein wenig einem umgekippten Boot ähnelte. Es war aus Holz geschnitten und wimmelte von Holzgeschöpfen, Holzgesichtern – Drachen, Greife, Trolle und Keiler –, alle im flackernden Feuerschein tanzend.

Die Flammen schlugen so hoch, dass Shadow sich ihnen kaum nähern konnte. Der Wolf trottete um das knisternde Feuer herum.

Als er auf der anderen Seite wieder hervorkam, war es kein Wolf mehr, sondern ein Mann, der sich auf einen langen Stock stützte.

»Du bist in Uppsala, in Schweden«, sagte der Mann mit einer Shadow vertrauten rauen Stimme. »Vor ungefähr tausend Jahren.«

»Wednesday?«, sagte Shadow.

Der Mann redete weiter, als wäre Shadow gar nicht anwesend. »Zuerst jedes Jahr, später dann, als der Verfall einsetzte und sie lax wurden, alle neun Jahre, wurde hier geopfert. Ein Neuneropfer. Jeden Tag, neun Tage lang, wurden neun Tiere an die Bäume des Hains gehängt. Eines dieser Tiere war immer ein Mensch.«

Er entfernte sich mit großen Schritten vom Feuerschein auf die Bäume zu, und Shadow folgte ihm. Aus der Nähe erschlossen sich die von den Bäumen hängenden Umrisse: Beine und Augen und Zungen und Köpfe. Shadow schüttelte den Kopf: Es hatte etwas düster Trauriges, einen Bullen am Halse aufgeknüpft von einem Baum hängen zu sehen; gleichzeitig war es surreal genug, um einen beinahe zum Lachen zu reizen. Shadow ging an einem hängenden Hirsch vorbei, an einem Wolfshund, einem Braunbären und einem kastanienbraunen Pferd mit weißer Mähne, das wenig größer als ein Pony war. Der Hund lebte noch, alle paar Sekunden schlug er krampfartig aus und gab ein angestrengtes Winseln von sich.

Der Mann, dem er folgte, nahm seinen langen Stock, der in Wirklichkeit ein Speer war, wie Shadow jetzt, wo er sich bewegte, erkannte, und schlitzte den Bauch des Hundes mit einem einzigen, wie mit dem Messer geführten Schnitt auf. Dampfende Eingeweide fielen in den Schnee. »Diesen Tod widme ich Odin«, sagte der Mann feierlich.

»Es ist nur eine Geste«, sagte er, während er sich wieder Shadow zuwendete. »Aber Gesten sind von entscheidender Bedeutung. Der Tod eines Hundes symbolisiert den Tod aller Hunde. Neun Menschen gaben sie mir, aber sie standen für alle Menschen, für alles Blut, für alle Macht. Es war nur nicht genug. Eines Tages hörte das Blut auf zu fließen. Glaube ohne Blut trägt nicht weit. Das Blut muss fließen.«

»Ich habe Sie sterben sehen«, sagte Shadow.

»In der Gottesbranche«, sagte die Gestalt – und jetzt war Shadow sich sicher, dass es Wednesday war, niemand sonst hatte dieses Schnarren in der Stimme, diesen Heidenspaß an der zynischen Wendung – »ist es nicht der Tod, auf den es ankommt. Es ist die Gelegenheit zur Wiederauferstehung. Und wenn das Blut fließt …« Er deutete auf die Tiere, auf die Menschen, die an den Bäumen hingen.

Shadow mochte nicht entscheiden, ob die toten Menschen, an denen sie vorbeigingen, größeren oder geringeren Schrecken verbreiteten als die Tiere: Wenigstens hatten die Menschen gewusst, welches Schicksal sie erwartete. Ein deutlicher Alkoholgeruch ging von ihnen aus, was vermuten ließ, dass es ihnen erlaubt war, sich für ihren Weg zum Galgen zu betäuben, während die Tiere einfach überrumpelt, lebendig und in nackter Todesangst aufgeknüpft worden waren. Die Gesichter der Männer wirkten ziemlich jung: Keiner war älter als zwanzig.

»Wer bin ich?«, fragte Shadow.

»Du?«, sagte der Mann. »Du warst eine Gelegenheit. Du warst Bestandteil einer ehrwürdigen Tradition. Obwohl wir beide genügend Hingabe besitzen, um für diese Sache zu sterben, hm?«

»Wer bist du?«, fragte Shadow.

»Das Schwerste ist das schlichte Überleben«, sagte der Mann. Das Feuer – und mit sonderbarem Entsetzen bemerkte Shadow, dass es ein Knochenfeuer war: Brustkörbe und feueräugige Schädel starrten, staken und ragten aus den Flammen heraus, spuckten Farbspurenelemente in die Nacht, grüne, gelbe und blaue – flackerte und prasselte und entfaltete große Hitze. »Drei Tage am Baum, drei Tage in der Unterwelt, drei Tage, um den Weg zurück zu finden.«

Die zischenden Flammen strahlten zu hell für Shadows Augen. Er wandte den Blick ab und sah in die Dunkelheit unter den Bäumen.


Ein Klopfen; Mondschein fiel jetzt durchs Fenster. Shadow schreckte hoch. »Das Abendessen ist serviert«, sagte Media draußen vor der Tür.

Shadow zog sich die Schuhe wieder an, ging zur Tür und trat in den Flur hinaus. Jemand hatte wohl einige Kerzen aufgetrieben, weil der Empfang jetzt von einem trüben gelben Licht beleuchtet wurde. Der Fahrer des Militärgeländewagens kam mit einem Papptablett und einer Papiertüte herein. Er trug einen langen schwarzen Mantel und immer noch die Chauffeursschirmmütze.

»Tut mir Leid wegen der Verzögerung«, sagte er heiser. »Ich habe für alle das Gleiche geholt: zwei Burger, große Portion Pommes, große Cola und eine Apfeltasche. Ich esse meine Sachen im Wagen.« Er stellte das Essen ab und ging wieder nach draußen. Der Geruch von Fastfood verbreitete sich. Shadow nahm die Papiertüte und teilte aus: das Essen, die Servietten und die Ketschupbeutelchen.

Sie aßen schweigend zum Flackern der Kerzen und dem Zischen des brennenden Wachses.

Shadow bemerkte, dass Town ihn grimmig anstarrte. Er drehte seinen Stuhl ein bisschen, sodass er mit dem Rücken zur Wand saß. Media hielt sich eine Serviette vor die Lippen, während sie ihren Burger kaute, um jeden sich selbständig machenden Krümel sofort abzufangen.

»Oh. Toll. Die Burger sind ja fast kalt«, sagte der dicke Junge. Er hatte nach wie vor seine Sonnenbrille auf, was Shadow in Anbetracht der Lichtverhältnisse sinnlos und albern vorkam.

»Ja, entschuldigt«, sagte Town. »Aber der nächste McDonald’s ist erst in Nebraska.«

Sie verspeisten ihre lauwarmen Hamburger und die kalten Pommes. Der dicke Junge biss in seine Apfeltasche, worauf ihm die Füllung übers Kinn lief. Überraschenderweise war die Füllung noch heiß. »Aua«, sagte er. Er wischte sie mit der Hand weg und leckte sich anschließend die Finger ab. »An dem Zeug verbrennt man sich ja!«, sagte er. »Diese Apfeltaschen betteln geradezu nach einer Sammelklage.«

Shadow verspürte nicht übel Lust, dem Jungen eine zu verpassen. Das hatte er schon tun wollen, seit er von dessen Gorillas nach Lauras Beerdigung in der Limousine geschlagen worden war. Er schob den Gedanken von sich. »Können wir nicht einfach Wednesdays Leiche nehmen und wieder abhauen?«, fragte er.

