ankunft in amerika


1778


Es war einmal ein Mädchen, das wurde von seinem Onkel verkauft, schrieb Mr. Ibis in seiner gestochenen Handschrift.

Soweit die Geschichte, alles andere sind Einzelheiten.

Es gibt Berichte, die uns, öffneten wir ihnen unser Herz, allzu sehr verstören würden. Denn siehe – nehmen wir zum Beispiel diesen Mann, einen guten Mann, gut nach seinen eigenen Maßstäben und denen seiner Freunde: Er ist treu und wahrhaftig gegenüber seiner Frau, er betet seine Kinder an und überschüttet sie mit Aufmerksamkeiten, sein Land liegt ihm am Herzen, er tut seine Arbeit peinlich korrekt und so gut er kann. Und so, tüchtig und gutmütig, wie er ist, vernichtet er Juden: Er schätzt die Musik, die zu ihrer Besänftigung im Hintergrund spielt; er ermahnt die Juden, bevor sie in die Duschen gehen, nicht ihre Erkennungsnummern zu vergessen – viele Leute, erklärt er, vergessen ihre Nummern und geraten dann nach dem Duschen an die falsche Kleidung. Das beruhigt die Juden. Es wird, versichern sie einander, ein Leben nach dem Duschen geben. Unser Mann beaufsichtigt das Kommando, das die Leichen zu den Öfen bringt; und sofern es überhaupt etwas gibt, was ihm Unbehagen bereitet, so ist es die Tatsache, dass das Vergasen dieses Ungeziefers ihn noch immer belastet. Wäre er ein wahrhaft guter Mensch, würde er nichts als Freude darüber empfinden, dass die Erde von dieser Pest befreit wird.

Es war einmal ein Mädchen, das wurde von seinem Onkel verkauft. So formuliert, erscheint der Fall ganz simpel.

Niemand, erklärte Donne, ist eine Insel, aber er hatte Unrecht. Wären wir keine Inseln, wir verlören uns, ertränken in den Tragödien der Mitmenschen. Wir sind isoliert (ein Wort, man erinnere sich, das wörtlich bedeutet: zu einer Insel gemacht werden) vom Unglück der anderen, vermöge unserer Inselnatur und infolge der immergleichen Gestalt der Geschichten. Die Form ändert sich nicht: Es war einmal ein Mensch, der wurde geboren, lebte, und aus dem einen oder anderen Grunde starb er schließlich. Bitte schön. Die Einzelheiten möge man aus der eigenen Anschauung ergänzen. So wenig originell wie nur je eine Geschichte, so einzigartig wie nur je ein Leben. Das Leben ist eine Schneeflocke – es bildet Muster, die wir kennen, die einander so gleichen wie die Erbsen in ihrer Hülse (und haben Sie sich schon mal Erbsen in der Hülse angesehen? Ich meine, richtig angesehen?) und dennoch einzigartig sind.

Ohne das Individuelle sehen wir nur Zahlen: eintausend Tote, hunderttausend Tote, »bis zu einer Million Tote und Verletzte«. Mit individuellen Geschichten werden aus der Statistik Menschen – doch selbst das ist eine Lüge, leiden die Menschen doch nach wie vor in Größenordnungen, die per se abstumpfend und bedeutungslos sind. Schaut hin, seht euch den furchtbar aufgeschwollenen Bauch dieses kleinen Jungen an, seht die Fliegen, die in seinen Augenwinkeln krabbeln, seht seine skelettartigen Glieder: Macht das es euch leichter, seinen Namen zu kennen, sein Alter, seine Träume, seine Ängste? Ihn von innen zu sehen? Und wenn ja, erweisen wir nicht damit seiner Schwester einen schlechten Dienst, die neben ihm im versengenden Staub liegt, die entstellte, aufgeblähte Karikatur eines Menschenkindes? Und dann, wenn wir mit ihnen fühlen, sind sie uns da wichtiger als die tausend anderen Kinder, die von derselben Hungersnot betroffen sind, tausend andere Menschenleben, die schon bald Myriaden von Fliegenkindern als Futter dienen werden?

Wir zäunen diese Momente des Schmerzes ein und verbleiben auf unseren Inseln, sodass die Schmerzen uns nichts anhaben können. Sie sind von einer weichen, stabilen, perlmuttartigen Schicht bedeckt, die sie, wie eine Perle, schmerzlos aus unserer Seele gleiten lässt.

Die fiktionale Erzählung erlaubt uns, in diese anderen Köpfe, diese anderen Orte, zu gleiten und durch andere Augen nach draußen zu sehen. Und in der Erzählung halten wir ein, bevor wir sterben, oder wir sterben stellvertretend, unversehrt, und in der Welt jenseits der Erzählung blättern wir die Seite um oder schlagen das Buch zu und kehren zu unserem eigentlichen Leben zurück.

Ein Leben, das, wie jedes andere, keinem anderen gleicht.

Aber die schlichte Wahrheit ist diese: Es war einmal ein Mädchen, das wurde von seinem Onkel verkauft.

Das ist es, was man dort zu sagen pflegte, wo das Mädchen herkam: Es mag niemand genau wissen, wer der Vater des Kindes war, aber die Mutter, ah, da kann man sich sicher sein. Abstammung und Besitz waren etwas, das auf matrilinearen Bahnen verlief, die Macht aber blieb in den Händen der Männer: Ein Mann besaß alle Besitzrechte an den Kindern seiner Schwester.

Es herrschte Krieg in jener Gegend, ein kleiner Krieg nur, nicht mehr als ein Handgemenge zwischen den Männern zweier rivalisierender Dörfer. Es war schon eher nur ein Streit. Das eine Dorf ging als Sieger aus dem Streit hervor, das andere als Verlierer.

