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Let the Midnight Special
Shine its light on me
Let the Midnight Special
Shine its ever-lovin’ light on me
– ›The Midnight Special<, Traditional
Shadow und Wednesday frühstückten in einem Country Kitchen gegenüber dem Motel. Es war acht Uhr morgens, und die Welt war kalt und neblig.
»Sind Sie immer noch bereit, Eagle Point zu verlassen?«, fragte Wednesday. »Falls ja, hätte ich dann nur noch ein paar Telefonate zu führen. Heute ist Freitag. Freitag ist ein freier Tag. Ein Frauentag. Morgen ist Samstag. Am Samstag gibt es viel zu tun.«
»Ich bin bereit«, sagte Shadow. »Hier hält mich nichts mehr.«
Wednesday stapelte sich diverse Frühstücksfleischsorten auf den Teller. Shadow nahm etwas Melone, einen Bagel und eine Packung Frischkäse. Sie suchten sich einen Tisch und ließen sich dort nieder.
»Das war ja vielleicht ein Traum, den Sie da letzte Nacht hatten«, sagte Wednesday.
»Ja«, sagte Shadow. »Kann man wohl sagen.« Lauras Schlammspuren waren noch am Morgen auf dem Teppich zu sehen gewesen; sie führten von seinem Zimmer zur Empfangshalle und durch die Tür nach draußen.
»Na dann«, sagte Wednesday. »Übrigens, warum werden Sie eigentlich Shadow genannt?«
Shadow zuckte die Achseln. »Ist einfach ein Name«, sagte er. Die eingenebelte Welt vor der großen Glasscheibe war zu einer Bleistiftzeichnung geworden, ausgeführt in einem Dutzend verschiedener Grautöne mit nur einigen wenigen Tupfern von Stahlrot oder reinem Weiß. »Wie haben Sie Ihr Auge verloren?«
Wednesday schaufelte sich ein halbes Dutzend Scheiben Speck in den Mund und wischte sich dann mit dem Handrücken das Fett von den Lippen. »Hab es nicht verloren«, sagte er. »Ich weiß noch genau, wo es ist.«
»Wie sieht denn der Plan aus?«
Wednesday machte ein nachdenkliches Gesicht. Er putzte mehrere leuchtend rosafarbene Stücke Schinken weg, pflückte sich ein Fitzelchen Fleisch aus dem Bart und ließ es auf den Teller fallen. »Der Plan sieht wie folgt aus: Morgen Abend werden wir mit einer Reihe von Personen zusammentreffen, die eine herausragende Stellung auf ihrem jeweiligen Gebiet einnehmen – lassen Sie sich von ihrem Benehmen nicht einschüchtern. Wir werden uns an einem der bedeutendsten Orte im ganzen Land treffen. Anschließend werden wir sie bewirten. Ich muss sie für mein anstehendes Projekt gewinnen.«
»Und wo befindet sich dieser bedeutendste Ort?«
»Das werden Sie schon sehen, mein Junge. Einer der bedeutendsten, sagte ich. Die Meinungen darüber sind verständlicherweise geteilt. Ich habe meinen Kollegen eine Nachricht zukommen lassen. Auf dem Weg dorthin machen wir Halt in Chicago, da ich noch Geld besorgen muss. Das Unterhaltungsprogramm, das wir auf die Beine stellen müssen, wird mehr Bargeld beanspruchen, als ich momentan zur Verfügung habe. Danach geht’s weiter nach Madison.« Wednesday zahlte, und sie gingen über die Straße zurück zum Motelparkplatz. Wednesday warf Shadow die Autoschlüssel zu.
Shadow fuhr zum Freeway, der aus der Stadt hinausführte.
»Werden Sie sie vermissen?«, fragte Wednesday. Er blätterte sich durch eine Mappe mit Landkarten.
»Die Stadt? Nein. Ich bin hier nie richtig heimisch gewesen. Als Kind war ich nie lange an einem Ort, und hier bin ich erst hergekommen, als ich in den Zwanzigern war. Das hier ist Lauras Stadt.«
»Wollen wir hoffen, dass sie auch hier bleibt«, sagte Wednesday.
»Es war ein Traum«, sagte Shadow. »Vergessen Sie das nicht.«
»Gut so«, sagte Wednesday. »Eine gesunde Einstellung. Haben Sie sie letzte Nacht gefickt?«
Shadow holte Luft. Dann sagte er: »Das geht Sie einen feuchten Dreck an. Außerdem, nein.«
»Wollten Sie?«
Shadow sagte gar nichts mehr. Er fuhr stur nach Norden in Richtung Chicago. Wednesday kicherte und ging dann wieder die Landkarten durch, faltete sie auseinander und wieder zusammen, nur um gelegentlich seinen großen silbernen Kugelschreiber zu zücken, mit dem er sich auf einem Schreibblock Notizen machte.
Schließlich war er damit fertig. Er steckte den Kugelschreiber weg und legte die Kartenmappe auf den Rücksitz. »Das Beste an den Staaten, die wir ansteuern«, sagte Wednesday, »Minnesota, Wisconsin, die ganze Gegend, das Beste daran ist, dass es dort die Sorte Frauen gibt, die ich in meiner Jugend immer bevorzugt habe. Blasse Haut und blaue Augen, die Haare so blond, dass sie fast weiß sind, weinfarbene Lippen und runde, volle Brüste, die von Adern durchzogen sind wie ein guter Käse.«
»Nur in Ihrer Jugend?«, sagte Shadow. »Hatte den Eindruck, dass Sie sich gestern Nacht auch ganz gut amüsiert haben.«
»Und ob.« Wednesday lächelte. »Soll ich Ihnen das Geheimnis meines Erfolges verraten?«
»Sie bezahlen sie für ihre Dienste?«
»Doch nicht so was Primitives. Nein, man muss sie bezaubern. Schlicht und einfach.«
»Bezaubern, hm? Na ja, entweder man hat’s, oder man hat’s nicht, wie man so schön sagt.«
»Zauber können erlernt werden«, sagte Wednesday.
Shadow stellte das Radio auf einen Oldie-Sender ein und lauschte Liedern, die aus der Zeit vor seiner Geburt stammten. Bob Dylan sang von einem schweren Regen, der niedergehen werde, und Shadow fragte sich, ob das bereits geschehen war oder ob damit für die Zukunft noch gerechnet werden musste. Die Straße vor ihnen war leer, und die Eiskristalle auf dem Asphalt glitzerten in der Morgensonne wie Diamanten.
Chicago kam allmählich daher, wie eine Migräne. Zuerst durchfuhren sie noch ländliche Gegend, dann dehnten die gelegentlichen Ortschaften sich unmerklich zu Vorstadtgürteln aus, und schließlich wurde aus dem Gürtel der Bauch der Stadt.
