ankunft in amerika


1721


Entscheidend für das Verständnis der amerikanischen Geschichte, schrieb Mr. Ibis in sein ledergebundenes Journal, ist die Einsicht, dass sie eine Erfindung ist, eine simplifizierte Kohlezeichnung für Kinder beziehungsweise diejenigen, die sich schnell langweilen. Über weite Strecken tritt sie uns ungeprüft, unreflektiert und fantasielos gegenüber, eine Repräsentation der Sache, nicht die Sache selbst. Es ist eine wunderbare Fiktion, fuhr er fort und hielt nur kurz inne, um die Feder ins Tintenfass zu tauchen und die Gedanken zu sammeln, dass Amerika von Pilgern gegründet wurde, die hierher kamen, um in Freiheit ihren Glauben bekennen zu können, und dass allein sie es waren, die sich in Nord-, Süd- und Mittelamerika ausbreiteten, sich vermehrten und das leere Land besiedelten.

In Wahrheit jedoch waren die amerikanischen Kolonien nicht nur eine Zuflucht, sondern ebenso sehr ein Schuttabladeplatz, ein Ort des Vergessens. In jenen Tagen, da man in London für den Diebstahl von zwölf Pennies am dreibalkigen Tyburn Tree gehenkt werden konnte, wurde Amerika zu einem Symbol der Milde, des Neuanfangs. Doch waren die Umstände der Beförderung dahin dergestalt, dass es für manch einen einfacher war, den Sprung vom kahlen Baum zu tun und in der Luft zu tanzen, bis alles Tanzen vorbei war. Deportation nannte man es: fünf Jahre, zehn Jahre, lebenslänglich. Wie es das Urteil verlangte.

Du wurdest an einen Kapitän verkauft und fuhrst auf dessen Schiff, eng gedrängt wie auf einem Sklaventransport, nach den Kolonien oder den Westindischen Inseln; vom Schiff herunter wurdest du sodann als Kontraktdiener an jemanden weiterverkauft, der dich den Preis deiner Haut durch Arbeit abgelten ließ, bis die Jahre deiner Auflage abgelaufen waren. Aber wenigstens musstest du nicht in einem englischen Gefängnis darauf warten, gehenkt zu werden (zu jener Zeit blieb man nämlich im Gefängnis, bis man entweder freigelassen, deportiert oder gehenkt wurde – keinesfalls war es so, dass man eine per Urteil festgelegte zeitlich begrenzte Strafe verbüßte), und du hattest die Möglichkeit, das Beste aus deinem neuen Leben in deiner neuen Welt zu machen. Du hattest auch die Möglichkeit, einen Schiffskapitän zu bestechen, damit er dich mit zurück nach England nahm, bevor deine Deportationszeit ablief. Dergleichen kam vor. Wenn dich aber die Behörden dabei erwischten – wenn ein alter Feind, oder auch ein alter Freund, der noch eine Rechnung zu begleichen hatte, dich sah und dich verpfiff –, dann wurdest du ohne viel Federlesen aufgeknüpft.

Dies erinnert mich, fuhr er nach einer kurzen Pause fort in der er das im Schreibtisch eingelassene Tintenfass aus einer im Schrank aufbewahrten Flasche Umbratinte auffüllte, um dann die Feder erneut einzutauchen, an das Leben der Essie Tregowan, die aus einem ungemütlichen kleinen Dorf stammte, das auf den Meeresfelsen von Cornwall im Südwesten von England gelegen war, wo ihre Familie seit undenklichen Zeiten lebte. Ihr Vater war Fischer, und es ging das Gerücht, dass er zu den Strandräubern gehörte – jenen Gesellen, die bei Sturm ihre Lampen hoch auf die gefährlichen Klippen hängten und auf diese Weise Schiffe auf die Felsen lockten, um sich deren Ladung zu bemächtigen. Essies Mutter stand als Köchin in Diensten des Gutsherrn, und im Alter von zwölf Jahren begann auch Essie dort zu arbeiten, und zwar in der Spülküche. Sie war ein dürres kleines Ding mit großen braunen Augen und dunkelbraunem Haar und beileibe nicht die Fleißigste, vielmehr schlich sie sich bei jeder Gelegenheit von der Arbeit davon, um irgendwelchen Geschichten und Erzählungen zu lauschen, sobald sich nur jemand fand, der sie erzählte: Geschichten von Elfen- und Koboldwesen, den Pixies und Spriggans, von den schwarzen Hunden des Moores und den Seehundfrauen aus dem Kanal. Und obwohl der Gutsherr über derlei Dinge nur lachte, stellte das Küchenpersonal des Nachts immer eine Porzellanschüssel voll der sahnigsten Milch für die Pixies nach draußen vor die Küchentür.