Leben als Ware, Menschen als Besitztümer. Sklaverei war hier seit tausenden von Jahren Bestandteil der Kultur gewesen. Die arabischen Sklavenhändler hatten die letzten der großen Königreiche Ostafrikas zerstört, während die westafrikanischen Völker sich gegenseitig zerstörten.

Es war nichts Ungewöhnliches oder gar Anstößiges daran, dass der Onkel die Zwillinge verkaufte, obwohl Zwillinge als magische Wesen erachtet wurden, und tatsächlich fürchtete sich der Onkel vor ihnen, fürchtete sie so sehr, dass er seine Absicht, sie zu verkaufen, vor ihnen verheimlichte, damit sie nicht seinen Schatten schädigen konnten, um ihn damit zu töten. Sie waren zwölf Jahre alt. Das Mädchen hieß Wututu, der Botenvogel, und der Junge hieß Agasu, welches der Name eines toten Königs war. Es waren gesunde Kinder, und da sie Zwillinge waren, männlich und weiblich, erzählte man ihnen viele Dinge über die Götter, und da sie Zwillinge waren, achteten sie auf die Dinge, die man ihnen erzählte, und behielten sie in Erinnerung.

Ihr Onkel war ein fetter und fauler Mensch. Hätte er mehr Vieh besessen, hätte er vielleicht statt der Kinder eines seiner Rinder abgegeben. So aber verkaufte er die Zwillinge. Genug von ihm: Er soll keine weitere Rolle in dieser Erzählung spielen. Wir folgen den Zwillingen.

Sie mussten, zusammen mit mehreren anderen Sklaven, die in dem Krieg gefangen oder verkauft worden waren, ein Dutzend Meilen weit zu einem kleinen Außenposten marschieren. Hier fand ein Markt statt, wo die Zwillinge gemeinsam mit dreizehn anderen Gefangenen von sechs Männern mit Speeren und Messern gekauft wurden, die sie gleich nach Westen zum Meer führten und dann über viele Meilen an der Küste entlang. Es waren nun insgesamt fünfzehn Sklaven, die Hände locker gefesselt, untereinander an den Hälsen festgebunden.

Wututu fragte ihren Bruder Agasu, was wohl mit ihnen geschehen werde.

»Ich weiß nicht«, sagte er. Agasu war ein Junge, der gern und oft lächelte: Er besaß ein weißes, tadelloses Gebiss, das er beim Grinsen stets entblößte, und sein glückliches Lächeln machte dann auch Wututu glücklich. Jetzt lächelte er nicht. Stattdessen strengte er sich an, mit zurückgeworfenem Kopf und durchgedrückten Schultern vor seiner Schwester Tapferkeit zu zeigen, und wirkte dabei so stolz, so bedrohlich, so komisch wie ein kleiner Hund mit gesträubtem Fell. Der Mann, der in der Reihe hinter Wututu ging und dessen Wangen voller Narben waren, sagte: »Sie werden uns an die weißen Teufel verkaufen, die uns in ihre Heimat auf der anderen Seite des Wassers bringen werden.«

»Und was werden sie dort mit uns tun?«, wollte Wututu wissen.

Der Mann antwortete nichts darauf.

»Und?«, sagte Wututu. Agasu warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. Beim Marschieren durften sie weder sprechen noch singen.

»Es ist möglich, dass sie uns essen«, sagte der Mann. »Das habe ich jedenfalls gehört. Deswegen brauchen sie so viele Sklaven. Weil sie immerzu hungrig sind.«

Während sie weitergingen, fing Wututu zu weinen an. »Weine nicht, meine Schwester«, sagte Agasu. »Sie werden dich nicht essen. Ich beschütze dich. Unsere Götter werden dich beschützen.«

Wututu aber weinte weiter, das Herz wurde ihr beim Gehen schwer, und sie fühlte Schmerz und Wut und Furcht, wie nur ein Kind dergleichen fühlen konnte: unverfälscht und überwältigend. Sie war nicht fähig, Agasu zu sagen, dass sie sich keine Sorgen darüber machte, von den weißen Teufeln gefressen zu werden. Sie würde überleben, dessen war sie gewiss. Sie weinte, weil sie Angst hatte, dass man ihren Bruder verspeisen würde, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn ihrerseits beschützen konnte.

Sie erreichten einen Handelsposten, wo sie zehn Tage lang verweilen mussten. Am Morgen des zehnten Tages wurden sie aus der Hütte geholt, in der man sie gefangen hielt (sie war zuletzt sehr voll geworden, da von weither andere Männer mit ihren Sklavenzügen eingetroffen waren). Sie wurden zum Hafen geführt, und Wututu erblickte das Schiff, das sie mit fortnehmen sollte.

Ihr erster Gedanke war, dass es sich um ein gewaltig großes Schiff handelte, ihr zweiter, dass es dennoch zu klein war, um ihnen allen Platz zu bieten. Es lag leicht auf dem Wasser. Das Beiboot fuhr hin und her, um alle Gefangenen aufs Schiff zu schaffen, wo sie von Matrosen in Ketten gelegt und auf niedrige Decks verteilt wurden, Matrosen, die zum Teil ziegelrot oder braunhäutig waren und seltsam spitze Nasen und Bärte besaßen, mit denen sie wie Tiere aussahen. Einige davon aber sahen genauso aus wie ihr eigenes Volk, wie die Männer, die sie zur Küste gebracht hatten. Männer und Frauen und Kinder wurden unter Zwang getrennt und in verschiedene Abschnitte des Sklavendecks geschafft. Es waren zu viele Sklaven, als dass sie hätten bequem untergebracht werden können, daher wurde ein Dutzend Männer auf dem offenen Deck angekettet, unterhalb der Bereiche, wo die Mannschaft ihre Hängematten anbrachte.