Sie parkten vor einem gedrungenen schwarzen Sandsteinhaus. Der Bürgersteig war schneefrei. Sie gingen zur Eingangstür. Wednesday drückte auf den obersten Knopf des mit einer Gegensprechanlage aufwartenden Metallklingelbretts. Nichts passierte. Er drückte noch einmal. Dann drückte er versuchsweise auch auf andere Klingelknöpfe, provozierte aber auch damit keine Reaktion.
»Das ist kaputt«, sagte eine hagere alte Frau, die gerade die Treppe herunterkam. »Funktioniert nicht. Wir rufen jedesmal den Hausmeister an, fragen, wann er sich drum kümmern will, wann er die Heizung reparieren will, ist ihm aber alles ganz egal, er fährt den ganzen Winter nach Arizona wegen seiner Brust.« Sie sprach mit schwerem Akzent, einem osteuropäischen, wie Shadow vermutete.
Wednesday machte eine tiefe Verbeugung. »Sarja, meine Liebe, darf ich Ihnen sagen, wie unbeschreiblich hübsch Sie aussehen? Welch ein strahlendes Wesen! Sie sind kein bisschen gealtert.«
Die alte Frau sah ihn feindselig an. »Er will Sie nicht sehen. Ich will Sie auch nicht sehen. Bedeutet nichts Gutes, wenn Sie kommen.«
»Was wohl daran liegt, dass ich nicht komme, wenn es nicht wichtig ist.«
Die Frau rümpfte die Nase. Sie hatte ein leeres Einkaufsnetz in der Hand und trug einen alten roten Mantel, den sie bis unters Kinn zugeknöpft hatte. Sie sah Shadow misstrauisch an.
»Wer ist der große Mann?«, fragte sie Wednesday. »Wieder einer von Ihren Mördern?«
»Sie tun mir furchtbar Unrecht, meine Gute. Dieser Gentleman heißt Shadow. Er arbeitet für mich, das ist richtig, aber er tut es in Ihrem Interesse. Shadow, darf ich Ihnen die reizende Miss Sarja Wetschernjaja vorstellen.«
»Freut mich«, sagte Shadow.
Wie ein Vogel spähte die alte Frau zu ihm hinauf. »Shadow«, sagte sie. »Ein guter Name. Wenn die Schatten länger werden, dann kommt meine Zeit. Und Sie sind ein wirklich langer Schatten.« Sie musterte ihn von oben bis unten, dann lächelte sie. »Sie dürfen mir einen Handkuss geben«, sagte sie, indem sie ihm ihre kalten Finger hinstreckte.
Shadow beugte sich herab und drückte einen Kuss auf die dünne Hand. Die Frau trug am Mittelfinger einen großen bernsteinfarbenen Ring.
»Guter Junge«, sagte sie. »Ich wollte gerade einkaufen gehen. Wissen Sie, ich bin die Einzige von uns, die Geld nach Hause bringt. Die anderen beiden können beim Wahrsagen nichts verdienen. Das liegt daran, weil sie nichts als die Wahrheit sagen, aber die Wahrheit ist nicht das, was die Leute hören wollen. Sie ist eine üble Sache, und das belastet die Menschen, deshalb kommen sie nicht wieder. Aber ich kann sie anschwindeln, ich sage ihnen, was sie hören wollen. Also bin ich es, die das Brot verdient. Glauben Sie, dass Sie zum Abendessen hier sein werden?«
»Das hoffe ich doch«, sagte Wednesday.
»Dann sollten Sie mir Geld geben, damit ich mehr zu essen kaufen kann«, antwortete sie. »Ich bin zwar stolz, aber nicht blöd. Die anderen sind stolzer als ich, und er ist überhaupt der Stolzeste von allen. Also geben Sie mir Geld, und sagen Sie den anderen nicht, dass Sie mir was gegeben haben.«
Wednesday öffnete seine Brieftasche und griff hinein. Er nahm einen Zwanziger heraus. Sarja Wetschernjaja pflückte ihm den Schein aus den Fingern und verharrte erwartungsvoll. Er zog einen weiteren Zwanziger hervor und gab ihn ihr.
»Ist gut«, sagte sie. »Wir werden Sie füttern wie die Fürsten. Gehen Sie jetzt die Treppe bis nach ganz oben. Sarja Utrennjaja ist wach, aber unsere andere Schwester schläft noch – machen Sie also nicht so viel Lärm.«
Shadow und Wednesday erklommen die dunkle Treppe. Auf dem Absatz zwei Stockwerke höher türmten sich schwarze Plastiktüten, die nach faulendem Gemüse rochen.
»Sind das Zigeuner?«, fragte Shadow.
»Sarja und ihre Familie? Keineswegs. Keine Roma. Sie sind Russen. Slawen, wie man wohl sagt.«
»Weil sie behauptet hat, sie sei Wahrsagerin.«
»Diese Kunst betreiben viele Leute. Ich selbst versuche mich mitunter darin.« Wednesday keuchte, als sie die letzte Treppe in Angriff nahmen. »Ich bin schlecht in Form.«
Der oberste Treppenabsatz führte zu einer einzelnen, rot angestrichenen Tür, die mit einem Guckloch versehen war.
Wednesday klopfte. Niemand antwortete. Er klopfte noch einmal, lauter diesmal.
»Okay, okay! Ist ja gut! Ich hab’s gehört!« Es folgte das Geräusch von Schlüsseln, die sich im Schloss drehten, von Riegeln, die umgelegt wurden, und das Rasseln einer Kette. Die rote Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
»Wer ist da?« Eine Männerstimme, alt und verraucht.
»Ein alter Freund, Tschernibog. Mit einem Kompagnon.«
Die Tür ging so weit auf, wie die Sicherheitskette es zuließ. Shadow konnte ein graues Gesicht erkennen, das aus dem Schatten zu ihnen herausspähte. »Was willst du, Wotan?«
»Zunächst einmal schlicht das Vergnügen deiner Gesellschaft. Und dann habe ich Informationen weiterzugeben. Von denen du profitieren könntest, wenn ich so sagen darf.«
Die Tür wurde ganz geöffnet. Der Mann im staubigen Bademantel war klein, hatte eisgraues Haar und ein zerklüftetes Gesicht. Er trug graue, blank getragene Nadelstreifenhosen und Pantoffeln. In den breiten Fingern hielt er eine filterlose Zigarette, an der er saugte, während er sie mit der hohlen Faust umschloss – wie ein Sträfling, dachte Shadow, oder ein Soldat. Er hielt Wednesday die linke Hand hin. »Dann sei willkommen, Wotan.«
»Heutzutage nennt man mich Wednesday«, sagte dieser, indem er dem alten Mann die Hand schüttelte.
