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They took her to the cemet’ry

In a big ol’ Cadillac

They took her to the cemet’ry

But they did not bring her back.

– altes Lied


»Ich habe mir erlaubt«, sagte Mr. Wednesday, während er sich in der Männertoilette von Jack’s Crocodile Bar die Hände wusch, »Essen für mich zu bestellen und es an Ihrem Tisch servieren zu lassen. Wir haben schließlich eine Menge zu besprechen.«

»Von wegen«, sagte Shadow. Er trocknete sich die Hände mit einem Papiertuch ab, das er anschließend zerknüllte und in den Abfalleimer fallen ließ.

»Sie brauchen einen Job«, sagte Wednesday. »Strafentlassene werden nicht gern eingestellt. Ihr bereitet den Leuten Unbehagen.«

»Ich hab schon einen Job. Einen guten Job.«

»Wäre das unter Umständen der Job in dem Fitnesscenter?«

»Vielleicht«, sagte Shadow.

»Nee. Nichts da. Robbie Burton ist tot. Ohne ihn ist das Fitnesscenter auch tot.«

»Sie sind ein Lügner.«

»Selbstverständlich. Und ein guter dazu. Der beste, den Sie je erleben werden. In diesem Fall allerdings, fürchte ich, spreche ich die Wahrheit.« Er griff in die Tasche, zog eine zusammengefaltete Zeitung heraus und reichte sie Shadow. »Seite sieben«, sagte er. »Kommen Sie mit zurück in die Bar. Sie können das auch am Tisch lesen.«

Shadow stieß die Tür auf. Die Luft in der Bar war blau vor Rauch, und in der Jukebox sangen die Dixie Cups »Iko Iko«. Shadow musste ein wenig lächeln, als er das alte Kinderlied erkannte.

Der Barkeeper zeigte auf einen Tisch in der Ecke. Auf der einen Seite waren eine Schüssel Chili und ein Burger serviert, auf der Seite gegenüber ein englisch gebratenes Steak und eine Schüssel mit Fritten.


Look at my king all dressed in red,

Iko Iko unday,

I betcha five dollars he’ll kill you dead,

Jockamo-feena-nay


Shadow nahm seinen Platz am Tisch ein. Die Zeitung legte er zur Seite. »Das hier ist meine erste Mahlzeit als freier Mann. Ich warte, bis ich gegessen habe, bevor ich Ihre Seite sieben lese.«

Shadow aß seinen Hamburger. Er war besser als die Hamburger im Gefängnis. Das Chili war gut, aber, wie er nach einigen Löffeln befand, nicht das beste im ganzen Staat.

Laura machte großartiges Chili. Sie verwendete mageres Fleisch, dunkle Kidneybohnen, klein geschnittene Karotten, etwa eine Flasche Dunkelbier und frisch gehobelte Peperoni. Sie ließ das Chili eine Weile kochen, fügte dann Rotwein, Zitronensaft und eine Prise frischen Dill hinzu, um zu guter Letzt ihr Chilipulver abzumessen und zuzugeben. Mehr als einmal hatte Shadow sich beibringen lassen wollen, wie es ging; er passte dann genau auf, was sie machte, angefangen vom Zerschneiden der Zwiebeln, die anschließend in das im Topf heiß werdende Olivenöl gegeben wurden. Er hatte sich sogar das Rezept aufgeschrieben, alle Zutaten einzeln aufgeführt, und einmal, an einem Wochenende, als Laura nicht in der Stadt war, hatte er sich Lauras Chili gekocht. Es schmeckte okay – es war auf jeden Fall essbar, aber es war nicht Lauras Chili.

Die Zeitungsmeldung auf Seite sieben war der erste Bericht über den Tod seiner Frau, den Shadow zu lesen bekam. Laura Moon, deren Alter mit siebenundzwanzig angegeben wurde, und Robbie Burton, neununddreißig, waren auf der Interstate gefahren, als Robbies Auto ausscherte und in die Bahn eines zweiunddreißigrädrigen Lastwagens geriet. Der Laster streifte Robbies Auto, das daraufhin von der Straße schleuderte.

Rettungsmannschaften zogen Robbie und Laura aus den Trümmern. Bei Eintreffen im Krankenhaus waren beide schon tot.

Shadow faltete die Zeitung noch einmal zusätzlich und schob sie über den Tisch auf Wednesday zu, der sich an seinem Steak gütlich tat; das Steak sah so blutig und blau aus, dass sich der Eindruck aufdrängte, es sei nie mit einer Herdflamme in Berührung gekommen.

»Hier. Können Sie wiederhaben«, sagte Shadow.

Robbie war gefahren. Zwar schwieg der Zeitungsbericht sich über diesen Punkt aus, aber er musste wohl betrunken gewesen sein. Unwillkürlich stellte Shadow sich Lauras Gesicht vor, als sie erkannte, dass Robbie zu betrunken war, um zu fahren. Das Szenarium entfaltete sich in Shadows Kopf, und er konnte nichts tun, um dem Einhalt zu gebieten: Laura, wie sie Robbie anschreit – ihn anschreit, er solle an die Seite fahren, dann der Aufprall von Auto gegen Laster und das Steuer, das verreißt …

… das Auto am Straßenrand, zerbrochenes Glas, das im Scheinwerferlicht wie Eis und Diamanten glitzert; das Blut, das rubinrote Lachen auf der Straße bildet. Zwei Leichen, die aus den Trümmern weggetragen oder ordentlich an den Straßenrand gelegt werden.

»Na?«, sagte Mr. Wednesday. Er war mit dem Steak fertig, hatte es wie ein Verhungernder verschlungen. Jetzt mampfte er die Fritten weg, die er mit der Gabel aufspießte.

»Sie hatten Recht«, sagte Shadow. »Ich habe keinen Job.«

Shadow nahm einen Vierteldollar aus der Tasche, Zahl nach oben. Er schnipste ihn in die Luft, berührte ihn beim Verlassen der Hand mit den Fingern der Linken, wodurch er ins Wackeln geriet, als würde er sich in der Luft drehen, fing ihn wieder auf und klatschte ihn auf den anderen Handrücken.

»Kopf oder Zahl«, sagte er.

»Was soll das?«, sagte Wednesday.

»Ich möchte nicht für jemanden arbeiten, der weniger Glück hat als ich. Sagen Sie an.«

»Kopf«, sagte Wednesday.

»Tut mir Leid«, sagte Shadow, ohne auch nur einen Blick auf die Münze zu werfen. »Es war Zahl. Ich habe den Wurf manipuliert.«

»Nichts leichter, als ein manipuliertes Spiel umzudrehen«, sagte Wednesday, indem er ihm mit einem ungewöhnlich breiten Finger drohte. »Gucken Sie mal nach.«

Shadow sah hin. Kopf lag oben.

»Ich muss ihn irgendwie nicht richtig gefangen haben«, sagte er verwirrt.