Wututu wurde zu den Kindern gesteckt, nicht zu den Frauen; und sie lag nicht in Ketten, sondern wurde nur eingeschlossen. Agasu, ihr Bruder, wurde zu den Männern geworfen, die, in Ketten gelegt, wie die Heringe aneinander gedrängt waren. Es stank auf dem Deck, obwohl die Mannschaft es nach dem Löschen der letzten Fracht abgeschrubbt hatte. Es war ein Gestank, der in das Holz eingezogen war: der Geruch von Angst und Gallenflüssigkeit, von Durchfall und Tod, von Fieber, Wahnsinn und Hass. Wututu hockte mit den anderen Kindern im heißen Verschlag. Sie spürte den Schweiß der neben ihr Sitzenden. Ein kleiner Junge wurde von einer Welle so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass er heftig gegen Wututu purzelte; er entschuldigte sich in einer Sprache, die sie nicht kannte. Im Halbdunkel lächelte sie ihm zaghaft zu.

Das Schiff setzte Segel. Jetzt lag es schwer im Wasser.

Wututu machte sich Gedanken über das Land, aus dem die weißen Männer kamen (obwohl keiner von ihnen wirklich weiß war: Vom Meer und von der Sonne verbrannt waren sie, und ihre Haut war dunkel). Waren die Nahrungsmittel dort so knapp, dass sie Leute so weit, ganz bis zu ihrem Land, ausschicken mussten, um sich Menschen zum Essen kommen zu lassen? Oder galten sie, die Gefangenen, vielleicht als besondere Köstlichkeit, als eine rare Delikatesse für ein Volk, das schon so viel probiert und gekostet hatte, dass nur noch schwarzhäutiges Fleisch im Kochtopf imstande war, ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen zu lassen?

Am zweiten Tag nach dem Auslaufen wurde das Schiff von einer Bö erfasst, keiner ganz schlimmen, aber doch so, dass es ein heftiges Schlingern und Rauf und Runter gab, sodass sich bald der Geruch von Erbrochenem zu den vermischten Gerüchen aus Urin, flüssigen Fäkalien und Angstschweiß gesellte. Aus den in die Decke des Sklavendecks eingelassenen Luftgittern ergoss sich das Regenwasser wie aus Eimern über sie.

Nach einer Woche Reise, längst war kein Land mehr in Sicht, wurden die Sklaven von ihren Ketten befreit. Verbunden freilich mit der Warnung, dass jeglicher Ungehorsam, jeglicher Aufruhr, eine Strafe nach sich ziehen werde, die sie sich in ihren bösesten Träumen nicht ausmalen könnten.

Am Morgen bekamen die Gefangenen Bohnen und Schiffszwieback zu essen und pro Person einen Schluck gegorenen Limonensaft, der so sauer war, dass man das Gesicht verziehen und husten und prusten musste. Einige begannen jedesmal zu stöhnen und zu jammern, wenn der Saft mit Löffeln ausgeteilt wurde. Sie konnten ihn allerdings nicht ausspucken: Wer dabei ertappt wurde, den Saft auszuspucken oder aus dem Mund rinnen zu lassen, der wurde geschlagen oder ausgepeitscht.

Der Abend bescherte ihnen gesalzenes Rindfleisch. Es schmeckte unangenehm, und auf seiner grauen Oberfläche war ein Regenbogenschimmer zu erkennen. So jedenfalls am Anfang der Reise. Im weiteren Verlauf wurde das Fleisch noch schlechter.

Wann immer sie konnten, drängten Wututu und Agasu sich aneinander und sprachen über ihre Mutter, ihr Zuhause und ihre Spielkameraden. Manchmal erzählte Wututu ihrem Bruder die Geschichten, die ihre Mutter ihnen erzählt hatte, etwa die von Elegba, dem durchtriebensten der Götter, der in der Welt Auge und Ohr des Großen Mawu war, der Botschaften an Mawu überbrachte und Mawus Antworten übermittelte.

Um die Eintönigkeit der Überfahrt aufzulockern, ließen sich die Seeleute abends von den Sklaven etwas vorsingen und die Tänze ihrer Heimat vorführen.

Es war ein Glück für Wututu, dass sie zu den Kindern gesteckt worden war. Die Kinder waren zwar eng zusammengepfercht und wurden kaum beachtet, die Frauen aber waren mitunter weniger vom Glück begünstigt. Auf einigen Sklavenschiffen wurden die weiblichen Sklaven regelmäßig vergewaltigt, einfach weil die Mannschaft dies als ein ihr stillschweigend gewährtes Privileg betrachtete. Sie befanden sich hier zwar nicht auf einem solchen Schiff, was aber nicht hieß, dass es überhaupt keine Vergewaltigungen gab.

Auf der Reise starben einhundert Männer, Frauen und Kinder und wurden über Bord geworfen. Einige der Gefangenen, die über Bord geworfen wurden, waren noch nicht ganz tot, aber das grüne Meer kühlte ihr Todesfieber, und sie versanken zappelnd, erstickend, einsam und verloren.

Wututu und Agasu fuhren auf einem holländischen Schiff, was sie aber nicht wussten, es hätte genauso gut ein britisches oder portugiesisches oder spanisches oder französisches sein können.

Die schwarzen Mitglieder der Schiffsbesatzung, deren Haut sogar noch dunkler als Wututus war, wiesen die Gefangenen an, wohin sie zu gehen, was sie zu tun, wann sie zu tanzen hatten. Eines Morgens bemerkte Wututu, dass einer der schwarzen Wächter sie anstarrte. Als sie beim Essen war, kam der Mann auf sie zu und beäugte sie, ohne etwas zu sagen.