Ein schmales Lächeln, gelbe Zähne blitzten auf. »Ja«, sagte er. »Sehr komisch. Und das ist?«
»Das ist mein Gefährte. Shadow, Mr. Tschernibog.«
»Angenehm«, sagte Tschernibog. Er schüttelte Shadow die linke Hand. Seine Hände waren rau und schwielig und die Fingerspitzen so gelb, als hätte er sie in Jod getaucht.
»Wie geht’s, Mr. Tschernibog?«
»Alt geht’s. Meine Eingeweide brennen, der Rücken tut mir weh, und jeden Morgen huste ich mir die Lunge in Stücke.«
»Warum steht ihr an der Tür?«, fragte eine Frauenstimme. Shadow blickte Tschernibog über die Schulter und sah eine alte Frau hinter ihm stehen. Sie war kleiner und zerbrechlicher als ihre Schwester, aber ihr Haar war lang und von noch goldener Farbe. »Ich bin Sarja Utrennjaja«, sagte sie. »Sie sollten nicht da im Flur stehen. Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Ich werde Kaffee bringen.«
Durch die Tür ging es in eine Wohnung, die nach totgekochtem Gemüse, Katzenklo und filterlosen ausländischen Zigaretten roch. Sie wurden durch einen winzigen Flur, an mehreren geschlossenen Türen vorbei, zu einem Wohnzimmer geführt und dort gebeten, auf dem riesigen alten Pferdehaarsofa Platz zu nehmen; dabei scheuchten sie eine bejahrte graue Katze auf, die sich daraufhin streckte, aufstand und auf steifen Beinen in entlegenere Gefilde des Sofas stakste, wo sie sich niederließ, die Eindringlinge noch einmal misstrauisch musterte, dann ein Auge schloss und schließlich weiterschlief. Tschernibog setzte sich ihnen gegenüber auf einen Sessel.
Sarja Utrennjaja stöberte einen leeren Aschenbecher auf und stellte ihn neben Tschernibog. »Wie möchten Sie Ihren Kaffee?«, fragte sie die Gäste. »Wir trinken ihn schwarz wie die Nacht und süß wie die Sünde.«
»Das klingt ausgezeichnet, Ma’am«, sagte Shadow. Er warf durch das Fenster einen Blick auf das Gebäude gegenüber.
Sarja Utrennjaja ging hinaus. Tschernibog sah ihr wortlos hinterher. »Das ist eine gute Frau«, sagte er dann. »Nicht wie ihre Schwestern. Die eine ist eine Harpyie, die andere schläft den ganzen Tag.« Er legte die Füße mitsamt den Pantoffeln auf den langen, niedrigen Couchtisch, der die Spuren von Zigarettenasche und Kaffeebechern trug und in dessen Mitte ein Schachbrett eingelassen war.
»Ist sie Ihre Frau?«, fragte Shadow.
»Sie ist die Frau von niemandem.« Der alte Mann saß für eine Weile still da und besah sich seine rauen Hände. »Nein. Wir sind alle miteinander verwandt. Wir sind zusammen hier rübergekommen, vor langer Zeit.«
Aus der Tasche seines Bademantels zog Tschernibog eine Packung filterloser Zigaretten. Wednesday hielt ein schmales goldenes Feuerzeug parat, mit dem er dem alten Mann die Zigarette anzündete. »Zuerst sind wir nach New York gegangen«, sagte Tschernibog. »Alle unsere Landsleute sind nach New York. Dann sind wir hier rausgekommen, nach Chicago. Hat sich alles sehr verschlechtert. Selbst in der alten Heimat hat man mich fast vergessen. Hier bin ich nur noch ein böses Gerücht. Wissen Sie, was ich gemacht habe, als ich nach Chicago kam?«
»Nein«, sagte Shadow.
»Hab einen Job im Fleischgewerbe angenommen. Im Schlachthof. Wenn der Ochse die Rampe hochkommt, war ich einer der Hauer. Wissen Sie, warum wir Hauer heißen? Weil wir den Vorschlaghammer nehmen und die Kuh damit umhauen. Wumm! Dazu braucht man Kraft in den Armen. Ja? Dann kommt das Rind an die Kette, wird hochgezogen, und schließlich schneidet man ihm die Kehle durch. Man lässt erst das Blut auslaufen, bevor man den Kopf abschneidet. Wir waren die Kräftigsten, wir Hauer.« Er schob den Ärmel des Bademantels hoch und spannte den Oberarm an, um die Muskeln zu zeigen, die unter der alten Haut immer noch sichtbar waren. »Kommt aber nicht nur auf Kraft an. War auch Kunst dabei. Wie man schlägt. Sonst ist die Kuh nur betäubt oder wird wütend. In den Fünfzigern ist dann das Bolzengewehr eingeführt worden. Das hält man an die Stirn und Bumm! Bumm! So kann doch jeder töten, denken Sie jetzt vielleicht. Stimmt aber nicht.« Er stellte pantomimisch dar, wie man einen Metallbolzen durch einen Kuhkopf jagte. »Braucht immer noch Geschick.« Er lächelte nostalgisch, wobei ein eisenfarbener Zahn zum Vorschein kam.
»Erzähl ihnen keine Geschichten vom Küheabmurksen.« Sarja Utrennjaja trug den Kaffee auf einem roten Holztablett herein, in kleinen hellen Emailletassen. Sie reichte jedem eine Tasse, dann setzte sie sich neben Tschernibog.
»Sarja Wetschernjaja ist einkaufen gegangen«, sagte sie. »Sie wird bald wieder da sein.«
»Wir haben sie unten getroffen«, sagte Shadow. »Sie hat erzählt, dass sie wahrsagt.«
»Ja«, sagte ihre Schwester. »In der Dämmerung, das ist die Zeit für Lügen. Ich kann nicht gut Lügen erzählen, deshalb bin ich eine schlechte Wahrsagerin. Und unsere Schwester Sarja Polunotschnaja kann überhaupt nicht lügen.«
Der Kaffee war noch süßer und stärker, als Shadow erwartet hatte.
Shadow entschuldigte sich und suchte die Toilette auf – ein schrankartiger Raum, in dem mehrere braunfleckige gerahmte Fotografien von Männern und Frauen in steifer viktorianischer Haltung hingen. Es war früher Nachmittag, aber das Tageslicht begann schon zu schwinden. Vom anderen Ende des Flurs hörte er erhobene Stimmen. Er wusch sich die Hände in eiskaltem Wasser mit einem übel riechenden Stück rosa Seife.
Tschernibog stand im Flur, als Shadow heraustrat.
»Du bringst Ärger!«, rief er gerade. »Nichts als Ärger! Ich will nichts hören! Du wirst aus meinem Haus verschwinden!«
Wednesday saß noch auf dem Sofa, schlürfte seinen Kaffee und streichelte die graue Katze. Sarja Utrennjaja stand auf dem dünnen Teppich und fuhr sich mit einer Hand nervös durch die langen gelben Haare.
»Gibt’s ein Problem?«, fragte Shadow.
