Siebenunddreißig

»Könnte es Voronoff gewesen sein?«, fragte ich, als wir uns dem Grand Central Terminal näherten. Wir hatten ihn am Bahnhof zurückgelassen, bevor wir in den Abgrund einfuhren, um Gideon zu suchen, aber so, wie ich den Mann kennen gelernt hatte, passte ein solcher Mord nicht zu ihm. Ich hätte ihm zugetraut, auf eine interessante Weise als Mittel gegen die Langeweile Selbstmord zu begehen, nicht aber, eine so bekannte Persönlichkeit wie Dominika zu töten. »Ich finde, das ist einfach nicht sein Stil.«

»Weder seiner noch Reivichs«, sagte Quirrenbach. »Obwohl das nur Sie mit Sicherheit sagen können.«

»Reivich mordet nicht wahllos«, sagte ich.

»Vergiss nicht, dass Dominika sich leicht Feinde machte«, mahnte Zebra. »Sie war nicht gerade die verschwiegenste Person in der Stadt. Vielleicht hat Reivich sie getötet, weil sie über ihn redete.«

»Nur wissen wir bereits, dass er gar nicht in der Stadt ist«, sagte ich. »Reivich befindet sich im Orbit in einem Habitat namens Refugium. Oder stimmt das nicht?«

»So viel ich weiß, schon, Tanner«, sagte Quirrenbach.

Voronoff war nirgendwo zu sehen, aber das wunderte mich nicht: wir hatten ihn hier abgesetzt, aber ich hatte nicht ernsthaft erwartet, dass er bleiben würde. Es war auch nicht weiter wichtig gewesen. Voronoff spielte in der ganzen Affäre bestenfalls eine Nebenrolle, und sollte ich ihn jemals wieder sprechen müssen, dann müsste er, prominent wie er war, leicht aufzuspüren sein.

Dominikas Zelt in der Mitte des Basars sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Zeltklappen waren geschlossen, und es waren keine Kunden in der Nähe, aber es wies auch nichts darauf hin, dass hier ein Mord stattgefunden hatte. Ihr Schlepper, der sonst die Kunden in ihr Zelt holte, ließ sich nicht blicken, aber selbst das fiel nicht weiter auf, denn auf dem ganzen Basar war es heute ungewöhnlich ruhig. Offenbar waren keine Flüge angekommen; kein Zustrom von Kunden mit Neural-Implantaten, die entfernt werden mussten.

Pransky wartete gleich hinter dem Eingang und spähte durch einen schmalen Spalt im Segeltuch.

»Das hat aber lange gedauert.« Als sein Trauerblick Chanterelle, mich und Quirrenbach erfasste, bekam er große Augen. »So, so. Eine ganze Jagdgesellschaft.«

»Lassen Sie uns doch einfach rein«, sagte Zebra.

Pransky hielt die Tür auf, und wir traten in den Empfangsraum, wo ich gewartet hatte, während Quirrenbach auf dem Tisch lag.

»Ich muss Sie warnen«, sagte er. »Ich habe alles so gelassen, wie ich es vorgefunden habe. Aber es ist kein schöner Anblick.«

»Wo ist der Junge?«, fragte ich.

»Der Junge?«, wiederholte er, als hätte ich ein ihm unbekanntes Gossenschimpfwort benutzt.

»Tom. Ihr Helfer. Er kann nicht weit sein. Vielleicht hat er etwas gesehen. Vielleicht schwebt er auch selbst in Gefahr.«

Pransky schnalzte mit der Zunge. »Ich habe keinen ›Jungen‹ gesehen. Ich war auch wahrhaftig mit anderen Dingen beschäftigt. Wer immer das getan hat, war…« Er verstummte, aber ich konnte mir vorstellen, was ihm durch den Kopf ging.

»Es kann kein Einheimischer gewesen sein«, sagte Zebra in das Schweigen hinein. »Niemand von hier würde eine Goldmine wie Dominika einfach zuschütten.«

»Du sagtest doch, die Leute, die nach mir gefragt hätten, seien nicht von hier?«

»Was für Leute?«, fragte Chanterelle.