»Mitternacht«, sagten Mr. Nancy und der dicke Junge gleichzeitig.

»Solche Dinge müssen nach den Regeln abgewickelt werden«, sagte Tschernibog.

»Meinetwegen«, sagte Shadow. »Nur erklärt mir niemand die Regeln. Ihr alle sprecht andauernd von irgendwelchen gottverdammten Regeln, aber ich weiß noch nicht mal, welches Spiel ihr spielt.«

»Es ist, als wenn man den offiziellen Erscheinungstermin verletzt«, sagte Media fröhlich. »Sie wissen schon. Der Zeitpunkt, ab wann man eine Sache verkaufen darf.«

»Ich finde, das ist alles Bockmist«, sagte Town. »Aber wenn ihre Regeln sie glücklich machen, ist meine Organisation glücklich, und alle anderen sind auch glücklich.« Er schlürfte seine Cola. »Wenn doch erst Mitternacht wäre. Sie nehmen die Leiche und verschwinden. Wir machen alle einen auf Friede, Freude, Eierkuchen, und wir winken euch zum Abschied hinterher. Und dann können wir wieder anfangen, euch zu jagen wie die Ratten, die ihr seid.«

»He«, sagte der dicke Junge zu Shadow. »Da fällt mir was ein. Sie sollten Ihrem Boss doch sagen, dass er der Vergangenheit angehört. Haben Sie das eigentlich gemacht?«

»Ich hab’s ihm gesagt«, sagte Shadow. »Und wissen Sie, was er darauf geantwortet hat? Er meinte, ich sollte den kleinen Rotzlöffel bei Gelegenheit daran erinnern, das die Zukunft von heute die Vergangenheit von morgen ist.« Wednesday hatte nichts dergleichen je von sich gegeben. Aber diese Leute schienen immerhin eine Vorliebe für Sprüche zu haben. Die schwarzen Brillengläser spiegelten das flackernde Kerzenlicht wie Augen zu ihm zurück.

»Was für ein beschissenes Dreckloch ist das hier bloß«, sagte der dicke Junge. »Kein Strom. Außerhalb der Funkreichweiten. Wenn man sich schon verkabeln lassen muss, lebt man doch praktisch wieder in der Steinzeit.« Er saugte einen Rest Cola durch den Strohhalm, ließ den Becher auf den Tisch fallen und ging durch den Flur davon.

Shadow nahm die Papiertüte und stopfte die Abfälle des dicken Jungen hinein. »Ich guck mir mal den Mittelpunkt von Amerika an«, sagte er in die Runde. Er stand auf und ging nach draußen in die Nacht hinein. Mr. Nancy folgte ihm. Zusammen schlenderten sie schweigsam durch den kleinen Park, bis sie zum steinernen Denkmal gelangten. Der Wind zerzauste sie in unberechenbaren Böen, erst von der einen, dann von der anderen Seite. »Also«, sagte er. »Was jetzt?«

»Jetzt«, sagte Nancy, »sollten Sie zurück in Ihr Zimmer gehen. Schließen Sie die Tür hinter sich ab. Versuchen Sie noch ein bisschen zu schlafen. Um Mitternacht werden sie uns die Leiche übergeben. Und dann sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Der Mittelpunkt ist nicht gerade ein standsicherer Ort, für niemanden.«

»Wenn Sie meinen.«

Mr. Nancy inhalierte den Rauch seines Zigarillos. »Das alles hätte nie geschehen dürfen«, sagte er. »Nichts von alledem hätte geschehen dürfen. Unsere Sorte Leute, wir sind …« Er wedelte mit dem Zigarillo, als könnte der ihm helfen, das rechte Wort zu finden, und stieß ihn dann nach vorn. »… exklusiv. Wir sind keine geselligen Wesen. Selbst ich nicht. Nicht mal Bacchus. Jedenfalls nicht für länger. Wir gehen unsere eigenen Wege oder bleiben wenigstens in kleinen Gruppen. Wir können nicht gut mit anderen. Es gefällt uns, verehrt, respektiert, angebetet zu werden – ich zum Beispiel mag es, wenn man Geschichten von mir erzählt, Geschichten, die meine Schläue demonstrieren. Es ist eine Schwäche, ich weiß, aber so bin ich nun mal. Wir sind gern groß. Heute, in dieser schäbigen Zeit, sind wir aber klein. Die neuen Götter steigen auf, gehen unter und steigen wieder auf. Das hier ist kein Land, das Götter über eine längere Zeit toleriert. Brahma erschafft, Vishnu erhält, Shiva zerstört, und damit ist der Boden bereitet, dass Brahma von neuem erschaffen kann.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Shadow. »Der Kampf ist jetzt vorbei? Die Schlacht ist geschlagen?«

Nancy schnaubte. »Sind Sie verrückt geworden? Die haben Wednesday getötet. Die haben ihn umgebracht und sich damit groß getan. Haben es überall verkündet. Es auf allen Kanälen gezeigt, dass jeder es sehen konnte, der Augen hat zu sehen. Nein, Shadow. Es hat gerade erst angefangen.«

Er bückte sich zu Füßen des Denkmals, drückte den Zigarillo auf dem Boden aus und ließ ihn dort wie eine Opfergabe liegen.

»Sie haben sonst immer Witze gerissen«, sagte Shadow. »Jetzt gar nicht mehr.«

»Es ist im Moment schwer, sich Witze einfallen zu lassen. Wednesday ist tot. Kommen Sie mit nach drinnen?«

»Bald.«

Nancy ging zum Motel zurück. Shadow streckte die Hand aus und berührte die Steine des Denkmals. Er zog seine großen Finger über die kalte Messingplatte. Dann drehte er sich um, ging zu der kleinen weißen Kapelle hinüber und trat durch den offenen Eingang hinein ins Dunkel. Er setzte sich auf die nächste Sitzbank, schloss die Augen und senkte den Kopf, und dann dachte er an Laura, an Wednesday und an das Lebendigsein.

Hinter ihm knackte es, Schuhe schleiften über den Boden. Shadow fuhr auf und drehte sich um. Jemand stand in der offenen Tür, ein dunkler Umriss vor den Sternen. Mondschein schimmerte auf etwas Metallischem.

»Wollen Sie mich jetzt erschießen?«, fragte Shadow.