»Sie tun sich Unrecht«, sagte Wednesday und grinste. »Ich bin nur einfach ein ganz großer Glückspilz.« Dann blickte er auf. »Na, also so was! Mad Sweeney. Trinkst du einen mit uns?«

»Southern Comfort und Coke, ohne Eis«, sagte eine Stimme hinter Shadow.

»Ich geh mal und sprech mit dem Barkeeper«, sagte Wednesday. Er stand auf und machte sich auf den Weg zur Theke.

»Und mich fragen Sie nicht, was ich trinken will?«, rief Shadow ihm hinterher.

»Ich weiß schon, was Sie trinken«, sagte Wednesday, und dann stand er schon an der Theke. In der Jukebox setzte Patsy Cline wieder zu »Walking After Midnight« an.

Der Southern-Comfort-und-Cola-Mann setzte sich neben Shadow. Er hatte einen kurzen, rötlichen Bart. Er trug eine Jeansjacke mit aufgenähten hellen Flicken und darunter ein fleckiges weißes T-Shirt. Die Aufschrift auf dem T-Shirt lautete:


WENN’S NICHT ZUM ESSEN, TRINKEN,

RAUCHEN ODER SCHNUPFEN

IST … DANN SCH*** DRAUF!


Er trug eine Baseballmütze, die ebenfalls eine Aufschrift hatte:


DIE EINZIGE FRAU, DIE ICH JE GELIEBT,

GEHÖRTE EINEM ANDERN …

MEINE MUTTER!


Mit seinem schmutzigen Daumennagel öffnete er eine weiche Packung Lucky Strikes, entnahm ihr eine Zigarette und bot dann auch Shadow eine an. Shadow wollte gerade annehmen – er rauchte zwar nicht, aber Zigaretten kann man immer gut tauschen –, da fiel ihm ein, dass er ja nicht mehr im Bau war. Er schüttelte den Kopf.

»Sie arbeiten also für unseren Mann?«, fragte der Bärtige. Er war nicht unbedingt betrunken, aber nüchtern konnte man ihn auch nicht nennen.

»Sieht so aus«, sagte Shadow. »Und was machen Sie so?«

Der Bärtige zündete seine Zigarette an. »Ich bin ein Leprechaun, ein irischer Kobold«, sagte er grinsend.

Shadow vermied ein Lächeln. »Wirklich?«, sagte er. »Müssten Sie dann nicht Guinness trinken?«

»Blödes Klischee. Sie sollten das Schubladendenken aufgeben«, sagte der Bärtige. »Irland hat mehr zu bieten als Guinness.«

»Sie sprechen nicht mit irischem Akzent.«

»Bin schon viel zu scheißlange hier.«

»Sie kommen aber ursprünglich aus Irland?«

»Hab ich doch gesagt. Ich bin ein Leprechaun. Wir kommen nicht aus Moskau oder was.«

»Wohl nicht.«

Wednesday kehrte an den Tisch zurück. Er hielt die drei Gläser problemlos in seinen Pranken. »Southern Comfort und Coke für dich, Mad Sweeney, mein Freund, und einen Jack Daniels für mich. Und das hier ist für Sie, Shadow.«

»Was ist das?«

»Probieren Sie nur.«

Das Getränk hatte eine gelbbraun-goldene Farbe. Shadow nahm einen kleinen Schluck und bekam eine seltsame Mischung aus sauer und süß auf die Zunge. Er konnte den Alkohol darunter schmecken und die merkwürdige Mischung der Aromen. Ein wenig erinnerte es ihn an den Gefängnisfusel, den sie in Mülltüten aus faulem Obst, Brot, Zucker und Wasser gebraut hatten, aber das hier war süßer und weitaus sonderbarer.

»Okay«, sagte Shadow. »Ich hab’s probiert. Was ist es?«

»Met«, sagte Wednesday. »Honigwein. Der Trank der Helden. Der Trank der Götter.«

Shadow nahm noch einen vorsichtigen Schluck. Ja, den Honig konnte man schmecken, fand er. Das war aber nur eine der Geschmacksnoten. »Schmeckt irgendwie nach Eingelegtem«, sagte er. »Süßer Essigsaftwein.«

»Schmeckt wie die Pisse von einem besoffenen Diabetiker«, stimmte Wednesday ihm zu. »Ich kann das Zeug nicht ausstehen.«

»Warum haben Sie es mir dann vorgesetzt?«

Wednesday starrte Shadow mit seinen unegalen Augen an. Eines davon, befand Shadow, war ein Glasauge, konnte aber nicht entscheiden, welches der beiden.

»Ich habe Ihnen Met zu trinken gebracht, weil es die Tradition verlangt. Und im Moment brauchen wir so viel Tradition, wie wir nur kriegen können. Es besiegelt unsere Abmachung.«

»Wir haben keine Abmachung getroffen.«

»Aber sicher. Sie arbeiten jetzt für mich. Sie beschützen mich. Sie befördern mich von einem Ort zum anderen. Sie machen Besorgungen. Im Notfall, aber nur im Notfall, tun Sie Leuten weh, denen wehgetan werden muss. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass ich zu Tode komme, halten Sie die Totenwache. Ich wiederum werde dafür sorgen, dass Ihren Bedürfnissen in angemessener Weise Rechnung getragen wird.«

»Er wickelt Sie ein«, sagte Mad Sweeney und rieb sich den rötlichen Stoppelbart. »Er ist ein Bauernfänger.«

»Logisch bin ich ein Bauernfänger«, sagte Wednesday. »Deswegen brauche ich ja jemanden, der sich um meine Angelegenheiten kümmert.«

Der Song in der Jukebox ging zu Ende, alle Unterhaltungen stockten, und so herrschte für einen Augenblick Stille in der Bar.

»Jemand hat mir mal erzählt, dass diese Momente, wo plötzlich alle gleichzeitig still sind, sich immer nur um zwanzig nach oder um zwanzig vor ereignen«, sagte Shadow.

Sweeney zeigte auf die Uhr, die im riesigen und gleichgültigen Maul eines ausgestopften Alligators über der Theke hing. Es war 23 Uhr 20.

»Da«, sagte Shadow. »Ich weiß allerdings ums Verrecken nicht, warum das so ist.«

»Ich weiß es«, sagte Wednesday. »Trinken Sie Ihren Met.«

Shadow kippte den Rest mit einem langen Schluck hinunter. »Auf Eis würde er vielleicht besser schmecken«, sagte er.

»Oder auch nicht«, sagte Wednesday. »Es ist ein fürchterliches Zeug.«

»Fürwahr«, stimmte Mad Sweeney zu. »Ihr entschuldigt mich für einen Moment, meine Herren, ich verspüre das starke und dringende Bedürfnis nach einer ausgiebigen Pinkelpause.« Er stand auf und entfernte sich, ein unglaublich hoch gewachsener Mann. Er musste gut und gern zwei Meter zehn messen, schätzte Shadow.