»Warum tust du das?«, fragte sie den Mann. »Warum dienst du den weißen Teufeln?«

Er grinste, als wäre diese Frage das Lustigste, was er je gehört hatte. Dann beugte er sich herunter, sodass er mit den Lippen fast ihr Ohr streifte und ihr plötzlich von seinem heißen Atem übel wurde. »Wenn du etwas älter wärst«, sagte er, »würde mein Schwanz dafür sorgen, dass du vor Glück schreist. Vielleicht mache ich es heute Abend. Ich habe gesehen, wie gut du tanzen kannst.«

Sie sah ihn mit ihren nussbraunen Augen an, und dann sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, lächelnd sogar: »Wenn du ihn da unten reinsteckst, werde ich ihn mit den Zähnen, die ich da unten habe, abbeißen. Ich bin ein Hexenmädchen, und ich habe da unten sehr scharfe Zähne.« Es bereitete ihr Vergnügen, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte. Er sagte nichts weiter und entfernte sich.

Die Worte waren aus ihrem Mund gekommen, aber es waren nicht ihre Worte gewesen: Sie hatte sie weder erdacht noch hervorgebracht. Nein, begriff sie, es waren die Worte Elegbas, des Schwindlers, gewesen. Mawu hatte die Welt geschaffen und dann, dank Elegbas Hinterlist, das Interesse daran verloren. Elegba, der Durchtriebene, der mit der eisenharten Erektion, war es, der aus ihr gesprochen hatte, von dem sie für einen Augenblick besessen gewesen war, und in der folgenden Nacht stattete sie ihm, bevor sie sich schlafen legte, ihren Dank ab.

Immer wieder weigerten sich einige der Gefangenen, etwas zu essen. Sie wurden dann so lange ausgepeitscht, bis sie sich das Essen in den Mund steckten und hinunterschluckten, aber die Auspeitschung war so heftig, dass zwei Männer daran starben. Danach versuchte niemand mehr, sich freizuhungern. Ein Mann und eine Frau wollten sich umbringen, indem sie über Bord sprangen. Die Frau war erfolgreich. Der Mann aber wurde aufgefischt, an den Mast gefesselt und fast einen Tag lang ausgepeitscht, bis sein Rücken blutüberströmt war, dann, als die Nacht anbrach, ließ man ihn dort, wo er war. Er bekam nichts zu essen und nichts zu trinken außer der eigenen Pisse. Am dritten Tag begann er zu fantasieren, sein Kopf war angeschwollen und weich geworden wie eine alte Melone. Nachdem sein irres Gerede aufgehört hatte, warfen sie ihn über Bord. In der Folge des Fluchtversuchs wurden die Gefangenen fünf Tage lang wieder in Ketten gelegt.

Es war eine lange Fahrt, schlimm für die Gefangenen, aber auch für die Männer der Besatzung nicht angenehm, obwohl diese gelernt hatten, sich gegen die Umstände ihres Broterwerbs zu verhärten, und sich einreden konnten, dass sie nichts anderes waren als Bauern, die ihr Vieh zum Markt brachten.

An einem schönen, milden Tag gingen sie in Bridgeport auf Barbados vor Anker. Die Gefangenen wurden in flachen, vom Dock ausgeschickten Booten an Land gefahren und zum Marktplatz gebracht, wo man sie unter mancherlei Geschrei und dem Einsatz von Knüppeln in Reih und Glied aufstellte. Eine Pfeife ertönte, und der Marktplatz füllte sich mit Männern: stoßenden, stochernden, rotgesichtigen Männern, die ausriefen, inspizierten, anpriesen, prüften, murrten.

Der Moment, da Wututu und Agasu getrennt wurden, war gekommen. Es geschah so schnell – ein großer Mann riss Agasu den Mund auf, besah sich die Zähne, befühlte die Armmuskeln und nickte dann, worauf zwei andere Männer Agasu von dannen schleiften. Er wehrte sich nicht. Er sah Wututu an und rief ihr zu: »Sei tapfer!« Sie nickte, und dann trübte sich ihr Blick vor lauter Tränen. Zusammen waren sie Zwillinge, von magischer Macht und Kraft. Getrennt waren sie zwei Kinder in Not.

Ein einziges Mal sollte sie ihn noch wieder sehen, aber das war nicht in diesem Leben.

Und so erging es Agasu: Zuerst wurde er zu einer Gewürzfarm gebracht, wo er täglich die Peitsche für das, was er tat, und das, was er nicht tat, zu spüren bekam; man brachte ihm ein bisschen Englisch bei und gab ihm wegen seiner dunklen Haut den Namen Inky Jack. Einmal lief er davon, da jagten sie ihn mit Hunden, schafften ihn zurück und trennten ihm mit einem Meißel einen Zeh ab, um ihm eine Lektion zu erteilen, die er nicht vergessen würde. Er wollte sich zu Tode hungern, aber als er das Essen verweigerte, brach man ihm die Vorderzähne heraus und flößte ihm dünnen Haferschleim in den Schlund, bis ihm nur die Wahl blieb, entweder zu schlucken oder zu ersticken.

Zu jener Zeit zog man Sklaven, die in Gefangenschaft geboren wurden, bereits denen vor, die man aus Afrika herüberschaffte. Die in Freiheit geborenen Sklaven stellten alles an, um zu fliehen oder zu sterben, was in beiden Fällen nur auf eine Beeinträchtigung des Gewinns hinauslief.

Als Inky Jack sechzehn war, wurde er mit mehreren anderen Sklaven an eine Zuckerplantage auf der Insel Saint-Domingue verkauft. Sie nannten ihn Hyacinth, den großen Sklaven mit den zerbrochenen Zähnen. Auf dieser Plantage traf er auf eine alte Frau aus seinem Heimatdorf – sie war Haussklavin gewesen, bevor ihre Finger dafür zu knotig und gichtig wurden –, die ihm erzählte, dass die Weißen mit Absicht Gefangene aus einem Dorf oder einer Region trennten, weil sie so Aufstände und Revolten zu vermeiden hofften. Sie mochten es nicht, wenn Sklaven in ihrer eigenen Sprache miteinander redeten.

Hyacinth lernte etwas Französisch und wurde mit einigen Lehren der katholischen Kirche vertraut gemacht. Jeden Tag schnitt er das Zuckerrohr, von weit vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang.