Einige Jahre vergingen, und Essie war längst kein dürres kleines Ding mehr: Jetzt rundete und bauschte sich ihr Leib wie die Dünung der grünen See, ihre braunen Augen lachten und ihre kastanienbraunen Locken umflatterten sie keck und munter. Essies Augen fielen auf Bartholomew, des Gutsherrn achtzehnjährigen Sohn, der von Rugby auf Ferien gekommen war, und sie ging des Nachts zu dem Menhir am Rande des Waldes und legte etwas Brot, von dem Bartholomew gegessen und das sie in eine Locke ihres Haars gewickelt hatte, auf den Stein. Und schon am nächsten Tag kam Bartholomew und sprach mit ihr, während sie den Kamin in seinem Schlafzimmer ausfegte, und seine Augen ruhten wohlgefällig auf ihr, Augen von dem gefährlichen Blau des Himmels, wenn ein Sturm nahte.

Er habe so gefährliche Augen, waren Essie Tregowans Worte.

Bald darauf ging Bartholomew nach Oxford, und als Essies Zustand sich offenbarte, wurde sie entlassen. Das Kindchen jedoch war eine Totgeburt, und um Essies Mutter, die eine hervorragende Köchin war, eine Gunst zu erweisen, ließ der Gutsherr sich von seiner Frau dazu bewegen, das junge, wenn auch nicht mehr jungfräuliche Mädchen wieder in dessen vormaliger Stellung in der Spülküche einzusetzen.

Essies Liebe zu Bartholomew aber hatte sich in einen Hass auf dessen Familie verwandelt, und bevor ein Jahr vergangen war, erwählte sie zu ihrem neuen Verehrer einen Mann aus einem benachbarten Dorfe, der den Namen Josiah Horner führte und einen schlechten Ruf genoss. Eines Nachts, als die Familie schlief, stieg Essie aus dem Bett und entriegelte die Seitentür, um ihren Buhler einzulassen. Dieser plünderte das Haus, während dessen Bewohner den Schlaf des Gerechten schliefen.

Der Verdacht fiel augenblicklich auf ein Mitglied des Haushalts, da offensichtlich war, dass jemand die Tür geöffnet haben musste (und des Gutsherrn Frau erinnerte sich genau, sie verriegelt zu haben), und jemand musste auch gewusst haben, wo der Gutsherr sein Silbergeschirr hatte und in welcher Schublade er seine Münzen und Wechsel verwahrte. Dennoch konnte Essie, die entschieden alle Anschuldigungen bestritt, nicht überführt werden, bis Master Josiah Horner ergriffen wurde, als er bei einem Krämer in Exeter einen von des Gutsherrn Wechsel weiterverkaufen wollte. Der Gutsherr identifizierte diesen als sein Eigentum, und Horner und Essie wurden vor Gericht gestellt.