Eine Kellnerin wischte mit einem Tuch über den Tisch und trug die leeren Teller ab. Wednesday sagte ihr, sie möge für alle noch einmal das Gleiche bringen, Shadows Met diesmal allerdings on the rocks.

»Wie auch immer«, sagte Wednesday, »das ist es, was ich von Ihnen erwarte.«

»Möchten Sie meine Wünsche hören?«, fragte Shadow.

»Nichts könnte mich glücklicher machen.«

Die Kellnerin brachte die Getränke. Shadow nippte an seinem Met on the rocks. Das Eis brachte nicht viel – wenn überhaupt, dann verschärfte es die Säure und sorgte dafür, dass der Geschmack länger im Mund blieb, nachdem man das Zeug hinuntergeschluckt hatte. Shadow aber tröstete sich mit der Tatsache, dass das Ganze nicht sehr nach Alkohol schmeckte. Er wollte sich nicht betrinken. Noch nicht.

Er atmete tief durch.

»Okay«, sagte Shadow. »Mein Leben, das drei Jahre lang weit davon entfernt war, das tollste Leben aller Zeiten zu sein, hat soeben eine entschiedene und plötzliche Wendung zum Schlechteren genommen. Da gibt es zunächst einmal ein paar Dinge, die ich erledigen muss. Ich möchte zu Lauras Beerdigung gehen. Ich möchte mich verabschieden. Ich sollte ihre Angelegenheiten regeln. Wenn Sie mich dann immer noch gebrauchen können, möchte ich mit fünfhundert die Woche anfangen.« Die Zahl war ein Schuss ins Blaue. Wednesdays Blick verriet keine Reaktion. »Wenn wir beide zufrieden sind mit unserer Zusammenarbeit, erhöhen Sie nach sechs Monaten auf tausend die Woche.«

Er hielt inne. Es war die längste Rede, die er in den letzten Jahren gehalten hatte. »Sie sagen, dass es nötig sein könnte, Leuten wehzutun. Nun, ich werde jedem wehtun, der versucht, Ihnen wehzutun. Aber ich verletze niemanden aus Spaß oder gegen Geld. Ich gehe nicht wieder ins Gefängnis zurück. Einmal reicht.«

»Das werden Sie nicht müssen«, sagte Wednesday.

»Nein«, sagte Shadow. »Bestimmt nicht.« Er trank sein Glas aus. Irgendwo in seinem Kopf tauchte plötzlich die Frage auf, ob wohl der Met es war, der ihm die Zunge gelockert hatte. Aber die Worte schossen aus ihm heraus wie das Wasser aus einem geplatzten Hydranten im Sommer, und selbst wenn er gewollt hätte, hätte er sie nicht aufhalten können. »Ich mag Sie nicht, Mr. Wednesday, oder wie immer Sie in Wirklichkeit heißen mögen. Wir sind keine Freunde. Ich weiß nicht, wie Sie aus dem Flugzeug steigen konnten, ohne von mir gesehen zu werden, oder wie Sie meine Spur hierher verfolgt haben. Aber ich habe im Moment keine andere Beschäftigung. Wenn wir fertig sind, bin ich weg. Und wenn Sie mich annerven, bin ich auch weg. Bis dahin arbeite ich erst mal für Sie.«

»Sehr gut«, sagte Wednesday. »Dann machen wir einen Vertrag. Und wir sind uns einig.«

»Was soll’s«, sagte Shadow. Auf der anderen Seite des Raumes stopfte Mad Sweeney Vierteldollarstücke in die Jukebox. Wednesday spuckte sich in die Hand und hielt sie ausgestreckt. Shadow zuckte die Achseln. Auch er spuckte sich in den Handteller. Sie schüttelten sich die Hand. Wednesday begann zu drücken. Shadow drückte zurück. Nach ein paar Sekunden schmerzte ihm die Hand. Wednesday hielt den Griff noch etwas länger, dann ließ er los.

»Gut«, sagte er. »Gut. Sehr gut. Also, noch ein letztes Glas von dem abscheulichen Scheißmet, um unsere Vereinbarung zu besiegeln, dann sind wir damit durch.«

»Für mich Southern Comfort und Coke, bitte sehr«, sagte Sweeney, der eben von der Jukebox zurückgeschlingert kam.

Die Jukebox spielte jetzt »Who Loves the Sun?« von Velvet Underground. Shadow wunderte sich. Es kam ihm höchst unwahrscheinlich vor, dass eine Jukebox einen Song wie diesen enthalten sollte. Andererseits hatte der gesamte Abend eine zusehends unwahrscheinliche Note angenommen.

Shadow nahm den Vierteldollar, den er für den Münzenwurf benutzt hatte, vom Tisch, genoss das Gefühl, das die frisch gerändelte Münze den Fingern bereitete, und zeigte sie zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand vor. Mit einer flüssigen Bewegung schien er sie in die linke Hand zu nehmen, drückte sie aber unauffällig mit dem Finger in den Handteller der rechten. Er schloss die linke Hand um den imaginären Vierteldollar. Dann nahm er einen zweiten Quarter in die rechte Hand, zwischen Finger und Daumen, und ließ, während er so tat, als würde er diese Münze in die linke Hand nehmen, den palmierten Quarter so in die rechte Hand fallen, dass er unterwegs gegen den anderen stieß. Das Klimpern bestärkte die Illusion, dass beide Münzen nun in seiner linken Hand lagen, während sie beide sicher in der rechten ruhten.

»Ah, Münzentricks, wie?«, sagte Sweeney und hob das Kinn, auf dem der struppige Bart sich zu sträuben schien. »Also, wenn wir Münzentricks machen wollen, dann passen Sie mal auf.«

Er nahm ein leeres Glas vom Tisch. Dann streckte er die Hand aus und holte eine große, golden glänzende Münze aus der Luft. Er ließ sie ins Glas fallen. Er nahm eine weitere Goldmünze aus der Luft und warf sie ins Glas, wo sie klimpernd auf die erste fiel. Er holte eine Münze aus der Flamme einer Wandkerze, eine weitere aus seinem Bart, eine dritte aus Shadows leerer linker Hand, und ließ sie, eine nach der anderen, in das Glas fallen. Dann rollte er die Finger über dem Glas ein und pustete kräftig auf die Hand, worauf weitere Goldmünzen ins Glas purzelten. Er kippte sich das Glas mit den klebrigen Münzen in die Jackentasche und klopfte dann darauf, um zu demonstrieren, dass die Tasche unzweifelhaft leer war.

»Da«, sagte er. »Das nenne ich einen Münzentrick!«

Shadow, der aufmerksam zugesehen hatte, legte den Kopf schief. »Ich muss unbedingt wissen, wie Sie das gemacht haben.«

»Soll ich sagen, wie ich’s gemacht habe?«, sagte Sweeney mit der Geste eines Mannes, der im Begriff ist, ein großes Geheimnis zu enthüllen. »Mit Schwung und Stil. So hab ich’s gemacht.« Er lachte leise, schaukelte auf dem Stuhl und entblößte die lückenhaften Zahnreihen.