»Er ist das Problem!«, rief Tschernibog. »Er selber! Sagen Sie ihm, dass ich ihm auf keinen Fall helfen werde, egal, was er sagt! Ich will, dass er geht. Er soll verschwinden. Ihr sollt beide verschwinden!«
»Bitte«, sagte Sarja Utrennjaja. »Sei bitte leise – du weckst Sarja Polunotschnaja auf.«
»Du bist wie er, du willst, dass ich seinen Wahnsinn mitmache!«, rief Tschernibog. Er schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. Eine lange Säule Asche purzelte von seiner Zigarette auf den fadenscheinigen Flurteppich.
Wednesday erhob sich und ging dann auf Tschernibog zu. »Hör zu«, sagte er friedlich. »Erstens ist es kein Wahnsinn. Es gibt keinen anderen Weg. Zweitens werden alle da sein. Da willst du doch nicht ausgeschlossen sein, oder?«
»Du weißt, wer ich bin«, sagte Tschernibog. »Du weißt, was diese Hände getan haben. Du brauchst meinen Bruder, nicht mich. Und der ist verschwunden.«
Eine Tür im Flur ging auf, und eine schläfrige Frauenstimme sagte: »Ist was passiert?«
»Nichts ist passiert, meine Schwester«, sagte Sarja Utrennjaja. »Geh wieder schlafen.« Dann wandte sie sich an Tschernibog. »Siehst du? Das kommt bei deinem Geschrei heraus. Jetzt gehst du wieder da rein und setzt dich hin. Los, setz dich!« Tschernibog schien zunächst widersprechen zu wollen, doch dann fiel alle Kampfeslust von ihm ab. Er wirkte plötzlich gebrechlich – gebrechlich und einsam.
Die drei Männer gingen zurück ins schäbige Wohnzimmer. Ein brauner Nikotinring zog sich rund um das Zimmer und reichte bis eine Handbreit unter die Decke, wie der Schmutzrand in einer alten Badewanne.
»Es muss nicht für dich sein«, sagte Wednesday ungerührt zu Tschernibog. »Wenn’s für deinen Bruder ist, ist es genauso für dich. Das ist ein Vorteil, den ihr dualistischen Typen uns anderen gegenüber habt, wie?«
Tschernibog sagte nichts.
»Apropos Bjelbog, hast du irgendwas von ihm gehört?«
Tschernibog schüttelte den Kopf. Er sah Shadow an. »Haben Sie einen Bruder?«
»Nein«, sagte Shadow. »Nicht dass ich wüsste.«
»Ich habe einen Bruder. Man sagt, wenn man uns nebeneinander setzt, dann sind wir irgendwie wie eine Person. Als wir jung waren – seine Haare waren sehr blond, sehr hell, seine Augen blau –, hieß es, er ist der Gute. Mein Haar dagegen war sehr dunkel, noch dunkler als Ihres, da hieß es, ich bin der Spitzbube, ja. Ich bin der Böse. Und dann vergeht die Zeit, und mein Haar ist jetzt grau. Sein Haar ist wahrscheinlich auch grau. Wenn Sie uns heute beide ansehen würden, wüssten Sie nicht, wer war hell und wer war dunkel.«
»Haben Sie sich nahe gestanden?«
»Nahe?«, sagte Tschernibog. »Nein. Wie auch? Wir haben völlig verschiedene Interessen gehabt.«
Am anderen Ende des Flurs klapperte es, und gleich darauf kam Sarja Wetschernjaja herein. »Abendessen in einer Stunde«, sagte sie kurz und ging wieder.
Tschernibog seufzte. »Sie glaubt, dass sie eine gute Köchin ist«, sagte er. »Als sie noch in jungen Jahren war, hatte man Personal fürs Kochen. Jetzt gibt es kein Personal mehr. Jetzt gibt es gar nichts mehr.«
»Nicht gar nichts«, sagte Wednesday. »Gar nichts gibt’s nicht.«
»Ach du«, sagte Tschernibog. »Auf dich höre ich nicht.« Er wandte sich an Shadow. »Spielen Sie Dame?«, fragte er.
»Ja«, sagte Shadow.
»Gut. Sie werden Dame mit mir spielen«, sagte er und nahm vom Kaminsims eine Holzschachtel mit Spielsteinen, die er auf den Tisch schüttete. »Ich spiele mit Schwarz.«
Wednesday berührte Shadow am Arm. »Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen«, sagte er.
»Kein Problem, ich möchte gern«, sagte Shadow. Wednesday zuckte die Achseln und nahm sich dann ein altes Reader’s-Digest-Heft von den vergilbten Zeitschriften, die auf der Fensterbank gestapelt waren.
Tschernibog schob mit seinen braunen Fingern die Spielsteine auf die vorgesehenen Quadrate, und dann begann das Spiel.
In der Zeit danach sollte Shadow noch oft an dieses Spiel zurückdenken. Manchmal träumte er nachts davon. Seine flachen, runden Spielsteine hatten die Farbe von altem, schmutzigem Holz, nur dem Namen nach noch weiß zu nennen. Tschernibogs waren von einem stumpfen, verblichenen Schwarz. Shadow hatte den ersten Zug. In seinen Träumen gab es während des Spiels keine Unterhaltung, nur das Knallen, wenn die Steine hochgehoben und wieder abgesetzt, oder das Schaben von Holz an Holz, wenn sie von einem Quadrat zum nächsten geschoben wurden.
Das erste halbe Dutzend Züge über schoben die beiden ihre Steine nur nach vorn in die Mitte und rührten die hinteren Reihen nicht an. Es gab Pausen zwischen den Zügen, lange Pausen wie beim Schach, in denen die Männer das Brett beäugten und nachdachten.
Shadow hatte im Gefängnis oft Dame gespielt; es vertrieb einem die Zeit. Schach hatte er auch gespielt, aber er war vom Temperament her nicht der Typ, der lange vorausplante. Er suchte lieber nach dem besten Zug in der jeweiligen Situation. Beim Damespiel kann man auf diese Weise manchmal gewinnen.
Jetzt klapperte es, als Tschernibog einen schwarzen Stein aufnahm und ihn über einen von Shadows weißen springen ließ. Der alte Mann nahm Shadows weißen Stein und legte ihn neben das Brett.
»Das war der erste Streich. Sie haben schon verloren«, sagte Tschernibog. »Das Spiel ist vorbei.«
»Nein«, sagte Shadow. »Das Spiel hat noch gar nicht angefangen.«
»Wie wär’s dann mit einer Wette? Eine kleine Zusatzwette, um die Sache interessanter zu machen?«
»Nein«, sagte Wednesday, ohne von seiner »Humor-in-Uniform«-Seite aufzublicken. »Für so was hat er nichts übrig.«
»Ich spiele nicht mit dir, mein Alter. Ich spiele mit ihm. Also, möchten Sie eine Wette auf das Spiel abschließen, Mister Shadow?«
»Worüber haben Sie beide sich denn vorhin gestritten?«, fragte Shadow.
