7
Da die Hindugottheiten ›unsterblich‹ nur in einem sehr speziellen Sinne sind – sie werden geboren und sie sterben –, sind sie den meisten menschlichen Dilemmata ausgesetzt und scheinen sich von Sterblichen oft nur in einigen trivialen Details zu unterscheiden … von Dämonen allerdings in noch weniger. Gleichwohl werden sie von den Hindus als eine Kategorie von Wesen begriffen, die von allen anderen grundlegend zu unterscheiden ist; sie sind Symbole in einer Weise, wie es keinem Menschen, wie ›archetypisch‹ sein Lebenslauf auch sein mag, je gegeben ist. Sie sind Schauspieler, deren Rollen nur für uns Wirklichkeit haben; sie sind die Masken, hinter denen wir das eigene Gesicht erkennen.
– Wendy Doniger O’Flaherty,
›Hindu Myths‹, 1975
Shadow war mehrere Stunden lang nach Süden gegangen – jedenfalls hoffte er, dass es mehr oder weniger diese Richtung war –, einen schmalen und nicht gekennzeichneten Waldweg entlang, irgendwo im südlichen Wisconsin, wie er vermutete. Einmal kamen ihm ein paar Jeeps mit blendenden Scheinwerfern entgegen. Er tauchte zwischen den Bäumen unter, bis sie vorbei waren. Der frühmorgendliche Nebel hing auf Bauchhöhe. Die Wagen waren schwarz.
Als er dreißig Minuten später das Geräusch von Hubschraubern hörte, die sich von Westen näherten, verließ er den Holzwirtschaftsweg und schlug sich seitwärts ins Unterholz. Es waren zwei Hubschrauber. Er kauerte in einer Bodensenke unter einem umgestürzten Baum und lauschte, wie sie über ihn hinwegflogen. Als sie sich wieder entfernten, kam er hervorgekrochen und wagte einen hastigen Blick in den grauen Winterhimmel. Mit Befriedigung vermerkte er, dass die Hubschrauber mattschwarz angestrichen waren. Er wartete unter einem Baum, bis ihr Lärm vollständig verklungen war.
Unter den Bäumen war der Schnee nicht viel mehr als eine Staubschicht, die unter den Füßen knirschte. Shadow war zutiefst dankbar für die chemischen Hand- und Fußwärmer, die jedenfalls seine Extremitäten vor dem Durchfrieren schützten. Sonst aber war bereits alles taub: das Herz, der Kopf, die Seele. Die Taubheit, begriff er, reichte sogar tief hinunter und lange zurück.
Was aber will ich?, fragte er sich. Da er keine Antwort darauf fand, ging er einfach weiter, Schritt für Schritt, immer weiter durch die Wälder. Die Bäume kamen ihm bekannt vor, ganze Abschnitte der Landschaft riefen bei ihm ein Déjà-vu-Gefühl hervor. Konnte es sein, dass er im Kreis ging? Vielleicht würde er gehen und gehen und immer weiter gehen, bis die Wärmer und die Süßigkeiten aufgebraucht waren, um sich dann hinzusetzen und nie wieder aufzustehen.
Er stieß auf einen größeren Bach, die Art von Gewässer, die hierzulande als creek bezeichnet, von den Einheimischen aber crick ausgesprochen wurde, und beschloss, ihm zu folgen. Bäche münden in Flüsse, und Flüsse enden alle unweigerlich im Mississippi; wenn er also nur lange genug marschierte oder ein Boot klaute oder sich ein Floß baute, würde er am Ende in New Orleans landen, wo es warm war, eine Aussicht, die zwar tröstlich, aber irgendwie auch unrealistisch erschien.
Es kamen keine weiteren Hubschrauber. Er hatte das Gefühl, dass diejenigen, die über ihn hinweggeflogen waren, die Bescherung im Zug beseitigt, nicht aber Jagd auf ihn gemacht hatten, sonst wären sie vermutlich zurückgekehrt, es hätte Spürhunde gegeben und Sirenen und was sonst noch alles zu einer anständigen Verfolgung gehörte. Stattdessen war da nichts.
Also, was wollte er? Nicht ergriffen werden. Nicht für den Tod der Männer im Zug verantwortlich gemacht werden. »Ich war es nicht«, hörte er sich sagen, »es war meine tote Frau.« Den Gesichtsausdruck der Justizbeamten daraufhin konnte er sich gut ausmalen. Danach würde man, während er auf den Stuhl geführt wurde, darüber diskutieren können, ob er verrückt sei oder nicht …
Er überlegte, ob in Wisconsin die Todesstrafe galt. Die nächste Frage war, ob das irgendetwas ausmachte. Er wollte verstehen, was vorging – und herausfinden, wohin das alles führen mochte. Schließlich dämmerte ihm – und ein etwas klägliches Grinsen schlich sich dabei auf sein Gesicht –, dass er sich vor allem wünschte, alles möge wieder normal sein. Er wollte nie im Gefängnis gewesen sein, wollte, dass Laura noch am Leben war, wollte, dass das alles hier nie geschehen war.
»Ich fürchte, das steht eigentlich nicht zur Debatte, mein Junge«, dachte er bei sich, Wednesdays barsche Stimme nachahmend, und nickte zustimmend. Keine Debatte. Du hast die Brücken hinter dir abgebrochen. Also geh einfach weiter. Sitz deine Zeit ab …
In einiger Entfernung trommelte ein Specht gegen einen morschen Baum.
Shadow wurde sich bewusst, dass er unter Beobachtung stand: Eine Hand voll roter Kardinalvögel starrte ihn von einem dürren Holunderbusch aus an, dann fuhren sie fort, an den Sträuchern schwarzer Holunderbeeren zu picken. Sie sahen aus wie die Illustrationen aus seinem »Singvögel-in-Nordamerika«-Kalender. Noch lange konnte er auf seinem Weg entlang des Baches das Spielhallen-Zwitschern, Schlagen und Juchzen der Vögel hören.
Ein totes Reh lag auf einer Lichtung im Schatten eines Hügels. Ein schwarzer Vogel von der Größe eines kleinen Hundes hackte mit seinem großen gebogenen Schnabel in dessen Flanke und riss und zerrte Brocken roten Fleischs aus dem Kadaver. Die Augen des Tieres waren nicht mehr da, aber der restliche Kopf war noch unberührt; auf dem Hinterteil waren weiße Kitztupfer zu sehen. Shadow fragte sich, wie es wohl zu Tode gekommen war.
Der schwarze Vogel legte den Kopf zur Seite und sagte dann mit einer Stimme, die so klang, als würde jemand Steine aneinander schlagen: »Du Schattenmann.«
»Ich bin Shadow«, sagte Shadow. Der Vogel hüpfte auf den Rücken des Rehs, hob den Kopf und sträubte dabei den Kamm und die Nackenfedern. Er war riesengroß, und die Augen wirkten wie schwarze Perlen. Es lag etwas Einschüchterndes an einem Vogel dieser Größe, vor allem aus solch unmittelbarer Nähe.
»Sagt, er trifft dich in Kay-ro«, tockte der Rabe. Shadow überlegte, um welchen von Odins Raben es sich wohl handeln mochte, um Hugin oder um Munin, Gedächtnis oder Gedanke.
»Kay-ro?«, sagte er.
»In Ägypten.«
»Wie soll ich denn nach Ägypten kommen?«
»Mississippi folgen. Nach Süden. Schakal finden.«
»Hör mal«, sagte Shadow, »versteh mich bitte nicht falsch, ich bin nicht – Jesses, ich meine …« Er hielt inne. Formierte sich neu. Ihm war kalt, er stand im Wald, er redete mit einem schwarzen Vogel, der gerade dabei war, Bambi zum Frühstück zu verspeisen. »Okay. Also, ich will keine Rätsel gestellt bekommen.«
»Rätsel«, bestätigte der Vogel hilfreich.
»Ich will Erklärungen. Schakal in Kay-ro. Das hilft mir nicht weiter. Das kommt mir wie ein Zitat aus einem schlechten Spionagethriller vor.«
»Jackal – Schakal. Freund. Tock. Kay-ro.«
»Das hast du bereits gesagt. Ein bisschen mehr Information dürfte schon sein.«
Der Vogel drehte sich halb um und zog einen weiteren Streifen rohen Fleisches zwischen den Rippen des Rehs hervor. Dann flog er hinauf in die Bäume, und der rote Streifen baumelte ihm wie ein langer, blutiger Wurm aus seinem Schnabel.
