15

Hang me, O hang me, and I’ll be dead and gone,

Hang me, O hang me, and I’ll be dead and gone,

I wouldn’t mind the hangin’, it’s bein’ gone so long,

It’s lying in the grave so long.

– altes Lied


Am ersten Tag, als Shadow am Baum hing, empfand er zunächst nur Unbehagen, das allmählich, schleichend, in Schmerz überging, in Furcht auch und in ein Gefühl, das irgendwo zwischen Langeweile und Apathie angesiedelt war: ein graues Hinnehmen, Warten.

Er hing.

Es war windstill.

Nach einigen Stunden platzten Farben über sein Gesichtsfeld, flüchtige Blüten in Purpurrot und Gold, in denen eigenes Leben pulsierte und vibrierte.

Der Schmerz in Armen und Beinen wurde nach und nach unerträglich. Wenn er sie entspannte, wenn er den Körper durchhängen ließ, nach vorn plumpste, dann straffte sich das Seil um seinen Hals, und die Welt begann zu flirren und zu schwimmen. Also drückte er sich zurück gegen den Baumstamm. Er fühlte, wie das Herz in der Brust arbeitete, ein stampfendes, arrhythmisches Trommeln, mit dem es das Blut durch ihn hindurchpumpte …

Smaragde, Saphire und Rubine nahmen vor seinen Augen Form an und zerplatzten wieder. Sein Atem ging flach und schnappend. Die Borke des Baums scheuerte am Rücken. Die Kälte des Nachmittags ließ ihn in seiner Nacktheit erzittern, und er bekam eine Gänsehaut.

Es ist leicht, sagte jemand in seinem Hinterkopf. Ein Trick ist dabei. Du tust es oder du stirbst.

Das war ihm ein angenehmer Gedanke, und er sagte sich den Spruch, teils Mantra, teils Kinderreim, ein ums andere Mal vor, rasselte ihn zum Trommelschlag seines Herzens herunter.


Es ist leicht, ein Trick ist dabei, du tust es oder stirbst.

Es ist leicht, ein Trick ist dabei, du tust es oder stirbst.

Es ist leicht, ein Trick ist dabei, du tust es oder stirbst.

Es ist leicht, ein Trick ist dabei, du tust es oder stirbst.


Die Zeit verging. Das Skandieren ging weiter. Er konnte es hören. Jemand wiederholte die Worte und hörte nur auf, wenn Shadow der Mund austrocknete, wenn seine Zunge nur noch trockene Haut im Mund war. Er stieß sich mit den Füßen vom Stamm weg nach oben und versuchte damit, sein Gewicht auf eine Weise zu stützen, die es ihm erlaubte, die Lunge mit Luft zu füllen.

Er atmete, bis er sich nicht mehr halten konnte, dann ließ er sich zurück in die Fesseln fallen und hing wie zuvor weiter am Baum.

Als das Klappern begann – ein wütendes, lachendes Klappergeräusch –, machte er in der Annahme, dass es von seinen Zähnen herrührte, den Mund zu, aber das Geräusch blieb. Dann ist es wohl die Welt, die mich auslacht, dachte Shadow. Er ließ den Kopf zur Seite hängen. Irgendetwas lief neben ihm am Baumstamm herunter und verharrte dann neben seinem Kopf. Es krakeelte ihm ins Ohr, ein einzelnes Wort, das sehr nach »Ratatöskr« klang. Shadow versuchte es nachzusprechen, aber die Zunge blieb ihm am oberen Gaumen kleben. Er wandte langsam den Kopf und erblickte erstaunt das graubraune Gesicht und die spitzen Ohren eines Eichhörnchens.

In Nahaufnahme, stellte er da fest, wirkten Eichhörnchen sehr viel weniger niedlich als aus größerer Entfernung. Dieses Geschöpf sah rattenartig und gefährlich aus, nicht süß und bezaubernd. Und die Zähne wirkten sehr scharf. Er konnte nur hoffen, dass es ihn weder als Bedrohung noch als Nahrungsquelle ansah. Seines Wissens waren Eichhörnchen zwar keine Fleischfresser, aber andererseits hatte sich in letzter Zeit ja so vieles, was er nicht für möglich gehalten hätte, als dermaßen …

Er schlief.