Tschernibog runzelte die zerklüftete Stirn. »Ihr Herr und Meister möchte, dass ich mit ihm komme. Um ihm bei seinem Unfug zu helfen. Da würde ich lieber sterben.«
»Sie wollen also wetten? Okay. Wenn ich gewinne, kommen Sie mit uns.«
Der alte Mann schürzte die Lippen. »Möglich«, sagte er. »Aber ich bestimme den Einsatz, den ich bekomme, wenn Sie verlieren.«
»Und was soll das sein?«
Es gab keine Veränderung in Tschernibogs Gesichtsausdruck. »Wenn ich gewinne, darf ich Ihnen den Schädel einschlagen. Mit dem Vorschlaghammer. Erst knien Sie sich hin. Dann verpasse ich Ihnen einen Hieb, dass Sie nicht wieder aufstehen.« Shadow blickte in das Gesicht des alten Mannes und versuchte darin zu lesen. Es sollte wohl kein Scherz sein. Da war Shadow sich sicher: Er erkannte einen Hunger nach irgendetwas, nach Schmerz, nach Tod oder nach Vergeltung.
Wednesday schlug den Reader’s Digest zu. »Das ist lächerlich«, sagte er. »Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Shadow, wir gehen.« Aufgestört, erhob sich die graue Katze und stieg auf den Tisch neben das Spielbrett. Sie starrte die Spielsteine an, sprang dann auf den Fußboden und stolzierte, den Schwanz hoch erhoben, aus dem Zimmer.
»Nein«, sagte Shadow. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod. Schließlich gab es für ihn nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. »Ist schon gut. Ich nehme an. Wenn Sie das Spiel gewinnen, bekommen Sie die Möglichkeit, mir mit einem Schlag Ihres Vorschlaghammers den Schädel einzuschlagen.« Er schob seinen nächsten weißen Stein ein Feld weiter zum Rand des Bretts.
Weiter wurde nichts gesprochen, aber Wednesday nahm auch den Reader’s Digest nicht wieder zur Hand. Er beobachtete das Spiel mit seinem Glasauge und seinem wahren Auge und mit einem Gesicht, das keine Regung verriet.
Tschernibog nahm Shadow einen weiteren Stein ab. Shadow nahm zwei von Tschernibogs. Aus dem Flur drangen unbekannte Kochgerüche. Obwohl sie nicht durchweg appetitanregend waren, wurde Shadow plötzlich bewusst, wie hungrig er war.
Die beiden Männer verschoben ihre Steine, schwarz und weiß, hin und her, kreuz und quer. Verlorene Steine wanderten in Gestalt von Damentürmen zurück aufs Feld. Nicht länger mehr gezwungen, nur nach vorn zu ziehen und lediglich ein Feld schräg vorwärts, konnten die Damen sich überall hinbewegen, was sie doppelt gefährlich machte. Tschernibog hatte drei Damen, Shadow deren zwei.
Tschernibog ließ eine seiner Damen übers Brett spazieren, um Shadows übrig gebliebene Steine zu eliminieren, während er mit den anderen beiden die zwei Damen von Shadow in Schach hielt.
Schließlich hatte Tschernibog eine vierte Dame, machte Jagd auf Shadows Damen und nahm sie ihm, ohne eine Miene zu verziehen. Und damit war die Sache gegessen.
»Also«, sagte Tschernibog, »ich darf Ihnen den Schädel einschlagen. Und Sie werden sich bereitwillig hinknien. Abgemacht.« Er streckte seine alte Hand aus und tätschelte Shadow am Arm.
»Wir haben noch Zeit, bevor das Essen fertig ist«, sagte Shadow. »Wollen wir noch ein Spiel machen? Dieselben Bedingungen?«
Tschernibog zündete sich mit einem Streichholz aus einer großen Schachtel eine neue Zigarette an. »Wie soll das unter gleichen Bedingungen gehen? Soll ich Sie zweimal umbringen?«
»Im Moment haben Sie einen Schlag frei, das ist alles. Sie haben selber gesagt, dass es nicht nur auf die Kraft ankommt, sondern auch aufs Geschick. Wenn Sie also das zweite Spiel auch gewinnen, dürfen Sie mir zwei Schläge auf den Kopf verpassen.«
Tschernibog sah finster drein. »Ein Schlag – mehr als einen Schlag braucht es nicht. Das ist die Kunst.« Er klopfte sich, dort wo die Muskeln waren, auf den rechten Oberarm und verstreute dabei die graue Asche der Zigarette, die er in der Linken hielt.
»Es ist lange her. Falls Sie Ihre Fertigkeit verloren haben, krieg ich vielleicht nur eine Beule. Wie lang ist es her, seit Sie auf den Schlachthöfen den Hammer geschwungen haben? Dreißig Jahre?
Vierzig?«
Tschernibog schwieg. Sein geschlossener Mund bildete einen grauen Schlitz quer übers Gesicht. Er klopfte mit den Fingern auf den Holztisch und ging in rhythmisches Trommeln über. Dann schob er die vierundzwanzig Spielsteine zurück auf ihre Ausgangsfelder.
»Spielen Sie«, sagte er. »Sie sind wieder weiß, ich bin schwarz.«
Shadow schob den ersten Stein nach vorn. Tschernibog tat seinen Zug. Und Shadow ahnte plötzlich, dass Tschernibog versuchen würde, das gleiche Spiel noch einmal zu spielen, genau das Spiel, das er eben gewonnen hatte, und dass darin die Grenzen seiner Spielkunst lägen.
Diesmal spielte Shadow einfach drauflos. Er ergriff jede kleinste Gelegenheit, machte seine Züge, ohne nachzudenken, ohne Bedenkzeit. Und diesmal lächelte Shadow beim Spielen, und jedesmal, wenn Tschernibog einen seiner Steine führte, wurde Shadows Lächeln noch breiter.
Bald schon knallte Tschernibog die Steine nur noch aufs Brett, und er tat es so heftig, dass der ganze Holztisch und mit ihm die verbleibenden Spielsteine auf ihren schwarzen Feldern ins Zittern gerieten.
»Da«, sagte Tschernibog, indem er einen von Shadows Steinen übersprang und seinen Stein aufs Feld dahinter knallte. »Da. Was sagen Sie dazu?«
Shadow sagte gar nichts; er lächelte nur und übersprang den Stein, den Tschernibog eben bewegt hatte, und dann noch einen, und noch einen, und den vierten, bis die ganze Mitte des Brettes von schwarzen Steinen geräumt war. Er nahm einen weißen Stein vom Stapel neben dem Brett und baute sich eine Dame.
Danach war es nur noch eine Aufräumübung, eine Hand voll von Zügen, bis das Spiel vorbei war.