»Ein Mann und eine Frau«, antwortete Zebra. »Sie haben Dominika besucht, um sich nach Tanner zu erkundigen. Sie stammten eindeutig nicht aus der Stadt. Ein seltsames Paar, so weit ich das sagen kann.«

»Du glaubst, sie wären zurückgekommen und hätten Dominika umgebracht?«, fragte ich.

»Ich würde sagen, sie stehen ziemlich weit oben auf der Liste der Verdächtigen, Tanner. Und du hast immer noch keine Ahnung, wer sie sein könnten?«

Ich zuckte die Achseln. »Ich bin offenbar ein sehr gefragter Mann.«

Pransky räusperte sich. »Vielleicht sollten wir, hm…« Er deutete mit einer grauen Hand auf den inneren Bereich des Zeltes.

Wir betraten den Raum, in dem Dominika ihre Operationen durchzuführen pflegte.

Sie schwebte einen halben Meter über der Operationsliege auf dem Rücken. Gehalten wurde sie in dieser Position von dem dampfbetriebenen, an einem ausfahrbaren Arm befestigten Metallharnisch, der ihren Unterleib umschloss. Die Pneumatik zischte noch, zarte Dampffinger ringelten sich zur Decke empor. Dank ihrer Topplastigkeit war sie so weit nach hinten gekippt, dass die Hüften höher waren als die Schultern. Bei einer dünneren Frau wäre der Kopf wahrscheinlich zur Seite gerollt, aber bei Dominika wurde der Hals durch die Speckrollen fixiert, sodass das Gesicht weiter zur Decke schaute. Ihre Augen waren weit geöffnet, glasig und so verdreht, dass man nur das Weiße sah. Der Unterkiefer hing schlaff herunter.

Der Körper war mit Schlangen bedeckt.

Die größten hingen reglos herunter, um ihre Taille drapiert wie gemusterte Schals. Dass sie tot waren, unterlag keinem Zweifel; jemand hatte ihnen mit einem Messer den Bauch aufgeschlitzt, und sie hatten rote Bänder auf die Liege geblutet. Etliche kleinere waren noch am Leben und hatten sich auf ihrem Bauch oder dem Operationstisch zusammengerollt, aber sie bewegten sich kaum, als ich — mit größter Vorsicht — nähertrat.

Mir fielen die Schlangenverkäufer ein, die ich im Mulch gesehen hatte. Daher stammten diese Tiere. Man hatte sie lediglich gekauft, um das Stillleben detailreicher zu gestalten.

»Ich sagte Ihnen ja, es ist kein schöner Anblick.« Pranskys Stimme zerriss das benommene Schweigen. »Ich habe in meinem Leben schon einige kranke Dinge gesehen, glauben Sie mir, aber das muss…«

»Es hat Methode«, sagte ich leise. »Es ist nicht so krank, wie es aussieht.«

»Sie müssen den Verstand verloren haben.« Pransky hatte es ausgesprochen, aber ich bezweifelte nicht, dass alle Anwesenden seine Meinung teilten. Ich konnte es ihnen nur schwer verdenken, obwohl ich wusste, dass ich Recht hatte.

»Was soll das heißen?«, fragte Zebra. »Wieso Methode…«

»Es ist eine Botschaft«, sagte ich und ging um den schwebenden Körper herum, um Dominika besser ins Gesicht sehen zu können. »Eine Art Visitenkarte. Und die Botschaft ist für mich bestimmt.«

Ich berührte Dominikas Gesicht. Unter dem leichten Druck meiner Hand drehte sich ihr Kopf ein wenig zur Seite, sodass auch die anderen die saubere Wunde mitten auf ihrer Stirn sehen konnten.