In den folgenden Stunden wurde er mehrmals durch die Schmerzen geweckt. Sie zogen ihn aus einem dunklen Traum, in dem tote Kinder sich erhoben und zu ihm kamen; ihre Augen waren abblätternde, geschwollene Perlen, und sie beschuldigten ihn, sie im Stich gelassen zu haben. Eine Spinne kroch ihm übers Gesicht, und er erwachte. Er schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben, dann kehrte er zu seinen Träumen zurück – und jetzt war da ein elefantenköpfiger, schmerbäuchiger Mann, ein Stoßzahn war ihm abgebrochen, und er kam auf dem Rücken einer riesigen Maus auf ihn zugeritten. Der elefantenköpfige Mann wand den Rüssel in Shadows Richtung und sagte: »Hättest du mich angerufen, bevor du diese Reise angetreten hast, wären dir vielleicht einige deiner Probleme erspart geblieben.« Dann nahm der Elefant die Maus, die auf eine Weise, deren Ursache Shadow verschlossen blieb, jetzt winzig war, ohne dass sich ihre Größe im Geringsten verändert hätte, und wechselte sie von einer Hand in die andere, wickelte die Finger um das kleine Wesen, während dieses von einem Handteller in den nächsten hüpfte, und Shadow war überhaupt nicht überrascht, als der elefantenköpfige Gott zu guter Letzt alle vier Hände öffnete, sie aber alle leer waren. In einer sonderbaren, flüssigen Bewegung verschränkte er sämtliche Arme nacheinander und sah Shadow mit unergründlichem Gesichtsausdruck an.

»Sie wird versenkt«, sagte Shadow zu dem Elefantenmann. Er hatte genau aufgepasst, wie der flatternde Schwanz verschwunden war.

Der Elefantenmann nickte mit seinem riesigen Kopf und sagte: »Ja, sie wird versenkt. Du wirst vieles vergessen. Du wirst vieles weggeben. Du wirst vieles verlieren. Doch verliere nie das hier«, und dann begann der Regen, und Shadow fiel aus tiefem Schlaf in zitterndes, durchnässtes Wachen. Das Zittern wurde so intensiv, dass Shadow Angst bekam: Er zitterte heftiger, als er es je für möglich gehalten hätte, in einer Serie von krampfartigen Anfällen, die sich gegenseitig verstärkten. Er versuchte es zu unterdrücken, aber er zitterte zähneklappernd weiter, alle Gliedmaßen zuckten und schlugen aus, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Auch war echter Schmerz damit verbunden, ein tiefer, messerstichartiger Schmerz, der ihn am ganzen Körper mit winzigen unsichtbaren Wunden übersäte, ein vertrauter Schmerz, aber unerträglich.


Er öffnete den Mund, um den Regen aufzufangen, der sowohl die gesprungenen Lippen und die trockene Zunge als auch die Seile, die ihn mit dem Baumstamm verbanden, befeuchtete. Ein Blitz, so hell, dass er sich wie ein Schlag auf die Augen anfühlte, verwandelte die Welt in ein eindringliches Panorama aus Bild und Nachbild. Dann folgte der Donner, ein Krachen, ein Poltern und ein Grollen, und als das Echo kam, verdoppelte der Regen seine Kraft. Im nächtlichen Regen ließ das Zittern nach, die Messerklingen zogen sich zurück. Shadow fühlte die Kälte nicht mehr, oder vielmehr, er fühlte nur noch die Kälte, aber sie war nun ein Teil seiner selbst geworden.

Shadow hing am Baum, während die Blitze über den Himmel zuckten und der Donner sich zu einem allgegenwärtigen Rumpeln abschwächte, mit nur gelegentlichem Krachen, das wie weit entfernte Bomben in der Nacht explodierte. Der Wind zerrte an Shadow, wollte ihn vom Baum wegziehen, schüttelte ihn durch und fuhr ihm bis in die Knochen; und Shadow wusste im tiefsten Innern, dass der wahre Sturm tatsächlich begonnen hatte.

Eine seltsame Freude stieg da in ihm auf, und er fing an zu lachen, während der Regen seine nackte Haut wusch und die Blitze zuckten und der Donner so laut grollte, dass er kaum das eigene Lachen hören konnte. Er frohlockte.

Er war lebendig. Nie hatte er dergleichen gefühlt. Sein ganzes Leben lang nicht.

Falls er tatsächlich sterben sollte, dachte er, falls er jetzt an diesem Baum starb, dann wäre es das für diesen einen vollkommenen, wahnsinnigen Moment wert.

