16
Ich weiß, dass es Beschiss ist. Aber es ist das einzige Spiel in dieser Stadt.
– Canada Bill Jones
Der Baum war verschwunden, die Welt war verschwunden, und der morgengraue Himmel über ihm war auch verschwunden. Der Himmel war jetzt mitternachtsfarben. Ein einziger kalter Stern, ein hell glänzendes Licht, funkelte über ihm und sonst nichts. Er machte einen Schritt vorwärts, einen nur, und wäre dabei beinahe gestolpert.
Shadow sah nach unten. In den Fels waren Stufen geschnitten, die nach unten führten, riesige Stufen, nicht anders vorstellbar, als dass sie von Riesen geschlagen und vor langer Zeit beschritten worden waren.
Er kletterte, von Stufe zu Stufe abwärts, halb springend, halb sich schwingend. Es schmerzte ihn am ganzen Körper, aber es war der Schmerz des Ungeübtseins, nicht der quälende Schmerz eines Körpers, der an einem Baum gehangen hatte, bis er tot war.
Ohne Überraschung nahm er zur Kenntnis, dass er vollständig mit Jeans und einem weißen T-Shirt bekleidet war. Allerdings barfuß. Er hatte ein lebhaftes Déjà-vu-Empfinden: Es waren die gleichen Sachen, die er in Tschernibogs Wohnung getragen hatte, als Sarja Polunotschnaja nachts zu ihm gekommen war und ihm von dem Sternbild namens Odins Wagen erzählt hatte. Sie hatte für ihn den Mond aus dem Himmel gepflückt.
Plötzlich wusste er, was als Nächstes geschehen würde. Er würde Sarja Polunotschnaja begegnen.
Sie erwartete ihn am Fuß der Felstreppe. Am Himmel war kein Mond zu sehen, dennoch stand sie im Mondschein: Ihr weißes Haar war mondblass, und sie trug das gleiche Baumwollnachthemd wie in jener Nacht in Chicago.
Sie lächelte, als sie ihn sah, und schlug die Augen nieder, als wäre sie für einen Augenblick verlegen. »Hallo«, sagte sie.
»Hi«, sagte Shadow.
»Wie geht’s Ihnen?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich glaube, dass das hier vielleicht wieder so ein seltsamer Traum am Baum ist. Seit ich aus dem Gefängnis raus bin, habe ich lauter verrückte Träume.«
Ihr Gesicht schimmerte vom Mondlicht silbern (obwohl kein Mond an diesem pflaumenschwarzen Himmel hing, und jetzt, am unteren Ende der Stufen, war selbst der einzelne Stern nicht mehr zu sehen), was sie sowohl feierlich als auch verletzlich wirken ließ. »Alle Ihre Fragen können beantwortet werden«, sagte sie. »Falls es das ist, was Sie möchten. Aber wenn Sie die Antworten einmal gehört haben, können Sie sie nie wieder vergessen.«
Hinter ihr gabelte sich der Weg. Er würde sich für einen der Wege entscheiden müssen, so viel war klar. Aber etwas gab es noch, das er vorher tun musste. Er griff in die Tasche der Jeans und war erleichtert, ganz unten das vertraute Gewicht der Münze zu ertasten. Er zog sie heraus und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen: ein Liberty-Dollar von 1922. »Das ist Ihrer«, sagte er.
In diesem Moment fiel ihm ein, dass seine Kleider in Wirklichkeit ja unter dem Baum lagen. Die Frauen hatten seine Sachen in den Segeltuchsack gepackt, aus dem sie die Seile geschüttelt hatten, hatten ihn zugebunden, und die große Frau hatte einen schweren Stein darauf gelegt, damit er nicht wegwehte. Er wusste also, dass der Liberty-Dollar eigentlich in einer Tasche in diesem Sack unter dem Stein steckte. Dennoch lag er jetzt schwer in seiner Hand, hier am Eingang zur Unterwelt.
Sie ergriff ihn mit ihren schlanken Fingern.
»Danke. Zweimal hat er Ihnen die Freiheit erkauft«, sagte sie. »Und jetzt wird er Ihnen den Weg in dunkle Gefilde erleichtern.«
Sie schloss die Hand um den Dollar, streckte sie aus und legte ihn so hoch in die Luft, wie ihr Arm reichte. Dann ließ sie ihn los. Anstatt hinunterzufallen, schwebte die Münze jedoch aufwärts, bis sie etwa eine Armlänge über Shadow hing. Allerdings war es jetzt keine Silbermünze mehr. Lady Liberty und ihre Dornenkrone waren verschwunden. Das Gesicht, das er nunmehr auf der Münze sah, war das unbestimmte Antlitz des Mondes am Sommerhimmel.