»Denn«, sagte ich und sprach damit zum ersten Mal eine Wahrheit aus, die ich nun schon seit einiger Zeit kannte, »das hat Tanner Mirabel getan.«

Irgendwann kurz vor meinem sechzigsten Geburtstag — wobei gesagt werden muss, dass ich nicht nur längst aufgehört hatte, die Jahre zu zählen (wozu, wenn man unsterblich war?), sondern auch meine Daten in den Schiffsunterlagen entsprechend geändert hatte — erkannte ich, dass die Zeit zum Handeln gekommen war. Die Wahl des Zeitpunkts lag nicht unbedingt in meinem Ermessen, ich hatte keinen Einfluss auf den Ablauf der Reise, aber wenn ich wollte, konnte ich den Augenblick auch ungenützt vorübergehen lassen und die Pläne vergessen, die mich ein halbes Leben lang so sehr beschäftigt hatten. Ich hatte alles so sorgfältig vorbereitet, dass diese Pläne, hätte ich sie aufgegeben, nie ans Licht gekommen wären. Für kurze Zeit gab ich mich dem bittersüßen Vergnügen hin, zwei völlig gegensätzliche Zukünfte gegeneinander zu stellen: in der einen triumphierte ich; in der anderen unterwarf ich mich demütig dem Wohl der Flottille, auch wenn ich damit Nachteile für meine eigenen Leute in Kauf nahm. Und einen winzigen Moment lang schwankte ich.

»Auf mein Zeichen«, sagte der Alte Armesto von der Brasilia.

»Bremsschuh, Zündung in zwanzig Sekunden.«

»Verstanden«, sagte ich von der hohen Warte meines Kommandosessels auf der Brücke. Zwei weitere Stimmen wiederholten die Bestätigung knapp hintereinander; die Captains der Bagdad und der Palästina.

Journey’s End, das Ziel unserer Reise, lag vor uns. Sein Stern, der hellere der beiden 61 Cygni-Sonnen, leuchtete wie eine blutrote Laterne durch die Nacht. Allen Widrigkeiten, allen Unglücksprophezeiungen zum Trotz hatte die Flottille den Flug durch den interstellaren Raum mit Erfolg absolviert. Dass ein Schiff dabei auf der Strecke geblieben war, konnte dem Sieg keinen Abbruch tun. Die Planer hatten immer gewusst, dass die Mission nicht ohne Verluste abgehen würde. Und natürlich beschränkten sich die Verluste nicht allein auf mein Schiff. Viele von den Momio-Schläfern würden die Zielwelt nie zu sehen bekommen. Aber auch das hatte man berücksichtigt.

Kurzum, wie man es auch betrachtete, es war ein Triumph.

Noch war der Flug freilich nicht zu Ende; noch war die Flottille mit Reisegeschwindigkeit unterwegs. Dies war der wichtigste Abschnitt des ganzen Unternehmens, obwohl nur noch eine winzige Strecke zurückzulegen war. Und zumindest eines hatten die Planer nicht vorhergesehen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sich die Misshelligkeiten im Lauf der Zeit so sehr vertiefen würden.

»Zehn Sekunden«, sagte Armesto. »Ich wünsche uns allen Glück. Glück und Gottes Segen. Es wird ein verdammt knappes Rennen werden.«

Nicht so knapp, wie du denkst, dachte ich.

Die restlichen Sekunden wurden heruntergezählt, und dann erstrahlten — nicht ganz gleichzeitig — drei Sonnen in der Nacht, wo einen Augenblick zuvor nur Sterne gewesen waren. Zum ersten Mal seit einhundertfünfzig Jahren wurden die Triebwerke der Flottille wieder gezündet — verschlangen Materie und Antimaterie, spien reine Energie aus und verringerten allmählich die acht Prozent Lichtgeschwindigkeit, mit denen die Flottille immer noch flog.

Hätte ich anders entschieden, ich hätte gehört, wie auch die mächtige Santiago in allen Fugen ächzte, als die Bremskräfte zu wirken begannen. Der Schub selbst wäre nur ein leises, fernes Grollen gewesen, das tiefe Glücksgefühle auslöste, obwohl man es mehr spürte als hörte.