»He!«, rief er dem Sturm entgegen. »He! Ich bin es! Ich bin hier!«

Er fing zwischen seiner nackten Schulter und dem Baumstamm etwas Wasser auf, dann bog er den Kopf herum, um von dem eingefangenen Regenwasser zu saugen und zu schlürfen, und er trank immer weiter und lachte, lachte vor Freude und Vergnügen, nicht vor Wahnsinn, lachte, bis er nicht mehr konnte, bis er zu erschöpft war, um auch nur ein Glied noch rühren zu können.

Unter dem Baum hatte der Regen das auf der Erde liegende Laken durchsichtig werden lassen, es hochgehoben und verschoben, sodass Shadow nun sowohl Wednesdays tote, wächserne und blasse Hand als auch den Umriss des Kopfes erkennen konnte; er musste an das Turiner Grabtuch denken und erinnerte sich an die aufgeschnittene Frau auf Jacquels Tisch in Cairo, und dann, wie um der Kälte eine Nase zu drehen, stellte er fest, dass ihm warm und behaglich war, und die Borke des Baums fühlte sich weich an, und so schlief er wieder ein, und falls er irgendwelche Träume hatte, so konnte er sich diesmal an nichts erinnern.


Am nächsten Morgen war der Schmerz kein lokaler mehr, nicht mehr auf die Stellen beschränkt, wo die Seile ins Fleisch schnitten oder die Borke an der Haut kratzte. Jetzt war der Schmerz überall.

Er hatte Hunger und fühlte tief drinnen eine stechende Leere. Der Kopf pochte. Manchmal stellte er sich vor, er hätte aufgehört zu atmen, sein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Dann hielt er den Atem an, bis ihm das Herz in den Ohren hämmerte und er gezwungen war, wie ein an die Wasseroberfläche stoßender Taucher nach Luft zu schnappen.

Es schien ihm, als reichte der Baum vom Himmel bis zur Hölle und er selbst hätte seit Ewigkeiten dort gehangen. Ein brauner Falke umkreiste den Baum, landete auf einem zerbrochenen Ast in seiner Nähe und flog wieder nach Westen hin davon.

Der Sturm, der beim Morgengrauen nachgelassen hatte, kehrte im Verlauf des Tages allmählich wieder. Graue, aufgewühlte Wolken erstreckten sich über den ganzen Horizont; es begann zu nieseln. Die Leiche unter dem Baum schien in ihrem fleckigen Motelleichentuch weniger geworden zu sein, in sich zerbröselt wie ein im Regen liegen gelassener Zuckerkuchen.

Manchmal fror Shadow, manchmal war ihm heiß.

Als der Donner wieder einsetzte, bildete er sich ein, Trommeln zu hören, Kesselpauken im Donner und im Pochen seines Herzens, ob im Kopf oder außerhalb, das spielte keine Rolle.

Er nahm den Schmerz in Farben wahr: das Rot des Neonschilds einer Bar, das Grün einer Ampel an einem feuchten Abend, das Blau eines leeren Videobildschirms.

Das Eichhörnchen sprang ihm von der Borke des Baumstamms auf die Schulter und grub ihm dabei scharfe Krallen in die Haut. »Ratatöskr!«, schnatterte es. Mit der Nasenspitze berührte es Shadows Lippen. »Ratatöskr.« Es sprang auf den Baum zurück.

Ein brennendes Kribbeln überzog seine Haut und bedeckte schließlich den ganzen Körper. Das Gefühl war unerträglich.

Sein Leben lag unter ihm ausgebreitet auf dem Bettlaken-Leichentuch: buchstäblich ausgebreitet wie die Gegenstände bei einem Dada-Picknick, wie ein surrealistisches Tableau: Er konnte den verwirrten Blick seiner Mutter sehen, die amerikanische Botschaft in Norwegen, Lauras Augen bei ihrer Hochzeit …

Er kicherte durch trockene Lippen.

»Was gibt’s denn da zu kichern, Hündchen?«, fragte Laura.

»Unsere Hochzeit«, sagte er. »Du hast den Organisten bestochen, dass er statt des Hochzeitsmarsches die Titelmelodie von Scooby Doo spielt, während du zum Traualtar heraufgeschritten kommst. Erinnerst du dich?«

»Natürlich erinnere ich mich, Liebling. ›I would have gotten away with it, if it wasn’t for those meddling kids‹.«

»Ich habe dich so geliebt«, sagte Shadow.

Er konnte ihre Lippen auf seinen fühlen, und sie waren warm und feucht und lebendig, nicht kalt und tot, daher wusste er, dass dies eine weitere Halluzination war. »Du bist gar nicht hier, oder?«, sagte er.