»He! Kannst du mich wenigstens zu einer richtigen Straße zurückführen?«, rief Shadow.
Der Rabe flog auf und davon. Shadow betrachtete den Kadaver des Jungrehs. Er sagte sich, dass er sich, wäre er ein echter Jäger, ein Steak abschneiden würde, um es über einem Holzfeuer zu braten. Stattdessen setzte er sich auf einen umgestürzten Baum, aß ein Snickers und machte sich klar, dass er wohl wirklich kein echter Waidmann war.
Der Rabe krächzte vom Rande der Lichtung zu ihm herüber.
»Willst du, dass ich dir folge?«, sagte Shadow. »Ist Timmy wieder mal in den Brunnen gefallen?« Der Rabe krächzte erneut, mittlerweile recht ungeduldig. Shadow erhob sich und ging auf ihn zu. Der Vogel wartete, bis er ihn fast erreicht hatte, und flog dann, heftig flügelschlagend, zu einem anderen Baum etwas weiter links des Wegs, den Shadow ursprünglich gegangen war.
»He«, rief Shadow. »Hugin oder Munin oder wer du bist.«
Der Vogel drehte sich um, den Kopf misstrauisch zur Seite gelegt, und starrte ihn aus hellen Augen an.
»Sag mal ›Nimmermehr‹«, sagte Shadow.
»Leck mich«, sagte der Rabe. Sonst sagte er auf ihrem weiteren Weg durch das Waldland nichts mehr.
Eine halbe Stunde später stießen sie auf eine Asphaltstraße am Rande einer Ortschaft, wo der Rabe zurück in den Wald flog. Shadow entdeckte ein »Culvers Frozen Custard Butterburger«-Schild und gleich daneben eine Tankstelle. Er betrat das Culvers, in dem sich aber keinerlei Gäste befanden. Hinter der Kasse stand ein eifrig wirkender junger Mann mit blank geschorenem Kopf. Shadow bestellte zwei Butterburger mit Fritten. Dann ging er zur Toilette, um sich sauber zu machen. Er sah schlimm aus. Er machte eine Bestandsaufnahme des Inhalts seiner Taschen: Da waren ein paar Münzen, einschließlich des silbernen Liberty-Dollars, eine Wegwerfzahnbürste, Zahnpasta, drei Riegel Snickers, fünf chemische Heizpolster, eine Brieftasche (mit nichts weiter als seinem Führerschein und einer Kreditkarte darin – wie lange die noch Bestand hatte, war auch noch unklar) und in der Innentasche des Mantels eintausend Dollar in Fünfzigern und Zwanzigern, sein Anteil aus dem gestrigen Bankraub. Er wusch sich Gesicht und Hände mit heißem Wasser, klatschte sich das dunkle Haar an den Kopf und ging schließlich zurück ins Restaurant, um seine Burger und Fritten zu verschlingen und Kaffee zu trinken.
Danach ging er wieder zum Tresen. »Möchten Sie noch Puddingsorbet?«, fragte der eifrige junge Mann.
»Nein. Nein, danke. Gibt’s hier irgendwas in der Gegend, wo ich mir ein Auto mieten kann? Mein Wagen ist nämlich ein Stück die Straße runter liegen geblieben.«
Der junge Mann kratzte sich die Kopfhaut. »Hier in der Gegend nicht, Mister. Aber Sie könnten ja den Automobilclub anrufen. Oder fragen Sie in der Tankstelle nebenan, ob die Sie abschleppen können.«
»Sehr gute Idee«, sagte Shadow. »Danke.«
Er ging über den schmelzenden Schnee auf dem Culvers-Parkplatz zur Tankstelle. Dort kaufte er sich Schoko-Nuss-Riegel, Beefys und weitere chemische Hand- und Fußwärmer.
»Kann man hier irgendwo ein Auto mieten?«, fragte er die Frau hinter der Kasse. Sie war ungeheuer korpulent, trug eine Brille und schien hocherfreut zu sein, jemanden zum Reden zu haben.
»Da muss ich kurz nachdenken«, sagte sie. »Wir sind hier ziemlich ab vom Schuss. Solche Sachen macht man eher drüben in Madison. Wo wollen Sie denn hin?«
»Nach Kay-ro«, sagte er. »Wo immer das ist.«
»Oh, ich weiß, wo das ist«, sagte sie. »Geben Sie mir doch mal eine Illinois-Karte aus dem Regal da drüben.« Shadow reichte ihr eine der Landkarten, die in einer Plastikschutzhülle steckte. Die Frau faltete sie auf und zeigte dann triumphierend auf die allerunterste Ecke des Bundesstaates. »Da.«
»Cairo?«
»Sie sprechen das aus wie die Stadt, die in Ägypten liegt. Aber die in Klein-Ägypten, die sprechen das wie Kayro aus. Ein Thebes gibt es da unten auch, und was nicht noch alles. Meine Schwägerin kommt aus Thebes. Ich hab sie mal nach dem Theben in Ägypten gefragt, aber da hat sie mich nur angeguckt, als wäre bei mir ’ne Schraube locker.« Die Frau kicherte wie ein Abflussrohr.
»Gibt es da unten auch irgendwelche Pyramiden?« Die Stadt lag ungefähr fünfhundert Meilen entfernt, fast genau in südlicher Richtung.
»Wüsste ich nichts davon. Man nennt die Gegend Klein-Ägypten, weil es da in der Umgebung vor, na, hundert, hundertfünfzig Jahren eine Hungersnot gegeben hat. Die Ernte war ziemlich schlecht ausgefallen. Nur da unten in der Ecke nicht, da war sie gut gewesen. Also sind alle gekommen, um ihre Nahrung dort zu kaufen. Wie in der Bibel. Wie im Musical Joseph and the Amazing Technicoloi Dreamcoat. Auf nach Ägypten, täterätä.«
»Wenn Sie an meiner Stelle wären und dorthin müssten, wie würden Sie das anstellen?«
»Mit dem Auto fahren.«
»Mein Wagen ist ein paar Meilen die Straße runter liegen geblieben. War eine echte Schrottkiste, wenn ich mich so ausdrücken darf.«
»Meinetwegen auch Scheißkarre«, sagte sie. »So drückt sich mein Schwager auch immer aus. Er kauft und verkauft nebenbei Autos. Ab und zu ruft er mich an und sagt, Mattie, ich hab wieder eine Scheißkarre verkauft. Überhaupt, vielleicht wäre er ja interessiert, Ihren alten Wagen zu kaufen. Zum Schrottwert natürlich.«
»Er gehört meinem Chef«, sagte Shadow, selbst ganz überrascht, wie leicht und locker ihm die Lügen von den Lippen gingen. »Ich muss ihn noch anrufen, damit er jemanden schickt, der ihn abholt.« Er hatte einen Einfall. »Ihr Schwager, ist der irgendwo in der Nähe?«
»Er wohnt in Muscoda. Zehn Minuten südlich von hier. Man muss nur über den Fluss. Warum?«
»Na ja, vielleicht hat er ja eine Schrottkiste, die er mir für, hm, fünf-, sechshundert Dollar überlassen könnte?«
Sie lächelte liebenswürdig. »Mister, der hat kein einziges Auto bei sich stehen, das Sie nicht für fünfhundert Dollar haben könnten, und das mit vollem Tank. Verraten Sie ihm aber nicht, dass Sie das von mir haben.«
»Würden Sie ihn für mich anrufen?«, sagte Shadow.
»So gut wie passiert«, antwortete sie und griff zum Telefon. »Schatz? Mattie hier. Komm mal sofort rüber. Ich hab hier einen, der ein Auto kaufen will.«
Die Scheißkarre, die Shadow sich aussuchte, war ein Chevy Nova, Baujahr 1983. Er zahlte, mit vollem Tank, vierhundertfünfzig Dollar dafür. Der Wagen hatte fast eine Viertelmillion Meilen auf dem Tacho und roch schwach nach Bourbon und Tabak, aber auch etwas stärker nach etwas, was gut und gern Banane sein mochte. Unter dem Schmutz und dem Schnee war nicht eindeutig zu bestimmen, welche Farbe er hatte. Von all den Fahrzeugen auf dem Hof von Matties Schwager war er jedoch der einzige, der so aussah, als könnte er Shadow fünfhundert Meilen weit tragen.