»Gott – nur zu gern«, sagte Mr. Town. »Die Waffe ist aber nur zur Selbstverteidigung. Was denn, Sie beten? Haben die Ihnen etwa weisgemacht, dass sie Götter sind? Ach was, das sind keine Götter.«

»Ich hab nicht gebetet«, sagte Shadow. »Nur so vor mich hingedacht.«

»So wie ich die Sache sehe«, sagte Town, »sind das Mutationen. Evolutionäre Experimente. Ein bisschen Hypnosekunst, ein bisschen Hokuspokus, und sie können den Leuten jeden Glauben verkaufen. Nichts Aufregendes. Mehr ist es nicht. Immerhin sterben sie wie Menschen.«

»Das war immer so«, sagte Shadow. Er erhob sich, und Town trat einen Schritt zurück. Shadow verließ die kleine Kapelle, während Mr. Town Abstand hielt. »He«, sagte Shadow. »Wissen Sie, wer Louise Brooks war?«

»Freundin von Ihnen?«

»Nee. Sie war ein Filmstar aus der Gegend etwas südlich von hier.«

Town schien zu überlegen. »Vielleicht hat sie den Namen geändert und ist Liz Taylor geworden oder Sharon Stone oder sonst jemand«, sagte er dann hilfsbereit.

»Vielleicht.« Shadow machte sich auf in Richtung Motel. Town hielt Schritt.

»Sie müssten eigentlich zurück ins Gefängnis«, sagte Mr. Town. »Sie sollten verdammt noch mal in der Todeszelle sitzen.«

»Ich habe Ihre Kollegen nicht getötet«, sagte Shadow. »Aber ich werde Ihnen etwas erzählen, was ich mal von jemandem gehört habe, als ich im Gefängnis war. Etwas, das ich nie vergessen habe.«

»Und das wäre?«

»Es gibt nur einen einzigen Typen in der ganzen Bibel, dem Jesus persönlich einen Platz bei sich im Paradies versprochen hat. Weder Petrus noch Paulus, noch sonst einem von denen. Es war vielmehr ein einfacher überführter Dieb, der hingerichtet werden sollte. Ziehen Sie also nicht über die zum Tode Verurteilten her. Vielleicht wissen die etwas, was Sie nicht wissen.«

Der Fahrer stand neben dem Militärgeländewagen. »Gute Nacht, meine Herren«, sagte er, als sie an ihm vorbeikamen.

»Nacht«, sagte Town. Und dann, an Shadow gewandt: »Ich persönlich kümmere mich einen feuchten Dreck um diese ganze Kiste. Ich tue nur genau das, was Mister World von mir verlangt, und nichts anderes. Erleichtert einem das Leben.«

Shadow ging durch den Flur zu Zimmer Nummer neun.

Er schloss die Tür auf und ging hinein.

»Entschuldigung«, sagte er. »Ich dachte, das war mein Zimmer.«

»Ist es auch«, sagte Media. »Ich habe auf Sie gewartet.« Er konnte ihr Haar im Mondschein sehen und auch ihr blasses Gesicht, Sie saß in steifer Haltung auf seinem Bett.

»Ich kann mir auch ein anderes Zimmer suchen.«

»Ich werde nicht lange bleiben«, sagte sie. »Ich dachte nur, es könnte jetzt ein geeigneter Zeitpunkt sein, Ihnen ein Angebot zu machen.«

»Okay. Machen Sie Ihr Angebot.«

»Nur die Ruhe, entspannen Sie sich«, sagte sie. In ihrer Stimme lag ein Lächeln. »Sie sind vielleicht ein steifer Knochen. Also, Wednesday ist tot. Machen Sie mit uns gemeinsame Sache. Zeit, sich dem Siegerteam anzuschließen.«

Shadow schwieg.

»Wir können Sie berühmt machen, Shadow. Wir können Ihnen Macht über das geben, was die Leute glauben und sagen und anziehen und träumen. Sie wollen der neue Gary Grant sein? Wir machen es möglich. Wir machen aus Ihnen die neuen Beatles.«

»Irgendwie hat es mir besser gefallen, als Sie mir angeboten haben, mir Lucys Titten zu zeigen«, sagte Shadow. »Falls Sie das waren.«

»Ach«, sagte sie.

»So, jetzt brauche ich mein Zimmer für mich. Gute Nacht.«

»Und dann können wir natürlich«, sagte sie ungerührt, als hätte sie ihn nicht gehört, »die ganze Sache auch umkehren. Wir können es Ihnen richtig schwer machen. Sie könnten als schlechter Witz in die Geschichte eingehen, Shadow. Sie könnten sich in das Gedächtnis der Menschheit eingraben, aber als ein Manson, ein Hitler … Wie würde Ihnen das gefallen?«

»Tut mir wirklich Leid, Ma’am, aber ich bin ziemlich müde«, sagte Shadow. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt gehen könnten.«

»Sie hätten die ganze Welt von mir haben können«, sagte sie. »Denken Sie daran, wenn Sie in der Gosse sterben.«

»Ich werd’s mir merken«, sagte er.

Als sie ging, ließ sie den Duft ihres Parfüms zurück. Er legte sich auf die nackte Matratze und dachte an Laura, aber woran auch immer er im Speziellen dachte – Laura beim Frisbeespielen, Laura, wie sie einen Früchteeisbecher ohne Löffel verzehrt, Laura kichernd, die exotische Unterwäsche vorführend, die sie gekauft hatte, als sie auf einer Konferenz für Reisebürokaufleute in Anaheim war –, jedesmal verwandelte sich das Bild und vor seinem inneren Auge sah er, wie Laura Robbies Schwanz lutschte, bis ein Lastwagen sie von der Straße knallte und in die Vergessenheit beförderte. Dann hörte er ihre Worte, und sie schmerzten jedesmal wieder.

Du bist zwar nicht tot. sagte Laura mit ihrer ruhigen Stimme in seinem Kopf. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob du lebendig bist.

Es klopfte. Shadow stand auf und öffnete die Tür. Es war der dicke Junge. »Bah, diese Hamburger«, sagte er. »Die waren einfach eklig. Ist das zu glauben? Fünfzig Meilen vom nächsten McDonald’s entfernt. Ich hätte nicht gedacht, dass es irgendeinen Ort auf der Welt gibt, der fünfzig Meilen vom nächsten McDonald’s entfernt ist.«

»Hier geht’s ja bald zu wie am Hauptbahnhof«, sagte Shadow. »Okay, ich nehme an, Sie sind gekommen, um mir die Freiheit des Internets anzubieten, falls ich auf Ihre Seite des Zauns wechsle. Stimmt’s?«

Der dicke Junge schüttelte sich. »Nein, Sie sind schon aus dem Spiel«, sagte er. »Sie – Scheiße, Sie sind ein illuminiertes Frakturschriftmanuskript. Sie könnten nie Hypertext sein, selbst wenn Sie’s wollten. Ich bin … ich bin synaptisch, während, während Sie synoptisch sind …« Er roch seltsam, wie Shadow jetzt bemerkte. Im Gefängnis hatte es in einer Zelle auf der anderen Seite des Ganges einen Mann gegeben – den Namen hatte Shadow nie mitbekommen –, der hatte mitten am Tag alle seine Sachen ausgezogen und verkündet, er sei geschickt worden, um all die, die so wie er wahrhaft gut seien, in einem silbernen Raumschiff mitzunehmen und zu einem Ort der Vollkommenheit zu fliegen. Das war das letzte Mal gewesen, dass Shadow ihn gesehen hatte. Der dicke Junge vor ihm roch genau wie einst jener Mann.

»Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier?«

»Wollte nur reden«, sagte der dicke Junge. Es lag ein jammernder Ton in seiner Stimme. »Es ist so gruselig in meinem Zimmer. Das ist alles. Richtig gruselig. Fünfzig Meilen bis zu einem McDonald’s, ist das bitte zu fassen? Vielleicht kann ich ja ein bisschen hier bei Ihnen bleiben.«

»Was ist mit Ihren Freunden aus der Limo? Die mich geschlagen haben? Sollten Sie nicht lieber die bitten, Ihnen Gesellschaft zu leisten?«

»Die Kinder würden hier draußen nicht funktionieren. Wir sind in einer toten Zone.«

»Bis Mitternacht ist es noch eine Weile hin«, sagte Shadow. »Und bis zum Morgengrauen noch länger. Ich finde, Sie brauchen vielleicht noch etwas Ruhe. Ich auf jeden Fall.«

Der dicke Junge sagte erst einmal nichts, dann nickte er und verschwand aus dem Zimmer.

Shadow machte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Er legte sich zurück auf die Matratze.

Nach kurzer Zeit begann der Krach. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, was es damit auf sich haben musste, dann schloss er die Tür auf und ging hinaus auf den Flur. Es war der dicke Junge, der jetzt in seinem eigenen Zimmer war. Es klang, als würde er irgendeinen großen Gegenstand gegen die Zimmerwände werfen. Nach der Art des Geräusches vermutete Shadow, dass dieser Gegenstand er selbst war. »Es ist zu viel!«, schluchzte der Junge. Vielleicht auch: »Es ist nur ein Spiel.« Shadow konnte es nicht genau verstehen.

»Ruhe!«, bellte es aus Tschernibogs Zimmer weiter unten auf dem Flur.

Shadow ging zum Empfang und dann weiter nach draußen. Er war müde.

Der Fahrer stand immer noch neben dem Geländewagen, eine dunkle Gestalt mit einer Schirmmütze.

»Keinen Schlaf gefunden, Sir?«

»Nein«, sagte Shadow.

»Zigarette, Sir?«

»Nein, danke.«

»Macht’s Ihnen was aus, wenn ich rauche?«

»Aber nein, nur zu.«

Der Fahrer benutzte ein Bic-Wegwerffeuerzeug, und jetzt im gelben Licht der Flamme sah Shadow das Gesicht des Mannes, sah es tatsächlich zum ersten Mal, er erkannte ihn und begann, so einiges zu begreifen.

Dieses dünne Gesicht war ihm vertraut. Er wusste, dass sich unter der schwarzen Fahrermütze sehr kurz geschorene orange Haare verbargen. Er wusste, dass die Lippen des Mannes sich, wenn er lächelte, zu einem Netzwerk rauer Narben zerknittern würden.

»Siehst gut aus, Langer«, sagte der Fahrer.

»Low Key?« Shadow starrte seinen alten Zellengenossen misstrauisch an.

Knastfreundschaften sind eine gute Sache, sie helfen einem durch schlimme Zeiten an einem üblen Ort. Aber eine Knastfreundschaft endet am Gefängnistor, und ein Knastfreund, der einem im zivilen Leben wieder begegnete, war in aller Regel mit Vorsicht zu genießen.

»Jesses. Low Key Lyesmith«, sagte Shadow, und dann hörte er, was er gesagt hatte, und der Groschen fiel: »Loki«, sagte er. »Loki der Lügenschmied.«

»Du bist schwer von Begriff«, sagte Loki, »aber irgendwann klappt’s auch bei dir.« Er verzog die Lippen zu einem narbenhaften Lächeln, und in den Schatten seiner Augen tanzte die Glut.


Sie saßen im aufgegebenen Motel in Shadows Zimmer, saßen sich auf dem Bett gegenüber, jeder an einem Ende der Matratze. Die Geräusche aus dem Zimmer des dicken Jungen waren weitgehend abgeebbt.

»Es war ein Glück für dich, dass wir zusammen gesessen haben«, sagte Loki. »Ohne mich hättest du das erste Jahr niemals überlebt.«

»Hättest du nicht, wenn dir danach gewesen wäre, einfach rausspazieren können?«

»Es ist leichter, die Zeit einfach abzusitzen.« Er hielt kurz inne. »Du musst die Geschichte mit dem Gottsein richtig verstehen. Es geht nicht um Zauberei. Es geht darum, du zu sein, aber das Du, an das die Leute glauben. Es geht darum, die konzentrierte, erhöhte Wesenheit des Du zu sein. Es geht darum, Donner zu werden, um die Kraft eines Rennpferdes oder um Weisheit. Du nimmst all den Glauben und wirst größer und cooler, eben übermenschlich. Du kristallisierst.« Wieder machte er eine Pause. »Und dann vergessen sie dich eines Tages und glauben nicht mehr an dich, sie opfern nicht mehr, es interessiert sie gar nicht mehr, und ehe man’s sich versieht, steht man an der Ecke Broadway und Vierunddreißigste und schlägt sich mit betrügerischen Kartenspielereien durch.«

»Warum warst du in einer Zelle mit mir?«

»Zufall. Schlicht und einfach.«

»Und jetzt spielst du den Fahrer für die Opposition.«

»Wenn du sie so nennen willst. Kommt ganz auf den Standpunkt an. So wie ich das sehe, fahre ich für das Siegerteam.«

»Aber du und Wednesday, ihr seid vom gleichen, ihr seid beide …«

»Vom nordischen Pantheon. Wir kommen beide aus dem altnordischen Pantheon. War’s das, was du sagen wolltest?«

»Ja.«

»Ja und?«

Shadow zögerte. »Ihr müsst Freunde gewesen sein. Früher.«

»Nein. Freunde waren wir nie. Es tut mir Leid, dass er tot ist. Aber er hat uns alle klein gehalten. Jetzt, wo er weg ist, werden die anderen sich den Tatsachen stellen müssen: Es heißt Wandel oder Untergang, entwickle dich weiter oder gehe zugrunde. Er ist weg. Der Krieg ist vorbei.«

Shadow sah ihn verwirrt an. »Das glaubst du ja wohl selbst nicht«, sagte er. »Du warst doch immer so schlau. Wednesdays Tod wird gar nichts beenden. Im Gegenteil, alle die, die ihr Pulver bisher nicht nass machen wollten, graben jetzt das Kriegsbeil aus.«

»Wüstes Durcheinander von Metaphern, Shadow. Schlechte Angewohnheit.«

»Egal«, sagte Shadow. »Es ist trotzdem wahr. Mein Gott. Was er die ganzen letzten Monate versucht hat zustande zu bringen, das hat sein Tod innerhalb von einer Sekunde bewirkt. Das hat sie alle zusammengeschlossen. Hat ihnen etwas gegeben, an das sie glauben können.«

»Mag sein.« Loki zuckte die Achseln. »Soviel ich weiß, war das Kalkül auf dieser Seite, dass man die Unruhe am besten beseitigt, indem man den Unruhestifter aus dem Weg räumt. Ich habe allerdings mit all dem nichts zu schaffen. Ich bin nur der Fahrer.«

»Dann verrate mir doch mal«, sagte Shadow, »warum die so einen Wind um mich machen? Die tun alle so, als sei ich wer weiß wie wichtig. Warum soll das, was ich tue, irgendwie von Bedeutung sein?«

»Ich hab nicht die leiseste Ahnung. Du warst wichtig für uns, weil du wichtig für Wednesday warst. Was den Grund dafür angeht … Ich schätze, das ist eins von den kleinen Rätseln, vor die uns das Leben stellt.«

»Ich habe die Nase voll von Rätseln.«

»Ach ja? Ich finde, sie geben der Welt erst die Würze. Wie das Salz im Eintopf.«

»Du bist also deren Fahrer. Wen fährst du, alle?«

»Wer immer mich gerade braucht«, sagte Loki. »Man kann davon leben.«

Er hob seine Armbanduhr zum Gesicht und drückte auf einen Knopf: Das Zifferblatt glomm sanftblau auf, erleuchtete sein Gesicht und gab ihm dadurch einen unheimlichen, gehetzten Ausdruck. »Fünf vor zwölf. Es wird Zeit«, sagte Loki. »Kommst du?«

Shadow holte tief Luft. »Ich komme«, sagte er.