»Drittes Spiel entscheidet?«, sagte Shadow.
Tschernibog starrte ihn nur mit stahlgrauen Augen an. Dann lachte er und klopfte Shadow mit beiden Händen auf die Schultern. »Sie gefallen mir!«, rief er aus. »Sie haben Schneid.«
In diesem Moment steckte Sarja Utrennjaja den Kopf durch die Tür, um ihnen mitzuteilen, dass das Essen fertig sei und sie doch bitte ihr Spiel wegräumen und eine Decke auf den Tisch legen sollten.
»Wir haben kein Esszimmer«, sagte sie. »Leider. Wir essen hier im Wohnzimmer.«
Servierschüsseln wurden auf den Tisch gestellt. Jeder der Speisenden bekam, damit er oder sie aus dem Schoß essen konnte, ein kleines bemaltes Tablett, auf dem stumpf glänzendes Besteck lag.
Sarja Wetschernjaja nahm fünf Holzschüsseln, in die sie je eine ungeschälte gekochte Kartoffel füllte, dann schöpfte sie eine reichliche Portion eines Furcht erregend purpurroten Borschtsch dazu. Sie gab noch einen Löffel weißen Sauerrahm hinein und reichte die Schüsseln dann weiter.
»Ich dachte, wir wären zu sechst«, sagte Shadow.
»Sarja Polunotschnaja schläft noch«, sagte Sarja Wetschernjaja. »Wir stellen ihr das Essen immer in den Kühlschrank. Wenn sie aufwacht, wärmt sie es sich auf.«
Der Borschtsch war säuerlich und schmeckte nach eingelegter Roter Bete. Die gekochte Kartoffel war mehlig.
Als nächsten Gang gab es einen ledrigen Schmorbraten, begleitet von einer Art Grüngemüse, das freilich so lange und gründlich durchgekocht war, dass es schwerlich noch als grün gelten konnte, dafür aber Anspruch erheben durfte, in die Klasse der Braungemüse aufgenommen zu werden.
Dazu gab es gefüllte Kohlblätter, die eine solch widerstandsfähige Konsistenz aufwiesen, dass man sie beinahe nicht schneiden konnte, ohne die aus Hackfleisch und Reis bestehende Füllung auf dem Teppich zu verteilen. Shadow schob seine Portion immer um den Teller herum.
»Wir haben Dame gespielt«, sagte Tschernibog, während er sich eine weitere Scheibe von dem Schmorbraten absäbelte. »Der junge Mann und ich. Er hat ein Spiel gewonnen, ich habe ein Spiel gewonnen. Weil er ein Spiel gewonnen hat, habe ich mich bereit erklärt, mit ihm und Wednesday mitzukommen, um ihnen bei ihrem Wahnsinn zu helfen. Und weil ich ein Spiel gewonnen habe, darf ich, wenn das alles vorbei ist, den jungen Mann töten, mit einem Hammerschlag.«
Die beiden Sari nickten ernst. »So ein Jammer«, sagte Sarja Wetschernjaja zu Shadow. »In meiner Vorhersage für Sie hätte ich gesagt, dass Sie ein langes und glückliches Leben haben würden, mit vielen Kindern.«
»Deshalb bist du ja auch eine gute Wahrsagerin«, sagte Sarja Utrennjaja. Sie sah schläfrig aus, als würde es sie große Anstrengung kosten, so spät noch auf zu sein. »Du erzählst die besten Lügen.«
Nachdem die Mahlzeit beendet war, hatte Shadow immer noch Hunger. Das Essen im Gefängnis war zwar ziemlich schlecht, im Vergleich zu dem eben Genossenen aber die reinste Feinschmeckerküche gewesen.
»Gutes Essen«, sagte Wednesday, der seinen Teller mit allen Anzeichen von Genuss geleert hatte. »Meine Damen, ich danke Ihnen. Aber jetzt obliegt es mir leider, Sie zu bitten, uns ein gutes Hotel in der näheren Umgebung zu empfehlen.«
Sarja Wetschernjaja schien gekränkt zu sein. »Warum wollen Sie in ein Hotel gehen?«, sagte sie. »Sind wir nicht Ihre Freunde?«
»Ich möchte Ihnen auf keinen Fall Umstände bereiten …«, sagte Wednesday.
»Das sind keine Umstände«, sagte Sarja Utrennjaja, während sie mit einer Hand in ihrem absurd goldenen Haar spielte, und gähnte anschließend.
»Sie können in Bjelbogs Zimmer schlafen«, sagte Sarja Wetschernjaja, indem sie auf Wednesday zeigte. »Es ist leer. Und für Sie, junger Mann, mache ich das Sofa bereit. Sie werden es bequemer haben als in einem Federbett. Versprochen.«
»Das ist wirklich zu freundlich von Ihnen«, sagte Wednesday. »Wir nehmen das Angebot gern an.«
»Sie brauchen mir auch nicht mehr zu geben, als Sie im Hotel zahlen würden«, sagte Sarja Wetschernjaja, indem sie den Kopf triumphierend hochwarf. »Einhundert Dollar.«
»Dreißig«, sagte Wednesday.
»Fünfzig.«
»Fünfunddreißig.«
»Fünfundvierzig.«
»Vierzig.«
»Abgemacht. Fünfundvierzig Dollar.« Sarja Wetschernjaja langte über den Tisch und schüttelte Wednesday die Hand. Dann begann sie das Geschirr abzutragen. Sarja Utrennjaja gähnte so heftig, dass Shadow schon befürchtete, sie würde sich dabei die Kinnlade ausrenken, dann verkündete sie, sie wolle ins Bett gehen, bevor ihr der Kopf noch in die Torte sinke, und sagte allen Gute Nacht.
Shadow half Sarja Wetschernjaja, die Teller und Schüsseln in die kleine Küche zu tragen. Zu seiner Überraschung befand sich eine etwas betagte Geschirrspülmaschine unter dem Spülbecken, die er auch sogleich auffüllte. Sarja Wetschernjaja sah ihm über die Schulter, schüttelte missbilligend den Kopf und nahm die Holzschüsseln, aus denen sie den Borschtsch gegessen hatten, wieder heraus. »Die kommen in die Spüle«, sagte sie.
»’t schuldigung.«
»Nicht so schlimm. Und jetzt wieder zurück – wir wollen Torte essen«, sagte sie.
Die Torte – es handelte sich um eine Apfeltorte – war im Laden gekauft und nur im Ofen aufgebacken worden. Sie schmeckte hervorragend. Nur noch zu viert, aßen sie die Torte mit Eiscreme, und danach scheuchte Sarja Wetschernjaja sie alle aus dem Wohnzimmer, um für Shadow auf dem Sofa eine sehr eindrucksvolle Bettstatt herzurichten.
Wednesday nahm Shadow beiseite, während sie auf dem Flur warteten.