Shadow konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er auf einen Mond von der Größe eines Dollars schaute, der eine Armlänge von seinem Kopf entfernt war, oder ob es sich um einen Mond von der Größe des Pazifischen Ozeans, der viele tausend Meilen entfernt war, handelte. Und auch nicht, ob zwischen diesen beiden Möglichkeiten ein Unterschied bestand. Vielleicht hing alles davon ab, wie man die Sache betrachtete.
Er blickte auf den Weg, der sich vor ihm gabelte.
»Welchen Weg sollte ich gehen?«, fragte er. »Welcher ist sicher?«
»Entscheiden Sie sich für den einen, können Sie den anderen nicht mehr nehmen«, sagte sie. »Doch sicher ist keiner der beiden Wege. Welchen Pfad möchten Sie beschreiten – den der harten Wahrheiten oder den der schönen Lügen?«
»Wahrheiten«, sagte er. »Keine Lügen mehr, dafür komme ich von zu weit her.«
Sie sah traurig aus. »Das wird aber seinen Preis haben«, sagte sie.
»Ich zahle ihn. Was kostet es?«
»Ihren Namen«, sagte sie. »Ihren richtigen Namen. Sie werden ihn mir geben müssen.«
»Wie denn?«
»So«, sagte sie. Ihre vollkommene Hand griff nach seinem Kopf. Er fühlte ihre Finger über seine Haut streichen, dann fühlte er, wie sie die Haut, den Schädel durchdrangen, fühlte, wie sie tief in den Kopf hineinstießen. Es kitzelte im Schädel und die ganze Wirbelsäule hinunter. Sie zog die Hand wieder aus dem Kopf. Eine Flamme wie von einer Kerze, aber völlig klar, magnesiumweiß brennend, flackerte auf der Spitze ihres Zeigefingers.
»Ist das mein Name?«, fragte er.
Sie schloss die Hand, worauf das Licht verschwand. »Das war er«, sagte sie. Sie deutete auf den nach rechts führenden Weg. »Da entlang«, sagte sie. »Fürs Erste.«
Namenlos ging Shadow im Mondschein die rechte Weggabelung entlang. Als er sich umdrehte, um ihr zu danken, sah er nichts als Dunkelheit. Es schien ihm, als wäre er tief unter der Erde, aber als er in die Dunkelheit hinaufblickte, war da immer noch der winzige Mond.
Er bog um eine Ecke.
Falls das hier das Leben nach dem Tod ist, dachte er, dann hat es viel Ähnlichkeit mit dem House on the Rock: teils Diorama, teils Albtraum.
Er sah sich in der blauen Anstaltskleidung im Büro des Gefängnisdirektors stehen, während dieser ihm mitteilte, dass Laura bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Er sah den Ausdruck auf dem eigenen Gesicht – ein Mann, der von der Welt im Stich gelassen worden war. Es tat weh, es zu sehen, all die Nacktheit und Furcht. Er eilte weiter, drängte durch das graue Büro des Direktors und fand sich vor der Videorecorder-Reparaturwerkstatt am Stadtrand von Eagle Point wieder. Vor drei Jahren. Ja.
Im Laden, das wusste er, war er eben dabei, Larry Powers und B. J. West die Knochen aus dem Leib zu prügeln, so lange, bis er sich die Knöchel wund geschlagen hatte: Gleich würde er mit einer braunen Papiertüte voller Zwanzigdollarscheine unter dem Arm aus dem Laden spaziert kommen. Das Geld, das genommen zu haben man ihm nie nachweisen konnte: sein Anteil am Erlös und noch ein bisschen mehr, denn sie hätten nicht versuchen sollen, ihn und Laura derart übers Ohr zu hauen. Er war nur der Fahrer gewesen, aber er hatte seinen Teil getan, hatte alles getan, worum sie ihn gebeten hatte …
Während des Prozesses sprach niemand von dem Bankraub, obwohl alle es gern getan hätten. Sie konnten nichts beweisen, solange niemand redete. Aber das tat keiner. Stattdessen musste der Staatsanwalt sich an die Körperverletzung halten, die Shadow an Powers und West begangen hatte. Er zeigte Fotos der beiden Männer bei ihrer Ankunft im örtlichen Krankenhaus herum. Shadow verteidigte sich vor Gericht so gut wie gar nicht; das machte es leichter. Weder Powers noch West schienen sich erinnern zu können, worum es bei der Prügelei eigentlich gegangen war, doch bestätigten beide, dass es sich bei dem Angreifer um Shadow gehandelt habe.