Sie gingen durch den dunklen Motelflur, bis sie zum Zimmer Nummer fünf gelangten.

Loki holte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete ein Holz mit dem Daumennagel an. Das kurze Aufflammen tat Shadow in den Augen weh. Ein Kerzendocht begann flackernd zu brennen. Danach ein zweiter. Loki riss ein weiteres Streichholz an und fuhr fort, die Kerzenstummel zu entfachen: Es standen welche auf den Fensterbrettern, auf dem Kopfende des Bettes und auf dem Spülbecken in der Zimmerecke.

Das Bett, das normalerweise wohl an der Wand stand, war in die Mitte des Zimmers gezogen worden, sodass auf allen Seiten etwas Platz bis zur jeweiligen Wand war. Über das Bett waren Laken gezogen, alte Motelbettlaken, fleckig und von Motten zerfressen. Wednesday lag völlig bewegungslos auf diesen Laken.

Er trug denselben blassgrauen Anzug, den er bei seiner Ermordung getragen hatte. Die rechte Seite des Gesichts war unversehrt, unberührt, von keinerlei Blut entstellt. Von der linken Seite war kaum etwas übrig, die linke Schulter und die Brustpartie seines Anzugs waren mit dunklen Flecken übersät. Die Hände lagen neben dem Körper. Der Ausdruck in diesem zerstörten Gesicht war alles andere als friedlich – er wirkte verletzt, verletzt in tiefster Seele, erfüllt von Hass und Wut und blankem Wahnsinn. In gewisser Weise aber auch hochzufrieden.

Shadow stellte sich vor, wie Mr. Jacquel mit seinen erfahrenen Händen diesen Hass und Schmerz wegglätten, mit Wachs und Schminke Wednesdays Gesicht rekonstruieren würde, um ihm den letzten Frieden und die Würde zu sichern, die selbst der Tod ihm verweigert hatte.

Immerhin, der Körper schien im Tod nicht kleiner geworden zu sein. Und nach wie vor roch er leicht nach Jack Daniel’s.

Der Wind, der über die Ebene strich, wurde stärker. Shadow hörte, wie er um das alte Motel am Mittelpunkt Amerikas herumpfiff. Die Kerzen auf der Fensterbank flackerten.

Er hörte Schritte im Flur. Jemand klopfte an eine Tür, rief: »Beeilung bitte, es ist Zeit«, und dann kamen sie nacheinander mit gesenkten Köpfen hereingeschlurft.

Town war der Erste, gefolgt von Media und Mr. Nancy und Tschernibog. Als Letzter kam der dicke Junge: Er hatte frische Schrammen und blaue Flecken im Gesicht und bewegte unentwegt die Lippen, als würde er sich irgendetwas vorsagen, zu hören war jedoch nichts. Wider Willen empfand Shadow etwas Mitleid mit ihm.

Zwanglos, ohne dass ein Wort gesprochen wurde, verteilten sie sich im Abstand von jeweils einer Armlänge um den Leichnam herum. Die Atmosphäre im Zimmer wirkte religiös – tief religiös auf eine Art, wie Shadow es nie zuvor erlebt hatte. Außer dem Heulen des Windes und dem Knistern der Kerzen war kein anderer Laut zu hören.

»Wir sind hier an diesem gottlosen Ort zusammengekommen«, sagte Loki, »um den Leichnam dieses Individuums denjenigen zu übergeben, die nach dem hergebrachten Ritual über ihn verfügen werden. Wer etwas zu sagen hat, der sage es jetzt.«

»Ich nicht«, sagte Town. »Ich habe den Mann praktisch gar nicht gekannt. Überhaupt ist mir die ganze Sache unbehaglich.«

»Das Ganze wird Folgen haben«, sagte Tschernibog. »Ist euch das klar? Das alles kann nur der Anfang von allem sein.«

Der dicke Junge begann zu kichern, ein schrilles, mädchenhaftes Geräusch. Er sagte: »Okay. Okay, ich hab’s.« Und dann, immer auf derselben Tonhöhe, rezitierte er:


›Kreisend und kreisend in immer weiterem Bogen

Entschwindet der Falke dem Ruf des Falkeniers.

Alles fällt auseinander! die Mitte hält nicht mehr …‹


Er brach ab und legte die Stirn in Falten. Dann sagte er: »Scheiße, ich konnte mal das ganze Ding auswendig«, rieb sich die Schläfen, verzog das Gesicht und blieb still.

Nun blickten alle auf Shadow. Der Wind kreischte mittlerweile. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Das alles ist eine ziemlich jämmerliche Angelegenheit«, sagte er schließlich. »Die Hälfte der Anwesenden hat ihn umgebracht oder hatte wenigstens die Hand mit im Spiel. Jetzt gebt ihr uns seine Leiche. Großartig. Er war ein aufbrausender alter Scheißer, aber ich habe seinen Met getrunken, und deshalb arbeite ich immer noch für ihn. Das ist alles.«

»In einer Welt, in der Tag für Tag gestorben wird«, sagte Media, »ist es meines Erachtens wichtig festzuhalten, dass jedem Augenblick der Trauer, die wir empfinden, wenn jemand diese Welt verlässt, ein Augenblick der Freude gegenübersteht, wenn ein neues Baby auf die Welt kommt. Dieser erste Schrei ist – tja, er ist zauberhaft, nicht wahr? Vielleicht ist es hart, so was zu sagen, aber Freude und Leid sind wie Milch und Kekse. Die beiden passen nämlich genauso gut zusammen. Ich finde, wir sollten uns alle einen Moment Zeit nehmen, darüber nachzudenken.«

Mr. Nancy räusperte sich und sagte: »Also. Ich werde es sagen, weil niemand sonst hier es tun wird. Wir befinden uns am Mittelpunkt dieses Landes: ein Land, das keine Zeit für Götter hat, und hier am Mittelpunkt hat es noch weniger Zeit für uns als anderswo. Es ist ein Niemandsland, ein Ort der Waffenruhe, und an diesem Ort befolgen wir die Waffenruhe. Uns bleibt nichts anderes übrig. Also. Ihr übergebt uns die Leiche unseres Freundes. Wir nehmen sie an. Ihr werdet dafür bezahlen, Mord für Mord, Blut für Blut.«

»Na ja«, sagte Town. »Ihr könntet euch viel Zeit und Mühe sparen, wenn ihr nach Hause gehen und euch eine Kugel durch den Kopf jagen würdet. Wozu erst andere Leute damit behelligen?«

»Scheiß auf dich«, sagte Tschernibog. »Scheiß auf dich und auf deine Mutter und auf das beschissene Pferd, auf dem du hergeritten bist. Du wirst niemals in der Schlacht sterben. Kein Krieger wird dein Blut schmecken. Kein Lebender wird dein Leben beenden. Du wirst eines weichen, armseligen Todes sterben. Du wirst mit einem Kuss auf den Lippen und einer Lüge im Herzen sterben.«

»Lass gut sein, alter Mann«, sagte Town.