Der Handel wurde in bar abgewickelt, wobei sich der Schwager weder für Shadows Namen noch für seine Sozialversicherungsnummer, noch für sonst irgendwas außer dem Geld interessierte.
Shadow fuhr nach Westen, dann nach Süden, immer abseits der Interstate, mit lediglich noch fünfhundertfünfzig Dollar in der Tasche. Die Scheißkarre besaß ein Radio, aber als er es einschaltete, rührte sich gar nichts. Ein Straßenschild wies ihn darauf hin, dass er Wisconsin verlassen hatte und sich nunmehr in Illinois befand. Er kam an einer Bergbaugrube vorbei, wo riesige blaue Bogenlampen im trüben Mittwintertageslicht brannten.
Er hielt bei einer Gaststätte namens Mom’s und bekam gerade noch etwas zu essen, bevor sie den Nachmittag über zumachte.
Jeder Ort, durch den er kam, besaß neben dem Hauptortsschild, das dem Reisenden mitteilt, er sei jetzt in »Unserer Stadt« (Einw. 720), ein zusätzliches Schild, auf dem zum Beispiel kundgetan wurde, dass die örtliche Basketballmannschaft der unter Vierzehnjährigen Dritte bei den Landesmeisterschaften geworden sei oder dass die betreffende Stadt die Semifinalistinnen der Freistilringermeisterschaften von Illinois bei den U-16-Mädchen beherberge.
Er fuhr fast im Halbschlaf weiter und wurde mit jeder Minute müder. Er überfuhr eine rote Ampel, wobei ihm fast eine Frau mit einem Dodge in die Seite gefahren wäre. Sobald er wieder auf freier Flur war, bog er von der Straße auf einen verlassenen Wirtschaftsweg ab und hielt den Wagen neben einem schneebesprenkelten Stoppelfeld an, auf dem eine Reihe fetter schwarzer Wildtruthähne in langsamer Prozession wie in Trauer fürbass schritt. Er stellte den Motor ab, legte sich auf die Rückbank und schlief ein.
Dunkelheit, ein Gefühl des Fallens – als würde er wie Alice ein großes Loch hinabstürzen. Er fiel hundert Jahre lang ins Dunkel. Gesichter zogen an ihm vorbei, schwammen aus der Schwärze heran, wurden dann zerrissen und schwanden dahin, bevor er sie berühren konnte …
Mit einem Mal, übergangslos, fiel er nicht mehr. Jetzt war er in einer Höhle, und er war nicht länger allein. Shadow starrte in vertraute Augen, riesige, schwarzflüssige Augen. Sie blinzelten.
Unter der Erde: ja. Er erinnerte sich an diesen Ort. Der feuchte Kuhgestank. Flammenlicht flackerte von den nassen Höhlenwänden wider und beleuchtete den Bisonkopf, den menschlichen Körper in der Farbe von Lehmziegeln.
»Könnt ihr mich nicht mal in Ruhe lassen?«, sagte Shadow. »Ich will einfach nur schlafen.«
Der Büffelmann nickte bedächtig. Die Lippen bewegten sich nicht, aber eine Stimme in Shadows Kopf sagte: »Wo willst du hin, Shadow?«
»Nach Cairo.«
»Warum?«
»Wo sollte ich sonst hin? Wednesday möchte, dass ich dorthin fahre. Ich habe von seinem Met getrunken.« In Shadows Traum, unter den Gesetzen der Traumlogik, schien diese Verpflichtung unanfechtbar zu sein: Er hatte dreimal von Wednesdays Met getrunken und damit den Pakt besiegelt – was blieb ihm da zu tun übrig?
Der bisonköpfige Mann streckte eine Hand ins Feuer und schürte die Glut und die zerbrochenen Zweige zu einer neuen, hoch aufschießenden Flamme. »Der Sturm naht«, sagte er. Die Hand war jetzt voller Asche; er wischte sie sich an seiner haarlosen Brust ab und hinterließ dabei rußschwarze Streifen.
»Das krieg ich andauernd von euch zu hören. Darf ich eine Frage stellen?«
Es gab eine Pause. Eine Fliege setzte sich auf die haarige Stirn. Der Büffelmann scheuchte sie weg. »Frage.«
»Ist das alles hier wirklich wahr? Sind diese Leute wirklich Götter? Es ist alles so …« Er hielt inne. Dann sagte er: »… unmöglich«, was nicht unbedingt das Wort war, nach dem er gesucht hatte, aber ihm fiel vorläufig nichts Besseres ein.
»Was sind Götter?«, fragte der Büffelmann zurück.
»Ich weiß nicht«, sagte Shadow.
Irgendwo klopfte es dumpf und unablässig. Shadow wartete, dass der Büffelmann noch mehr sagte, ihm erklärte, was Götter seien, ihm den ganzen verschlungenen Albtraum erklärte, in den sein Leben sich verwandelt zu haben schien. Ihm war kalt.
Hopf. Hopf. Hopf.
Shadow öffnete die Augen und setzte sich benommen auf. Er fror erbärmlich. Der Himmel draußen über dem Auto leuchtete in dem tiefen Purpurton, der die Dämmerung von der Nacht abgrenzt.
Klopf. Klopf. Jemand sagte: »He, Mister«, und Shadow drehte den Kopf. Der Jemand stand neben dem Wagen, ein noch dunklerer Umriss vor dem dunklen Himmel. Shadow streckte die Hand aus und drehte das Fenster ein paar Zentimeter herunter. Er reckte sich stöhnend und sagte dann: »Hi.«
»Alles in Ordnung mit Ihnen? Sind Sie krank? Haben Sie getrunken?« Es war eine hohe Stimme – die einer Frau oder eines Jungen.
»Mir geht’s gut«, sagte Shadow. »Einen Moment bitte.« Er öffnete die Tür, stieg aus, und streckte Hals und schmerzende Glieder. Dann rieb er sich die Hände, damit das Blut in Wallung kam und sie wärmer wurden.
»Wow. Sie sind ganz schön groß.«
»Das hör ich nicht zum ersten Mal«, sagte Shadow. »Wer bist du?«
»Ich bin Sam«, sagte die Stimme.
»Sam Junge oder Sam Mädchen?«
»Sam Mädchen. Früher war ich Sammi mit i, und ich hab immer ein Grinsegesicht übers i gemalt, aber irgendwann fand ich’s zum Kotzen, weil irgendwie alle so was gemacht haben, und deshalb hab ich damit aufgehört.«
»Okay, Mädchen Sam. Geh mal da rüber und guck in Richtung Straße.«
»Warum? Sind Sie ein wahnsinniger Killer oder so was?«
»Nein«, sagte Shadow. »Ich muss mal pinkeln, und dabei möchte ich ein klein bisschen ungestört sein.«
»Oh. Klar. Okay. Verstanden. Kein Problem. Kann ich total gut verstehen. Ich kann nicht mal lospinkeln, wenn jemand in der Kabine nebenan sitzt. Schwerer Fall von schüchterner Blase.«
»Also, bitte.«
Sie ging auf die andere Seite des Wagens. Shadow machte ein paar Schritte aufs Feld zu, öffnete den Reißverschluss seiner Jeans und pinkelte sehr ausgiebig gegen einen Zaunpfosten. Dann ging er wieder zurück zum Auto. Das letzte Stück Abenddämmerung hatte sich der Nacht ergeben.
»Bist du noch da?«
»Ja«, sagte sie. »Ihre Blase muss ja so groß wie der Eriesee sein. Ich glaube, ganze Reiche sind aufgestiegen und wieder untergegangen, während Sie gepinkelt haben. Ich konnte es die ganze Zeit hören.«
»Danke. Wolltest du irgendwas Bestimmtes?«
»Na ja, ich wollte erst mal sehen, ob Sie okay sind. Das heißt, wenn Sie tot gewesen wären oder was, dann hätte ich die Polizei gerufen. Die Fenster waren aber irgendwie ziemlich beschlagen, und da hab ich gedacht, na ja, dann lebt er wohl noch.«
»Kommst du hier aus der Gegend?«
»Nö. Bin von Madison hergetrampt.«
»Das ist aber ziemlich gefährlich.«
»Das mach ich mindestens fünfmal im Jahr, schon seit drei Jahren. Ich lebe noch. Und, wo wollen Sie hin?«
»Ich fahre bis nach Cairo.«
»Vielen Dank«, sagte sie. »Ich will nach El Paso, um die Ferien bei meiner Tante zu verbringen.«
»So weit kann ich dich aber nicht bringen«, sagte Shadow.