Horner wurde vom örtlichen Schwurgericht abgeurteilt und dem Henker übergeben, Essie dagegen erweckte, wohl auf Grund ihres Alters und ihres kastanienbraunen Haars, das Mitleid des Richters, und so verurteilte er sie zu sieben Jahren Deportation. Sie wurde auf ein Schiff namens Neptun verbracht, welches unter dem Befehl eines gewissen Kapitäns Clarke stand. Also fuhr Essie zu den Carolinas, und auf der Reise ging sie eine Verbindung mit besagtem Kapitän ein, den sie alsbald dazu bewegen konnte, sie wieder mit zurück nach England zu nehmen, nämlich als seine Frau, und sie in das Haus seiner Mutter in London zu führen, wo sie kein Mensch kannte. Die Rückfahrt – die menschliche Fracht war mittlerweile gegen Baumwolle und Tabak eingetauscht worden – stellte sich als eine friedliche und entschieden glückliche Zeit für den Kapitän und dessen neue Braut dar. Sie führten sich wie die Turteltäubchen auf, konnten gar nicht voneinander lassen und überhäuften sich gegenseitig mit kleinen Aufmerksamkeiten und Zärtlichkeiten.

In London angekommen, quartierte Kapitän Clarke Essie bei seiner Mutter ein, welche jene in jeder Hinsicht als die neue Ehefrau ihres Sohnes annahm. Acht Wochen später hisste die Neptun erneut die Segel, und die hübsche junge Braut mit dem kastanienbraunen Haar winkte ihrem Gatten vom Kai aus Lebewohl. Danach kehrte sie ins Haus ihrer Schwiegermutter zurück und bemächtigte sich in deren Abwesenheit einiger Ellen Seide, mehrerer Goldmünzen und eines Silbertopfes, in dem die alte Frau ihre Knöpfe aufbewahrte, und nachdem Essie alles eingesteckt hatte, verschwand sie in den Freudenhäusern von London.

Im Verlauf der nächsten zwei Jahre entwickelte Essie sich zu einer versierten Ladendiebin, deren weite Röcke sie in den Stand versetzten, eine Vielzahl von Sünden, in der Hauptsache gestohlene Ballen von Seide und Spitze, zu verbergen, und sie genoss das Leben in vollen Zügen. Ihren Dank dafür, aus allen Wechselfällen des Lebens unbeschadet hervorgegangen zu sein, stattete sie jenen Geschöpfen ab, von denen ihr als Kind erzählt worden war, den Pixies etwa (deren Einfluss, davon war sie fest überzeugt, bis nach London reichte), und jede Nacht stellte sie eine Holzschüssel voll Milch auf den Fenstersims, obwohl ihre Freundinnen sie dafür auslachten; sie aber war es, die zuletzt lachte, alldieweil ihre Freundinnen die Pocken bekamen oder den Tripper, während Essie stets kerngesund blieb.

Sie stand ein Jahr vor ihrem zwanzigsten Geburtstag, als das Schicksal ihr einen üblen Schlag versetzte: Sie saß in der Schänke »Zu den Gekreuzten Gabeln« in Bell Yard nahe der Fleet Street, als sie einen jungen Mann erblickte, der sich nach dem Eintreten in der Nähe des Kamins niederließ, offenbar frisch von der Universität gekommen. Oho! Ein leichtes Opfer, sagt sich Essie und setzt sich neben ihn, um ihm zu versichern, was für ein feiner junger Herr er sei, und dabei beginnt sie ihm mit der einen Hand das Knie zu streicheln, während die andere Hand vorsichtig auf die Suche nach seiner Taschenuhr geht. Doch dann blickte er ihr geradewegs ins Gesicht, und ihr sank das Herz, nachdem es vor Schreck zuvor einen Hupfer gemacht hatte, denn da bohrten sich Augen von dem gefährlichen Blau eines Sommerhimmels vor dem Sturm in ihr Gesicht, und Master Bartholomew redete sie mit Namen an.

Sie wurde nach Newgate geschafft und wegen Rückkehr aus der Deportation unter Anklage gestellt. Für schuldig befunden, vermochte Essie zunächst niemanden mehr dadurch zu irritieren, dass sie ihren Bauch ins Feld führte, doch sahen sich die städtischen Oberinnen, denen die Prüfung solcher Behauptungen (welche in aller Regel gegenstandslos waren) oblag, zu ihrer großen Überraschung gezwungen, die Tatsache zu bestätigen, dass Essie ein Kind im Leibe trug; freilich, wer der Vater war, das weigerte Essie sich zu enthüllen.