Niemand redete über das Geld.
Niemand erwähnte auch nur den Namen Laura, und das war alles, worauf es Shadow ankam.
Shadow fragte sich, ob der Pfad der tröstlichen Lügen nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre. Er entfernte sich von jenem Ort und folgte dem Felsweg, der weiter nach unten führte, offenbar in ein Krankenzimmer, ein Zimmer in einem städtischen Krankenhaus in Chicago, und er fühlte, wie ihm die Gallenflüssigkeit im Hals aufstieg. Er blieb stehen. Er wollte nicht hinsehen. Er wollte nicht weitergehen.
Im Krankenhausbett lag seine Mutter wieder im Sterben, genau wie sie damals im Sterben gelegen hatte, und, ja, da war er, ein großer, unbeholfener Sechzehnjähriger, mit von Akne durchlöcherter, fleckiger Haut, der neben ihr in einem dicken Taschenbuch las, weil er unfähig war, sie anzusehen. Shadow wollte wissen, was für ein Buch das war, deshalb ging er um das Bett herum, um es näher in Augenschein zu nehmen. Er stand zwischen Bett und Stuhl und blickte von einem zum anderen. Der große Junge kauerte auf dem Stuhl und hatte die Nase in Die Enden der Parabel vergraben, um vor dem Tod seiner Mutter in das London des Blitzkriegs zu flüchten, ohne dass der fiktionale Wahnsinn des Buches ihm Zuflucht noch Ausrede geboten hätte.
Mit geschlossenen Augen lag seine Mutter friedlich da – ein Morphiumfrieden: Was sie für eine ihrer Sichelzellenkrisen gehalten hatte, einen weiteren Schmerzanfall, der eben zu erdulden war, das hatte sich, zu spät entdeckt, als Lymphom erwiesen. Ihre Haut hatte eine gelblich graue Färbung. Sie war Anfang dreißig, sah aber viel älter aus.
Shadow wollte sich schütteln, ihn, den ungeschickten Jungen, der er einst war, wollte ihn veranlassen, ihr die Hand zu halten, zu ihr zu sprechen, irgendwas zu tun, bevor sie ihm für immer entglitt, was sie, wie er wohl wusste, bald tun würde. Aber er konnte sich nicht berühren, und er, der da, fuhr fort zu lesen; und so starb seine Mutter, während er auf dem Stuhl neben ihr saß und sich in die Schwerliteratur vergrub.
Danach hatte er das Lesen mehr oder weniger aufgegeben. Den Romanen war nicht zu trauen. Zu was sollten Bücher gut sein, wenn sie einen vor so etwas nicht beschützen konnten?
Shadow ließ das Krankenzimmer hinter sich, ging den sich schlängelnden Korridor entlang, tief hinab ins Innere der Erde.
Zuerst sieht er seine Mutter, und er kann nicht glauben, wie jung sie ist, noch keine fünfundzwanzig, schätzt er, zur Zeit vor ihrer krankheitsbedingten Entlassung also. Sie sind in ihrer Wohnung, eine der Botschaftswohnungen irgendwo in Nordeuropa. Er blickt sich um, sucht nach Anhaltspunkten und sieht wieder sich selbst: ein kleiner Knirps, große, blassgraue Augen und dunkles Haar. Sie streiten sich. Ohne die Worte zu hören, weiß Shadow, worum der Streit geht: Schließlich war es das Einzige, worüber sie sich je stritten.
Erzähl mir von meinem Vater.
Er ist tot. Mehr brauchst du nicht zu wissen.
Aber wer war er?
Vergiss ihn einfach. Du hast absolut nichts verpasst.
Ich möchte ein Foto von ihm sehen.
Ich hab kein Foto, sagte sie dann. Ihre Stimme wurde dabei leise und grimmig, aber er wusste, wenn er weiter Fragen stellte, würde sie anfangen zu schreien oder ihn sogar zu schlagen, aber er wusste genau, dass er nicht aufhören würde zu fragen, daher wandte er sich ab und ging weiter den Tunnel hinunter.