»Nein«, sagte sie. »Aber du rufst mich jetzt zum letzten Mal. Und ich komme.«

Das Atmen fiel ihm jetzt schwerer. Die ins Fleisch schneidenden Seile waren ein abstrakter Begriff wie der freie Wille oder die Ewigkeit.

»Schlaf, mein Hündchen«, sagte sie, allerdings mochte es auch die eigene Stimme sein, die er da hörte, jedenfalls schlief er wieder ein.


Die Sonne hing wie eine Zinnmünze an einem bleiernen Himmel. Shadow war wach, wie ihm nach und nach bewusst wurde, und er fror. Der Teil von ihm, der das zur Kenntnis nahm, schien jedoch weit weg von seiner übrigen Person zu sein. Irgendwo aus der Ferne nahm er wahr, dass ihm Mund und Kehle brannten, schmerzhaft, rissig. Manchmal sah er am hellen Tage Sterne fallen; manchmal sah er riesige Vögel, so groß wie Lieferwagen, auf sich zufliegen. Es kam aber nichts bei ihm an; nichts berührte ihn.

»Ratatöskr. Ratatöskr.« Das Schnattern war zum Schimpfen geworden.

Schwer landete das Eichhörnchen mit seinen scharfen Krallen auf seiner Schulter und starrte ihm ins Gesicht. Er fragte sich, ob er wieder halluzinierte: Das Tier hielt eine kleine Walnussschale wie eine Puppenhaustasse zwischen den Vorderpfoten. Es drückte Shadow die Schale an die Lippen. Shadow fühlte das Wasser, und unwillkürlich saugte er es an, trank aus der winzigen Tasse. Er ließ das Wasser über die gesprungenen Lippen, die trockene Zunge rinnen. Er befeuchtete den Mund damit, und den Rest des Wassers, eine Winzigkeit nur, schluckte er hinunter.

Das Eichhörnchen sprang zurück auf den Baum und lief daran hinunter auf die Wurzeln zu, und dann, Sekunden oder Minuten oder Stunden später (Shadow konnte das nicht entscheiden, weil er alle Uhren in seinem Innern zerbrochen fand, und ihr Getriebe, ihre Zahnräder und Federn, waren da unten im sich windenden Gras ein einziges Durcheinander), kletterte das Eichhörnchen vorsichtig mit der Walnusstasse zurück, und Shadow trank das Wasser, das es ihm brachte.

Der schlammige Eisengeschmack des Wassers machte sich im ganzen Mund breit, es kühlte aber die ausgedörrte Kehle. Es linderte seine Erschöpfung und seinen Wahnsinn.

Nach der dritten Walnussschale war er nicht mehr durstig.

Jetzt begann er, sich gegen die Fesseln zu wehren, zerrte an den Seilen, schlug um sich, versuchte sich zu befreien, nach unten wegzukommen. Er stöhnte.

Die Knoten waren fest. Die Seile waren stark, sie hielten, und schon bald hatte er sich wieder einmal verausgabt.


In seinem Delirium wurde Shadow der Baum selbst. Seine Wurzeln reichten bis tief in den Lehm der Erde, tief hinunter in die Zeit, in die verborgenen Quellen. Er fühlte die Quelle der Frau namens Urd, soll heißen: Vergangenheit. Sie war gewaltig groß, eine Riesin, ein unterirdischer Berg von einer Frau, und die Quellen, die sie hütete, waren die Brunnen der Zeit. Andere Wurzeln strebten anderen Orten zu. Einige davon waren geheim. Wenn er jetzt durstig war, zog er Wasser aus den Wurzeln, zog sie herauf in den Leib seines Daseins.

Er hatte einhundert Arme, die sich zu hunderttausend Fingern verzweigten, und alle diese Finger langten hinauf in den Himmel. Der Himmel lastete ihm schwer auf den Schultern.

Es war nicht so, dass das Unbehagen sich verringert hätte, aber der Schmerz gehörte zu der Gestalt, die am Baum hing, und nicht zum Baum selbst. In seinem Wahnsinn war Shadow jetzt so viel mehr als der Mann am Baum. Er war der Baum, und er war der Wind, der an den kahlen Ästen des Weltenbaums rüttelte; er war der graue Himmel und die zerzausten Wolken; er war das von den tiefsten Wurzeln bis zu den höchsten Zweigen rennende Eichhörnchen Ratatöskr; er war der Falke mit dem irren Blick, der auf einem zerbrochenen Ast hoch oben im Baum saß und die Welt überschaute; er war der Wurm im Herzen des Baums.