»Ja«, sagte Shadow. »Das stimmt. Sie müssen es mir aber beibringen. Nach allem, was ich über den ›Traum des Geizkragens‹ gelesen habe, würde ich vermuten, dass Sie die Münzen in der Hand verstecken, die das Glas hält, und sie reinfallen lassen, während Sie die Münze in Ihrer rechten Hand auftauchen und verschwinden lassen.«

»Klingt nach saumäßig viel Arbeit«, sagte Mad Sweeney. »Es ist leichter, sie einfach aus der Luft zu pflücken.«

»Met für Sie, Shadow«, sagte Wednesday. »Ich bleib Herrn Jack Daniel’s treu, und für unseren nassauernden Iren …?«

»Ein Flaschenbier, vorzugsweise etwas Dunkles«, sagte Sweeney. »Nassauer also, ja?« Er hob sein Glas und brachte, obwohl es bereits weitgehend geleert war, einen Toast aus. »Möge der Sturm über uns hinwegziehen, auf dass wir unversehrt und guten Mutes bleiben.«

»Ein wunderbarer Trinkspruch«, sagte Wednesday. »Wird er aber nicht.«

Shadow wurde ein weiteres Glas Met serviert.

»Muss ich das trinken?«

»Leider ja. Es besiegelt unsere Abmachung. Aller guten Dinge sind drei, nicht wahr?«

»Scheiße«, sagte Shadow. Er schluckte den Met in zwei großen Zügen hinunter. Der Geschmack von Eingelegtem und Honig machte sich wieder in seinem Mund breit.

»Da«, sagte Mr. Wednesday. »Jetzt sind Sie mein Mann.«

»Also«, sagte Sweeney, »wollen Sie hören, wie der Trick funktioniert?«

»Ja«, sagte Shadow. »Hatten Sie sie im Ärmel versteckt?«

»Sie waren zu keiner Zeit in meinem Ärmel.« Er gluckste in sich hinein, schaukelte und hüpfte, als wäre er ein schlaksiger, bärtiger Vulkan, der sich anschickte, aus lauter Vergnügen über die eigene Genialität auszubrechen. »Es ist der simpelste Trick der Welt. Prügeln wir uns doch darum.«

Shadow schüttelte den Kopf. »Verzichte.«

»Also, das ist ja toll«, sprach Sweeney in die Runde. »Der alte Wednesday besorgt sich einen Bodyguard, und dann hat der Bursche doch glatt Angst davor, mal ein bisschen die Fäuste zu schwingen.«

»Ich schlage mich nicht mit Ihnen«, sagte Shadow fest.

Sweeney schwankte und schwitzte. Er fummelte am Schirm seiner Baseballmütze. Dann pflückte er eine seiner Münzen aus der Luft und legte sie auf den Tisch. »Echtes Gold, falls Sie sich fragen sollten«, sagte Sweeney. »Ob Sieg oder Niederlage – und Sie werden unterliegen –, sie gehört Ihnen, wenn Sie mit mir kämpfen. So ein großer Bursche wie Sie – wer hätte gedacht, dass Sie ein verdammter Feigling sind?«

»Er hat bereits gesagt, dass er sich nicht mit dir prügelt«, sagte Wednesday. »Geh jetzt, Mad Sweeney. Nimm dein Bier und lass uns in Frieden.«

Sweeney machte einen Schritt auf Wednesday zu. »Mich einen Nassauer nennen, was, du abgetakeltes Geschöpf? Du kaltblütiger, herzloser alter Baumhänger.« Sein Gesicht wurde dunkelrot vor Wut.

Wednesday streckte die Hände mit den Innenflächen nach oben aus, wie um ihn zu beschwichtigen. »Unfug, Sweeney. Pass auf, was du sagst.«

Sweeney funkelte ihn an. Mit der Feierlichkeit des schwer Betrunkenen sagte er dann: »Du hast einen Feigling engagiert. Was würde er machen, wenn ich dir was tue, was meinst du?«

Wednesday wandte sich an Shadow. »Es reicht mir jetzt«, sagte er. »Kümmern Sie sich darum.«

Shadow erhob sich und blickte hinauf in Mad Sweeneys Gesicht: Wie groß war der Mann eigentlich? »Sie belästigen uns«, sagte er. »Sie sind betrunken. Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber gehen.«

Langsam breitete sich ein Lächeln auf Sweeneys Gesicht aus. »Na also«, sagte er. Er hieb mit einer riesigen Faust auf Shadow ein. Shadow zuckte zurück, aber Sweeneys Hand erwischte ihn noch unter dem rechten Auge. Er sah Sterne und fühlte den Schmerz.

Und damit begann die Schlägerei.

Sweeney boxte ohne Stil, völlig kunstlos, er hatte nichts ins Feld zu führen außer seiner Begeisterung für das Kämpfen an sich: Er schlug wilde, weit ausholende Schwinger, die kaum einmal ihr Ziel fanden.

Shadow kämpfte zurückhaltend, vorsichtig, blockte Sweeneys Schläge ab oder wich ihnen aus. Zusehends wurde ihm bewusst, dass sie Zuschauer hatten. Tische wurden unter stöhnendem Protest beiseite geschoben, um den Männern Platz zu schaffen. Shadow war sich auch jederzeit der Blicke Wednesdays bewusst, dessen humorlosen Grinsens. Es handelte sich hier also um einen Test, so viel war klar, aber ein Test wofür?

Im Gefängnis hatte Shadow gelernt, dass es zwei Sorten von Schlägerei gab: den Komm-mir-nicht-dumm-Kampf, aus dem man eine möglichst eindrucksvolle Show machte, und die private Auseinandersetzung, welche ein echter Kampf war, der brutal und gemein geführt wurde und immer nur wenige Sekunden dauerte.

»He, Sweeney«, sagte Shadow atemlos, »warum schlagen wir uns eigentlich?«

»Weil es Spaß macht«, sagte Sweeney, jetzt wieder nüchtern oder jedenfalls nicht auffällig betrunken. »Weil es schlicht und einfach eine geile Sache ist. Fühlst du nicht die Begeisterung in den Adern? Ist es nicht wie im Frühling, wenn die Säfte steigen?« Seine Lippe blutete. Ebenso Shadows Fingerknöchel.

»Also, wie hast du die Münzen hervorgezaubert?«, fragte Shadow. Er wiegte sich mit einer Vierteldrehung rückwärts und federte mit der Schulter einen Schlag ab, der für sein Gesicht bestimmt gewesen war.

»Das hab ich dir doch gleich zu Anfang gesagt«, grunzte Sweeney. »Keiner aber ist blinder – au! Der war gut! – als der, der nicht zuhören will.«

Shadow ließ eine Serie von kurzen Haken los und trieb Sweeney damit rückwärts gegen einen Tisch; leere Gläser und Aschenbecher schepperten zu Boden. Er hätte ihn jetzt ausknocken können.