»Wir stellen fest, dass alle Triebwerke einwandfrei arbeiten«, sagte der andere Captain. Dann wurde seine Stimme unsicher: »Santiago; wir haben keine Meldung, dass Sie die Zündung eingeleitet haben… Gibt es technische Probleme, Sky?«

»Nein«, antwortete ich knapp und ruhig. »Im Moment keinerlei Schwierigkeiten.«

»Warum haben Sie dann die Zündung nicht eingeleitet!« Das war keine Frage mehr, das war ein Aufschrei der Empörung.

»Weil wir unsere Triebwerke jetzt nicht zünden werden.« Ich lächelte in mich hinein; jetzt war die Katze endlich aus dem Sack. Der kritische Punkt war überschritten; eine mögliche Zukunft gewählt, die andere verworfen. »Tut mir Leid, Captain, aber wir haben beschlossen, noch etwas länger auf Reisegeschwindigkeit zu bleiben.«

»Das ist Wahnsinn!« Ich hätte schwören können, dass ich Armestos Speichel gegen das Mikrofon sprühen hörte wie die Brandung gegen die Küste. »Wir haben einen Nachrichtendienst, Haussmann — einen guten Nachrichtendienst. Wir wissen ganz genau, dass Sie an Ihren Triebwerken keine anderen Umbauten vorgenommen haben als wir. Sie haben keine Möglichkeit, Journey’s End vor uns zu erreichen! Leiten Sie jetzt Ihren Bremsschub ein und folgen Sie uns…«

Ich spielte mit der Armlehne meines Sessels. »Sonst passiert — was?«

»Sonst…«

»Es gibt kein Sonst. Wir wissen alle, dass es tödlich wäre, die Triebwerke abzuschalten, wenn sie erst einmal Antimaterie verbrennen.« Das stimmte. Antimaterie-Triebwerke waren entsetzlich instabil, sie mussten so lange laufen, bis die Reaktionsmasse aus dem Sicherheitsbehälter restlos verbraucht war. Die Triebwerkstechniker hatten einen besonderen Fachbegriff für diese magnetohydrodynamische Instabilität, die verhinderte, dass der Zufluss gestoppt werden konnte, ohne dass Antimaterie austrat, aber wichtiger war die Konsequenz daraus: der Treibstoff für die Bremsphase musste in einem Behälter gelagert werden, der keine Verbindung zu dem Reservoir hatte, mit dem das Schiff auf Reisegeschwindigkeit gebracht worden war. Nachdem die anderen drei Schiffe die Zündung eingeleitet hatten, waren ihnen daher mehr oder weniger die Hände gebunden.

Indem ich ihnen nicht folgte, hatte ich einen unverzeihlichen Vertrauensbruch begangen.

»Hier spricht Zamudio von der Palästina«, sagte eine andere Stimme. »Bei uns ist der Fluss stabil, alles im grünen Bereich… wir werden versuchen, die Triebwerke vorzeitig abzuschalten, damit Haussmanns Vorsprung nicht zu groß wird. Eine solche Chance bekommen wir vielleicht nie wieder.«

»Um Himmels willen, tun Sie das nicht!«, sagte Armesto. »Nach unseren Simulationen besteht bei einer vorzeitigen Triebwerksabschaltung nur eine Chance von dreißig Prozent…«

»Unsere Simulationen ergeben bessere Werte… wenn auch nicht viel.«

»Bitte warten Sie. Wir schicken Ihnen unsere technischen Daten… sehen Sie sich die Werte an, bevor Sie etwas unternehmen, Zamudio.«

Die Diskussion ging eine Stunde lang weiter, die beiden bewarfen sich mit Simulationen und stritten darüber, wie sie zu interpretieren seien. Sie glaubten natürlich, das Gespräch sei privat, aber meine Agenten hatten die anderen Schiffe schon vor langer Zeit mit Abhörgeräten versehen, und vermutlich hatten die anderen auf meinem Schiff ebenfalls Wanzen angebracht. Ich lauschte belustigt, wie die Stimmen immer hektischer, immer gereizter wurden. Es war schließlich keine Kleinigkeit, nach einem Flug von hundertfünfzig Jahren das Risiko einer Antimaterie-Explosion einzugehen. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sich die Debatte über Monate, vielleicht über Jahre hingezogen, und man hätte jeden noch so kleinen Vorteil gegen jeden einzelnen potenziellen Toten abgewogen. Doch jetzt wurden die anderen ständig langsamer, während die Santiago triumphierend davonzog, und je länger sie die Entscheidung hinausschoben, desto größer wurde unser Vorsprung.