»Nicht El Paso in Texas. Das andere, in Illinois. Das ist ein paar Stunden südlich. Wissen Sie überhaupt, wo Sie hier gerade sind?«
»Nein«, sagte Shadow. »Ich habe keine Ahnung. Irgendwo auf dem Highway 52?«
»Die nächste Stadt ist Peru«, sagte Sam. »Nicht die in Peru. Die in Illinois. Ich will vorher aber mal an Ihnen riechen. Beugen Sie sich runter.« Shadow gehorchte, und das Mädchen schnupperte an seinem Gesicht. »Okay, ich rieche keinen Alkohol. Sie können fahren. Auf geht’s.«
»Wie kommst du darauf, dass ich dich mitnehme?«
»Weil ich eine Maid in Nöten bin«, sagte sie. »Und Sie sind ein Ritter in was auch immer. Einem echt dreckigen Auto. Wussten Sie, dass jemand ›Wasch mich!‹ an Ihr Heckfenster geschrieben hat?« Shadow stieg in den Wagen und öffnete die Beifahrertür. Das Licht, das in Autos üblicherweise anging, wenn man eine der vorderen Türen öffnete, funktionierte bei diesem Wagen nicht.
»Nee«, sagte er. »Wusste ich nicht.«
Sie stieg ein. »Das war ich«, sagte sie. »Ich hab’s draufgemalt. Als man noch was sehen konnte.«
Shadow ließ den Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr wieder in Richtung Straße. »Links«, sagte Sam hilfsbereit. Shadow bog nach links ab und gab Gas. Nach einigen Minuten kam die Heizung auf Touren, und im Auto breitete sich segensreiche Wärme aus.
»Sie haben noch gar nichts gesagt«, sagte Sam. »Sagen Sie was.«
»Bist du ein menschliches Wesen?«, fragte Shadow. »Ein hundertprozentiger, von Mann und Frau gezeugter, lebendiger Mensch?«
»Klar«, sagte sie.
»Okay. Wollte da nur sichergehen. Und, was soll ich sagen?«
»Irgendwas, um mich erst mal zu beruhigen. Ich habe plötzlich dieses Gefühl: ›Oh Scheiße, ich bin im falschen Auto mit einem Verrückten‹.«
»Tja«, sagte er. »Das kenn ich. Was würdest du denn beruhigend finden?«
»Sagen Sie mir einfach, dass Sie kein entflohener Sträfling sind oder ein Massenmörder oder so was.«
Er dachte einen Augenblick nach. »Also, eigentlich nicht.«
»Sie mussten aber erst mal nachdenken, wie?«
»Gesessen habe ich. Hab aber niemanden umgebracht.«
»Oh.«
Sie erreichten einen kleinen, von Straßenlampen und Weihnachtsdekorationen erleuchteten Ort. Shadow riskierte einen Blick zur Seite. Das Mädchen hatte dunkles, strubbeliges kurzes Haar und ein Gesicht, das ihm sowohl attraktiv als auch ein wenig männlich erschien: Züge wie aus Stein gemeißelt. Sie sah ihn an.
»Weswegen waren Sie im Gefängnis?«
»Ich habe ein paar Leute übel zugerichtet. Man hat mich wütend gemacht.«
»Hatten die anderen es verdient?«
Shadow überlegte kurz. »Damals war ich jedenfalls der Ansicht.«
»Würden Sie es wieder tun?«
»Um Gottes willen, nein. Ich habe deswegen drei Jahre meines Lebens verloren.«
»Hm. Fließt indianisches Blut in Ihnen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Ich frag nur, weil Sie ein bisschen so aussehen.«
»Da muss ich dich enttäuschen, tut mir Leid.«
»Macht nichts. Haben Sie Hunger?«
Shadow nickte. »Ich könnte was vertragen.«
»Gleich hinter der Lichtergruppe da vorn gibt es einen guten Laden. Gutes Essen. Und billig.«
Shadow bog auf den Parkplatz ab. Sie stiegen aus. Er machte sich nicht die Mühe, den Wagen abzuschließen, zog allerdings den Schlüssel ab und steckte ihn ein. Er kramte einige Münzen hervor, um sich eine Zeitung zu kaufen. »Kannst du es dir denn leisten, hier zu essen?«, fragte er.
»Ja.« Sie reckte das Kinn empor. »Ich kann allein für mich aufkommen.«
Shadow nickte. »Pass auf. Wir losen. Ich werf die Münze hoch – bei Kopf bezahlst du mein Essen mit, bei Zahl lade ich dich ein.«
»Ich will erst die Münze sehen«, sagte sie misstrauisch. »Ein Onkel von mir hat mal einen Quarter mit zwei Köpfen gehabt.«
Sie inspizierte die Münze und überzeugte sich davon, dass nichts Merkwürdiges an dem Quarter war. Shadow legte die Münze mit Kopf nach oben auf seinen Daumennagel und vollführte dann einen Schummelwurf, der sie wackeln und sich scheinbar in der Luft drehen ließ, fing sie wieder auf und schlug sie umgedreht auf den linken Handrücken, um sie schließlich vor ihren Augen mit der Rechten aufzudecken.
»Zahl«, sagte sie glücklich. »Das Essen geht auf Sie.«
»Jau«, sagte er. »Man kann nicht immer gewinnen.«
Shadow bestellte Hackbraten, Sam entschied sich für Lasagne. Shadow blätterte die Zeitung durch, um zu sehen, ob es irgendeinen Bericht über tote Männer in einem Zug gab, was aber nicht der Fall war. Die einzige Meldung von Interesse fand sich auf der Titelseite: Krähen in Rekordzahl suchten die Stadt heim. Einige Farmer verlangten, dass man überall in der Stadt tote Krähen aufhänge, um die anderen abzuschrecken; Ornithologen hielten dagegen, das bringe nichts, die lebenden Krähen würden die toten einfach fressen. Aber die Einheimischen zeigten sich unerbittlich. »Wenn sie die Leichen ihrer Freunde sehen«, sagte einer ihrer Sprecher, »werden sie wissen, dass sie hier unerwünscht sind.«
Das Essen kam auf dampfenden und bis zum Anschlag gefüllten Tellern; es war mehr, als eine einzelne Person je würde verdrücken können.
»Und was geht in Cairo ab?«, fragte Sam mit vollem Mund.
»Keine Ahnung. Ich hab eine Nachricht von meinem Chef bekommen, dass er mich dort braucht.«
»Was machen Sie denn so?«
»Ich bin Laufbursche.«
Sie lächelte. »Na ja«, sagte sie. »Zur Mafia gehören Sie wohl nicht, bei der Schrottkiste, und außerdem sehen Sie auch nicht so aus. Wieso riecht Ihr Auto eigentlich nach Bananen?«
Er zuckte die Achseln und aß eifrig weiter.
Sam verengte die Augen. »Vielleicht sind Sie ja Bananenschmuggler«, sagte sie. »Sie haben mich noch nicht gefragt, was ich mache.«
»Ich nehme an, du gehst zum College.«
»University of Wisconsin in Madison.«
»Wo du zweifellos Kunstgeschichte und Frauenforschung studierst und womöglich eigene Bronzearbeiten fabrizierst. Und wahrscheinlich arbeitest du in einem Café, um Geld für die Miete zu haben.«
Sie legte die Gabel nieder; ihre Nasenlöcher bebten, die Augen hatte sie weit aufgerissen. »Wie zum Teufel haben Sie das gemacht?«
»Hä? Du sagst bestimmt gleich, dass du in Wirklichkeit Romanistik und Ornithologie studierst.«
»Soll das heißen, das war nur geraten oder so?«
»Was denn sonst?«
Sie starrte ihn mit dunklen Augen an. »Sie sind ein eigenartiger Typ, Mister … Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.«
»Man nennt mich Shadow«, sagte er.
Sie verzog das Gesicht, als hätte sie einen schlechten Geschmack im Mund. Sie schwieg, senkte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Lasagne.
»Weißt du, warum es Ägypten genannt wird?«, fragte Shadow, als Sam mit dem Essen fertig war.