Shadow warf Wednesday einen Blick zu, dieser nickte. Shadow sah hinunter zu Mad Sweeney. »Sind wir fertig?«, fragte er. Mad Sweeney zögerte, dann nickte er. Shadow ließ von ihm ab und trat mehrere Schritte zurück. Sweeney hievte sich keuchend wieder auf die Füße.

»Am Arsch!«, grölte er. »Wir sind erst fertig, wenn ich es sage!« Er grinste und warf sich mit erhobenen Fäusten auf Shadow. Dabei trat er auf einen zu Boden gefallenen Eiswürfel und gleich darauf blieb ihm in seiner Bestürzung der Mund offen stehen, weil die Füße unter ihm wegrutschten und er rückwärts fiel. Der Hinterkopf landete mit hörbarem Knall auf dem Fußboden.

Shadow setzte Mad Sweeney ein Knie auf die Brust. »Zum zweiten Mal: Sind wir fertig mit Prügeln?«, sagte er.

»Na gut, machen wir Schluss«, sagte Sweeney, indem er den Kopf vom Boden hob. »Der Spaß ist sowieso weg, ist aus mir rausgeflossen wie aus einem kleinen Jungen beim Pissen im Plantschbecken.« Er spuckte daraufhin das Blut aus, das sich im Mund angesammelt hatte, schloss die Augen und begann in tiefen und mächtigen Zügen zu schnarchen.

Jemand klopfte Shadow auf den Rücken. Wednesday drückte ihm eine Flasche Bier in die Hand.

Es schmeckte besser als Met.


Shadow erwachte ausgestreckt auf dem Rücksitz einer Limousine. Die Morgensonne blendete ihn, und sein Kopf brummte. Mühsam richtete er sich auf und rieb sich die Augen.

Wednesday saß am Steuer. Er summte unmelodisch vor sich hin. Ein Pappbecher Kaffee steckte im Becherhalter. Sie fuhren auf einem Interstate Highway. Der Beifahrersitz war leer.

»Wie fühlen Sie sich an diesem herrlichen Morgen?«, fragte Wednesday, ohne sich umzudrehen.

»Was ist mit meinem Auto passiert?«, sagte Shadow. »Das war ein Mietwagen.«

»Mad Sweeney hat ihn für Sie zurückgebracht. Das war Teil der Vereinbarung, die ihr beide letzte Nacht getroffen habt. Nach dem Kampf.«

Gespräche der letzten Nacht drängten unangenehm in Shadows Erinnerung zurück. »Haben Sie noch mehr von dem Kaffee da?«

Der stattliche Mann langte unter den Beifahrersitz und reichte eine ungeöffnete Flasche Wasser nach hinten. »Hier. Sie sind vermutlich ziemlich ausgetrocknet. Dies hilft besser dagegen als Kaffee, jedenfalls fürs Erste. Bei der nächsten Tankstelle halten wir und holen Ihnen was zu frühstücken. Sie sollten sich auch sauber machen. Im Moment sehen Sie aus wie etwas, was die Ziege angeschleppt hat.«

»Die Katze«, sagte Shadow.

»Ziege«, sagte Wednesday. »Eine riesige stinkende Ziege mit großen Zähnen.«

Shadow schraubte den Verschluss der Wasserflasche auf und trank. Aus seiner Jackentasche kam ein deutliches Klimpern. Er steckte die Hand hinein und zog eine Münze von der Größe eines halben Dollars heraus. Sie war schwer und von dunkelgelber Farbe.


In der Tankstelle kaufte Shadow sich ein Morgenwäsche-Set, das aus einem Rasiermesser, einer Packung Rasiercreme, einem Kamm und einer mit einer winzigen Zahnpastatube zusammengeschnürten Wegwerfzahnbürste bestand. Dann marschierte er auf die Herrentoilette und begutachtete sich im Spiegel.

Er hatte ein Veilchen unter einem Auge – als er mit einem Finger versuchsweise darauf drückte, stellte er fest, dass es höllisch wehtat – und eine geschwollene Unterlippe.

Shadow wusch sich das Gesicht mit der hauseigenen Flüssigseife, dann trug er den Schaum auf und rasierte sich. Er putzte sich die Zähne. Er machte sich die Haare nass und kämmte sie zurück. Er sah immer noch ziemlich kriminell aus.

Er fragte sich, was Laura wohl sagen würde, wenn sie ihn so sähe, und dann fiel ihm ein, dass Laura nie mehr irgendetwas sagen würde, und da sah er, aber nur für einen Moment, wie sein Gesicht im Spiegel zuckte.

Er ging nach draußen.

»Ich sehe beschissen aus«, sagte Shadow.

»Kann man so sagen«, bestätigte Wednesday.

Wednesday trug eine Auswahl von kleinen Snacks zur Kasse und bezahlte sie zusammen mit dem getankten Benzin, wobei er seine Entscheidung in der Frage, ob er bar oder mit Karte bezahlen wollte, zweimal änderte, sehr zum Ärger der Kaugummi kauenden jungen Kassiererin. Shadow beobachtete, wie Wednesday immer nervöser wurde und sich tausendmal entschuldigte. Er wirkte plötzlich sehr, sehr alt. Die Frau gab ihm sein Bargeld zurück und setzte den Einkauf auf die Karte, dann gab sie ihm die Kreditkartenquittung und nahm sein Bargeld, um dieses anschließend zurückzugeben und eine andere Karte entgegenzunehmen. Wednesday war offenbar kurz davor, in Tränen auszubrechen, ein alter Mann, der sich in der modernen Welt mit all ihren Plastikkarten nicht mehr zurechtfand.

Sie verließen den geheizten Kassenraum, und ihr Atem dampfte in der Luft.

Wieder unterwegs: Wiesen mit braun werdendem Gras zogen zu beiden Seiten vorüber. Die Bäume trugen keine Blätter, waren wie abgestorben. Zwei schwarze Vögel saßen auf einer Telegrafenleitung und starrten ihnen nach.

»He, Wednesday.«

»Was ist?«

»Soweit ich es mitbekommen habe, haben Sie das Benzin eben gar nicht bezahlt.«

»Ach?«

»Soweit ich gesehen habe, hat die Frau am Ende Sie bezahlt, sozusagen für das Privileg, Sie in ihrer Tankstelle begrüßen zu dürfen. Glauben Sie, dass sie es inzwischen gemerkt hat?«

»Sie wird es nie merken.«

»Also, was sind Sie? Ein billiger Trickbetrüger?«

Wednesday nickte. »Ja«, sagte er. »Das bin ich wohl. Unter anderem.«

Er wechselte auf die linke Spur, um einen Lastwagen zu überholen. Der Himmel war von einem düsteren, gleichmäßigen Grau.