»Genug der Worte«, sagte Zamudio endlich. »Wir leiten die Abschaltung ein.«

»Bitte nicht«, sagte Armesto. »Gönnen wir uns wenigstens noch einen Tag Bedenkzeit!«

»Damit wir noch weiter hinter diesem Bastard zurückbleiben? Tut mir Leid, aber es gibt jetzt kein Zurück mehr.« Zamudios Stimme wurde sachlich, er las laut die Statusvariablen ab. »Schubverringerung in fünf Sekunden… Verhältnisse im Sicherheitsbehälter stabil… Treibstoffzufuhr wird gedrosselt… drei… zwei… eins…«

Ein wildes Aufheulen gellte aus den Lautsprechern. Eine der neuen Sonnen war plötzlich zur Nova geworden und überstrahlte die beiden anderen. Eine weiße Rose mit purpurnen Rändern, die in Schwarz übergingen. Sprachlos bestaunte ich das Höllenfeuer. Ein ganzes Schiff war mit einem Lidschlag verschwunden, so wie Titus es mir von der Islamabad erzählt hatte. Das weiße Licht hatte etwas Läuterndes… es weckte geradezu andächtige Gefühle. Dann verblasste es allmählich. Ein heißer Ionenschwall krachte gegen mein Schiff, der Geist der Palästina. Überall auf der Brücke erzitterten die Statusanzeigen und spielten verrückt, aber die Schiffe der Flottille waren bereits so weit voneinander entfernt, dass das eine die anderen nicht mehr mit ins Verderben reißen konnte.

Als die Funkgeräte die Arbeit wieder aufnahmen, hörte ich die Stimme des anderen Captains. »Haussmann, Sie sind ein Bastard«, sagte Armesto. »Das geht auf Ihr Konto.«

»Weil ich schlauer war als alle anderen?«

»Weil Sie uns belogen haben, Sie verdammter Dreckskerl!« Das war Omdurmans Stimme. »Titus war eine Million mal mehr wert als Sie, Haussmann… ich kannte Ihren Vater. Verglichen mit ihm sind sie — ein Nichts. Ein Stück Scheiße. Und wissen Sie, was das schlimmste ist? Sie haben auch Ihre eigenen Leute getötet.«

»Ganz so dumm bin ich wohl doch nicht«, sagte ich.

»Ich wäre mir da nicht so sicher«, sagte Armesto. »Wie gesagt, wir haben einen ausgezeichneten Nachrichtendienst, Haussmann. Wir kennen Ihr Schiff so gut wie unser eigenes.«

»Auch wir haben unsere Informationen«, sagte Omdurman. »Sie haben kein verdammtes Ass mehr im Ärmel. Wenn Sie nicht abbremsen, schießen Sie über das Ziel hinaus und landen irgendwo im interstellaren Raum.«

»Das wird nicht passieren«, erwiderte ich.

Ich hatte es anders geplant, aber manchmal durfte man nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes vorgehen, sondern musste seinem Sinn folgen; der Gesamteindruck einer Symphonie war wichtiger als die einzelnen Noten. Mit Norquincos Hilfe hatte ich an meinem Kommandosessel einige Umbauten vorgenommen. Jetzt öffnete ich eine Klappe im schwarzen Lederbezug der Armlehne, schwenkte eine flache Konsole mit vielen Tasten heraus und rückte sie mir über den Knien zurecht. Dann rasten meine Finger über die Tasten und riefen ein Diagramm auf, das an einen Kaktus erinnerte, eine Schemazeichnung der Schiffssäule, auf der die Schläfer eingetragen und als lebend oder tot gekennzeichnet waren.

Im Lauf der Jahre hatte ich fleißig die Spreu vom Weizen getrennt.