»Blutgeblendete Strömungen sind losgelassen«, sagte der dicke Junge. »Ich glaube, das kommt als Nächstes.«

Der Wind heulte.

»Okay«, sagte Loki. »Er gehört jetzt euch. Wir sind fertig. Schafft den alten Bastard weg.«

Er gab mit den Fingern ein Zeichen, worauf Town, Media und der dicke Junge das Zimmer verließen. Er lächelte Shadow zu. »Heiße keinen Menschen glücklich, hm, mein Junge?« Und dann ging auch er weg.

»Was passiert jetzt?«, fragte Shadow.

»Jetzt wickeln wir ihn ein«, sagte Anansi. »Und dann bringen wir ihn hier weg.«

Sie wickelten die Leiche in die Motelbettlaken ein, schlugen sie so sorgfältig in ihr improvisiertes Leichentuch, dass sie nicht als Leiche zu erkennen war und man sie zudem gut tragen konnte. Die beiden alten Männer stellten sich zu beiden Enden des Bündels auf, aber Shadow hielt sie zurück. »Lasst mich mal was ausprobieren«, sagte er, ging in die Hocke, schlang die Arme um die weiß umhüllte Gestalt und wuchtete sie sich auf die Schulter. Er drückte die Knie durch, bis er, mehr oder weniger mühsam, aufrecht stand. »Okay«, sagte er. »Ich habe ihn. Legen wir ihn hinten ins Auto.«

Tschernibog schien Einspruch erheben zu wollen, machte den Mund aber gleich wieder zu. Er spuckte sich auf Zeigefinger und Daumen und drückte nacheinander mit den Fingerspitzen die Kerzen aus. Shadow hörte es zischen, während er das dunkel werdende Zimmer verließ.

Wednesday war schwer, aber Shadow kam zurecht, solange er nur gleichmäßig ausschritt. Er konnte nichts dagegen tun: Wednesdays Worte begleiteten ihn bei jedem Schritt durch den Flur, und ganz tief in der Kehle konnte er die säuerliche Süße des Mets schmecken. Sie beschützen mich. Sie befördern mich von einem Ort zum anderen. Sie machen Besorgungen. Im Notfall, aber nur im Notfall, tun Sie Leuten weh, denen wehgetan werden muss. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass ich zu Tode komme, halten Sie die Totenwache …

Mr. Nancy hielt ihm die Eingangstür auf, dann lief er zum Bus voraus und öffnete die Hecktür. Die anderen vier standen bereits bei ihrem Ungetüm von Geländewagen und sahen ihnen zu, als könnten sie es nicht erwarten, endlich abzufahren. Loki hatte die Fahrermütze wieder aufgesetzt. Der kalte Wind zerrte beim Gehen an Shadow und ließ die Laken flattern.

Er legte Wednesday, so sanft er konnte, in den Bus.

Jemand klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Er drehte sich um. Town stand vor ihm und hielt etwas in der ausgestreckten Hand.

»Hier«, sagte Mr. Town, »Mister World wollte, dass Sie das bekommen.«

Es war ein Glasauge. Ein Haarriss zog sich durch die Mitte, und an der Vorderseite war ein winziges Stück abgesplittert.

»Das haben wir beim Saubermachen im Freimaurertempel gefunden. Behalten Sie es als Glücksbringer. Den können Sie weiß Gott gebrauchen.«

Shadow schloss die Hand um das Auge. Er hätte gern etwas Kluges und Gewitztes geantwortet, aber Town stand schon wieder beim Geländewagen und war im Begriff einzusteigen, und Shadow fiel einfach kein schlauer Spruch ein.


Sie fuhren nach Osten. Der Sonnenaufgang sah sie in Princeton, Missouri. Shadow hatte noch kein Auge zubekommen.

»Haben Sie einen bestimmten Wunsch, wo wir Sie rauslassen sollen?«, sagte Nancy. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mir irgendeinen Ausweis besorgen und mich nach Kanada absetzen. Oder Mexiko.«

»Ich bleibe bei euch«, sagte Shadow. »Wednesday hätte es so gewollt.«

»Ihre Arbeit für ihn ist beendet. Er ist tot. Sobald wir seinen Leichnam abgeladen haben, können Sie gehen, wohin Sie wollen.«

»Und was soll ich dann tun?«

»Den Kopf einziehen, solange der Krieg dauert«, sagte Nancy. Er betätigte den Blinker und bog links ab.

»Verstecken Sie sich für eine Weile«, sagte Tschernibog. »Und wenn alles vorbei ist, kommen Sie zu mir, damit ich die ganze Sache zum Abschluss bringen kann.«

»Wohin schaffen wir den Leichnam?«

»Nach Virginia. Da gibt es so einen Baum«, sagte Nancy.

»Einen Weltenbaum«, sagte Tschernibog mit düsterer Befriedigung. »Wir hatten so einen auch in meinem Teil der Welt. Aber unserer wuchs unter der Welt, nicht darüber.«

»Wir legen ihn unter den Baum«, sagte Nancy, »und lassen ihn dort. Wir lassen Sie gehen. Wir fahren nach Süden. Dort findet eine Schlacht statt. Blut wird vergossen. Viele sterben. Die Welt verändert sich – ein wenig.«

»Sie wollen mich nicht bei Ihrer Schlacht dabeihaben? Ich bin ziemlich stark und außerdem ein guter Kämpfer.«

Nancy wandte sich Shadow zu und lächelte – es war das erste richtige Lächeln, das Shadow auf Mr. Nancys Gesicht sah, seit dieser ihn aus dem Lumber-County-Gefängnis befreit hatte. »Zu großen Teilen wird die Schlacht an einem Ort ausgefochten werden, zu dem Sie keinen Zugang haben.«

»In den Herzen und Köpfen der Menschen«, sagte Tschernibog. »Wie bei dem großen Karussell.«

»Hä?«

»Das Karussell im House on the Rock«, sagte Mr. Nancy.

»Ach so«, sagte Shadow. »Hinter der Bühne sozusagen. Ich verstehe. Wie die Wüste mit den Knochen.«

Mr. Nancy hob den Kopf. »Jedesmal, wenn ich denke, dass Sie selbst zum Geradeauslaufen zu blöd sind, überraschen Sie mich. Ja, das ist es, wo die eigentliche Schlacht stattfinden wird. Alles andere wird nur Blitz und Donner sein.«

»Erzählen Sie mir von der Totenwache«, sagte Shadow.