»Es wird Schnee geben«, sagte Shadow.

»Ja.«

»Dieser Sweeney. Hat er mir wirklich gezeigt, wie der Trick mit den Goldmünzen geht?«

»O ja.«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Das kommt wieder. Es war eine lange Nacht.«

Mehrere kleine Schneeflocken wischten über die Windschutzscheibe, wo sie in Sekundenschnelle schmolzen.

»Der Leichnam Ihrer Frau liegt derzeit aufgebahrt im Bestattungsinstitut Wendell«, sagte Wednesday. »Nach dem Lunch wird man sie dann zum Friedhof bringen, zur Beisetzung.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe voraustelefoniert, während Sie auf dem Klo waren. Wissen Sie, wo das Bestattungsinstitut ist?«

Shadow nickte. Vor ihnen tanzten und wirbelten die Schneeflocken.

»Das ist unsere Ausfahrt«, sagte Shadow. Der Wagen stahl sich von der Interstate und an einer Ansammlung von Motels vorbei zur Nordseite von Eagle Point.

Drei Jahre waren vergangen. Ja. Es gab mehr Ampeln als früher, unvertraute Ladenfenster. Als sie am Fitnesscenter vorbeikamen, bat er Wednesday, langsamer zu fahren. AUF UNBESTIMMTE ZEIT GESCHLOSSEN, teilte das handbeschriebene Schild an der Tür mit, WEGEN TRAUERFALL.

Links ab auf die Main Street. An einem neuen Tätowierstudio und dem Rekrutierungscenter der Streitkräfte vorbei, dann der Burger King und, ganz unverändert und vertraut, Olsen’s Drug Store, schließlich die gelbe Steinfassade des Bestattungsinstituts. Ein Neonschild im Vorderfenster wies es als HAUS DER RUHE aus. Unbeschriftete Grabsteine standen jungfräulich im Schaufenster darunter.

Wednesday fuhr auf den Parkplatz.

»Möchten Sie, dass ich mit reinkomme?«, fragte er.

»Muss nicht sein.«

»Gut.« Das freudlose Grinsen war wieder da. »Dann kann ich mich ja um diverse Angelegenheiten kümmern, während Sie Abschied nehmen. Ich werde uns im Motel America unterbringen. Dort treffen wir uns, sobald Sie fertig sind.«

Shadow stieg aus und schaute dann Wednesday im Auto hinterher. Schließlich betrat er das Gebäude. Der schwach erleuchtete Flur roch nach Blumen und Möbelpolitur, ein ganz leiser Hauch von Formaldehyd schwang auch mit. Am anderen Ende war die Kapelle der Ruhe.

Shadow bemerkte, dass er die Münze palmierte, sie wie unter Zwang auf der Handfläche hin und her und rundherum gleiten ließ. Das Gewicht der Münze wirkte beruhigend.

Auf einem Papierzettel, der neben der Tür am anderen Ende des Flurs hing, stand der Name seiner Frau. Er betrat die Kapelle der Ruhe. Shadow kannte die meisten der Leute, die dort saßen: Lauras Kollegen, einige ihrer Freundinnen.

Alle erkannten sie ihn. Er las es ihren Gesichtern ab. Aber niemand hielt ihm einen Gruß bereit, niemand ein Lächeln.

Am Ende des Raums war ein kleines Podium und darauf stand ein cremefarbener Sarg, den eine Reihe von Blumenarrangements schmückten: scharlachrote und gelbe und weiße und dunkel-, ja blutig rote. Er trat einen Schritt vor. Von hier aus konnte er Lauras Leiche sehen. Er wollte nicht weitergehen, traute sich aber auch nicht, wieder wegzugehen.

Ein Mann in dunklem Anzug – ein Angestellter des Bestattungsunternehmens, wie Shadow vermutete – sagte: »Sir? Möchten Sie sich ins Kondolenzbuch eintragen?« und machte ihn auf ein in Leder gebundenes Buch aufmerksam, das aufgeschlagen auf einem kleinen Pult lag.

Er schrieb SHADOW und das Datum in seiner akkuraten Handschrift, dann setzte er langsam ein ›HÜNDCHEN‹ daneben, um noch nicht gleich zum Ende des Raums gehen zu müssen, wo sich die anderen Leute versammelt hatten und der Sarg war und das Ding in dem cremefarbenen Sarg, das einmal Laura gewesen war.

Eine kleine Frau kam durch die Tür geschritten und blieb zögernd stehen. Ihr Haar spielte ins Kupferrote, und ihre Kleidung war teuer und sehr schwarz. Witwenkleidung, dachte Shadow, der sie gut kannte. Audrey Burton, Robbies Frau.

Audrey hatte einen Veilchenstrauß in der Hand, um dessen Stiele Silberfolie gewickelt war. Wie etwas, was Kinder im Juni machen, dachte Shadow. Es war jetzt aber gar nicht die Zeit für Veilchen.

Sie schritt durch den Raum auf Lauras Sarg zu. Shadow folgte ihr.

Laura lag mit geschlossenen Augen da, die Arme über der Brust gefaltet. Sie trug ein konservatives blaues Kostüm, das er nicht wieder erkannte. Ihr langes braunes Haar hatte man ihr aus dem Gesicht gestrichen. Es war seine Laura und auch wieder nicht – die Ruhe, fand er, war unnatürlich für sie. Laura war immer eine so unruhige Schläferin gewesen.

Audrey legte Laura den Veilchenstrauß auf die Brust. Für eine Weile arbeitete es in ihrem Mund, und dann spuckte sie heftig in Lauras totes Gesicht.

Der Speichel traf Laura auf die Wange und tropfte gleich darauf in Richtung Ohr.

Audrey war schon wieder auf dem Weg zur Tür. Shadow eilte ihr nach.

»Audrey?«, sagte er.

»Shadow? Bist du ausgebrochen? Oder haben sie dich rausgelassen?«

Er fragte sich, ob sie wohl unter Beruhigungsmitteln stand. Ihre Stimme klang reserviert und wie unbeteiligt.

»Gestern entlassen worden. Ich bin ein freier Mann«, sagte Shadow. »Was zum Teufel sollte das eben?«

Sie blieb in dem dunklen Flur stehen. »Die Veilchen? Das waren ihre Lieblingsblumen. Als Kinder haben wir sie immer zusammen gepflückt.«

»Ich meinte nicht die Veilchen.«

»Oh, das«, sagte sie. Sie wischte sich irgendetwas Unsichtbares aus dem Mundwinkel. »Na, ich würde doch denken, das ist offensichtlich.«

»Für mich nicht, Audrey.«

»Man hat dir nichts erzählt?« Ihre Stimme war ruhig, emotionslos. »Als deine Frau starb, hatte sie den Schwanz von meinem Mann im Mund, Shadow.«

Er ging zurück in die Leichenhalle. Die Spucke war bereits abgewischt worden.