Ich hatte dafür gesorgt, dass so viele Tote wie möglich in eigenen, gleichmäßig über die Länge der Säule verteilten Schläferringen zusammengelegt wurden. Anfangs war das mühsam gewesen, denn die Schläfer hielten sich nicht an meine sorgsam ausgetüftelten Pläne, sondern starben, wo sie wollten. Doch das war, wie gesagt, nur anfangs. Denn mit der Zeit entwickelte ich magische Kräfte. Ich brauchte nur zu wünschen, dass bestimmte Momios starben, und schon geschah es. Natürlich waren gewisse Rituale erforderlich, damit der Zauber auch wirkte. Ich musste die Schläfer besuchen und ihre Tanks berühren. Manchmal (aber das geschah völlig unterbewusst) nahm ich auch winzige Veränderungen an der Einstellung der Lebenserhaltungssysteme vor. Ich legte es nicht bewusst darauf an, ihnen zu schaden… aber auf geheimnisvolle Weise erreichten meine Eingriffe immer das gewünschte Ziel. Es war Zauberei.

Und der Erfolg war groß. Tote und Lebende waren jetzt säuberlich getrennt. Eine ganze Reihe von Schläferringen — sechzehn an der Zahl, mit einhundertundsechzig Tanks — war nun ausschließlich mit Verstorbenen besetzt. Die Hälfte einer zweiten Reihe enthielt weitere sechsundachtzig Tote. Mehr als ein Viertel der Schläfer weilten nicht mehr unter den Lebenden.

Ich tippte die Befehlssequenz ein, die ich mir schon vor langer Zeit eingeprägt hatte. Norquinco hatte sie mir nach Jahren heimlicher Arbeit geliefert. Ihn für meine Zwecke einzuspannen, war ein Geniestreich gewesen. Nach allen technischen Handbüchern und den Ratschlägen der besten Experten wäre das, was ich vorhatte, durch Scharen von Sicherungsblockaden unmöglich gemacht worden. Norquinco hatte sich im Laufe der Jahre in der Hierarchie des Revisionsteams emporgearbeitet und dabei Wege gefunden, jede dieser vermeintlich wasserdichten Sicherungen so raffiniert und behutsam zu umgehen, dass niemand etwas davon bemerkte.

Im Zuge der Arbeit hatte Norquinco an Selbstbewusstsein gewonnen. Seine Verwandlung hatte mich zunächst überrascht, doch dann wurde mir klar, dass sie unvermeidlich war, sobald sich der Mann im Revisionsteam integriert hatte. Norquinco war gezwungen gewesen, zumindest nach außen hin unter anderen Menschen zu funktionieren, anstatt wie bisher in selbst gewählter Isolation zu leben. Als er dann einen höheren Rang erklommen hatte, fand er sich beunruhigend rasch in seine neue Rolle hinein. Irgendwann wurde er auch befördert, ohne dass ich noch nachzuhelfen brauchte.

Doch sein Verhalten an Bord der Caleuche hatte ich ihm nie ganz verziehen.

Wir trafen nur gelegentlich zusammen, doch jedes Mal war sein Auftreten noch eine Spur dreister geworden. Zunächst hatte ich mir weiter nichts dabei gedacht. Die Arbeit ging zügig voran, Norquinco führte in seinen Berichten brav jede Klasse von Sicherungen auf, die er geknackt hatte. Als ich eine Demonstration seiner Erfolge verlangte, war er auch dazu bereit. Ich hatte nicht bezweifelt, dass er fertig sein würde, wenn ich den Zugriff brauchte.

Dann hatte es doch Schwierigkeiten gegeben.

Vier Monate zuvor hatte Norquinco die letzten Sicherungen umgangen, und damit war die Arbeit im Grunde genommen getan. Und plötzlich verstand ich, warum er so viel Entgegenkommen gezeigt hatte.