»Da unten um Cairo rum? Und ob. Es liegt im Delta zwischen dem Ohio und dem Mississippi. Wie das eigentliche Kairo im Nildelta.«
»Klingt logisch.«
Sie lehnte sich zurück, bestellte sich Kaffee und ein Stück Schokoladen-Sahne-Torte und strich sich dann mit der Hand durchs schwarze Haar. »Sind Sie verheiratet, Mister Shadow?« Und als er zögerte: »Oje. Da hab ich schon wieder eine heikle Frage gestellt, was?«
»Sie ist am Donnerstag beerdigt worden«, sagte er, indem er die Worte mit Bedacht wählte. »Sie ist bei einem Autounfall gestorben.«
»Oh. Gott. Jesses. Tut mir Leid.«
»Mir auch.«
Eine verlegene Pause entstand. »Meine Halbschwester hat ihr Kind verloren, meinen Neffen also, Ende letzten Jahres. Das ist hart.«
»Ja. Bestimmt. Woran ist er denn gestorben?«
Sie nippte an ihrem Kaffee. »Das wissen wir nicht. Wir wissen im Grunde nicht mal, ob er tot ist. Er ist einfach verschwunden. Aber er war erst dreizehn. Es ist Mitte des letzten Winters passiert. Meine Schwester war ziemlich am Boden zerstört.«
»Gab es, äh, irgendwelche Hinweise?« Er hörte sich an wie ein Fernsehcop. Er setzte noch mal an. »Wurde dahinter ein Verbrechen vermutet?« Das klang ja noch schlimmer.
»Man hatte das Arschloch von meinem Schwager in Verdacht, seinen Vater, der nicht über das Sorgerecht verfügt. Und der Arschloch genug ist, ihn zu entführen. Ich glaube, er war’s. Aber es handelt sich hier um eine kleine Stadt in den nördlichen Wäldern. Reizende, hübsche, kleine Stadt, wo nie jemand die Tür abschließt.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Sie hielt den Kaffeebecher mit beiden Händen. »Sind Sie sich sicher, dass Sie nichts Indianisches in sich haben?«
»Nicht, dass ich wüsste. Möglich wär’s allerdings. Ich weiß nicht viel über meinen Vater. Ich glaube aber, meine Mutter hätte es mir erzählt, wenn er ein Uramerikaner gewesen wäre. Vielleicht.«
Wieder das Verziehen des Mundes. Nachdem sie die Hälfte des Schokoladenkuchens gegessen hatte, gab Sam auf – das Stück war halb so groß wie ihr Kopf. Sie schob den Teller in Shadows Richtung. »Möchten Sie?« Er lächelte, sagte: »Klar«, und putzte den Rest weg.
Die Kellnerin brachte die Rechnung, und Shadow zahlte.
»Danke«, sagte Sam.
Es wurde jetzt kälter. Der Motor stotterte ein paarmal, bevor er ansprang. Shadow setzte auf die Straße zurück und fuhr dann weiter in Richtung Süden. »Schon mal einen Typen namens Herodot gelesen?«, fragte er.
»Jesses. Wen?«
»Herodot. Schon mal seine Historien gelesen?«
»Also wirklich«, sagte sie träumerisch, »ich kapier es einfach nicht. Ich kapier weder, was Sie reden, noch überhaupt die Wörter, die Sie verwenden, noch sonst was. Eben noch sind Sie ein großer, trotteliger Typ, dann lesen Sie meine Scheißgedanken, und im nächsten Moment reden wir über Herodot. Also gut, nein. Ich hab noch nie Herodot gelesen. Hab aber von ihm gehört. Wahrscheinlich im Radio in einer Kultursendung. Ist das nicht der, der als Vater der Lügen bezeichnet wird?«
»Ich dachte, das wäre der Teufel.«
»Ja, der auch. Aber in der Sendung hieß es, dass Herodot von Riesenameisen erzählt hat und von Greifen, die Goldminen bewachen, und dass er dieses Zeug alles nur erfunden hat.«
»Das glaube ich nicht. Er hat das aufgeschrieben, was man ihm erzählt hat. Er schreibt halt Geschichten, Historien. Und es sind größtenteils ziemlich gute Geschichten. Jede Menge seltsame Dinge – wusstest du zum Beispiel, dass sie in Ägypten, wenn ein besonders schönes junges Mädchen oder die Frau eines Adligen gestorben ist, die Leiche nicht gleich zum Einbalsamieren geschickt haben? Sie haben sie erst mal drei Tage in der Hitze verrotten lassen.«
»Und warum? Oh, Moment. Okay, ich glaube, ich weiß, warum. Igitt, ist das widerlich.«
»Und außerdem handelt es von Schlachten, von allen möglichen ganz normalen Dingen also. Und dann sind da noch die Götter. Ein Mann ist unterwegs, um das Ergebnis irgendeiner Schlacht zu vermelden, und er läuft und läuft, und plötzlich sieht er Pan auf einer Lichtung stehen. Und Pan sagt: ›Sag ihnen, sie sollen mir einen Tempel an dieser Stelle bauen.‹ Er überbringt also die Nachricht vom Verlauf der Schlacht und sagt dann: ›Ach, übrigens, Pan möchte, dass ihr ihm einen Tempel errichtete.‹ Es ist alles einfach so sachlich nüchtern, verstehst du?«
»Okay, es sind also Geschichten mit Göttern. Worauf wollen Sie hinaus? Dass diese Leute Halluzinationen hatten?«
»Nein«, sagte Shadow. »Das ist es nicht.«
Sie kaute auf einem Niednagel. »Ich hab mal ein Buch übers Gehirn gelesen«, sagte sie. »Meine Zimmergenossin hat immer damit rumgewedelt. Da ging es darum, dass vor fünftausend Jahren die Hirnlappen verschmolzen sind, aber vorher dachten die Menschen immer, wenn der rechte Hirnlappen sich gemeldet hat, dass es die Stimme irgendeines Gottes ist, die einem sagen will, was man zu tun hat. Alles also eine Sache des Gehirns.«
»Meine Theorie gefällt mir da besser.«
»Und wie sieht die aus?«
»Dass früher die Menschen von Zeit zu Zeit tatsächlich den Göttern in die Arme gelaufen sind.«
»Oh.« Schweigen. Nur das Klappern des Autos, das Dröhnen des Motors, das Knurren des Auspufftopfes – das sich nicht sehr gesund anhörte. Schließlich: »Glauben Sie, dass die immer noch da sind?«
»Wo?«
»In Griechenland. Ägypten. Auf den Inseln. In der Gegend da halt. Glauben Sie, dass man den Göttern begegnen könnte, wenn man dort wandelt, wo einst diese Leute gewandelt sind?«
»Vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass jemand es wissen würde, wenn dem so wäre.«
»Ich wette, es ist wie bei den Außerirdischen«, sagte sie. »Heutzutage begegnen die Menschen ja allerhand Außerirdischen. Früher haben sie eben mehr Götter gesehen. Vielleicht kommen ja auch die Außerirdischen aus der rechten Gehirnhälfte.«
»Ich bezweifle, dass die Götter jemals mit einer Rektalsonde hantiert haben«, sagte Shadow. »Und sie selbst haben auch keine Rinder verstümmelt. Dafür haben sie ihre Menschen gehabt.«
Sie kicherte. Einige Minuten fuhren sie schweigend weiter, dann sagte sie: »He, das erinnert mich an meine Lieblingsgöttergeschichte aus dem Grundkurs vergleichende Religionswissenschaft. Wollen Sie sie hören?«
»Klar«, sagte Shadow.
»Okay. Sie handelt von Odin. Dem nordischen Gott, Sie wissen schon. Da war also so ein Wikingerkönig auf einem Wikingerschiff – das Ganze spielt zu Zeiten der Wikinger, logisch –, und es herrschte die totale Flaute, also sagt der König, er würde Odin einen seiner Männer opfern, wenn Odin ihnen Wind schickt und sie wieder an Land bringt. Okay. Der Wind zieht auf, und sie können weitersegeln. An Land zurück, losen sie darum, wer denn nun geopfert werden soll – und am Ende trifft es den König selbst. Tja, er ist nicht gerade glücklich darüber, aber sie rechnen sich aus, dass sie ihn ja nur symbolisch hängen könnten, ihm also nichts passiert. Sie nehmen die Innereien eines Kalbs und hängen sie ihm locker um den Hals, und das andere Ende befestigen sie an einem dünnen Zweig. Sie nehmen ein Stück Schilf an Stelle eines Speers und piksen ihn damit und sagen: ›Okay, du wurdest aufgehangen – gehenkt? egal –, du wurdest Odin als Opfer dargebracht.‹«
Die Straße beschrieb eine Kurve: Nocheinestadt (Einw. 300), Heimat des Landesvizemeisters im Speedskating der U 12 und zweier riesiger Begräbnisinstitute, eines zu jeder Straßenseite. Wie viele Bestattungsunternehmen man wohl braucht, fragte sich Shadow, bei einer Einwohnerzahl von dreihundert …?