»Jemand muss bei dem Leichnam bleiben. Das verlangt die Tradition. Wir werden schon jemanden finden.«

»Er wollte, dass ich es tue.«

»Nein«, sagte Tschernibog. »Sie werden dabei draufgehen. Schlechte, ganz schlechte Idee.«

»Ach ja? Ich gehe drauf? Wenn ich bei dem Leichnam bleibe?«

»Also, bei meiner Beerdigung würde ich mir das nicht wünschen«, sagte Mr. Nancy. »Wenn ich sterbe, möchte ich nur, dass man mich irgendwo eingräbt, wo es warm ist. Und wenn dann hübsche Frauen über mein Grab gehen, dann pack ich sie am Fußgelenk wie in diesem einen Film.«

»Den Film hab ich wohl nicht gesehen«, sagte Tschernibog.

»Doch, natürlich. Am Ende von diesem Highschoolfilm. Wo all die Kids zur Abschlussfeier gehen.«

Tschernibog schüttelte den Kopf.

»Der Film heißt Carrie, Mr. Tschernibog«, sagte Shadow. »Okay, einer von euch erzählt mir jetzt von der Totenwache.«

»Erzähl du«, sagte Nancy zu Tschernibog. »Ich bin mit Fahren beschäftigt.«

»Von so einem Film hab ich noch nie gehört. Erzähl du.«

»Also«, sagte Nancy. »Die Person, die die Totenwache hält – wird an den Baum gebunden. Genau wie Wednesday seinerzeit. Und dann muss man neun Tage und neun Nächte da hängen. Ohne Nahrung, ohne Wasser. Ganz allein. Wenn die Zeit um ist, wird die Person abgeschnitten, und falls sie überlebt hat … Na ja, ausgeschlossen ist es nicht. Und Wednesday wird dann seine Totenwache gehabt haben.«

»Vielleicht schickt Alwis uns ja einen seiner Leute«, sagte Tschernibog. »Ein Zwerg könnte es überleben.«

»Ich werde es tun«, sagte Shadow.

»Nein«, sagte Mr. Nancy.

»Doch«, sagte Shadow.

Die beiden alten Männer schwiegen. Schließlich sagte Nancy: »Und warum?«

»Weil es das ist, was jemand, der lebendig ist, tun würde«, sagte Shadow.

»Sie sind verrückt«, sagte Tschernibog.

»Kann sein. Aber ich werde Wednesdays Totenwache halten.«

Als sie zum Tanken anhielten, erklärte Tschernibog, ihm sei übel, er wolle jetzt vorn mitfahren. Shadow hatte nichts dagegen, auf die Rückbank des Busses umzuziehen. Dort konnte er sich besser ausstrecken und so vielleicht ein bisschen Schlaf finden.

Sie fuhren schweigend weiter. Shadow hatte das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben: etwas Großes und Sonderbares.

»He, Tschernibog«, sagte Mr. Nancy nach einer Weile. »Hast du dir den Technikjungen mal näher angeguckt, als wir da im Motel waren? Der war gar nicht glücklich. Hat mit irgendwas rumgemacht, mit dem er nicht fertig wird. Das ist das größte Problem bei diesen neuen Kids – die glauben, sie wüssten und könnten alles, du kannst ihnen also nichts beibiegen, es sei denn auf die harte Tour.«

»Gut«, sagte Tschernibog.

Shadow hatte sich in voller Länge auf dem Rücksitz ausgestreckt. Er fühlte sich wie zwei Leute, wenn nicht sogar mehr. Einerseits war er leicht euphorisch: Er hatte etwas getan. Hatte sich bewegt. Das wäre zwar nicht weiter bedeutend gewesen, wenn er keinen Lebenswillen besessen hätte, aber er wollte ja leben, und eben das war das Entscheidende. Er hoffte natürlich, die Sache zu überstehen, war aber auch bereit zu sterben, wenn das die Bedingung dafür war, lebendig zu sein. Und für einen Moment kam es ihm so vor, als wäre das alles ziemlich komisch, im Grunde die komischste Sache der Welt, und er fragte sich, ob Laura den Witz zu schätzen wissen würde.

Es gab aber noch einen anderen Teil von ihm – vielleicht war es Mike Ainsel, dachte er, der wie auf Knopfdruck aus dem Polizeirevier von Lakeside ins Nichts Verschwundene –, der immer noch Licht ins Dunkel bringen, das Bild im Ganzen sehen wollte.

»Versteckte Indianer«, sagte er laut.

»Was?«, kam Tschernibogs irritiertes Krächzen von vorn.

»Die Bilder, die man als Kind zum Ausmalen kriegt. ›Kannst du die versteckten Indianer auf diesem Bild erkennen? Auf dem Bild haben sich zehn Indianer versteckt, findest du sie alle?‹ Auf den ersten Blick sieht man nur den Wasserfall, die Felsen und die Bäume, dann aber, wenn man das Bild ein bisschen zur Seite neigt, sieht man, dass einer dieser Schatten ein Indianer ist …« Er gähnte.

»Schlafen Sie ruhig«, sagte Tschernibog.

»Aber das Bild, das Bild im Ganzen«, sagte Shadow. Dann schlief er ein und träumte von versteckten Indianern.


Der Baum stand in Virginia, weit weg von allem auf der Rückseite einer alten Farm. Um zur Farm zu gelangen, mussten sie von Blacksburg aus eine knappe Stunde nach Süden fahren, auf Straßen, die Namen wie Pennywinkle Branch oder Rooster Spur trugen. Zweimal mussten sie wieder kehrtmachen, und Mr. Nancy und Tschernibog verloren die Geduld mit Shadow und mit sich.

Um sich nach dem Weg zu erkundigen, hielten sie bei einem winzigen Gemischtwarenladen, der am Fuß des Hügels an der Gabelung der Straße lag. Ein alter Mann kam aus der Hintertür und starrte zu ihnen herüber. Er trug einen Overall von Oshkosh B’Gosh, weiter aber nichts, nicht mal Schuhe. Tschernibog wählte eine eingelegte Schweinshachse aus einem Glas, das auf dem Tresen stand, und trug sie zum Essen nach draußen, während der Mann im Overall für Mr. Nancy Wegekarten auf Servietten malte, auf denen er die entscheidenden Abzweigungen und örtlichen Wahrzeichen vermerkte.

Sie machten sich, mit Mr. Nancy am Steuer, wieder auf den Weg und waren in zehn Minuten da. Auf einem Schild am Tor stand ASH.

Shadow stieg aus und öffnete das Tor. Mr. Nancy fuhr mit dem Bus hindurch und ließ ihn über die Wiese hoppeln. Shadow machte das Tor wieder zu. Er ging zu Fuß hinter dem Bus her, vertrat sich die Beine, musste richtig joggen, weil der Bus zu viel Vorsprung gewann, genoss aber das Gefühl, sich Bewegung zu verschaffen.

Auf der Fahrt von Kansas hierher hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Waren sie zwei Tage unterwegs gewesen? Drei Tage? Er konnte es nicht sagen.

Die Leiche im Heck des Busses schien nicht zu verwesen. Riechen konnte er sie schon – ein leichter Hauch von Jack Daniel’s, überlagert von etwas, das in Richtung saurer Honig ging. Aber es war kein unangenehmer Geruch. Von Zeit zu Zeit nahm er das Glasauge aus der Tasche und betrachtete es: Tief drinnen war es von der Wucht der Kugel, wie er vermutete, zerbrochen, die Oberfläche aber war, von einer Absplitterung seitlich der Iris abgesehen, unversehrt. Shadow ließ es durch die Hände gleiten, palmierte es, rollte es, schob es mit den Fingern hin und her. Es war ein grässliches Souvenir, dennoch seltsam tröstlich: Er vermutete, dass Wednesday es amüsant gefunden hätte, dass sein Auge nun in Shadows Tasche gelandet war.