Der Pfad, dem er folgte, wand und schlängelte sich und bog sich in sich selbst zurück, und Shadow musste an Schlangenhäute denken, an Gedärme und tiefe, tiefe Baumwurzeln. Zur Linken kam jetzt ein Tümpel: Er hörte, wie irgendwo hinten im Tunnel das Wasser hineintropfte, aber die spiegelglatte Oberfläche des Tümpels wurde davon kaum gekräuselt. Er kniete nieder und trank, schöpfte das Wasser mit der Hand an die Lippen. Dann ging er weiter, bis er im kreisenden Lichterglanz einer großen Diskokugel stand. Es war, als würde er sich genau im Mittelpunkt des Universums befinden, umkreist von sämtlichen Sternen und Planeten, aber er konnte nichts hören, weder die Musik noch die gegen die Musik angebrüllte Unterhaltung, und jetzt starrte Shadow auf eine Frau, die so aussah, wie seine Mutter nie ausgesehen hatte, so lange er sie kannte, sie ist schließlich nicht viel mehr als ein Kind …
Und sie tanzt.
Shadow stellte fest, dass er nicht im Geringsten überrascht war, als er den Mann erkannte, der mit ihr tanzt. Er hatte sich in den dreiunddreißig Jahren nicht sehr verändert.
Sie ist betrunken: Shadow sah das auf den ersten Blick. Nicht sehr betrunken, aber sie ist das Trinken nicht gewöhnt, und in einer Woche oder so wird sie das Schiff nach Norwegen besteigen. Sie haben Margaritas getrunken, sie hat Salz an den Lippen und auch an ihrem Handrücken klebt noch Salz.
Wednesday ist nicht in Schlips und Anzug, aber die Krawattennadel in Form eines silbernen Baumes, die er über der Brusttasche seines Hemds trägt, funkelt und glitzert, wenn das Licht der Spiegelkugel darauf fällt. Sie bilden ein hübsches Paar, wenn man den Altersunterschied bedenkt. Wednesdays Bewegungen sind von wölfischer Anmut.
Ein langsamer Tanz. Wednesday zieht sie an sich, mit der prankenartigen Hand streicht er besitzergreifend über die Gesäßpartie ihres Rocks und drückt sie noch enger an sich. Mit der anderen Hand ergreift er ihr Kinn, drückt es aufwärts seinem Gesicht entgegen, und die beiden küssen sich dort auf der Tanzfläche, während das Glitzerkugellicht sie in den Mittelpunkt des Universums kreisen lässt.
Bald darauf gehen sie. Sie stößt schwankend gegen ihn, und er führt sie aus dem Tanzsaal hinaus.
Shadow vergräbt den Kopf in den Händen und folgt ihnen nicht, unfähig oder Unwillens, Zeuge seiner eigenen Empfängnis zu werden.
Die Spiegellichter waren verschwunden, und die einzige Lichtquelle war jetzt der winzige Mond, der hoch über ihm schien.
Er ging weiter. In einer Kurve blieb er für einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen.
Er fühlte eine Hand, die ihm sanft über den Rücken strich, und sanfte Finger, die ihm durchs Haar am Hinterkopf fuhren.
»Hallo«, flüsterte eine rauchige, katzenartige Stimme ihm über die Schulter zu.
»Hallo«, sagte er und drehte sich zu ihr um.
Sie hatte braunes Haar und braune Haut, ihre Augen besaßen den tiefgoldenen Bernsteinton von gutem Honig. Ihre Pupillen waren vertikale Schlitze. »Kennen wir uns?«, fragte er verwirrt.
»Inniglich«, sagte sie lächelnd. »Ich habe immer auf deinem Bett geschlafen. Und mein Volk hat für mich immer ein Auge auf dich gehabt.« Sie wandte sich dem Pfad zu, der vor ihm lag und zeigte auf die drei Wege, die er einschlagen konnte. »Okay«, sagte sie. »Der eine Weg macht dich weise. Der andere macht dich heil. Und der dritte wird dich töten.«
»Ich bin doch schon tot, dachte ich«, sagte Shadow. »Ich bin am Baum gestorben.«
Sie warf die Lippen auf. »Tode«, sagte sie, »gibt es solche und solche. Das ist alles relativ. Also, in welche Richtung willst du gehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte er ratlos.
Sie legte den Kopf zur Seite, wie nur Katzen es können. Plötzlich erinnerte sich Shadow an die Klauenspuren an seiner Schulter. Er fühlte, wie er errötete. »Wenn du mir vertraust«, sagte Bastet, »kann ich die Wahl für dich treffen.«
»Ich vertraue dir«, sagte er, ohne zu zögern.
»Willst du wissen, was es dich kosten wird?«
»Meinen Namen habe ich bereits verloren«, teilte er ihr mit.