»Okay. Sobald sie also Odins Namen ausgesprochen haben, verwandelt sich das Schilfrohr in einen Speer und bohrt sich dem Typen in die Seite, die Kalbsgedärme werden zu einem dicken Strick, der Zweig wird zum dicken Ast, der Baum schießt hoch, der Boden schwindet dem König unter den Füßen und er hängt da mit einer Stichwunde, und sein Gesicht wird ganz schwarz. Ende der Geschichte. Die Weißen haben ein paar echt abgefuckte Götter, Mister Shadow.«
»Ja«, sagte Shadow. »Bist du denn nicht weiß?«
»Ich bin eine Cherokee«, sagte sie.
»Vollblut?«
»Nein. Nur ein paar Liter. Meine Mutter war weiß. Mein Vater war aber ein echter Reservatsindianer. Er ist hierher gekommen, hat irgendwann meine Mutter geheiratet und mich gezeugt. Nachdem sie sich getrennt haben, hat er sich dann wieder nach Oklahoma abgesetzt.«
»Zurück ins Reservat?«
»Nein. Er hat sich Geld geliehen und ein Restaurant namens Taco Bill’s eröffnet, natürlich von Taco Bell geklaut. Er kommt ganz gut damit zurecht. Mich mag er nicht. Er meint, ich wär ja nur ein Mischling.«
»Traurige Geschichte.«
»Er ist ein Wichser. Ich bin aber stolz auf mein indianisches Blut. Es hilft auch, günstigere Studiengebühren zu bekommen. Verdammt, eines Tages wird es mir wahrscheinlich sogar bei der Jobsuche nützen, falls ich meine Bronzearbeiten nicht an den Mann bringen kann.«
»Na, siehste wohl«, sagte Shadow.
Er hielt in El Paso, Illinois (Einw. 2500), wo er Sam vor einem heruntergekommenen Haus am Rande der Stadt absetzte. Ein großes, von Draht umgebenes Modell eines mit Glitzerlichtern bedeckten Rentieres stand im Vorgarten. »Wollen Sie nicht kurz mit reinkommen?«, fragte sie ihn. »Meine Tante macht Ihnen bestimmt einen Kaffee.«
»Nein danke«, sagte er. »Ich muss weiter.«
Sie lächelte ihm zu, was sie, zum ersten Mal überhaupt, verletzlich wirken ließ, und tätschelte ihn kurz am Arm. »Sie sind echt von der Rolle, Mister. Aber cool.«
»Tja, so ist der Mensch eben«, sagte Shadow. »Danke für die Gesellschaft.«
»Kein Thema«, sagte sie. »Wenn Ihnen auf dem Weg nach Cairo irgendwelche Götter begegnen, denken Sie bitte daran, sie von mir zu grüßen.« Sie stieg aus dem Auto und ging zur Haustür. Sie drückte auf einen Klingelknopf und stand harrend vor der Tür, ohne sich umzublicken. Shadow wartete, bis die Tür geöffnet wurde und sie sicher und heil im Haus war, bevor er aufs Gaspedal trat und zum Highway zurückfuhr. Bald kam er durch Normal, dann durch Bloomington und durch Lawndale.
Um elf Uhr abends begann Shadow zu zittern. Gerade hatte er Middletown erreicht. Er beschloss, dass es höchste Zeit war, ein bisschen zu schlafen oder jedenfalls nicht mehr zu fahren, hielt bei einem Night’s Inn, bezahlte fünfunddreißig Dollar bar im Voraus für sein Zimmer im Erdgeschoss und ging dort schnurstracks ins Bad. Eine traurige Kakerlake lag mitten im gefliesten Raum auf dem Rücken. Shadow nahm ein Handtuch und wischte die Innenseite der Badewanne ab, bevor er das Wasser einlaufen ließ. Er zog sich aus und legte seine Sachen aufs Bett. Die blauen Flecken am ganzen Körper schillerten in dunklen, kraftvollen Tönen. Er setzte sich in die Wanne und beobachtete, wie die Farbe des Badewassers sich veränderte. Dann stellte er sich nackt ans Waschbecken und wusch Socken, Unterhose und T-Shirt, wrang alles aus und hängte die Sachen auf dem Trockengestell auf, das man über der Badewanne aus der Wand schwenken konnte. Die Kakerlake ließ er, wo sie war, sozusagen aus Respekt vor den Toten.
Shadow stieg ins Bett. Er spielte mit dem Gedanken, sich einen Porno anzugucken, aber die Pay-per-view-Vorrichtung neben dem Telefon erforderte eine Kreditkarte, und das war ihm zu riskant. Bei näherer Überlegung war er auch nicht davon überzeugt, dass es ihn irgendwie weiterbringen würde, anderen Leuten bei sexuellen Handlungen zuzusehen, die ihm selbst verwehrt waren. Um sich abzulenken, schaltete er den Fernseher ein und drückte dreimal auf den Schlaffunktionsknopf der Fernbedienung, wodurch der Apparat sich in fünfundvierzig Minuten automatisch abschalten würde. Es war jetzt eine Viertelstunde vor Mitternacht.
Der Empfang war, wie in Motels üblich, unscharf, und die Farben schwammen über den Bildschirm. Von Late-Show zu Late-Show zappte er sich durch das televisionäre Ödland, unfähig, sich länger auf etwas zu konzentrieren. Irgendjemand führte irgendetwas vor, das irgendetwas in der Küche erledigte und etwa ein Dutzend anderer Küchenutensilien ersetzte, von denen Shadow selbst kein einziges besaß. Zapp. Ein Mann im Anzug erklärte, dass man ans Ende der Zeiten gelangt sei und dass Jesus – ein vier- bis fünfsilbiges Wort in der Intonation des Mannes – Shadows geschäftliches Unternehmen blühen und gedeihen lasse, wenn Shadow dem Mann Geld schicke. Zapp. Eine Folge von M.A.S.H. ging zu Ende, und die Dick Van Dyke Show begann.
Shadow hatte seit Jahren keine Folge der Dick Van Dyke Show mehr gesehen, aber es war etwas Tröstliches an der von der Serie ausgemalten Schwarzweißwelt von 1965, und so legte er die Fernbedienung beiseite und schaltete die Nachttischlampe aus. Während ihm langsam die Augen zufielen, beschlich ihn der Eindruck, dass etwas an der Sendung seltsam war. Er kannte nicht viele Folgen der Dick Van Dyke Show, weshalb er auch nicht überrascht war, dass er keine Erinnerung an die hier gezeigte Folge hatte. Was er aber ungewöhnlich fand, war der Ton.
Das gesamte Stammpersonal zeigte sich besorgt über Robs Trinkerei. Er kam tagelang nicht zur Arbeit. Sie suchten ihn zu Hause auf: Er hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen und musste erst mühsam überredet werden, dass er herauskam. Er war sturzbesoffen, aber immer noch ziemlich komisch. Seine Freunde, gespielt von Morey Amsterdam und Rose Marie, gingen dann wieder, nachdem sie ein paar gute Gags losgeworden waren. Als Robs Frau ihm anschließend Vorhaltungen machte, schlug er sie heftig ins Gesicht. Sie saß auf dem Fußboden und begann zu weinen, nicht das berühmte Mary-Tyler-Moore-Geheule, sondern kleine, hilflose Schluchzer; die Arme um den Oberkörper geschlungen, flüsterte sie: »Schlag mich nicht, bitte, ich tue alles, was du willst, aber schlag mich nicht mehr.«
»Scheiße, was ist das denn?«, sagte Shadow laut.