So wurde ihre Todesstrafe einmal mehr in eine Deportation umgewandelt, diesmal mit dem Urteil lebenslänglich.

Das Schiff, auf dem sie ausfuhr, hieß Meerjungfrau. Es waren zweihundert Deportierte an Bord, in den Laderaum gepfercht wie Schweine auf dem Weg zum Markt. Ausfluss und Fieber grassierten; es gab kaum Platz sich hinzusetzen, geschweige denn sich liegend auszustrecken; eine Frau starb bei der Niederkunft im hinteren Teil des Laderaums, und da die Leute zu eng gedrängt waren, als dass man sie hätte nach vorn bringen können, zwängte man sie und das Kind hinten durch ein kleines Bullauge ohne Umschweife ins aufgewühlte graue Meer hinaus. Essie war im achten Monat, und es war ein Wunder, dass sie das Kind durchbrachte, aber so war es.

In ihrem ganzen späteren Leben wurde sie von Albträumen über diese Zeit im Laderaum geplagt, sie wachte dann schreiend auf und hatte den Geschmack und den Gestank jenes Ortes im Hals.

Die Meerjungfrau lief in Norfolk in Virginia ein, und Essies Kontrakt wurde von einem »kleinen Pflanzer« gekauft, einem Tabakfarmer namens John Richardson, welchem die Frau, eine Woche nachdem sie ihm eine Tochter geboren hatte, am Kindbettfieber gestorben war und der eine Amme benötigte sowie eine Dienstmagd für alle anfallenden Arbeiten auf seinem Kleinlandbesitz.

So saugte also Essies kleiner Junge, den sie Anthony nannte – nach seinem Vater, ihrem verstorbenen Gatten, wie sie sagte (es war ja niemand da, der dies anzweifeln konnte, und vielleicht hatte sie tatsächlich einmal einen Anthony gekannt) – gemeinsam mit Phyllida Richardson an ihrer Brust, und die Tochter ihres Arbeitgebers kam stets zuerst dran, sodass ein gesundes Kind aus ihr wurde, groß und stark, während Essies Sohn schwächlich und hinfällig blieb, weil nie genug für ihn übrig war.

Und wie die Kinder heranwuchsen, saugten sie nicht nur Essies Milch, sondern auch ihre Erzählungen in sich hinein: Geschichten von den Klopfern und den Blaukappen, die tief unten in den Minen wohnen; von dem Bucca, dem raffiniertesten Geist des Landes, viel gefährlicher als die rothaarigen, stupsnasigen Pixies, für die man den ersten Fisch aus jedem Fang auf dem Kies liegen ließ und denen man zur Zeit der Aussaat einen frisch gebackenen Brotlaib aufs Feld legte, um für eine gute Ernte zu sorgen; auch erzählte sie ihnen von den Apfelbaummännern – alte Apfelbäume, die redeten, wenn ihnen danach war, und die mit dem ersten Most aus der Ernte besänftigt werden mussten, indem man diesen zur Jahreswende auf ihre Wurzeln goss, damit sie auch im nächsten Jahr prächtig trugen. In ihrem einschmeichelnden kornischen Singsang schärfte sie ihnen ein, vor welchen Bäumen sie sich in Acht zu nehmen hätten, und sprach ihnen die alten Verse vor:


Die Ulme, die ist mürrisch,

Die Eiche hasst mit Macht,

Der Weiden-Mann aber schleicht dir nach

In tiefer, dunkler Nacht.


All diese Dinge erzählte sie ihnen, und die Kinder glaubten diesen Erzählungen, weil auch Essie daran glaubte.