»Was ich dir jetzt vorschlagen werde«, sagte Norquinco, »nennt man im Fachjargon, glaube ich, Erpressung.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

Wir hatten uns auf einer unserer Inspektionstouren im Korridor der Säule in der Nähe von Knoten Sieben getroffen. »O doch, das ist sogar mein voller Ernst, Sky. Das sollte dir klar sein.«

»Allmählich begreife ich.« Ich schaute den Korridor entlang. Irgendwo weiter vorne pulsierte ein rötliches Licht. »Was verlangst du, Norquinco?«

»Einfluss, Sky. Der Revisionstrupp genügt mir nicht mehr. Das ist ein Job für Computerfreaks, eine Sackgasse. Aber ich habe das Interesse an der Technik verloren. Ich war an Bord eines Alien-Raumschiffs. Das verändert den Blickwinkel. Ich möchte mehr gefordert werden. Als wir auf der Caleuche waren, hast du versprochen, mich zu einem mächtigen Mann zu machen. Das habe ich nicht vergessen. Jetzt will ich etwas von dieser Macht. Ich will Verantwortung übernehmen.«

Ich wählte meine Worte mit Bedacht. »Sich in Computerprogramme einzuhacken und ein Schiff zu führen sind zwei grundverschiedene Dinge, Norquinco.«

»Hör auf, mich so von oben herab zu behandeln, du arroganter Bastard. Glaubst du, ich spüre das nicht? Deshalb sagte ich ja, ich möchte gefordert werden. Ich will auch nicht deinen Job — jedenfalls noch nicht sofort. Hier lasse ich der Natur ihren Lauf. Nein; ich möchte, dass du mich zu einem höheren Offizier machst — eine Stufe unter dir genügt mir. Ein ruhiger Posten mit guten Aufstiegschancen nach der Landung. Auf Journey’s End stecke ich mir dann ein eigenes kleines Reich ab.«

»Du hast dir viel vorgenommen, Norquinco.«

»Viel vorgenommen? Natürlich habe ich mir viel vorgenommen. Sonst brauchte ich ja nicht mit Erpressung zu drohen.«

Der rötliche Schein war näher gekommen, jetzt war auch ein leises Grollen zu hören. »Dich ins Revisionsteam zu bringen, war eine Sache, Norquinco. Dafür warst du immerhin qualifiziert. Aber ich kann dich unmöglich zum Offizier befördern — und wenn ich noch so viele Fäden ziehe.«

»Das ist nicht mein Problem. Du erzählst mir doch immer, wie schlau du bist, Sky. Jetzt kannst du den Beweis antreten; setz deine Fähigkeiten, dein Urteilsvermögen ein und finde eine Möglichkeit, mir eine Offiziersuniform zu verschaffen.«

»Gewisse Dinge sind einfach unmöglich.«

»Nicht für dich, Sky. Nicht für dich. Du wirst mich doch nicht enttäuschen?«

»Und wenn ich keine Möglichkeit finde…«

»Wird alle Welt von deinen hübschen Plänen mit den Schläfern erfahren. Ganz zu schweigen von der Sache mit Ramirez. Und auch mit Balcazar. Die Made habe ich noch gar nicht erwähnt.«

»Dann ziehst du auch dich selbst mit hinein.«

»Ich werde sagen, ich hätte nur deine Befehle befolgt. Worauf sie hinausliefen, wäre mir erst vor kurzem klar geworden.«

»Du wusstest es von Anfang an.«

»Aber das weiß niemand sonst, oder?«

Ich wollte antworten, aber der Lärm des nahenden Frachtzuges hätte mich gezwungen, die Stimme zu erheben. Die Wagons kamen uns auf dem Rückweg vom Triebwerksbereich über die Schienen entgegengepoltert. Wortlos gingen wir beide zurück zu einer der Nischen, um dort zu warten, bis der Zug vorbei war. Die Züge waren alt, wie so vieles auf der Santiago, und nicht besonders gut gepflegt. Sie funktionierten zwar nach wie vor, aber viele mehr oder weniger entbehrliche Systeme hatte man entfernt, um sie anderweitig zu verwenden, oder nicht repariert, wenn sie kaputt gegangen waren.