Er zeugte mehrere Kinder. Er schloss sich den anderen Sklaven an, die in den frühen Nachtstunden, obwohl es verboten war, in die Wälder gingen, um die Calinda zu tanzen und für den Schlangengott Damballah-Wedo, in Gestalt einer schwarzen Schlange, zu singen. Er sang für Elegba, für Ogu, Shango, Zaka und viele andere, für all die Götter, die die Gefangenen mit auf die Insel gebracht hatten, heimlich, in ihren Gedanken und in ihren Herzen.

Die Sklaven, die auf die Zuckerplantagen von Saint-Domingue kamen, blieben dort selten länger als zehn Jahre am Leben. Die freie Zeit, die ihnen gewährt wurde – zwei Stunden in der größten Mittagshitze und fünf Stunden in der Dunkelheit der Nacht (von elf bis vier) –, bot ihnen auch die einzige Gelegenheit, das anzubauen, was sie zum Essen brauchten (sie wurden nämlich nicht von ihren Herren verpflegt, sondern bekamen nur kleine Stücke Land zugeteilt, die sie bestellen konnten), und auch die einzige Gelegenheit, zu schlafen und zu träumen. Dennoch nutzten sie diese knappe Zeit, um sich zu versammeln, um zu tanzen, zu singen und ihre Götter anzubeten. Der Boden von Saint-Domingue war ein fruchtbarer Boden, und die Götter aus Dahomey, vom Kongo und vom Niger schlugen dicke und tiefe Wurzeln in ihm, um üppig und hoch hinaus zu wachsen, und sie versprachen Freiheit all denen, die ihnen des Nachts in den Hainen huldigten.

Hyacinth war fünfundzwanzig, als ihn eine Spinne in die rechte Hand biss. Die Wunde entzündete sich, und das Fleisch auf dem Handrücken wurde brandig; binnen kurzem schwoll der ganze Arm an und wurde rot, und die Hand begann zu stinken. Sie pochte und brannte.

Man gab ihm starken Rum zu trinken und erhitzte die Klinge einer Machete im Feuer, bis sie rot und weiß glühte. Mit einer Säge schnitten sie ihm den Arm am Schulteransatz ab und ätzten den Stummel mit der glühenden Klinge. Eine Woche lang lag er im Fieber. Dann kehrte er zur Arbeit zurück.

Der einarmige Sklave namens Hyacinth nahm am Sklavenaufstand von 1791 teil.

Elegba selbst war es, der im Hain von Hyacinth Besitz ergriff, der auf ihm ritt, wie es ein weißer Mann auf einem Pferd tat, und der durch ihn sprach. Hinterher hatte er wenig Erinnerung an das, was gesprochen wurde, aber die anderen Anwesenden erzählten ihm, er habe ihnen Befreiung aus der Gefangenschaft versprochen. Erinnern konnte er sich nur an seine Erektion, hart wie ein Prügel und schmerzhaft, und daran, dass er beide Hände – die, die er besaß, und die, die er nicht mehr besaß – zum Mond emporgehoben hatte.

Ein Schwein wurde getötet, und die Männer und Frauen der Plantage tranken das heiße Schweineblut als Zeichen des Bundes, zu dem sie sich verschworen. Sie gelobten, eine Armee der Freiheit zu bilden, und verpflichteten sich erneut den Göttern aller Länder, aus denen sie als Beute verschleppt worden waren.

»Wenn wir im Kampf gegen die Weißen sterben«, versicherten sie einander, »werden wir in Afrika wieder geboren werden, in unserer Heimat, bei unseren Stämmen.«

Da noch ein anderer Hyacinth an dem Aufstand beteiligt war, gab man Agasu den Namen Großer Einarm. Er kämpfte, er betete, er opferte, er plante. Er sah, wie seine Freunde und seine Geliebten getötet wurden, aber er kämpfte weiter.

Zwölf Jahre lang kämpften sie, es war ein blutiger, zum Wahnsinn treibender Krieg mit den Plantagenbesitzern und den aus Frankreich herbeigerufenen Truppen. Sie fochten ihn aus, sie kämpften, bis das Unmögliche wahr wurde: Sie siegten.

Am 1. Januar 1804 erklärte die Insel Saint-Domingue, bald in aller Welt als Republik Haiti bekannt, sich für unabhängig. Großer Einarm erlebte es nicht mehr. Er war im August 1802 gestorben, aufgespießt vom Bajonett eines französischen Soldaten.

Exakt im Augenblick des Todes von Großer Einarm (der einst Hyacinth und davor Inky Jack genannt worden war und der in seinem Herzen für immer Agasu hieß) fühlte seine Schwester, die er als Wututu gekannt hatte, die auf ihrer ersten Plantage in den Carolinas Mary genannt worden war, dann Daisy, als sie Haussklavin wurde, und schließlich Sukey, als man sie an die Familie Lavere nach New Orleans weiter unten am Fluss verkaufte, seine Schwester also fühlte das kalte Bajonett zwischen ihre Rippen gleiten und begann zu schreien und hemmungslos zu weinen. Ihre Zwillingstöchter erwachten und jammerten. Sie waren milchkaffeefarben, diese neuen Babys, anders als die schwarzen Kinder, die sie geboren hatte, als sie noch, kaum selbst der Kindheit entwachsen, auf der Plantage gearbeitet hatte – Kinder, die sie nicht mehr zu Gesicht bekam, seit diese fünfzehn und zwölf Jahre alt gewesen waren. Das mittlere Mädchen war schon ein Jahr tot, als Wututu verkauft und von ihnen getrennt worden war.