Die Farm gedieh, und jede Nacht stellte Essie Tregowan für die Pixies eine Porzellanuntertasse voll Milch vor die Hintertür. Und nach acht Monaten begab es sich, dass John Richardson leise an Essies Stubentür klopfte und die Art von Gunstbezeigung begehrte, die eine Frau einem Mann gewähren kann, und Essie stellte ihm dar, wie entsetzt und verletzt sie sei, dass sie, eine arme Witwe und Dienstpflichtige, kaum besser gestellt als eine Sklavin, sich einem Mann hingeben solle, von dem sie eine solch hohe Meinung habe – und als Kontraktdienerin könne sie nicht heiraten, wie er da also auch nur erwägen könne, eine deportierte Dienstpflichtige derart zu quälen, das könne sie sich gar nicht ausdenken –, und ihre nussbraunen Augen füllten sich mit Tränen, sodass Richardson sie, ehe er sich’s versah, um Verzeihung bat, und am Ende lief es darauf hinaus, dass John Richardson in jener heißen Sommernacht im Flur niederkniete, um Essie Tregowan das Ende ihrer Dienstverpflichtung und ihr seine Hand als Ehemann anzutragen. Aber obgleich sie ihn erhörte, wollte sie keine Nacht bei ihm schlafen, solange es nicht rechtlich war, erst dann zog sie aus ihrer kleinen Kammer im Dachboden in das Elternschlafzimmer im vorderen Teil des Hauses; und wenn auch einige von Farmer Richardsons Freunden und deren Gattinnen ihm, als man sich in der Stadt begegnete, die kalte Schulter zeigten, war man meistenteils doch der Ansicht, dass die neue Mistress Richardson eine verdammt hübsche Frau sei und dass Johnnie Richardson sich fürwahr einen großen Gefallen getan habe.

Innerhalb eines Jahres wurde sie von einem weiteren Kind entbunden, wieder einem Jungen, diesmal so blond wie sein Vater und seine Stiefschwester, und nach jenem nannte sie ihn auch John.

Die drei Kinder besuchten sonntags die örtliche Kirche, um dem Wanderprediger zu lauschen, und sie gingen in die kleine Schule, um mit den Kindern der anderen Kleinfarmer das Alphabet und die Zahlen zu lernen; gleichwohl sorgte Essie dafür, dass sie auch die Geheimnisse der Pixies kannten, welches die wichtigsten Geheimnisse waren, die es gab: Das waren die rothaarigen Männchen mit Stupsnasen und Augen und Kleidern so grün wie der Fluss, lustige, schielende Männer, die einen, wenn es ihnen danach gelüstete, drehen und herumwirbeln und vom Wege abbringen konnten, es sei denn, man hatte Salz in der Tasche oder etwas Brot. Wenn die Kinder sich auf den Weg zur Schule machten, führten sie in der einen Tasche etwas Salz und in der anderen etwas Brot mit sich, die althergebrachten Symbole des Lebens und der Erde, um sicherzustellen, dass sie sicher wieder nach Hause kommen würden, und das taten sie auch immer.

Die Kinder wuchsen in den üppigen Hügeln Virginias auf, wurden groß und kräftig (wenngleich Anthony, ihr Erstgeborener, immer etwas schwächlicher, blasser war als die anderen und anfälliger für Krankheiten und Launen), die Richardsons waren glücklich, und Essie liebte ihren Mann so gut sie es vermochte. Sie waren im zehnten Jahr ihrer Ehe, als John Richardson so schlimme Zahnschmerzen bekam, dass er darob vom Pferd fiel. Sie brachten ihn in die nächste Stadt, wo der Zahn gleich herausgezogen wurde; aber es war schon zu spät, die Blutvergiftung raffte ihn, stöhnend und mit schwarzem Gesicht, dahin, und sie begruben ihn unter seiner Lieblingsweide.

