Ich trat durch die gepanzerte Tür.
Dahinter lag ein Korridor mit blanken Stahlwänden, der jeden etwa noch vorhandenen Eindruck, Idlewild sei ein natürlicher Ort und kein von Menschenhand geschaffener Rotationskörper im Vakuum, sofort auslöschte. An Stelle von rauschenden Miniatur-Wasserfällen hörte man das Surren von Luftumwälzern und Stromgeneratoren. In der Luft hing ein medizinischer Geruch, der einen Augenblick zuvor noch nicht da gewesen war.
»Mister Mirabel? Wir hörten, dass Sie uns verlassen wollen. Hier entlang, bitte.«
Zwei Eisbettler nahmen mich in Empfang. Der erste winkte mir, ihm durch den Korridor zu folgen. Federnden Schrittes gingen wir weiter. Am Ende befand sich ein Fahrstuhl, der uns zunächst ein kurzes Stück senkrecht nach oben zur wirklichen Rotationsachse von Idlewild brachte. Dann folgte eine weitaus längere Fahrt zum wahren Endpunkt des ausrangierten Schiffsrumpfs, der diese Hälfte der Station bildete. Die Fahrt verlief schweigend. Ich hatte nichts dagegen. Vermutlich hatten die Eisbettler längst alle denkbaren Gesprächsthemen mit den Reanimierten erschöpft; welche Frage sie mir auch stellten, sie hätten die Antwort schon hundert Mal gehört. Aber angenommen, sie hätten mich nach meinen Plänen gefragt, und ich hätte ihnen eine ehrliche Auskunft gegeben?
›Meine Pläne? Als Nächstes steht bei mir ein Mord auf dem Programm.‹
Ich hätte es versuchen sollen, nur um ihre Gesichter zu sehen.
Aber wahrscheinlich hätten sie mich nur für einen von den Klienten gehalten, die unter Wahnvorstellungen litten und das Hospiz zu früh verließen.
Bald glitt der Fahrstuhl durch eine gläserne Röhre an der Außenseite von Idlewild. Hier war die Schwerkraft so gut wie aufgehoben, deshalb mussten wir uns mit Händen und Füßen an gepolsterten Griffen verankern, die in die Wandverkleidung eingenäht waren. Die Eisbettler schafften das ohne Weiteres und amüsierten sich insgeheim über meine unbeholfenen Versuche, mich irgendwo zu festzuhalten.
Aber die Aussicht lohnte die Mühe.
Von hier war der parkende Schwarm, den Amelia mir zwei Tage zuvor gezeigt hatte — jene riesige Schule von Raumschiffen, jedes so groß wie Idlewild, aber in der Menge reduziert auf winzige scharfe Splitter —, deutlicher zu erkennen. Hin und wieder erstrahlte die Schar für einen Moment in violettem Licht, wenn eines der Schiffe seine Rumpfdüsen zündete und — höflichkeitshalber, um geschickt seine Position zu verbessern oder einer drohenden Kollision auszuweichen — seine träge Bahn um die anderen Schiffe korrigierte. Die Lichter ferner Schiffe waren immer wieder von einer herzzerreißenden Schönheit, dachte ich. Sie symbolisierten die Errungenschaften der Menschheit und zugleich die riesigen Weiten, die diese Errungenschaften so klein und schwach erscheinen ließen. Dabei kam es nicht darauf an, ob die Lichter einer Karavelle gehörten, die sich am Horizont durch die stürmischen Wogen kämpfte, oder einem Raumschiff mit diamantverkleidetem Rumpf, das sich soeben durch den interstellaren Raum gepflügt hatte.
Zwischen dem Schwarm und Idlewild sah ich ein paar hellere Flecken, Triebwerksfeuer von Shuttles, die das System durchquerten, oder von neu ankommenden oder wieder abfliegenden Raumschiffen. Im Vordergrund präsentierte sich Idlewilds Nabe — die Spitze des Kegels — als Sammelsurium von willkürlich angeordneten Andockluken, Wartungsöffnungen, Quarantänezonen und Lazaretträumen. Dort lagen etwa ein Dutzend Schiffe, die meisten waren am Hospiz verankert, sahen aber eher wie kleine Wartungsboote aus — Fahrzeuge, mit denen die Eisbettler um ihre Welt herumfliegen und Reparaturen ausführen konnten. Nur zwei große Schiffe waren darunter, und beide wären neben den Lichtschiffen im parkenden Schwarm nur kleine Fische gewesen.
Das erste Schiff hatte die windschnittige Form eines Hais und war wohl für Atmosphäreflüge gebaut. Silberne Figuren — Harpyien und Nereiden — zierten den schwarzen, lichtschluckenden Rumpf. Ich erkannte es sofort wieder: Dieses Shuttle hatte mich nach unserer Rettung von der Orbitalstation der Weltraumbrücke von Nueva Valparaiso zur Orvieto gebracht. Nun war es über eine transparente Nabelschnur mit Idlewild verbunden, durch die langsam aber stetig von peristaltischen Kompressionswellen ein Strom von Schläfern befördert wurde, die noch tiefgekühlt in ihren Kälteschlaftanks lagen. Man fühlte sich unangenehm an den Vorgang des Eierlegens erinnert.