»Was Sie da vorhin gemacht haben, das mit dem Damespiel …«, sagte er.
»Ja?«
»Das war gut. Zwar ziemlich dumm, aber gut. Schlafen Sie wohl.«
Shadow putzte sich im kleinen Bad die Zähne und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, ging dann durch den Flur zurück ins Wohnzimmer, machte das Licht aus und war schon eingeschlafen, bevor sein Kopf noch das Kissen berührte.
In Shadows Traum gab es Explosionen: Er fuhr mit einem Lastwagen durch ein Minenfeld, und links und rechts gingen die Bomben hoch. Die Windschutzscheibe zerbarst, und er fühlte, wie ihm warmes Blut übers Gesicht strömte.
Jemand schoss auf ihn.
Eine Kugel durchschlug ihm einen Lungenflügel, eine Kugel zerschmetterte ihm das Rückgrat, eine andere traf ihn an der Schulter. Er fühlte jeden einzelnen Einschlag. Er brach über dem Steuer zusammen.
Die letzte Explosion mündete in Dunkelheit.
Das muss ein Traum sein, dachte Shadow in der einsamen Dunkelheit. Ich glaub, ich bin grade gestorben. Er erinnerte sich, als Kind gehört und geglaubt zu haben, dass man, wenn man im Traum starb, auch im wirklichen Leben sterben würde. Er fühlte sich aber nicht tot. Er öffnete versuchsweise die Augen.
Eine Frau war in dem kleinen Wohnzimmer. Sie stand mit dem Rücken zu ihm vor dem Fenster. Ihm setzte für einen halben Schlag das Herz aus. »Laura?«, sagte er.
Die vom Mondschein umrahmte Frau drehte sich um. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht aufwecken.« Sie sprach mit einem weichen osteuropäischen Akzent. »Ich werde wieder gehen.«
»Nein, ist schon gut«, sagte Shadow. »Sie haben mich nicht aufgeweckt. Ich habe geträumt.«
»Ja«, sagte sie. »Sie haben gerufen und gestöhnt. Ich wollte Sie erst aufwecken, aber dann dachte ich, nein, lass ihn lieber.«
Ihr Haar war blass und im fahlen Mondschein ganz farblos. Sie trug ein weißes Baumwollnachthemd mit einem hochgestellten Spitzenkragen und einem Saum, der über den Boden wischte. Shadow setzte sich auf. Er war jetzt vollständig wach. »Sie sind Sarja Polu …« Er zögerte. »Die Schwester, die vorhin noch geschlafen hat.«
»Ich bin Sarja Polunotschnaja, ja. Und Sie werden Shadow genannt, nicht wahr? Das hat mir Sarja Wetschernjaja erzählt, als ich wach geworden bin.«
»Ja. Wonach haben Sie da draußen Ausschau gehalten?«
Sie sah ihn an, dann gab sie ihm ein Zeichen, zu ihr ans Fenster zu kommen. Sie wandte ihm den Rücken zu, während er sich seine Jeans überstreifte. Er ging zu ihr. Dafür, dass es so ein kleiner Raum war, schien es ein langer Weg zu sein.
Er fand es unmöglich, ihr Alter zu bestimmen. Die Haut war faltenlos, die Augen waren dunkel, die Wimpern lang und die bis zur Taille reichenden Haare weiß. Das Mondlicht entzog den Farben alle Lebendigkeit. Sie war größer als ihre beiden Schwestern.
Sie deutete hinauf in den Nachthimmel. »Das da habe ich angeschaut.« Sie zeigte auf den Großen Wagen. »Sehen Sie?«
»Ursa Major«, sagte er. »Der Große Bär.«
»So kann man es auch sehen«, sagte sie. »Allerdings sieht man es da, wo ich herkomme, nicht so. Ich will mich aufs Dach setzen. Möchten Sie mitkommen?«
Sie schob das Fenster hoch und kletterte barfuß auf die Feuerleiter. Ein eisiger Wind pfiff durchs Fenster. Irgendetwas störte Shadow, aber er kam nicht darauf, was es war; er verharrte kurz, dann zog er sich Pullover, Socken und Schuhe an und folgte ihr nach draußen auf die rostige Feuerleiter. Sie wartete bereits auf ihn. Sein Atem dampfte in der kalten Luft. Er beobachtete, wie ihre bloßen Füße die eisigen Metallsprossen hochtappten, und stieg ihr schließlich bis aufs Dach hinterher.
Der Wind blies in kalten Böen, plättete ihr das Nachthemd an den Körper, und Shadow stellte mit Verlegenheit fest, dass sie darunter absolut nichts anhatte.
»Macht Ihnen die Kälte nichts aus?«, sagte er, als sie das obere Ende der Feuerleiter erreicht hatten, aber der Wind peitschte seine Worte hinweg.
»Wie bitte?«
Sie neigte ihr Gesicht dicht an seines. Ihr Atem war süß.
»Ich habe gefragt, ob Sie die Kälte nicht stört?«
Sie antwortete ihm, indem sie einen Finger hochhielt: Warten Sie! Leichtfüßig stieg sie über die Kante auf das flache Dach. Shadow kam etwas schwerfälliger hinterher und folgte ihr über das Dach in den Schatten eines Wasserturms. Eine Holzbank erwartete sie dort; sie nahm Platz und er setzte sich neben sie. Der Wasserturm diente als Windschutz, wofür Shadow recht dankbar war.
»Nein«, sagte sie. »Die Kälte stört mich nicht. Es ist meine Zeit. Ich könnte mich in der Nacht nicht behaglicher fühlen als ein Fisch in tiefem Wasser.«
»Sie scheinen die Nacht zu mögen«, sagte Shadow und wünschte, ihm wäre etwas Klügeres, Tiefgründigeres eingefallen.
»Meine Schwestern haben ihre Zeiten. Sarja Utrennjaja gehört die Morgendämmerung. In der alten Heimat ist sie aufgestanden, um die Tore zu öffnen, damit unser Vater ausfahren konnte mit seiner – äh, ich habe das Wort vergessen, wie ein Auto, aber mit Pferden?«
»Kutsche?«
»Seine Kutsche. Unser Vater fuhr morgens damit weg. Und Sarja Wetschernjaja, sie machte ihm das Tor auf, wenn er in der Abenddämmerung zurückkehrte.«
»Und Sie?«
Sie hielt inne. Ihre Lippen waren voll, aber sehr blass. »Ich habe unseren Vater nie gesehen. Ich schlief.«
»Handelt es sich da um ein gesundheitliches Leiden?«
Sie antwortete nicht darauf. Das Achselzucken, wenn sie denn die Achseln zuckte, war nicht wahrzunehmen. »Also, Sie wollten wissen, was ich mir angeschaut habe.«
»Den Großen Wagen.«
Sie hob einen Arm, um in die Richtung zu zeigen, und wieder drückte der Wind ihr das Nachthemd an den Körper. Ihre Nippel und sogar die Struktur der Gänsehaut auf dem Brustwarzenhof wurden als dunkle Umrisse hinter der weißen Baumwolle kurzzeitig sichtbar. Shadow erschauerte.