»Namen kommen und gehen. Hat es sich gelohnt?«
»Ja. Vielleicht. Es war nicht einfach. Die Offenbarungen gingen ganz schön ins Persönliche.«
»Alle Offenbarungen gehen ins Persönliche«, sagte sie. »Deshalb sind alle Offenbarungen fragwürdig.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ja«, sagte sie. »Tust du nicht. Ich werde dein Herz nehmen. Wir brauchen es später.« Und sie griff ihm mit einer Hand tief in den Brustkorb und hielt, als sie sie wieder herauszog, etwas Rubinartiges und Pulsierendes zwischen ihren scharfen Fingernägeln. Es hatte die Farbe von Taubenblut und bestand aus purem Licht. Gleichmäßig dehnte es sich aus und zog sich wieder zusammen.
Sie schloss die Hand, und es war verschwunden.
»Nimm den mittleren Weg«, sagte sie.
Shadow nickte und ging weiter.
Der Weg wurde jetzt rutschig. Auf dem Fels lag Eis. Der Mond über ihm glitzerte durch die in der Luft schwebenden Eiskristalle: Um den Mond war ein Ring, ein Mondbogen, der das Licht zerstreute. Es war wunderschön, erschwerte aber das Gehen. Der Weg war unsicher.
Er erreichte den Punkt, wo der Pfad sich teilte.
Er betrachtete den ersten Pfad mit einem Gefühl des Wiedererkennens. Er führte in einen riesigen Raum oder eine Flucht von Räumen, wie in ein dunkles Museum. Er kannte es bereits. Er konnte die lang gezogenen Echos winziger Geräusche hören. Er konnte den Lärm hören, den Staub machte, wenn er sich legte.
Es war der Ort, von dem er in jener ersten Nacht im Motel geträumt hatte, so lange war das jetzt schon her, damals, als Laura zu ihm gekommen war: die endlose Gedächtnishalle für die Götter, die vergessen waren, und jene, deren Existenz völlig ausgelöscht war.
Er trat einen Schritt zurück.
Er ging zu dem Pfad auf der anderen Seite und blickte nach vorn. Der Korridor hatte etwas von Disneyland: schwarze Plexiglaswände mit darin eingelassenen Lampen. Das Blinken und Leuchten der bunten Lichter vermittelte die Illusion von Funktionalität wie bei den Schaltpultlampen in einem Fernsehraumschiff.
Auch von dort war etwas zu hören: ein tiefes, vibrierendes Brummen, das Shadow in der Magengrube spürte.
Er hielt inne und sah sich um. Keiner der beiden Wege schien der richtige zu sein. Nicht mehr. Mit Wegen war er fertig. Der mittlere, der Weg, den die Katzenfrau ihm gewiesen hatte, das war seiner. Er ging darauf zu.
Der Mond über ihm verblasste allmählich: Der Rand zackte aus und ging in Finsternis über. Der Pfad wurde von einem gewaltigen Torweg umrahmt.
Shadow schritt durch den in Dunkelheit liegenden Bogen. Die Luft war warm und roch nach nassem Staub wie die Straßen einer Stadt nach dem ersten Sommerregen.
Er hatte keine Angst.
Jetzt nicht mehr. Die Angst war am Baum gestorben, wie Shadow selbst. Es war keine Furcht übrig, kein Hass, kein Schmerz. Nichts mehr übrig als der reine Kern.
Etwas Großes platschte leise in einiger Entfernung, und das Platschen hallte in die Weite hinein. Er kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts sehen. Es war zu dunkel. Dann aber schimmerte aus der Richtung des Platschens ein Geisterlicht, und die Welt nahm Gestalt an: Er stand in einer Höhle, und vor ihm, glatt wie ein Spiegel, war Wasser.
Die Platschgeräusche kamen näher und das Licht wurde heller, und Shadow wartete am Ufer. Schon bald kam ein flaches Boot in Sicht, auf dessen erhöhtem Bug eine weiße Laterne flackerte und ein paar Fuß darunter im glasigen schwarzen Wasser auch deren Spiegelbild. Das Boot wurde von einer hoch aufgeschossenen Gestalt gestakt, und das platschende Geräusch, das Shadow gehört hatte, rührte vom Eintauchen und Bewegen der Stange her, die das Schiff über das Wasser des unterirdischen Sees schob.
»Hallo da!«, rief Shadow. Plötzlich war er von seinem Echo umgeben: Es klang, als würde ein ganzer Chor ihn willkommen heißen, ein Chor, in dem jeder mit seiner Stimme rief.