Die Witwe Richardson hinterblieb mit der Aufgabe, die Farm zu führen, bis Richardsons beide Kinder volljährig waren: Sie regelte den Einsatz der Kontraktdiener und der Sklaven, und Jahr für Jahr brachte sie die Tabakernte ein, an Neujahr goss sie Most auf die Wurzeln der Apfelbäume, und zur Erntezeit legte sie einen frisch gebackenen Brotlaib aufs Feld, und immer stellte sie eine Untertasse voll Milch vor die Hintertür. Die Farm florierte, und die Witwe Richardson erwarb sich den Ruf einer zähen Feilscherin, freilich einer, deren Ware immer gut war und die niemals etwas Minderwertiges verkaufte, um etwa einen besseren Profit zu machen.

Und so lief noch weitere zehn Jahre alles zur Zufriedenheit, danach aber kam ein böses Jahr: Anthony nämlich, ihr Sohn, erschlug seinen Stiefbruder Johnnie bei einem wilden Streit um die Zukunft der Farm und die Vergabe von Phyllidas Hand. Manche sagten, er habe seinen Bruder nicht töten wollen und nur in seiner Unbesonnenheit einen Schlag geführt, der zu tief ging, andere aber behaupteten das Gegenteil. Anthony floh, und Essie musste ihren jüngsten Sohn an der Seite seines Vaters begraben. Nun meinten einige, Anthony sei nach Boston geflohen, andere hielten dafür, er sei in den Süden gegangen, und seine Mutter war der Ansicht, er habe sich nach England eingeschifft, in König Georgs Armee einzutreten und gegen die aufständischen Schotten zu kämpfen. Ohne die beiden Söhne aber war die Farm ein leerer und trauriger Ort, und Phyllida wehklagte und verzehrte sich, dass man meinen musste, das Herz sei ihr zerbrochen, und ihre Stiefmutter konnte sagen oder tun, was sie wollte, das Lächeln kehrte nicht wieder auf ihre Lippen zurück.

Indes, gebrochenes Herz oder nicht, es wurde ein Mann auf der Farm gebraucht, und so heiratete Phyllida einen gewissen Harry Soames, Schiffszimmerer von Beruf, der der Seefahrt müde geworden war und von einem Leben an Land träumte, auf einer Farm wie der in Lincolnshire, wo er aufgewachsen war. Und obgleich die Farm der Richardsons dieser Vorstellung wenig genug entsprach, fand Harry Soames genügend Ähnlichkeiten, um sich damit zufrieden zu geben. Fünf Kinder gebar Phyllida ihrem Harry, drei davon blieben am Leben.

Die Witwe Richardson vermisste ihre Söhne, und sie vermisste auch ihren Ehemann, obgleich nicht viel mehr von ihm geblieben war als die Erinnerung an einen guten Mann, der sie anständig behandelt hatte. Phyllidas Kinder kamen zu Essie, um Geschichten von ihr zu hören, und sie erzählte ihnen vom Schwarzen Hund der Moore und vom Totenkopf mann mit den blutigen Knochen oder vom Apfelbaummann, aber das interessierte sie nicht; sie wollten nur Geschichten von Jack hören – Jack und die Bohnenstange, Jack der Riesentöter oder Jack und seine Katze und der König. Sie liebte diese Kinder, als wären sie ihr eigen Fleisch und Blut, und manchmal nannte sie sie bei den Namen der längst Verstorbenen.

Es war im Mai, da nahm sie einen Stuhl mit nach draußen in den Küchengarten, um mit ihren alten Händen Erbsen zu lesen und sie im Sonnenschein auszuschälen, denn selbst in der blühenden Hitze von Virginia kroch ihr jetzt die Kälte in die Knochen, wie ihr auch der Reif in die Haare gekrochen war, und ein bisschen Wärme war eine feine Sache.