»Sie sind immer noch nicht mit dem Ausladen fertig?«, fragte ich.
»Im Frachtraum müssen noch die letzten Schläferzellen geräumt werden, dann ist es vorbei«, antwortete der erste Eisbettler.
»Muss doch deprimierend sein, so viele Matschraupen durchkommen zu sehen.«
»Wieso denn?«, fragte der zweite Mönch ohne große Begeisterung. »Was immer geschieht, es ist alles Gottes Wille.«
Das zweite große Schiff, auf das unser Fahrstuhl zusteuerte, sah ganz anders aus als das Shuttle. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Haufen Weltraummüll, der sich zu einem Gemeinschaftsflug zusammengefunden hatte. Die Mühle drohte schon in stationärem Zustand jeden Moment auseinander zu fallen, dass sie auch noch fliegen sollte, war unvorstellbar.
»In das Ding soll ich einsteigen?«
»Das ist die gute alte Strelnikov«, sagte der erste Eisbettler. »Nur Mut. Sie ist längst nicht so gefährlich, wie sie aussieht.«
»Oder ist sie sehr viel gefährlicher, als sie aussieht?«, fragte der zweite. »Ich vergesse das immer wieder, Bruder.«
»Ich auch. Aber ich kann mich ja mal erkundigen.«
Er fasste mit der Hand unter seine Kutte. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, jedenfalls nicht den hölzernen Totschläger, den er herauszog. Das Ding sah aus wie aus dem Griff einer Gartenschaufel gemacht. Am schmalen Ende hatte es einen Lederriemen und auf der anderen Seite etliche verräterische Kratzer und Flecken. Der zweite Eisbettler hielt mich von hinten fest, während mir sein Freund zum Andenken ein paar blaue Flecken mit auf den Weg gab, wobei er sich vor allem auf mein Gesicht konzentrierte. Viel Widerstand konnte ich nicht leisten — sie waren besser an die Schwerelosigkeit gewöhnt als ich, außerdem waren sie eher wie Ringer gebaut als wie Mönche. Ich kam wohl ohne Knochenbrüche davon, aber als der mit dem Totschläger fertig war, fühlte sich mein Gesicht wie eine riesige überreife Frucht an. Ein Auge war fast zugeschwollen und mein Mund war voller Blut, vermischt mit abgesplitterten Zahnschmelzpartikeln.
»Womit habe ich das verdient?«, nuschelte ich. Ich hörte mich an wie ein Idiot.
»Ein Abschiedsgeschenk von Bruder Alexei«, sagte der erste Eisbettler. »Nicht wirklich ernst gemeint, Mister Mirabel, nur eine Warnung, sich niemals wieder in unsere Angelegenheiten einzumischen.«
Ich spuckte eine Portion Blut aus und beobachtete, wie es unverändert in Form einer Kugel von einer Seite des Fahrstuhls zur anderen schwebte.
»Von mir bekommen Sie bestimmt keine Spende«, sagte ich.
Die beiden überlegten sichtlich, ob sie mich noch etwas mehr aufmischen sollten, hielten es dann aber doch für ratsam, keine neurologischen Schäden zu riskieren. Vielleicht hatten sie ein wenig Angst vor Schwester Duscha. Ich gab mir alle Mühe, meine Dankbarkeit zu zeigen, aber ich war einfach nicht mit dem Herzen dabei.
Der Fahrstuhl fuhr weiter, und ich sah mir die Strelnikov sehr gründlich aus der Nähe an, aber der erste Eindruck verbesserte sich nicht. Das Ding hatte etwa die Form eines Ziegelsteins und maß von einem Ende zum anderen etwa zweihundert Meter. Es war aus Dutzenden von Kontroll-, Wohn- und Antriebsmodulen zusammengezurrt und hing in einem Gekröse aus Treibstoffleitungen und Tanks, die wie Därme und Mägen aussahen. Hier und dort waren Reste einer Rumpfverkleidung zu erkennen: ein paar verschrammte Platten, wie die letzten Fleischfasern an einem von Maden zerfressenen Leichnam. Verschiedene Teile des Schiffes waren mit einer glänzendem Epoxidschicht überzogen, sie waren offenbar wieder angeklebt worden. Andere wurden tief unter der lückenhaften Oberfläche von Reparaturteams festgeschweißt. An sechs oder sieben Stellen strömte ständig Gas aus, aber das schien niemanden weiter zu stören.