Nach dem Mittagessen – Shadow nahm es bei Burger King ein – fand das Begräbnis statt. Lauras cremefarbener Sarg wurde auf dem kleinen, konfessionell nicht gebundenen Friedhof am Rande der Stadt beigesetzt: eine uneingezäunte, hügelige Waldwiese mit Grabsteinen aus schwarzem Granit und weißem Marmor.

Er fuhr im Wendelischen Leichenwagen zum Friedhof, zusammen mit Lauras Mutter. Mrs. McCabe schien der Ansicht zu sein, dass Lauras Tod in Shadows Verantwortung fiel. »Wenn du hier gewesen wärst«, sagte sie, »hätte das nicht passieren können. Mir war immer schleierhaft, warum sie dich überhaupt geheiratet hat. Ich hab ihr das auch gesagt. Immer wieder hab ich ihr das gesagt. Aber sie hören ja nicht auf ihre Mütter, nicht wahr?« Sie unterbrach sich, um sich Shadows Gesicht genauer anzusehen.

»Hast du dich geprügelt?«

»Ja«, sagte er.

»Barbar«, sagte sie, dann kniff sie den Mund zusammen, hob den Kopf so hoch, dass ihr Doppelkinn zitterte, und blickte wortlos geradeaus.

Zu Shadows Überraschung war auch Audrey Burton zur Beerdigung gekommen und stand ziemlich weit hinten. Die Andacht ging schnell zu Ende, und der Sarg wurde in die kalte Erde hinabgelassen. Die Leute zerstreuten sich.

Shadow ging nicht. Er stand da, die Hände in den Taschen, vor Kälte zitternd, und starrte in das Erdloch.

Der Himmel über ihm war eisengrau, eintönig und flach wie ein Spiegel. Es schneite immer noch, unregelmäßig, wie Geister taumelten die Flocken herab.

Da war etwas, was er Laura sagen wollte, und er war bereit zu warten, bis er wusste, was es war. Langsam verlor die Welt ihr Licht und ihre Farbe. Shadow wurden die Füße taub, Hände und Gesicht schmerzten vor Kälte. Er stopfte die Hände wieder in die Jackentaschen, um sie etwas aufzuwärmen, und umschloss mit den Fingern die Goldmünze.

Er ging zum Grab.

»Das hier ist für dich«, sagte er.

Obwohl zuvor einige Schaufeln Erde auf den Sarg geworfen wurden, war das Loch bei weitem noch nicht voll. Er warf die Goldmünze zu Laura ins Grab, dann schob er Erde hinterher, um die Münze vor raffsüchtigen Totengräbern zu verbergen. Er klopfte sich die Hände ab und sagte: »Gute Nacht, Laura.« Dann sagte er: »Es tut mir Leid.« Er wandte das Gesicht den Lichtern der Stadt zu und setzte sich in Richtung Eagle Point in Bewegung.

Das Motel war fast vier Kilometer entfernt, aber nachdem er drei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, fand er die Vorstellung sehr reizvoll, dass er einfach unablässig gehen könnte, notfalls auch auf ewig. Er könnte immer weiter nach Norden wandern, um dann in Alaska zu landen, sich aber auch nach Süden wenden, bis nach Mexiko und darüber hinaus. Er könnte nach Patagonien wandern oder gar bis nach Feuerland.

Neben ihm hielt ein Auto an. Das Fenster ging summend hinunter.

»Soll ich dich mitnehmen, Shadow?«, fragte Audrey Burton.

»Nein«, sagte er. »Du schon gar nicht.«

Er ging weiter. Audrey fuhr im Schritttempo neben ihm her. Schneeflocken tanzten im Lichtkegel der Scheinwerfer.

»Ich dachte, sie wäre meine beste Freundin«, sagte Audrey. »Wir haben jeden Tag miteinander geredet. Wenn Robbie und ich uns gestritten haben, war sie die Erste, die es erfahren hat – wir sind dann auf ein paar Margaritas ins Chi-Chi’s gegangen und haben beredet, was für Kotzbrocken die Männer doch sein können. Und die ganze Zeit hat sie hinter meinem Rücken mit ihm gevögelt.«

»Bitte lass mich allein, Audrey.«

»Du solltest nur wissen, dass ich gute Gründe für das hatte, was ich getan habe.«

Er blieb stumm.

»He!«, rief sie. »He! Ich rede mit dir!«

Shadow drehte sich zu ihr. »Erwartest du von mir etwa, dass ich dir Recht darin gebe, Laura ins Gesicht zu spucken? Soll ich so tun, als ob mir das nicht wehgetan hätte? Oder soll ich dir etwa sagen, dass ich sie nach allem, was du mir erzählt hast, jetzt mehr hasse als vermisse? Vergiss es, Audrey.«

Sie fuhr zunächst wortlos weiter neben ihm her. Dann sagte sie: »Also gut, wie war’s denn im Gefängnis, Shadow?«

»Es war sehr schön«, sagte Shadow. »Du hättest dich ganz wie zu Hause gefühlt.«

Sie trat aufs Gaspedal, ließ den Motor aufheulen und fuhr davon.

Als die Scheinwerfer verschwunden waren, war die Welt dunkel. Das Restlicht der Dämmerung war gewichen, die Nacht angebrochen. Shadow wartete unverdrossen darauf, dass das Gehen ihn wärmen und die Kälte aus Händen und Füßen vertreiben würde. Nichts dergleichen geschah.

Im Gefängnis hatte Low Key Lyesmith einst den kleinen Gefängnisfriedhof draußen hinter der Krankenstation als Knochengarten bezeichnet, und dieses Bild hatte in Shadows Vorstellung Wurzeln geschlagen. In jener Nacht hatte er von einem Obstgarten im Mondschein geträumt, von skelettartigen weißen Bäumen, deren Zweige in knochigen Händen ausliefen und deren Wurzeln tief in die Gräber hinabreichten. In seinem Traum wuchs auf den Bäumen des Knochengartens Obst, und diesen geträumten Früchten haftete etwas sehr Verstörendes an, aber beim Aufwachen konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was für seltsame Früchte es gewesen waren, die an jenen Bäumen hingen, und warum er sie so abstoßend gefunden hatte.

Autos fuhren an ihm vorbei. Shadow hätte sich einen Bürgersteig gewünscht. Er stolperte über etwas, was er im Dunkeln übersehen hatte, und landete im Straßengraben; mit der rechten Hand versank er tief in kaltem Schlamm. Er rappelte sich auf und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Wie bestellt und nicht abgeholt stand er da. Er konnte gerade noch registrieren, dass jemand neben ihm war, als ihm auch schon etwas Nasses auf Nase und Mund gepresst wurde, worauf er scharfe chemische Dämpfe einsog. Diesmal kam ihm der Straßengraben tröstlich und warm vor.