Die Person im Boot gab keine Antwort.
Der Bootsführer war groß und sehr mager. Er – sofern es ein Er war – trug ein schmuckloses weißes Gewand, und der blasse Kopf darüber war so ausgesprochen menschenunähnlich, dass Shadow ihn für eine Maske hielt: Es war ein eher kleiner Vogelkopf, der auf einem langen Hals saß und einen langen, hohen Schnabel aufwies. Shadow war sich sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben, diese geisterhafte vogelartige Gestalt zu kennen. Er kramte im Gedächtnis und erkannte schließlich etwas enttäuscht, dass es der Münzeinwurfautomat im House on the Rock war, den er vor Augen gehabt hatte, und darin die nur flüchtig erblickte blasse, vogelähnliche Gestalt, die hinter der Krypta hervorgehuscht war, um sich des Trinkers Seele zu holen.
Wasser tropfte und hallte von der Stange und dem Bug, und das Kielwasser des Schiffes zerfurchte die gläserne Oberfläche des Sees. Das Boot war aus Schilfrohr geflochten und gebunden.
Jetzt näherte es sich dem Ufer. Der Bootsmann stützte sich auf die Stange. Langsam drehte er den Kopf, bis er Shadow zugewandt war. »Hallo«, sagte er, ohne den langen Schnabel zu bewegen. Es war eine männliche Stimme, die – wie bislang alles in Shadows Leben nach dem Tode – vertraut klang. »Kommen Sie an Bord. Sie werden dabei leider nasse Füße bekommen, aber das lässt sich beim besten Willen nicht vermeiden. Diese Boote sind sehr alt, und wenn ich dichter herankomme, könnte ich den Boden aufreißen.«
Shadow zog die Schuhe aus und trat ins Wasser hinein. Es reichte ihm bis zu den Waden und war, sobald man sich ans Nasse gewöhnt hatte, überraschend warm. Der Bootsmann reichte ihm die Hand und zog ihn an Bord. Das Schilfboot schaukelte etwas, wobei Wasser über die niedrigen Ränder spritzte, aber gleich darauf lag es wieder ruhig.
Der Bootsmann stieß vom Ufer ab. Shadow stand mit tropfenden Hosenbeinen da und sah zu.
»Ich kenne Sie«, sagte er zu dem Geschöpf am Bug.
»In der Tat«, sagte der Bootsführer. Die Öllampe, die am Bug hing, brannte jetzt unruhiger, und von dem aufsteigenden Rauch musste Shadow husten. »Sie haben für mich gearbeitet. Leider mussten wir Lila Goodchild ohne Ihre Hilfe bestatten.« Die Stimme klang pedantisch.
Der Rauch brannte Shadow in den Augen. Er wischte die Tränen mit der Hand weg und meinte, durch den Rauch einen großen Mann in Anzug und mit Goldrandbrille zu erkennen. Dann verzog sich der Rauch, und der Bootsführer war wieder ein halbmenschliches Geschöpf mit dem Kopf eines Flussvogels.
»Mister Ibis?«
»Schön, Sie zu sehen«, sagte das Geschöpf mit Mr. Ibis’ Stimme. »Wissen Sie, was ein Psychopompos ist?«
Shadow glaubte das Wort schon einmal gehört zu haben, aber es war lange her. Er schüttelte den Kopf.
»Ein gehobener Ausdruck für eine Art Begleitperson«, sagte Mr. Ibis. »Wir haben alle so viele Funktionen, so viele Erscheinungsweisen. Ich selber sehe mich als einen Gelehrten, der ruhig für sich lebt, seine kleinen Geschichten aufschreibt und dabei von einer Vergangenheit träumt, die vielleicht mal existiert hat oder auch nicht. Und zu einem gewissen Grad trifft das auch zu. Doch daneben bin ich, in einer meiner anderen Eigenschaften, ein Psychopompos, wie so viele derer, denen Sie sich angeschlossen haben. Ich begleite die Lebenden in die Welt der Toten.«
»Ich dachte, das hier wäre schon die Welt der Toten«, sagte Shadow.
»Nein. Nicht per se. Es ist eher eine Vorstufe.«
Das Boot glitt über die Spiegeloberfläche des unterirdischen Tümpels. Und dann sagte Mr. Ibis wieder, ohne den Schnabel zu bewegen: »Ihr redet immer über die Lebenden und die Toten, als wären das Kategorien, die sich gegenseitig ausschließen. Als könnte man nicht einen Fluss nehmen, der auch eine Straße ist, oder ein Lied, das ebenso eine Farbe ist.«
»Kann man doch auch nicht«, sagte Shadow. »Oder?« Das Echo flüsterte ihm seine Worte quer über den Tümpel zurück.