Sukey war seit ihrer Ankunft in diesem Land schon viele Male ausgepeitscht worden – einmal hatte man ihr Salz in die Wunden gerieben, ein anderes Mal hatte man so lange und so heftig auf sie eingeschlagen, dass sie mehrere Tage lang weder sitzen noch etwelche Berührung ihres Rückens ertragen konnte. Sie war, als sie noch jung war, mehrfach vergewaltigt worden: von Schwarzen, die den Befehl hatten, die Holzpalette mit ihr zu teilen, wie auch von Weißen. Man hatte sie angekettet. Sie hatte deswegen allerdings nie geweint. Seit sie von ihrem Bruder getrennt worden war, hatte sie überhaupt nur ein einziges Mal geweint. Das war in North Carolina gewesen, als sie sah, wie das Essen für die Sklavenkinder und das Futter für die Hunde in denselben Trog geschüttet wurden, und sie beobachten musste, wie die kleinen Kinder sich mit den Hunden um jeden Happen balgten. Eines Tages sah sie es also mit an – sie hatte es schon viele Male sehen müssen, jeden Tag auf dieser Plantage, und sollte es, bevor sie dort wegging, auch weiterhin sehen –, aber als sie es an jenem Tag mit ansah, da brach es ihr das Herz.

Eine Zeit lang war sie schön gewesen. Dann forderten die Jahre des Leids ihren Tribut, und sie war nicht mehr schön. Sie hatte Falten im Gesicht, und in den braunen Augen lag zu viel Schmerz.

Elf Jahre zuvor, im Alter von fünfundzwanzig, war ihr rechter Arm verdorrt. Niemand von den Weißen konnte sich einen Reim darauf machen. Das Fleisch schien vom Knochen zu schmelzen, und der Arm hing nur noch an ihr, fast unbeweglich, wenig mehr als ein von Haut überzogener Knochen. Danach war sie Haussklavin geworden.

Die Familie Casterton, die Besitzer der Plantage, war von ihren Kochkünsten und ihrem haushälterischen Geschick zwar beeindruckt, doch fand Mrs. Casterton den verkrüppelten Arm so bedrückend, dass man sie an die Familie Lavere weiterverkaufte, die, aus Louisiana kommend, für ein Jahr am Ort residierte. M. Lavere war ein dicker, fröhlicher Mann, der eine Köchin und ein Mädchen für sämtliche im Haus anfallenden Arbeiten benötigte und sich nicht im Geringsten vom verkrüppelten Arm der Sklavin Daisy abgestoßen zeigte. Als die Familie ein Jahr später nach Louisiana zurückkehrte, ging die Sklavin Sukey mit ihnen.

In New Orleans kamen die Frauen zu ihr, auch die Männer, um Heilmittel zu kaufen, Liebeszauber und kleine Fetische; in erster Linie waren es natürlich Schwarze, aber es gab auch weiße Kunden. Die Laveres beachteten die Angelegenheit nicht weiter. Wahrscheinlich genossen sie sogar das Prestige, eine Sklavin zu besitzen, die gefürchtet und respektiert wurde. Allerdings weigerten sie sich, ihr ihre Freiheit zu verkaufen.

Spätabends ging Sukey in die Bayous, um die Calinda und die Bamboula zu tanzen. Wie die Tänzer von Saint-Domingue und die ihrer Heimat hatten auch die Tänzer des Bayous eine schwarze Schlange als voudon; dessen ungeachtet beherrschten die Götter ihrer Heimat und der anderen afrikanischen Völker ihr Volk nicht in der Weise, wie sie ihren Bruder und die Menschen auf Saint-Domingue beherrscht hatten, Sukey aber rief sie nach wie vor an und bat um ihre Gunst.

Sie hörte die Weißen von der Revolte auf Santo Domingo (wie es hier hieß) sprechen und davon, dass diese zum Scheitern verurteilt sei – »Man stelle sich vor! Ein Land von Kannibalen!« –, und später bemerkte sie dann, dass nicht mehr davon gesprochen wurde.

Bald schien es ihr, als hätte es für die Weißen einen Ort namens Santo Domingo nie gegeben, und was Haiti betraf, so wurde dieses Wort niemals ausgesprochen. Es war, als hätte das gesamte amerikanische Volk beschlossen, durch reine Anstrengung des Glaubens eine karibische Insel von beträchtlicher Größe zum Verschwinden zu bringen.

Eine ganze Generation von Lavere-Kindern wuchs unter Sukeys wachsamer Obhut auf. Das jüngste davon, außerstande, das Wort »Sukey« auszusprechen, hatte sie Mama Zouzou genannt, und dieser Name war hängen geblieben. Jetzt schrieb man das Jahr 1821, und Sukey war Mitte fünfzig. Sie sah wesentlich älter aus.

Sie besaß mehr geheimes Wissen als die alte Sanité Dédé, die vor dem Cabildo Kerzen verkaufte, mehr auch als Marie Saloppe, die sich Voodoo Queen nannte: Beide waren freie farbige Frauen, während Mama Zouzou eine Sklavin war und als Sklavin sterben würde; das jedenfalls hatte ihr Herr gesagt.

Die junge Frau, die zu ihr kam, um zu erfahren, was mit ihrem Ehemann geschehen war, stellte sich als Witwe Paris vor. Sie hatte hohe Brüste, war jung und stolz. In ihren Adern floss afrikanisches Blut, aber auch europäisches und indianisches. Ihre Haut war rötlich, das Haar glänzte schwarz. Die Augen waren schwarz und wirkten hochmütig. Ihr Gatte, Jacques Paris, war – möglicherweise – tot. Er war zu drei Vierteln weiß, wie diese Dinge damals gerechnet wurden, der uneheliche Sohn einer einstmals stolzen Familie, einer der vielen aus Santo Domingo geflüchteten Einwanderer und ebenso frei geboren wie seine bemerkenswerte junge Frau.

»Mein Jacques – ist er tot?«, fragte die Witwe Paris. Sie arbeitete als Friseuse, die ins Haus bestellt wurde, um die Haartracht der feinen Damen von New Orleans auf deren anspruchsvolle gesellschaftliche Verpflichtungen abzustimmen.