Das Bild löste sich in phosphoreszierendes Geflimmer auf. Als es wieder da war, hatte die Dick Van Dyke Show sich undurchsichtigerweise in Hoppla Lucy verwandelt. Lucy versuchte gerade Ricky dazu zu überreden, dass sie den alten Kühlschrank durch ein neues Modell ersetzen durfte. Nachdem er gegangen war, setzte sie sich allerdings einfach auf die Couch, die Beine übereinander geschlagen, die Hände in den Schoß gelegt, und starrte geduldig, den Abstand der Jahre überbrückend, aus ihrem Schwarzweiß heraus.
»Shadow?«, sagte sie. »Wir müssen uns unterhalten.«
Shadow antwortete nicht. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm eine Zigarette heraus, zündete sie mit einem teuren silbernen Feuerzeug an und legte das Feuerzeug dann wieder weg. »Ich rede mit dir«, sagte sie. »Was ist?«
»Das ist verrückt«, sagte Shadow.
»Während der Rest deines Lebens ganz normal ist, ja? Leck mich am Arsch.«
»Egal. Dass Lucille Ball mich aus dem Fernseher heraus anredet, das finde ich noch um mehrere Klassen abgedrehter als alles, was mir bisher widerfahren ist«, sagte Shadow.
»Nicht Lucille Ball. Lucy Ricardo. Und weißt du was? Auch das bin ich noch nicht einmal. Es ist angesichts der Umgebung nur relativ leicht, so auszusehen. Das ist alles.« Sie rückte unbehaglich auf dem Sofa herum.
»Wer bist du?«, fragte Shadow.
»Okay«, sagte sie. »Gute Frage. Ich bin der Kasten für die Doofen. Ich bin das Fernsehen. Ich bin das alles sehende Auge und die Welt des Kathodenstrahls. Ich bin die Glotze. Ich bin der kleine Schrein, um den die Familie sich zum Gebet versammelt.«
»Du bist das Fernsehen? Oder jemand im Fernsehen?«
»Das Fernsehen ist der Altar. Ich bin das, welchem die Menschen opfern.«
»Was opfern sie denn?«, fragte Shadow.
»Hauptsächlich ihre Zeit«, sagte Lucy. »Manchmal auch sich gegenseitig.« Sie hob zwei Finger und blies imaginären Revolverrauch von den Spitzen. Dann zwinkerte sie, ein großes altbekanntes Hoppla-Lucy-Zwinkern.
»Du bist eine Gottheit?«, fragte Shadow sie.
Lucy grinste und nahm einen damenhaften Zug von ihrer Zigarette. »So könnte man das ausdrücken«, sagte sie.
»Sam lässt grüßen«, sagte Shadow.
»Was? Wer ist Sam? Wovon redest du?«
Shadow blickte auf seine Armbanduhr. Es war fünf vor halb eins. »Egal«, sagte er. »Also, Lucy-im-Fernsehen. Worüber musst du mit mir reden? In letzter Zeit gab es allzu viele Leute, die mit mir reden mussten. Meistens endet es damit, dass mir jemand eine verpasst.«
Die Kamera zoomte auf Nahaufnahme: Lucy wirkte betroffen und schürzte die Lippen. »Wie ich das hasse. Das hat mir gar nicht gefallen, wie die Leute dir wehgetan haben, Shadow. Ich würde das nie tun, Schatz. Nein, ich möchte dir einen Job anbieten.«
»Und um was geht es da?«
»Du sollst für mich arbeiten. Ich hab gehört, was für einen Ärger du mit dem Gruselkabinett hattest, und war ziemlich beeindruckt, wie du damit fertig geworden bist. Nüchtern, entschlossen, wirkungsvoll. Wer hätte gedacht, dass so etwas in dir steckt? Die sind total sauer.«
»Tatsächlich?«
»Sie haben dich unterschätzt, mein Schatz. Ein Fehler, den ich nicht machen werde. Ich will, dass du auf meiner Seite stehst.« Sie erhob sich und ging auf die Kamera zu. »Sieh es doch mal so, Shadow: Wir sind das kommende große Ding. Wir sind riesige Einkaufszentren – deine Freunde nur schäbige Straßenbuden. Verdammt, wir bieten sogar Online-Shopping, während deine Freunde am Straßenrand sitzen und irgendwelches selbstgezogene Grünzeugs vom Karren verhökern. Ach was, das sind noch nicht mal Gemüseverkäufer. Händler für Kutschenpeitschen. Walknochenkorsettreparateure. Wir sind das Jetzt und das Morgen. Deine Freunde sind noch nicht mal mehr von gestern.«
Es war eine sonderbar vertraute Ansprache.
»Ist dir je so ein dicker Bursche in einer Limousine begegnet?«, fragte Shadow.
Sie spreizte die Hände und verdrehte komisch die Augen, ganz die lustige Lucy Ricardo, die ihre Hände angesichts des Desasters in Unschuld wäscht. »Der Technikknabe? Du hast den Technikknaben getroffen? Pass auf, der ist eigentlich ein guter Junge. Er ist einer von uns. Er kann nur nicht so gut mit Leuten, die er nicht kennt. Wenn du für uns arbeitest, wirst du sehen, was für erstaunliche Sachen er draufhat.«
»Und wenn ich nicht für euch arbeiten möchte, Hoppla-Lucy?«
Es klopfte an Lucys Wohnungstür, und aus dem Off war Rickys Stimme zu hören. Er wollte wissen, wo Luh-cie so lange bleibe, sie müssten doch für die nächste Szene in den Club. Leichter Unwille huschte über Lucys cartoonartiges Gesicht. »Zum Teufel«, sagte sie. »Pass auf, was immer die Alten dir zahlen, ich biete dir das Doppelte. Das Dreifache. Das Hundertfache. Egal, was sie dir geben, ich habe dir so viel mehr zu bieten.« Sie lächelte. Es war ein perfektes, spitzbübisches Lucy-Ricardo-Lächeln. »Du brauchst es nur zu sagen, Honey. Was brauchst du?« Sie begann die Knöpfe ihrer Bluse aufzuknöpfen. »He«, sagte sie. »Wolltest du nicht schon immer mal Lucys Titten sehen?«
Der Bildschirm wurde schwarz. Die Schlaffunktion hatte eingesetzt und der Apparat sich damit selbsttätig ausgeschaltet. Shadow blickte auf die Uhr: Es war halb eins. »Eigentlich nicht«, sagte Shadow.
Er rollte sich auf die andere Seite und machte die Augen zu. Der Grund, warum ihm Wednesday und Mr. Nancy und all die anderen besser gefielen als ihre Gegner, war ein, so wurde ihm klar, recht schlichter: Sie mochten schmutzig und billig sein, und ihr Essen mochte wie Scheiße schmecken, aber wenigstens redeten sie nicht in Sprechblasen.
Außerdem glaubte er sagen zu können, dass er eine Bude am Straßenrand, mochte sie auch noch so billig, noch so betrügerisch oder noch so armselig sein, einem Einkaufszentrum jederzeit vorziehen würde.
Der nächste Morgen sah Shadow wieder auf der Straße; er fuhr jetzt durch eine leicht hügelige braune Landschaft aus Wintergras und laublosen Bäumen. Der Schnee war vollständig verschwunden. Er füllte den Tank der Scheißkarre in einer Stadt auf, die Heimat der U-16-Vizemeisterin im 300-Meter-Sprint war, und anschließend schickte er den Wagen, in der Hoffnung, dass es nicht allein der Schmutz war, der diesen zusammenhielt, noch durch die Waschanlage. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass das Auto im sauberen Zustand – wider alle Vernunft – weiß war und weit gehend rostfrei. Er fuhr weiter.
Der Himmel war unfassbar blau, und darin eingefroren, wie eine Fotografie, stand weißer Industrierauch, der sich aus Fabrikschloten erhob. Ein Falke löste sich von einem abgestorbenen Baum und flog auf ihn zu, wobei die Flügel im Sonnenschein wie eine Serie von Zeitrafferfotos blitzten.
Irgendwann merkte er, dass er sich East St. Louis näherte. Er versuchte es zu umgehen und fand sich bald darauf in einer Gegend wieder, die wie der Rotlichtbezirk eines Industrieparks anmutete. Achtzehnrädrige Trucks und riesige Fuhrwerke parkten vor Gebäuden, die wie provisorische Lagerhäuser aussahen, aber den Anspruch erhoben, als 24-STUNDEN-NACHTCLUB zu gelten oder, in einem Fall, als DIE BESTE PEAP-SHOW DER STADT. Kopfschüttelnd fuhr Shadow weiter. Laura hatte leidenschaftlich gern getanzt, bekleidet oder nackt (und bei einigen denkwürdigen Gelegenheiten auch von dem einen in den anderen Zustand überwechselnd), und er hatte ihr immer mit Freude zugesehen.