»Sie sollten im Auge behalten«, sagte Mr. Ibis gereizt, »dass Leben und Tod zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Wie Kopf und Zahl bei einer Geldmünze.«
»Und wenn ich eine Münze mit zwei Köpfen hätte?«
»Haben Sie aber nicht.«
Shadow lief, während sie das dunkle Wasser überquerten, ein Schauer über den Rücken. In seiner Einbildung sah er vorwurfsvolle Kindergesichter durch die gläserne Wasseroberfläche zu sich heraufstarren: Ihre Gesichter waren vom Wasser weichgezeichnet, ihre blinden Augen blickten trübe. In dieser Höhle gab es keinen Wind, der die schwarze Oberfläche des Sees aufzurühren vermocht hätte.
»Also bin ich tot«, sagte Shadow. »Oder werde bald tot sein.«
»Wir sind auf dem Weg zur Halle der Toten. Ich habe darum gebeten, derjenige sein zu dürfen, der Sie abholt.«
»Warum?«
»Sie haben gut gearbeitet. Warum sollte ich also nicht?«
»Weil …« Shadow ordnete seine Gedanken. »Weil ich nie an euch geglaubt habe. Weil ich nicht viel von ägyptischer Mythologie verstehe. Weil ich mit alldem nicht gerechnet habe. Was ist eigentlich mit dem heiligen Petrus und seiner Himmelspforte?«
Mit großem Ernst drehte Mr. Ibis den langschnabeligen weißen Kopf hin und her. »Es macht nichts, dass Sie nicht an uns geglaubt haben«, sagte er. »Wir haben an Sie geglaubt.«
Das Boot stieß auf Grund. Mr. Ibis trat seitlich ins Wasser hinaus und wies Shadow an, es ihm gleichzutun. Er holte ein Tau aus dem Bug und gab Shadow die Laterne zum Tragen. Sie hatte die Form eines Halbmondes. Sie gingen an Land, und Mr. Ibis vertäute das Boot an einem in den Felsboden eingelassenen Metallring. Dann nahm er Shadow die Lampe ab und schritt zügig voran, die Lampe nach oben haltend, wobei sie gewaltige Schatten über den Felsboden und die hohen Felswände warf.
»Haben Sie Angst?«, fragte Mr. Ibis.
»Eigentlich nicht.«
»Also, bis wir da sind, sollten Sie versuchen, ein Gefühl echter Ehrfurcht und spirituellen Entsetzens zu entwickeln. Das wäre angesichts dessen, was hier ansteht, die angemessene Haltung.«
Shadow hatte keine Angst. Er verspürte Interesse, Besorgnis auch, aber nicht mehr. Angst hatte er weder vor der beweglichen Dunkelheit noch vor dem Tod, nicht einmal vor dem hundeköpfigen Geschöpf von der Größe eines Getreidesilos, das ihnen da jetzt entgegenstarrte. Es knurrte aus tiefer Kehle, und Shadow fühlte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten.
»Shadow«, sagte es. »Die Zeit des Gerichts ist gekommen.«
Shadow blickte zu der Kreatur hinauf. »Mr. Jacquel?«, sagte er.
Anubis senkte die Hände herab, riesige dunkle Hände, ergriff Shadow und hob ihn hoch.
Der Schakalskopf begutachtete ihn mit hellen und funkelnden Augen, untersuchte ihn so leidenschaftslos, wie Mr. Jacquel die tote Frau auf der Totenbank untersucht hatte. Shadow wusste, dass alle seine Fehler, alle seine Schwächen, alle seine Sünden registriert, gewogen und abgeschätzt wurden, dass er in gewisser Weise seziert, zerschnitten und verkostet wurde.
Nicht immer erinnern wir uns der Dinge, die uns nicht zur Ehre gereichen. Wir suchen sie zu rechtfertigen, verpacken sie in Notlügen oder bedecken sie mit dem dicken Staub der Vergesslichkeit. Was immer Shadow in seinem Leben getan hatte, auf das er nicht stolz war, was immer er gern anders gemacht oder ganz gelassen hätte, all das stürmte nun in einem Wirbel von Schuld, Bedauern und Scham auf ihn ein, und es gab keine Möglichkeit, sich davor zu verstecken. Er war so nackt und offen wie eine Leiche auf dem Seziertisch, und Anubis, der dunkle Schakalgott, war nicht nur sein Prosektor, er war auch Ankläger und Richter in einem.