Mama Zouzou befragte die Knochen und schüttelte dann den Kopf. »Er ist bei einer weißen Frau, irgendwo nördlich von hier«, sagte sie. »Einer weißen Frau mit goldenen Haaren. Er ist am Leben.«

Das alles hatte nichts mit Magie zu tun. Es war in New Orleans allgemein bekannt, mit wem Jacques Paris durchgebrannt war und welche Haarfarbe die Betreffende hatte.

Mama Zouzou wunderte sich nur, dass die Witwe Paris nicht längst wusste, dass ihr Jacques Nacht für Nacht seinen kleinen Viertelneger-Pipi oben in Colfax in ein rosahäutiges Mädchen steckte. Na ja, jedenfalls in den Nächten, in denen er nicht so betrunken war, dass er nichts Besseres damit anstellen konnte, als zu pissen. Vielleicht wusste sie ja Bescheid. Vielleicht kam sie ja aus einem anderen Grund.

Die Witwe Paris besuchte die alte Sklavin ein-, zweimal die Woche. Nach einem Monat brachte sie der Alten Geschenke mit: Haarbänder, einen Gewürzkuchen und einen schwarzen Hahn.

»Mama Zouzou«, sagte die junge Frau, »es ist Zeit, dass du mich alles lehrst, was du weißt.«

»Ja«, sagte Mama Zouzou, die gleich wusste, woher der Wind wehte. Zumal die Witwe Paris ihr auch gebeichtet hatte, dass sie mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen geboren worden sei, was nichts anderes bedeute, als dass sie eigentlich ein Zwilling sei, den anderen Zwilling aber im Mutterleib getötet habe. Was blieb Mama Zouzou da anderes übrig?

Sie lehrte die Frau, dass zwei Muskatnüsse, an einer Schnur um den Hals getragen, bis die Schnur riss, Herzgeräusche heilten, während eine Taube, die nie geflogen war, aufgeschnitten auf den Kopf des Leidenden gelegt, fiebersenkend wirkte. Sie zeigte ihr, wie ein Wunschbeutel hergestellt wurde, ein kleiner Lederbeutel, der dreizehn Pennys, neun Baumwollsamen und die Borsten eines schwarzen Schweins enthielt, und wie man ihn rieb, um Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen.

Die Witwe Paris merkte sich alles, was Mama Zouzou ihr erzählte. An den Göttern dagegen zeigte sie wenig Interesse. Eigentlich gar keines. Sie war lediglich an den praktischen Dingen interessiert. Mit Vergnügen lernte sie, dass, wenn man einen lebenden Frosch in Honig tauchte und ihn in ein Ameisennest legte, man anschließend, sobald alles sauber abgenagt war, bei näherer Untersuchung feststellen konnte, dass ein flacher herzförmiger Knochen und ein Knochen mit einem Haken übrig blieben: Der Knochen mit dem Haken musste in ein Kleidungsstück der Person gehängt werden, deren Liebe man erringen wollte, während der herzförmige Knochen sicher zu verwahren war (wenn er verloren ging, würde die geliebte Person sich wie ein wütender Hund gegen einen wenden). Unweigerlich würde einem, wenn man so verfuhr, die geliebte Person verfallen.

Sie lernte, dass getrocknetes Schlangenpulver, in den Gesichtspuder einer Feindin gemischt, Blindheit hervorrief, und ebenso, dass eine Feindin dazu veranlasst werden konnte, sich zu ertränken, indem man ein Stück ihrer Unterwäsche entwendete und es, mit der Innenseite nach außen, um Mitternacht unter einem Ziegelstein begrub.

Mama Zouzou zeigte der Witwe Paris die Weltwunderwurzel, die großen und kleinen Wurzeln von John the Conqueror, sie zeigte ihr Drachenblut und Baldrian und Fingerkraut. Sie zeigte ihr, wie man Sieche-dahin-Tee, Folge-mir-Wasser und Faire-Shingo-Wasser zubereitet.

All diese Dinge und noch manches mehr zeigte Mama Zouzou der Witwe Paris. Dennoch war es eine Enttäuschung für die alte Frau. Sie gab sich alle Mühe, ihr die verborgenen Wahrheiten, die tiefe Weisheit, zu vermitteln, ihr von Papa ’Legba zu berichten, von Mawu, von der voudon-Schlange Aido-Hwedo und all den anderen, aber die Witwe Paris (ich werde Ihnen jetzt den Namen verraten, mit dem sie geboren wurde und den sie später berühmt machte: Es war Marie Laveau. Aber es handelt sich nicht um die große Marie Laveau, die, von der Sie gehört haben; unsere war ihre Mutter, die schließlich zur Witwe Glapion wurde) zeigte kein Interesse für die Götter eines fernen Landes. War Santo Domingo ein üppiger schwarzer Boden gewesen, in dem die afrikanischen Götter gedeihen konnten, so war dieses Land mit seinem Mais und seinen Melonen, seinen Langusten und seiner Baumwolle, karg und unfruchtbar.

»Sie verlangt nicht nach Wissen«, beklagte sich Mama Zouzou bei Clementine, ihrer Vertrauten, die für viele Haushalte in jenem Bezirk die Wäsche, insbesondere Vorhänge und Tagesdecken, bei sich zu Hause wusch. Clementine hatte ein Blütenmeer von Brandspuren auf den Wangen, und eines ihrer Kinder hatte tödliche Verbrühungen erlitten, als einmal einer der Waschkessel umgestürzt war.

»Dann lehre sie halt nicht«, sagt Clementine.

»Ich lehre sie, aber sie erkennt nicht, was wertvoll ist – alles was sie sieht, ist das, was sie damit machen kann. Ich gebe ihr Diamanten, aber sie will nur hübsches Glas. Ich gebe ihr eine Korbflasche des besten Rotweins, sie aber trinkt Flusswasser. Ich gebe ihr Wachteln, aber sie zieht es vor, Ratten zu essen.«

»Und warum machst du dann weiter?«, fragt Clementine.