»Odins Wagen nennt man ihn. Oder auch den Großen Bären. Wo wir herkommen, da glaubt man, das ist ein, ein Ding, ein, kein Gott, aber etwas wie ein Gott, ein böses Ding, das oben in diesen Sternen festgekettet ist. Wenn es entkommt, wird es alles verschlingen. Und deshalb wird der Himmel überwacht von drei Schwestern, den ganzen Tag, die ganze Nacht. Wenn es entwischt, das Ding in den Sternen, dann ist die Welt zu Ende. Pft, einfach so.«
»Und das glauben die Leute?«
»Haben sie. Vor langer Zeit.«
»Und Sie wollten gucken, ob Sie das Monster in den Sternen sehen?«
»So ungefähr. Ja.«
Er lächelte. Wenn die Kälte nicht wäre, dachte er, würde ich mich in einem Traum glauben. Alles fühlte sich genau wie ein Traum an.
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind? Ihre Schwestern wirken so viel älter.«
Sie nickte. »Ich bin die Jüngste. Sarja Utrennjaja wurde am Morgen geboren, Sarja Wetschernjaja wurde am Abend geboren, und ich wurde um Mitternacht geboren. Ich bin die Mitternachtsschwester, Sarja Polunotschnaja. Sind Sie verheiratet?«
»Meine Frau ist tot. Sie ist erst letzte Woche bei einem Autounfall gestorben. Gestern war die Beerdigung.«
»Mein herzlichstes Beileid.«
»Sie hat mich letzte Nacht besucht.« Hier in der Dunkelheit und im Mondschein war es gar nicht schwer, das auszusprechen; es war nicht annähernd so undenkbar wie bei Tageslicht.
»Haben Sie sie gefragt, was sie wollte?«
»Nein. Eigentlich nicht.«
»Vielleicht hätten Sie das tun sollen. Die Toten zu fragen, das ist das Klügste, was man machen kann. Manchmal geben sie auch Auskunft. Sarja Wetschernjaja hat mir übrigens erzählt, dass Sie mit Tschernibog Dame gespielt haben.«
»Ja, er hat sich dabei das Recht erworben, mir mit einem Vorschlaghammer den Schädel einzuschlagen.«
»In den alten Zeiten hat man die Leute auf die Bergspitzen geführt. Nach ganz oben. Man hat ihnen die Hinterköpfe mit einem Stein zerschmettert. Für Tschernibog.«
Shadow blickte sich um. Nein, sie waren allein auf dem Dach.
Sarja Polunotschnaja lachte. »Dummchen, er ist nicht hier. Und Sie haben ja auch ein Spiel gewonnen. Vielleicht wird er seinen Schlag nicht führen, bevor das alles hier vorbei ist. Er hat es jedenfalls so gesagt. Und Sie werden es erahnen. Wie die Kühe, die er getötet hat. Sie wissen es immer vorher. Was für einen Sinn hätte es auch sonst?«
»Ich habe das Gefühl«, vertraute Shadow ihr an, »als wäre ich in einer Welt, die eine ganz eigene Logik hat. Eigene Regeln. Als wenn man sich in einem Traum befindet und weiß, dass es Regeln gibt, die man nicht verletzen darf. Selbst wenn man sie nicht begreift. Ich füge mich nur einfach, verstehen Sie das?«
»Ich weiß«, sagte sie. Sie hielt ihn an der Hand, und die ihre war eiskalt. »Man hat Ihnen bereits einmal Schutz gegeben. Die Sonne selbst haben Sie bekommen. Aber Sie haben sie längst verloren. Weggegeben. Was ich Ihnen geben kann, ist ein viel geringerer Schutz. Die Tochter, nicht der Vater. Aber helfen tut alles. Ja?« Im kalten Wind flatterte ihr das weiße Haar ums Gesicht.
»Muss ich mit Ihnen kämpfen? Oder Dame spielen?«, fragte er.
»Sie müssen mich nicht einmal küssen«, sagte sie zu ihm. »Nehmen Sie einfach den Mond von mir.«
»Wie das?«
»Nehmen Sie den Mond!«
»Ich verstehe nicht.«
»Passen Sie auf«, sagte Sarja Polunotschnaja. Sie hob die linke Hand und hielt sie so vor den Mond, als würde sie ihn mit Zeigefinger und Daumen greifen wollen. Dann schien sie ihn in einer geschmeidigen Bewegung an sich zu ziehen. Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als hätte sie den Mond vom Himmel geklaubt, doch dann sah Shadow, dass der Himmelskörper noch immer dort stand und. leuchtete; Sarja Polunotschnaja aber öffnete ihre Hand und brachte einen Silberdollar mit dem Liberty-Kopf zwischen Zeigefinger und Daumen zum Vorschein.
»Das war ganz großartig gemacht«, sagte Shadow. »Ich hab ihn nicht in Ihrer Hand verschwinden sehen. Keine Ahnung, wie Sie das mit dem letzten Teil gemacht haben.«
»Ich habe ihn nicht zuvor in der Hand verschwinden lassen«, sagte sie. »Ich habe ihn einfach genommen. Und jetzt gebe ich ihn Ihnen zur sicheren Verwahrung. Hier. Geben Sie den nicht weg.«
Sie legte ihm den Silberdollar in die rechte Hand und schloss seine Finger darum. Die Münze lag kalt in seiner Hand. Sarja Polunotschnaja beugte sich vor, drückte ihm vorsichtig beide Augen mit den Fingerspitzen zu und hauchte ihm einen Kuss auf jedes Lid.
Shadow erwachte auf dem Sofa; er war vollständig angezogen. Ein schmaler Sonnenlichtstreifen strömte ins Zimmer und ließ die Staubkörnchen tanzen.
Er stand auf und ging zum Fenster. Bei Tageslicht erschien ihm das Zimmer viel kleiner.
Was ihm schon die ganze vergangene Nacht zu schaffen gemacht hatte, stellte sich ihm nun ganz deutlich vor Augen, während er nach draußen und die Straße zu beiden Seiten hinunterblickte: Es gab keine Feuertreppe in der Nähe dieses Fensters; keinen Balkon und keine rostige Leiter.
In seiner Hand aber lag, fest umschlossen, ein Silberdollar mit dem Liberty-Kopf aus dem Jahr 1922, hell und glänzend wie am Tag seiner Prägung.
»Oh, Sie sind schon wach«, sagte Wednesday, der gerade den Kopf durch die Tür steckte. »Bestens. Möchten Sie Kaffee? Wir wollen heute eine Bank ausrauben.«