Das Mittagessen bestand aus einem Sandwich und einer Dose Cola und wurde in einem Ort namens Red Bud genossen.
Er durchquerte ein Tal, das mit den Wrackteilen von Tausenden von gelben Bulldozern, Treckern und Raupenschleppern übersät war. Er hätte gern gewusst, ob es sich hier um den Bulldozerfriedhof handelte, den Ort, an den die Bulldozer sich begaben, um zu sterben.
Er fuhr an einer Pop-a-Top-Lounge vorbei. Er fuhr durch Chester (»Heimat von Popeye«). Er bemerkte immer mehr Säulen an der Vorderfront der Häuser, selbst die schäbigste, fadenscheinigste Bruchbude hatte sich jetzt weiße Säulen zugelegt, damit wenigstens die Bewohner sie als Villa ansehen konnten. Er fuhr über einen großen, schlammigen Fluss und musste laut lachen, als er auf einem Schild sah, dass der Name dieses Flusses Big Muddy River, Großer Schlammiger Fluss, lautete. Er sah drei wintertote Bäume, die sich, von einer braunen Schlingpflanzenschicht bedeckt, in seltsame, fast menschliche Formen verbogen – es hätten Hexen sein können, drei gebeugte alte Vetteln, bereit, ihm sein Schicksal vorherzusagen.
Er fuhr am Mississippi entlang. Shadow hatte zwar noch nie den Nil gesehen, aber die blendende Nachmittagssonne brannte derart auf den breiten braunen Fluss herab, dass er an die trübe Oberfläche des Nils denken musste – nicht den Nil von heute, sondern den aus weit zurückliegenden Zeiten, wie er, einer Schlagader gleich, durch die Papyrussümpfe floss, Heimat von Kobra, Schakal und Wildkuh …
Ein Straßenschild wies auf Thebes hin.
Die Straße war gut drei Meter erhöht, er fuhr also oberhalb des Sumpflandes. Scharen von Vögeln flogen hin und her, in zweifellos dringenden, aber unbekannten Geschäften, schwarze Punkte vor einem blauen Himmel, einer verzweifelten Brown’schen Bewegung unterworfen.
Am späten Nachmittag begann die Sonne zu sinken, tauchte die Welt in güldene Elfenstrahlen, in ein dickes warmes Senflicht, das der Welt einen unheimlichen, surrealen Anstrich verlieh, und in ebendiesem Licht kam Shadow an dem Schild vorbei, das ihm die Grenze zum »Historischen Cairo« anzeigte. Er fuhr unter einer Brücke hindurch und fand sich in einer kleinen Hafenstadt wieder. Die imposanten Bauten des Cairoer Gerichtsgebäudes und des noch imposanteren Zollhauses wirkten wie gewaltige, frisch gebackene Kekse im sirupartigen goldenen Licht des schwindenden Tages.
Er stellte den Wagen in einer Seitenstraße ab und ging dann zu Fuß zum Uferdamm des Flusses, unsicher, ob er auf den Ohio oder auf den Mississippi hinausblickte. Eine kleine braune Katze schnüffelte und sprang zwischen den Mülltonnen an der Rückseite eines Gebäudes umher, und das Licht verlieh selbst dem Müll etwas Zauberisches.
Shadow bemerkte, dass er nicht allein war. Ein kleines Mädchen, das alte Tennisschuhe an den Füßen und als Kleid einen grauen Männerwollpullover trug, stand auf dem Bürgersteig, drei Meter von ihm entfernt, und starrte ihn mit der düsteren Feierlichkeit der Sechsjährigen an. Ihr Haar war schwarz und glatt und lang; und ihre Haut so braun wie der Fluss.
Er grinste ihr zu. Sie starrte aufsässig zurück.
Vom Wasser her ertönte Kreischen und Gejaule, und gleich darauf schoss die kleine Katze hinter einer umgestürzten Mülltonne hervor, verfolgt von einem schwarzen Hund mit langer Schnauze. Die Katze flitzte unter ein Auto.
»He«, sagte Shadow zu dem Mädchen. »Hast du schon mal unsichtbares Pulver gesehen?«
Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Okay«, sagte Shadow. »Dann pass mal auf.« Shadow zog mit der linken Hand einen Quarter aus der Tasche, hielt ihn hoch, neigte ihn in verschiedene Richtungen, warf ihn dann scheinbar in die rechte Hand, die er sogleich fest schloss und vorstreckte. »Und jetzt«, sagte er, »nehme ich etwas unsichtbares Pulver aus der Tasche« – er langte mit der linken Hand in die Brusttasche, in die er gleichzeitig den Quarter fallen ließ – »und streue es über die Hand mit der Münze …« Er machte Streubewegungen mit den Fingern. »Siehst du, jetzt ist der Quarter auch unsichtbar.« Er öffnete die leere rechte Hand und dann, voller Erstaunen, auch die leere Linke.
Das kleine Mädchen starrte ihn nur an.
Shadow zuckte die Achseln, steckte die Hände wieder in die Taschen und nahm einen Quarter in die eine und einen zusammengefalteten Fünfdollarschein in die andere. Er wollte das Geld aus der Luft herausgreifen und dem Mädchen dann den Schein schenken; sie schien ihn gut gebrauchen zu können. »He«, sagte er, »wir haben Publikum.«
Auch der schwarze Hund und die kleine braune Katze beobachteten ihn nun, saßen zu beiden Seiten des Mädchens und sahen aufmerksam zu ihm hinauf. Die riesigen Ohren des Hundes waren aufgerichtet, was ihm einen komisch wachsamen Ausdruck gab. Ein kranichartiger Mann mit Goldrandbrille kam auf dem Bürgersteig auf sie zu, wobei er nach allen Seiten Ausschau hielt, als würde er nach etwas suchen. Shadow wollte nicht ausschließen, dass es sich um den Besitzer des Hundes handelte.
»Wie fandest du das?«, fragte Shadow den Hund, ein Versuch, dem kleinen Mädchen die Befangenheit zu nehmen. »War das cool?«
Der schwarze Hund leckte sich über die lange Schnauze. Dann sagte er mit tiefer, trockener Stimme: »Ich habe mal Harry Houdini gesehen, und glaub mir, Mann, du bist kein Harry Houdini.«
Das kleine Mädchen blickte die Tiere an, sie blickte Shadow an, und dann rannte sie davon. Ihre Füße stampften über den Bürgersteig, als wären sämtliche Ausgeburten der Hölle hinter ihr her. Die beiden Tiere sahen ihr hinterher. Der kranichartige Mann war inzwischen beim Hund angelangt. Er beugte sich hinab und kratzte ihm die hochgestellten spitzen Ohren.
»Na komm«, sagte der Mann mit der Goldrandbrille zu dem Hund. »Das war nur ein Münzentrick. Es ist ja nun nicht so, dass er eine Unterwasserentfesselung vorgeführt hätte.«
»Noch nicht«, sagte der Hund. »Aber das kommt auch noch.« Das goldene Licht war verschwunden und das Grau der Dämmerung an seine Stelle getreten.
Shadow steckte die Münze und den gefalteten Schein in die Tasche zurück. »Okay«, sagte er. »Wer von euch ist der Schakal?«
»Streng deine Augen an«, sagte der schwarze Hund mit der langen Schnauze. Er begann den Bürgersteig neben dem Mann mit der Goldbrille entlangzutraben, und nach kurzem Zögern folgte Shadow ihnen. Die Katze war nicht mehr zu sehen. Sie kamen zu einem großen, alten Gebäude inmitten einer Reihe von mit Brettern vernagelten Häusern. Auf dem Schild neben der Tür stand: IBIS & JAQUEL. BESTATTUNGSINSTITUT. SEIT 1863 IN FAMILIENBESITZ.
»Ich bin Mr. Ibis«, sagte der Mann mit der Goldrandbrille. »Ich glaube, ich sollte Sie erst einmal zum Essen einladen. Mein Freund hier hat leider noch etwas Arbeit zu erledigen.«