Die Sterne kreisten, und mit seinen einhundert Händen strich er über die funkelnden Sterne, palmierte, vertauschte sie, ließ sie verschwinden …


Ein Moment der Klarheit in all dem Schmerz und Wahnsinn: Shadow spürte, wie er auftauchte. Er wusste, dass es nicht für lange sein würde. Die Morgensonne blendete ihn. Er schloss die Augen, wünschte, er könnte sie vor dem Licht schützen.

Der Weg war nicht mehr weit. Auch das wusste er.

Als er die Augen aufschlug, sah Shadow, dass da ein junger Mann bei ihm im Baum war.

Seine Haut war dunkelbraun. Er hatte eine hohe Stirn und dunkles, dicht gelocktes Haar. Er saß auf einem Ast hoch über ihm. Wenn er den Hals reckte, konnte Shadow ihn deutlich sehen. Und der Mann war verrückt. Das erkannte Shadow auf einen Blick.

»Du bist nackt«, vertraute der Verrückte ihm mit brüchiger Stimme an. »Auch ich bin nackt.«

»Das sehe ich«, krächzte Shadow.

Der Verrückte sah ihn an, dann nickte er und bog den Kopf nach unten und zur Seite, als wollte er den steifen Hals dehnen. Schließlich sagte er: »Kennst du mich?«

»Nein«, sagte Shadow.

»Aber ich kenne dich. Ich habe dich in Cairo beobachtet. Auch später habe ich dich beobachtet. Meine Schwester mag dich.«

»Du bist …« Ihm fiel der Name nicht ein. Frisst überfahrene Tiere. Ja. »Du bist Horus.«

Der Verrückte nickte. »Horus«, sagte er. »Ich bin der Falke des Morgens, der Greifvogel des Nachmittags. Ich bin die Sonne, so wie du. Und ich kenne den wahren Namen von Ra. Meine Mutter hat ihn mir verraten.«

»Das ist großartig«, sagte Shadow höflich.

Der Verrückte starrte, ohne etwas zu sagen, aufmerksam auf den Boden unter ihnen. Dann ließ er sich vom Baum fallen.

Ein Falke fiel wie ein Stein zu Boden, wechselte aus dem Sturz in einen Sturzflug über, schlug heftig mit den Flügeln und flog, ein kleines Kaninchen in den Klauen tragend, zurück zum Baum. Er landete auf einem Ast, jetzt näher bei Shadow.

»Hast du Hunger?«, fragte der Verrückte.

»Nein«, sagte Shadow. »Wahrscheinlich sollte ich, aber ich habe keinen.«

»Aber ich habe Hunger«, sagte der Verrückte. Er aß das Kaninchen auf hastige Weise, riss es auseinander, saugte und zerrte daran. Als er damit fertig war, ließ er die abgenagten Knochen und das Fell auf den Boden fallen. Er ging auf dem Ast entlang, bis er nur noch eine Armlänge von Shadow entfernt war. Er nahm Shadow ganz unbefangen unter die Lupe, betrachtete ihn mit Sorgfalt und Vorsicht von Kopf bis Fuß. Er hatte Kaninchenblut auf dem Kinn und auf der Brust, und er wischte es mit dem Handrücken ab.

Shadow hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »He«, sagte er also.

»He«, sagte der Verrückte. Er richtete sich auf, wandte sich von Shadow ab und schickte einen dunklen Urinstrahl hinunter auf die Wiese. Es dauerte ziemlich lange. Als er damit fertig war, hockte er sich wieder auf den Ast.

»Wie wirst du genannt?«, fragte Horus.

»Shadow«, sagte Shadow.

Der Verrückte nickte. »Du bist der Schatten, ich bin das Licht«, sagte er. »Alles was ist, wirft einen Schatten.« Dann sagte er: »Sie werden bald kämpfen. Ich habe beobachtet, wie die Ersten eingetroffen sind.«

Und dann sagte der Verrückte: »Du bist dabei zu sterben. Ist es nicht so?«

Aber Shadow konnte nicht mehr sprechen. Ein Falke flog auf, kreiste langsam aufwärts und schwang sich mit den Aufwinden in den Morgen hinein.


Mondschein.

Ein Husten schüttelte Shadow am ganzen Körper, ein quälender Husten, der in Brust und Hals stach. Er schnappte nach Luft.

»He, Hündchen«, rief eine Stimme, die er kannte.

Er sah nach unten.