Das Farmhaus war dunkel und verriegelt. Die Wiesen waren überwuchert, offenbar hatte man sie aufgegeben. Auf der Rückseite des Hauses zerfiel das Dach und war mit schwarzen Plastikplanen abgedeckt worden. Nachdem sie über eine Anhöhe gerumpelt waren, erblickte Shadow den Baum.

Er war silbergrau und höher als das Farmhaus. Es war der schönste Baum, den Shadow je zu Gesicht bekommen hatte: geisterhaft und dennoch überaus real und fast vollkommen symmetrisch. Auch schien er ihm auf Anhieb vertraut zu sein: Er fragte sich, ob er ihm bereits im Traum begegnet war, doch dann wurde ihm klar, dass er ihn, oder eine Nachbildung davon, wirklich schon viele Male gesehen hatte. Es war Wednesdays silberne Krawattennadel.

Der VW-Bus hoppelte und holperte über die Wiese und kam etwa sechs Meter vom Baumstamm entfernt zum Stehen.

Neben dem Baum standen drei Frauen. Auf den ersten Blick dachte Shadow, es wären die drei Sari, aber nein, es waren drei Frauen, die er nicht kannte. Sie wirkten müde und gelangweilt, als würden sie schon sehr lange dort stehen. Jede der Frauen hatte eine Holzleiter bei sich. Die größte von ihnen trug außerdem einen braunen Sack. Sie sahen aus wie ein Satz russischer Puppen: eine große – sie hatte Shadows Länge, mindestens –, eine mittelgroße und eine, die so klein und gebeugt war, dass Shadow sie zunächst irrtümlich für ein Kind gehalten hatte. Sie sahen einander so ähnlich, dass sie nur Schwestern sein konnten.

Die kleinste der Frauen vollführte einen Knicks, als der Bus heranfuhr. Die anderen beiden blickten nur geradeaus. Sie teilten sich eine Zigarette, die sie bis zum Filter herunterrauchten, bevor eine von ihnen sie an einer Baumwurzel ausdrückte.

Tschernibog öffnete die Hecktür, worauf sich die größte Frau an ihm vorbeidrängte und Wednesdays Leichnam, als wäre es ein handlicher Mehlsack, aus dem Wagen hob und zum Baum trug. Sie legte ihn etwa vier Schritte vom Stamm entfernt auf den Boden. Zusammen mit ihren Schwestern wickelte sie die Laken auseinander. Bei Tageslicht sah Wednesdays Leiche übler aus als noch im Kerzenlicht des Motelzimmers, und Shadow wandte schnell den Blick ab. Die Frauen richteten seinen Anzug etwas, legten den Leichnam dann auf den Rand des Lakens und schlugen dieses wieder über ihn.

Schließlich traten die Frauen auf Shadow zu.

Du bist derjenige, welcher?, fragte die Große.

Der den Allvater betrauern wird?, fragte die Mittlere.

Du hast die Totenwache übernommen?, fragte die Kleinste.

Shadow nickte. Im Nachhinein war er nicht imstande zu sagen, ob er wirklich ihre Stimmen gehört hatte. Vielleicht hatte er das, was sie meinten, einfach ihren Blicken entnommen.

Mr. Nancy, der zum Haus gegangen war, um die Toilette aufzusuchen, kam jetzt zum Baum zurück. Er rauchte einen Zigarillo. Er wirkte nachdenklich.

»Shadow«, rief er. »Sie müssen das wirklich nicht tun. Wir können jederzeit jemanden finden, der geeigneter ist.«

»Ich mache es«, sagte Shadow schlicht.

»Und wenn Sie sterben?«, sagte Mr. Nancy. »Wenn es Sie umbringt?«

»Dann«, sagte Shadow, »bringt es mich eben um.«

Wütend schleuderte Mr. Nancy seinen Zigarillo auf die Wiese. »Ich hab ja bereits gesagt, dass Sie ein Schwachkopf sind, und dabei bleibe ich. Warum kapieren Sie’s denn nicht, wenn man Ihnen eine goldene Brücke bauen will?«

»Tut mir Leid«, sagte Shadow. Weiter sagte er nichts. Nancy ging zurück zum Bus.

Tschernibog trat auf Shadow zu. Er schien nicht sonderlich erfreut zu sein. »Sie müssen das lebend überstehen«, sagte er. »Stehen Sie die Sache durch, um meinetwillen.« Und dann klopfte er Shadow sanft mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn und sagte: »Bumm!« Er drückte Shadow die Schulter, tätschelte ihn am Arm und folgte dann Mr. Nancy.

Die größte Frau, deren Name irgendwie Urtha oder Urdar zu lauten schien – Shadow konnte ihn nicht zu ihrer Zufriedenheit nachsprechen –, forderte ihn durch Gebärden auf, sich auszuziehen.

»Alles?«

Die große Frau zuckte die Achseln. Shadow zog sich bis auf Unterhose und T-Shirt aus. Die Frauen lehnten die Leitern an den Baum. Eine davon – sie war von Hand mit kleinen Blümchen und Blättern angemalt, die sich an den Streben emporwanden – wurde Shadow zugeteilt.

Er erklomm die neun Sprossen. Dann betrat er auf ihr Drängen hin einen der unteren Äste.

Die mittelgroße Frau kippte den Inhalt des Sacks auf die Wiese. Er bestand aus einem Gewirr von dünnen Seilen, die vor Alter und Schmutz ganz braun waren; die Frauen sortierten sie der Länge nach und legten sie sorgfältig neben Wednesdays Leiche auf dem Boden aus.

Dann bestiegen sie ihre Leitern und begannen Knoten in die Seile zu machen, verschlungene und elegante Knoten, anschließend schlangen sie die Seile zuerst um den Baum, dann um Shadow. Ungeniert wie Hebammen oder Krankenschwestern oder jene, die Tote aufzubahren hatten, zogen sie ihm das T-Shirt und die Unterhose aus, dann fesselten sie ihn, nicht allzu straff, aber fest und wirksam. Er war verblüfft, wie bequem die Seile und Knoten sein Gewicht trugen. Die Seile verliefen unter seinen Armen, zwischen den Beinen, um die Hüfte, die Fußgelenke, die Brust und verbanden ihn mit dem Baum.

Das letzte Seil wurde ihm locker um den Hals geschlungen. Anfangs war es unbequem, aber sein Gewicht war gut verteilt, und keines der Seile schnitt ihm ins Fleisch.

Er hing mit den Füßen knapp zwei Meter über dem Boden. Der Baum war kahl und riesig, die Äste zeichneten sich vor dem grauen Himmel schwarz ab, seine Borke war glatt und silbergrau.

Die Frauen entfernten die Leitern. Als sein gesamtes Gewicht von den Seilen aufgenommen wurde und er ein paar Zentimeter nach unten sackte, wurde Shadow vorübergehend von Panik ergriffen. Dennoch gab er keinen Laut von sich.

Die Frauen legten den Leichnam, eingehüllt in das Leichentuch aus Motelbettlaken, unter den Baum. Dann gingen sie fort.

Sie ließen ihn allein zurück.

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