»Bitte«, sagte Shadow. »Bitte aufhören.«
Aber die Untersuchung hörte nicht auf. Jede Lüge, die er je ausgesprochen, jeder Gegenstand, den er je gestohlen, jede Verletzung, die er anderen je zugefügt hatte, all die kleinen Verbrechen und klitzekleinen Morde, aus denen ein Tag sich zusammensetzt, all dies und noch mehr wurde von dem schakalsköpfigen Richter der Toten ans Licht befördert.
Shadow begann dort auf dem Handteller des dunklen Gottes fürchterlich zu weinen. Er war wieder ein winziges Kind, hilfloser und machtloser denn je.
Und dann, ganz unvermittelt, war es vorbei. Shadow keuchte und schluchzte, der Rotz lief ihm aus der Nase; noch immer fühlte er sich hilflos, während Anubis ihn vorsichtig, fast zärtlich, auf den Felsboden zurückstellte.
»Wer hat sein Herz?«, knurrte Anubis.
»Ich«, schnurrte eine Frauenstimme. Bastet stand neben dem Ding, das nicht mehr Mr. Ibis war, und hielt Shadows Herz in der rechten Hand. Es verlieh ihrem Gesicht einen rubinroten Schimmer.
»Gib her«, sagte Thoth, der ibisköpfige Gott. Er nahm das Herz in seine Hände, die keine menschlichen Hände waren, und glitt vorwärts.
Anubis stellte vor ihm eine goldene Waage auf.
»Hier also ermitteln wir, was ich bekomme?«, flüsterte Shadow Bastet zu. »Himmel? Hölle? Fegefeuer?«
»Wenn die Feder im Gleichgewicht bleibt«, sagte sie, »kannst du selber wählen, wo du hinwillst.«
»Und wenn nicht?«
Sie zuckte die Achseln, als wäre ihr nicht wohl bei diesem Gedanken. Schließlich sagte sie: »Dann werfen wir dein Herz und deine Seele Ammit vor, der Verschlingerin der Seelen …«
»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht ist mir ja irgendein Happyend beschert.«
»Es gibt nicht nur keine Happyends«, erwiderte sie. »Es gibt nicht einmal ein Ende.«
Auf eine der Waagschalen legte Anubis vorsichtig, ja geradezu ehrerbietig, eine Feder.
Auf die andere Waagschale legte er Shadows Herz. Etwas bewegte sich im Schatten unter der Waage, etwas, das Shadow so viel Unbehagen bereitete, dass er es nicht näher in Augenschein nehmen mochte.
Es war eine schwere Feder, aber Shadow hatte auch ein schweres Herz, und die Waagschalen gerieten auf beunruhigende Weise ins Schaukeln.
Doch letzten Endes hielten sie das Gleichgewicht, und die Kreatur im Schatten schlich unbefriedigt von dannen.
»Soweit dazu«, sagte Bastet wehmütig. »Kommt wieder ein Schädel auf den Haufen. Schade. Ich hatte gehofft, du würdest gegen die derzeitigen Probleme etwas ausrichten können. Es ist, als würde man einem Autounfall in Zeitlupe zusehen und könnte nichts dagegen unternehmen.«
»Du wirst nicht dabei sein?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich lass mir nicht gern vorschreiben, wann ich zu kämpfen habe.«
In der gewaltigen Halle des Todes herrschte daraufhin Schweigen, und nur das Echo des Wassers und der Dunkelheit war noch zu hören.
»Jetzt kann ich also wählen, wo ich als Nächstes hingehe?«, sagte Shadow.
»Wähle«, sagte Thoth. »Du kannst aber auch uns für dich wählen lassen.«
»Nein«, sagte Shadow. »Schon gut. Ich wähle selbst.«
»Und?«, donnerte Anubis.
»Ich möchte jetzt ausruhen«, sagte Shadow. »Das ist es, was ich will. Weiter nichts. Kein Himmel, keine Hölle, kein gar nichts. Lasst es nur einfach zu Ende gehen.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Thoth.
»Ja«, sagte Shadow.
Mr. Jacquel öffnete die letzte Tür für Shadow, und hinter dieser Tür war nichts. Keine Dunkelheit. Nicht einmal Vergessenheit. Nur das Nichts.
Shadow nahm es an, vollständig und ohne Vorbehalt, und mit einer seltsamen grimmigen Freude schritt er durch die Tür ins Nichts.