Mama Zouzou zuckt mit ihren dünnen Schultern, wovon ihr verkrüppelter Arm ins Zittern gerät.

Sie kann nicht antworten. Sie könnte sagen, dass sie lehrt, weil sie dankbar ist, am Leben zu sein, und das ist sie auch: Sie hat zu viele Menschen sterben sehen. Sie könnte sagen, sie träume davon, dass die Sklaven sich eines Tages erheben würden, wie sie es in LaPlace taten (wo sie allerdings besiegt wurden), aber in ihrem Herzen weiß sie, dass sie ohne die Götter Afrikas, ohne die Gunst ’Legbas und Mawus, ihre weißen Herren niemals überwinden, niemals in ihre Heimat zurückkehren werden.

Als sie, in jener furchtbaren Nacht fast zwanzig Jahre zuvor, erwachte und den kalten Stahl zwischen ihren Rippen fühlte, war das der Moment gewesen, in dem Mama Zouzous Leben zu Ende ging. Jetzt war sie jemand, der nicht lebte, sondern einfach nur hasste. Hätte man sie zu diesem Hass befragt, wäre sie nicht in der Lage gewesen, von dem zwölfjährigen Mädchen auf dem stinkenden Schiff zu berichten: Diese Wunde war verschorft – es hatte zu viele Auspeitschungen und Prügel gegeben, zu viele Nächte in Ketten, zu viele Abschiede, zu viel Leid. Von ihrem Sohn aber hätte sie berichten können, davon, wie ihm der Daumen abgeschnitten worden war, als ihr Herr entdeckte, dass der Junge lesen und schreiben konnte. Sie hätte von ihrer Tochter, zwölf Jahre alt und von einem Aufseher bereits im achten Monat schwanger, berichten können, davon, wie man, den schwangeren Bauch des Mädchens aufzunehmen, ein Loch in die rote Erde grub und sie dann auspeitschte, bis ihr der Rücken blutete. Trotz des mit Sorgfalt gegrabenen Loches hatte ihre Tochter an jenem Sonntagmorgen, als all die Weißen in der Kirche waren, ihr Kind und ihr Leben verloren …

Zu viel Leid.

»Huldige ihnen«, sagte Mama Zouzou im Bayou zu der jungen Witwe Paris, eine Stunde nach Mitternacht. Sie waren beide bis zur Taille nackt, schwitzten in der feuchten Nachtluft, und der weiße Mondschein betonte ihre dunkle Haut.

Jacques, der Mann der Witwe Paris (dessen Tod drei Jahre später einige bemerkenswerte Züge tragen sollte), hatte Marie ein wenig über die Götter von Santo Domingo erzählt, aber das interessierte sie nicht. Die Macht kam von den Ritualen, nicht von den Göttern.

Gemeinsam sangen Mama Zouzou und die Witwe Paris in den Sümpfen die Totenklage, sangen leise und stampften mit den Füßen. Sie beschworen die schwarzen Schlangen, die freie Farbige und die Sklavin mit dem verkrüppelten Arm.

»Es geht um mehr als nur: Du hast Erfolg, dein Feind hat Misserfolg«, sagte Mama Zouzou.

Viele der zeremoniellen Worte, Worte, die sie einst gekannt, die auch ihr Bruder gekannt hatte, waren ihrem Gedächtnis entfallen. Sie sagte der hübschen Marie Laveau, dass es auf die Worte nicht ankomme, sondern nur auf die Melodie und auf den Rhythmus, und dann hat sie dort im Sumpf, während sie singend und Takt schlagend die schwarzen Schlangen beschwört, eine seltsame Vision. Sie sieht die Taktschläge der Lieder, sieht den Takt der Calinda, den Takt der Bamboula, all die Rhythmen Äquatorialafrikas, die sich langsam über dieses Mitternachtsland verbreiten, bis alles zum Takt jener alten Götter zittert und schwingt, deren Reich sie verlassen musste. Aber selbst das, so wird ihr, dort in den Sümpfen, auf gewisse Weise klar, selbst das wird nicht ausreichen.

Sie wendet sich der hübschen Marie zu und sieht durch Maries Augen sich selbst, eine schwarzhäutige alte Frau, das Gesicht faltig, der knochige Arm steif herabhängend, die Augen einer Person zugehörig, die gesehen hat, wie ihre Kinder mit Hunden um Zugang zu deren Futtertrog gekämpft haben. Sie erblickte sich selbst, und da sah sie zum ersten Mal auch den Abscheu und die Furcht, die die jüngere Frau ihr gegenüber empfand.

Dann lachte sie, ging in die Hocke und packte mit ihrer gesunden Hand eine schwarze Schlange, die so lang wie ein junger Baum und so dick wie ein Schiffstau war.

»Hier«, sagte sie. »Das wird unser voudon sein.«

Sie ließ die gefügige Schlange in einen Korb fallen, den die ängstliche Marie in der Hand hielt.

Und dann wurde sie, im Mondschein, ein letztes Mal vom zweiten Gesicht ergriffen, und sie sah ihren Bruder Agasu. Es war nicht der zwölfjährige Junge, den sie zuletzt auf dem Marktplatz von Bridgeport gesehen hatte, sondern ein riesiger Mann, kahlköpfig und mit zerbrochenen Zähnen grinsend, der Rücken von tiefen Narben überzogen. In einer Hand hielt er eine Machete. Der rechte Arm war nur ein Stummel.

Sie streckte ihre gesunde Linke aus.

»Bleib, bleib ein wenig«, flüsterte sie. »Ich werde da sein. Bald werde ich bei dir sein.«

Marie Paris aber dachte, die alte Frau spräche zu ihr.

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