Ich sagte mir, es würde auch nichts ausmachen, wenn das Schiff noch sehr viel schlimmer aussähe. Der Flug hinunter zum Glitzerband — jener bekannten Ansammlung von Habitats im niedrigen Orbit um Yellowstone — war eine typische Vorortstrecke. Im Umkreis von Sky’s Edge verkehrten ein Dutzend ähnlicher Schrottmühlen. Der Flug erforderte keine massiven Beschleunigungsphasen, folglich konnten die Schiffe bei halbwegs ordentlicher Wartung Jahrhunderte lang immer die gleichen Strecken bedienen und sich so lange den Schwerkraftschacht hinauf und hinunter ackern, bis sie schließlich nach einem irreparablen Systemausfall als makabre Weltraumskulpturen durchs All schwebten. Laufende Kosten fielen kaum an, während also immer ein oder zwei renommierte Firmen eine Schnellverbindung mit Luxus-Shuttles anboten, waren solche Strecken unweigerlich in der Hand einer Reihe von Gesellschaften, die sich, eine windiger als die andere, beim Kostensparen gegenseitig zu übertreffen suchten. Ganz unten auf der Liste standen die Kähne mit chemischen Raketen oder mit Ionenantrieb, die quälend langsam von Orbit zu Orbit schlichen. Ganz so schlimm war das Shuttleboot, mit dem ich fliegen sollte, zwar nicht, aber es gehörte auch sicher nicht zu den Luxusschlitten der obersten Kategorie.
Doch auch das langsamste Schiff war immer noch die schnellste Möglichkeit, um das Glitzerband zu erreichen. Die schubstarken Shuttles bewältigten die Entfernung zwar schneller, aber ein solcher ›Renner‹ kam nie auch nur in die Nähe von Idlewild.
Um das zu erklären, brauchte man keinen Wirtschaftswissenschaftler: die meisten Klienten des Hospizes hatten kaum die Mittel, um für ihre eigene Reanimierung aufzukommen, an einen teuren Schnellflug nach Chasm City war da gar nicht zu denken. Ich müsste erst zum parkenden Schwarm fliegen und dort über einen Platz auf einem Renner verhandeln, wobei mir niemand garantieren konnte, dass ich dann nicht auf eine spätere Maschine warten müsste. Amelia hatte mir davon abgeraten, es gebe bei weitem nicht mehr so viele Renner wie zuvor — ich hätte gerne gefragt, wovor, aber sie gab mir keine Chance — und die Zeitersparnis im Vergleich zu einem Direktflug mit dem langsamen Shuttle sei ohnehin kaum der Rede wert.
Irgendwann hielt der Fahrstuhl vor dem Verbindungskorridor zur Strelnikov, und meine Eisbettlerfreunde sagten mir Lebewohl. Jetzt lächelten sie so zuckersüß, als wären die Blutergüsse in meinem Gesicht nur eine weitere psychosomatische Manifestation des Haussmann-Virus und sie hätten nicht das Geringste damit zu tun.
»Viel Glück, Mister Mirabel.« Der Eisbettler mit dem Totschläger winkte mir fröhlich nach.
»Vielen Dank. Ich schicke Ihnen eine Ansichtskarte. Vielleicht komme ich auch mal zurück und erzähle Ihnen, wie es mir ergangen ist.«
»Das wäre nett.«
Ich spuckte ein letztes Blutkügelchen aus. »Aber ich will nichts versprechen.«
Vor mir wurden schon etliche Einwanderungswillige an Bord befördert, die in unbekannten Sprachen verschlafen vor sich hin brabbelten. Drinnen wurden wir durch ein verwirrendes Labyrinth von schmalen Kriechgängen zu einem irgendwo in den Tiefen der Strelnikov gelegenen Zentrum gelotst. Dort wies man uns unsere Kabinen für den Flug zum Glitzerband zu.
Als ich endlich meine Kabine erreichte, fühlte ich mich so müde und zerschlagen wie ein Tier, das als zweiter Sieger aus einem Kampf hervorgegangen war und nun in seine Höhle kroch, um sich die Wunden zu lecken. Ich wollte nichts mehr hören und sehen. Die Kabine war nicht blitzsauber, aber auch nicht wirklich schmutzig, die Wahrheit lag irgendwo in der Mitte zwischen vergilbt und schmierig. Die Strelnikov erzeugte keine künstliche Schwerkraft — wofür ich dankbar war; für eine Dauerrotation wäre sie ebenso wenig geeignet gewesen wie für eine allzu starke Beschleunigung —, deshalb war die Kabine mit einer Null-G-Koje ausgestattet, auch diverses Zubehör zur Nahrungsaufnahme und für Hygienebedürfnisse war auf die Schwerelosigkeit abgestimmt. Das Terminal mit Zugang zum allgemeinen Netz sah aus wie ein liebevoll konserviertes Ausstellungsstück aus einem Cybernetikmuseum, und auf allen freien Flächen klebten fleckige und verblasste Hinweisbotschaften, die mir erklärten, was hier erlaubt und verboten war und wie man das Schiff im Falle einer Katastrophe schnellstmöglich verlassen konnte. In regelmäßigen Abständen meldete eine Stimme mit starkem Akzent aus dem Lautsprecher, der Abflug verzögere sich, doch irgendwann erklärte sie, wir hätten nun Idlewild verlassen, der Antrieb sei zugeschaltet, und wir befänden uns auf dem Weg nach unten. Das Shuttle war so weich gestartet, dass ich nichts davon bemerkt hatte.
Ich holte mir die letzten Zahnfragmente aus dem Mund und erkundete vorsichtig die Grenzen der schmerzhaften Blutergüsse, die mir die Eisbettler zur Erinnerung verpasst hatten. Darüber schlief ich schließlich ein.