Das Mondlicht schien weiß durch die Zweige, hell wie der Tag, und in dem Mondlicht, unter ihm auf dem Boden, stand eine Frau, ihr Gesicht ein blasses Oval. Der Wind rauschte in den Zweigen.

»Hi, Hündchen«, sagte sie.

Er versuchte zu sprechen, aber stattdessen hustete er, lange und tief aus der Brust.

»Na ja«, sagte sie hilfreich, »das klingt aber gar nicht gut.«

»Hallo, Laura«, krächzte er.

Sie sah mit toten Augen zu ihm herauf und lächelte.

»Wie hast du mich gefunden?«, fragte er.

Eine Zeit lang stand sie schweigend im Mondschein da. Dann sagte sie: »Du bist das Nächste zum Leben, was ich habe. Du bist das Einzige, was mir geblieben ist, das Einzige, was nicht düster und schal und grau ist. Man könnte mir die Augen verbinden und mich im tiefsten Ozean versenken, aber ich würde dich doch finden. Ich könnte hundert Meilen unter der Erde vergraben sein und wüsste doch, wo du bist.«

Er sah hinunter zu der Frau im Mondschein. Die Tränen brannten ihm in den Augen.

»Ich schneide dich ab«, sagte sie nach einer Weile. »Ich verbringe reichlich viel Zeit damit, dich aus Zwickmühlen zu befreien, findest du nicht?«

Er hustete wieder. »Nein, lass mich dran. Ich muss das tun.«

Sie sah zu ihm herauf und schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt«, sagte sie. »Du stirbst mir da oben. Oder du wirst zum Krüppel, wenn du es nicht schon bist.«

»Vielleicht«, sagte er. »Aber ich bin lebendig.«

»Ja«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Das bist du wohl.«

»Du hast mir davon erzählt«, sagte er. »Auf dem Friedhof.«

»Es kommt mir vor, als wäre das schon ewig her, Hündchen«, sagte sie. Und dann: »Hier fühle ich mich besser. Es schmerzt weniger. Weißt du, was ich meine? Aber ich bin so trocken.«

Der Wind ließ nach, und jetzt konnte er sie riechen: ein Gestank von vergammeltem Fleisch, Krankheit und Verfall, durchdringend und unangenehm.

»Ich habe meinen Job verloren«, sagte sie. »Es war Nachtarbeit, aber angeblich hätten sich die Leute beschwert. Ich hab ihnen gesagt, ich sei krank, aber sie meinten, das wäre ihnen egal. Ich hab so einen Durst.«

»Die Frauen«, sagte er ihr. »Die haben Wasser. Das Haus.«

»Hündchen …« Sie klang ängstlich.

»Sag ihnen … Sag ihnen, ich hätte gesagt, sie sollen dir Wasser geben.«

Das weiße Gesicht starrte zu ihm herauf. »Ich sollte gehen«, sagte sie. Dann hustete sie trocken, verzog das Gesicht und spuckte irgendeine weiße Masse aufs Gras. Die weiße Masse löste sich auf, als sie auf dem Boden auftraf, und schlängelte sich davon.

Es war fast unmöglich zu atmen. Ihm lastete ein schwerer Druck auf der Brust, und mit dem Kopf schwankte er hin und her.

»Bleib«, sagte er, hauchte es vielmehr, nicht sicher, ob sie ihn überhaupt hören konnte. »Bitte geh nicht.« Er fing wieder zu husten an. »Bleib über Nacht.«

»Ich werde mich ein bisschen hier aufhalten«, antwortete sie. Und wie eine Mutter zu ihrem Kind sagte sie: »Dir wird nichts passieren, solange ich hier bin. Weißt du das?«

Shadow hustete. Er schloss die Augen – nur für einen Augenblick, dachte er, aber als er sie wieder aufschlug, war der Mond untergegangen, und er war allein.


Ein Krachen und Pochen im Kopf, heftiger als Migräneschmerz, heftiger als aller Schmerz. Alles löste sich in winzige Schmetterlinge auf, die ihn wie ein vielfarbiger Staubwirbel umkreisten und sich dann in die Nacht hinaus verflüchtigten.

Das weiße Bettlaken, das um den Leichnam unter dem Baum gewickelt war, flatterte geräuschvoll im Morgenwind.

Das Pochen beruhigte sich. Alles wurde langsamer. Es war nichts mehr da, was ihn veranlasste weiterzuatmen. Das Herz hörte in der Brust auf zu schlagen.

Die Dunkelheit, in die er diesmal eintrat, war tief, von einem einzelnen Stern erleuchtet, und sie war endgültig.

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