Shadow hatte an den Schläfen ein Gefühl, als wären diese zwischendurch abgenommen und anschließend mit dem Tacker wieder am Schädel befestigt worden. Die Hände hatte man ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, offenbar mit irgendwelchen Riemen. Er befand sich in einem Auto, wo er auf Lederpolstern saß. Im ersten Moment fragte er sich, ob mit seinem räumlichen Sehen irgendwas nicht stimmte, dann aber begriff er, nein – der andere Sitz war wirklich so weit weg.

Neben ihm saßen Leute, aber er konnte sich nicht umdrehen, um sie anzusehen.

Der dicke junge Mann am anderen Ende der Stretchlimo nahm eine Dose Cola light aus der Cocktailbar und öffnete sie. Er trug einen langen, schwarzen, aus irgendeinem seidigen Material gefertigten Mantel und schien kaum dem Teenageralter entwachsen zu sein; eine seiner Wangen war mit funkelnder Akne besprenkelt. Er lächelte, als er sah, dass Shadow aufgewacht war.

»Hallo, Shadow«, sagte er. »Komm mir nicht dumm.«

»Okay«, sagte Shadow. »Tu ich nicht. Würden Sie mich bitte beim Motel America an der Interstate absetzen?«

»Schlag ihn«, sagte der junge Mann zu der Person links neben Shadow. Ein Faustschlag landete auf Shadows Solarplexus, nahm ihm die Luft und ließ ihn zusammenknicken. Mühsam richtete er sich wieder auf.

»Ich sagte, komm mir nicht dumm. Das war Mir-dumm-Kommen. Antworte kurz und auf den Punkt, sonst mach ich dich kalt. Vielleicht mach ich dich auch nicht kalt, sondern sage den Kids, sie sollen dir jeden einzelnen Scheißknochen im Leib brechen. Es gibt zweihundertundsechs davon. Komm mir also nicht dumm.«

»Habe verstanden«, sagte Shadow.

Die Deckenlichter in der Limousine wechselten die Farbe, von Violett zu Blau, dann zu Grün und zu Gelb.

»Du arbeitest für Wednesday«, sagte der junge Mann.

»Ja«, sagte Shadow.

»Was zum Teufel hat er vor? Ich mein, was will er hier? Er muss einen Plan haben. Wie sieht seine Strategie aus?«

»Ich habe erst heute Morgen angefangen, für Mr. Wednesday zu arbeiten«, sagte Shadow. »Ich bin nur sein Laufbursche.«

»Soll das heißen, du weißt es nicht?«

»Das soll heißen, ich weiß es nicht.«

Der Junge öffnete sein Jackett und zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Innentasche. Er klappte es auf und bot Shadow eine Zigarette an. »Was zu rauchen?«

Shadow erwog, darum zu bitten, dass man ihm die Hände losbinde, entschied sich aber dagegen. »Nein danke«, sagte er.

Die Zigarette schien handgerollt zu sein, und als der Junge sie mit einem mattschwarzen Zippo anzündete, roch sie ein wenig nach durchschmorenden elektrischen Teilen.

Der Junge inhalierte ausgiebig und hielt den Atem an. Dann ließ er den Rauch aus dem Mund sickern, zog ihn aber gleichzeitig zurück in die Nasenlöcher. Shadow vermutete, dass er das lange vor dem Spiegel geübt hatte, bevor er damit an die Öffentlichkeit gegangen war. »Wenn du mich angelogen hast«, sagte der Junge wie aus weiter Ferne, »mach ich dich kalt, damit das klar ist.«

»Sie erwähnten es.«

Der Junge nahm einen weiteren langen Zug. »Was sagtest du, du übernachtest im Motel America?« Er klopfte an das Fahrerfenster hinter ihm. Die Glasscheibe senkte sich. »He, Motel America, an der Interstate. Wir wollen dort unseren Gast absetzen.«

Der Fahrer nickte, und die Scheibe ging wieder nach oben.

Die glitzernden Faseroptiklichter im Innern der Limousine veränderten sich weiterhin, kreisten immer wieder durch ihr ganzes Spektrum gedeckter Farben. Shadow hatte den Eindruck, dass die Augen des Jungen ebenfalls glitzerten, und zwar in dem Grün eines uralten Computerbildschirms.

»Du wirst Wednesday Folgendes sagen, Mann. Sag ihm, er ist Geschichte. Vergangen und vergessen. Er ist alt. Sag ihm, wir sind die Zukunft, und wir scheißen auf ihn und seinesgleichen. Er gehört auf den Schrotthaufen der Geschichte, während Leute wie ich mit Limos auf der Autobahn der Zukunft fahren.«

»Ich sag’s ihm«, sagte Shadow. In seinem Kopf machte sich allmählich ein leichtes Schwindelgefühl bemerkbar. Er konnte nur hoffen, dass ihm nicht ernsthaft übel werden würde.

»Sag ihm, dass wir die verschissene Realität neu programmiert haben. Sag ihm, dass Sprache ein Virus ist und die Religion ein Betriebssystem, und Gebete sind nichts anderes als blödes Spam, das alle Mailboxen verstopft. Sag ihm das, oder ich mach dich kalt«, sagte der junge Mann freundlich aus dem Zigarettenrauch heraus.

»Hab’s verstanden«, sagte Shadow. »Sie können mich hier rauslassen. Den Rest kann ich laufen.«

Der junge Mann nickte. »Gut, dass wir uns unterhalten haben«, sagte er. Das Rauchen schien ihn milde gestimmt zu haben. »Du solltest wissen, dass wir dich, wenn wir dich kaltmachen, einfach löschen. Ein Mausklick, und du wirst mit beliebigen Einsen und Nullen überschrieben. Eine Undelete-Option gibt es nicht.« Er klopfte an das Fenster hinter ihm. »Er steigt hier aus«, sagte er. Dann wandte er sich wieder Shadow zu und zeigte auf seine Zigarette. »Synthetische Krötenhäute«, sagte er. »Wusstest du, dass man jetzt schon Bufotenin synthetisch herstellen kann?«

Der Wagen hielt an, und die Tür wurde geöffnet. Shadow kletterte unbeholfen nach draußen. Die Fesseln wurden durchgeschnitten. Shadow drehte sich um. Das Innere des Wagens war zu einer einzigen schlingernden Rauchwolke geworden, in der zwei Lichter glitzerten, kupferfarben jetzt wie die wunderhübschen Augen einer Kröte. »Es dreht sich alles um das dominante Scheißparadigma, Shadow. Alles andere ist unwichtig. Ach, und übrigens, das mit deiner Alten tut mir echt Leid.«

Die Tür ging zu, und die Stretchlimo fuhr leise davon. Shadow war noch ein paar hundert Meter von seinem Motel entfernt, also stapfte er los, atmete die kalte Luft ein, kam an roten und gelben und blauen Lichtern vorbei, die jede nur denkbare Variante von Fastfood anpriesen, solange es sich dabei um Hamburger handelte, und erreichte schließlich das Motel America ohne weitere Zwischenfälle.


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