Während die Witwe Richardson mit ihren alten Händen die Erbsen ausschälte, kam ihr der Gedanke, wie schön es doch wäre, noch einmal über die Moore und die salzigen Klippen ihrer Heimat Cornwall zu wandern, und sie erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen auf dem kiesigen Strand gesessen und gewartet hatte, dass das Schiff ihres Vaters von der grauen See zurückkehrte. Ihre Hände, blauknöchelig und unbeholfen, öffneten die Erbsenschoten, drückten die runden Erbsen in eine Tonschüssel und ließen die leeren Schoten in ihre Schürze fallen. Und dann erinnerte sie sich auf einmal an das, woran sie lange Zeit nicht mehr gedacht hatte, an ihr versunkenes Leben: wie sie Handtaschen entwendet und Seide stibitzt hatte mit ihren geschickten Fingern, und jetzt denkt sie auch an den Wärter in Newgate, der ihr erzählt, dass es noch gut und gern zwölf Wochen seien, bevor ihr Fall verhandelt werde, und dass sie dem Galgen entrinnen könne, wenn sie einen runden Bauch vorzeige, und was für ein hübsches Ding sie doch sei – wie sie sich dann zur Wand gedreht und tapfer ihre Röcke gehoben hatte, mit Hass auf sich selbst und Hass auf ihn, aber im Wissen, dass er Recht hatte; und dann, wie sie spürte, dass das Leben sich in ihr regte, was wiederum bedeutete, dass sie dem Tod noch einmal eine Nase drehen konnte …

»Essie Tregowan?«, sagte der Fremde.

Die Witwe Richardson blickte auf und hielt eine Hand schützend gegen die Maisonne vor die Augen. »Kenne ich Euch?«, fragte sie ihn. Sie hatte ihn nicht nahen gehört.

Der Mann war ganz in Grün gekleidet – schmutzig grün karierte, enge Hosen, grüne Jacke und ein dunkelgrüner Mantel. Er hatte karottenrotes Haar, und sein Grinsen war ganz schief. Der Mann hatte etwas an sich, was ihr beim Betrachten Freude machte, und aber auch etwas, was flüsternd Gefahr verkündete. »Könnte man wohl sagen, dass Ihr mich kennt«, sagte er.

Er schielte zu ihr herunter, und sie linste mit zusammengekniffenen Augen zurück, suchte in seinem Mondgesicht nach Hinweisen darauf, wer er war. Dem Aussehen nach war er so jung wie ihre Enkelkinder, doch hatte er sie bei ihrem alten Namen genannt, und da war ein Schnarren und Surren in seiner Stimme, das sie aus ihrer Kindheit, von den Felsen und den Mooren ihrer Heimat her kannte.

»Seid Ihr aus Cornwall?«, fragte sie.

»Das bin ich, bin ein echter Cousin Jack«, sagte der rothaarige Mann. »Oder besser: Ich war’s, doch jetzt bin ich hier in dieser neuen Welt, wo niemand mal ein bisschen Ale oder Milch für einen ehrlichen Gesellen vor die Tür stellt, oder einen Laib Brot zur Erntezeit.«

Die alte Frau hielt die Erbsenschüssel auf ihrem Schoß fest. »Wenn Ihr der seid, für den ich Euch halte«, sagte sie, »dann habe ich nichts gegen Euch.« Im Haus war Phyllida zu hören, die gerade mit der Haushälterin schimpfte.

»Und ich nichts gegen Euch«, sagte der Rothaarige ein bisschen traurig, »obgleich Ihr es wart, die mich hierher gebracht hat, Ihr und einige wenige Eures Schlages, hier in dieses Land, das keine Zeit für Magie hat und keinen Platz für Pixies und derlei Volk.«

»Ihr habt mir manch guten Dienst erwiesen«, sagte sie.

»Gute und schlechte«, sagte der schielende Fremde. »Wir sind wie der Wind, der in beide Richtungen bläst.«

Essie nickte.

»Willst du meine Hand nehmen, Essie Tregowan?« Er hielt ihr seine Hand hin. Sommersprossig war sie, und obwohl Essies Sehkraft schwand, konnte sie jedes einzelne orange Haar auf seinem Handrücken erkennen, wie es in der Nachmittagssonne golden glänzte. Sie biss sich auf die Lippen. Dann legte sie zögernd ihre blauknotige Hand in seine.

Sie war noch warm, als man sie fand, aber das Leben war aus ihrem Körper gewichen, und erst die Hälfte der Erbsen war ausgeschält.

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