Schweigend standen wir Schulter an Schulter. Der Zug kam näher. Die plumpe Lokomotive füllte bis auf einen kleinen Spalt zu beiden Seiten den Korridor völlig aus. Ich fragte mich, was Norquinco genau in diesem Moment wohl dachte. Ob er sich wirklich einbildete, ich würde auf seine Erpressung eingehen?

Als die polternden Güterwagen nur noch drei oder vier Meter entfernt waren, versetzte ich Norquinco einen Stoß, und er fiel vornüber auf die Schienen.

Die Lokomotive schob ihn gewaltsam vor sich her, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Der Zug fuhr noch ein Stück weiter, bevor er allmählich langsamer wurde. Eigentlich hätte er sofort anhalten müssen, sobald er ein Hindernis auf seinem Weg entdeckte, aber das war wohl eins der Systeme, die schon vor Jahren ausgefallen waren.

Die Motoren heizten sich mit leisem Summen auf. Stechender Ozongeruch stieg mir in die Nase.

Ich zwängte mich aus der Nische. Es war schwierig, und wäre der Zug gefahren, dann wäre es unmöglich gewesen. So blieb gerade genug Platz, um mich an den Wagons vorbei nach vorne zu drücken. Ich hoffte nur, dass ich dabei nicht zufällig einen Hebel verstellte. Wäre der Zug nämlich wieder angefahren, er hätte mich mit Sicherheit zermalmt.

Vorne angekommen, erwartete ich, Norquincos sterbliche Überreste zwischen Lokomotive und Schienen eingequetscht zu sehen.

Doch Norquinco lag neben den Schienen. Sein zerbeulter Werkzeugkasten hatte sich unter der Lokomotive verkeilt.

Ich kniete nieder und untersuchte den Mann. Er war mit der Schläfe über den Boden geschrammt, die Haut war aufgerissen und die Wunde blutete stark, aber der Schädel schien nicht gebrochen zu sein. Norquinco war bewusstlos, aber er atmete noch.

Mir kam eine Idee. Norquinco war mir zur Last geworden und musste irgendwann sterben — wahrscheinlich eher früher als später —, aber dieser Gedanke war zu verlockend, zu poetisch, um ihn nicht weiter zu verfolgen. Allerdings war die Sache nicht ungefährlich, und ich durfte für einige Zeit — schätzungsweise mindestens dreißig Minuten — nicht gestört werden. Länger konnte die Verspätung des Zuges ohnehin nicht unbemerkt bleiben. Aber würde sich sofort jemand darum kümmern? Ich hatte meine Zweifel; nach allem, was ich mitbekommen hatte, war die Bahn nicht gerade für ihre Zuverlässigkeit berühmt. Ich musste lächeln. Ich war zwar jetzt der Kaiser dieses Miniaturreiches, aber ich hatte nicht dafür gesorgt, dass die Züge pünktlich fuhren.

Ich vergewisserte mich, dass der Werkzeugkasten nach wie vor den Zug blockierte, hob Norquinco auf und trug ihn nach vorne zum Knoten Sechs. Es war Schwerarbeit, aber ich hatte trotz meiner sechzig Jahre die Kräfte eines Dreißigjährigen, und Norquinco war lange nicht mehr so schwer wie in seiner Jugend.

Sechs Schläferringe gingen von diesem Knoten ab: sechzig Schläfer, einige davon tot. Ich durchforstete mein Gedächtnis nach Alter und Geschlecht der Passagiere und war sicher, dass von den sechzig mindestens drei als Norquinco durchgehen konnten — besonders, wenn ich den Unfall beim zweiten Mal so steuerte, dass das Gesicht des Mannes nicht mehr zu erkennen war.

Ich arbeitete mich zur Außenhülle vor. Als ich die Koje des vermutlich aussichtsreichsten Kandidaten erreichte, schwitzte ich und rang nach Luft. Ich sah, dass es sich um einen der noch lebenden Schläfer handelte, und das passte ganz ausgezeichnet in meine Pläne. Bevor Norquinco das Bewusstsein wiedererlangen konnte, griff ich auf die Steuerung des Tanks zu und begann, den Passagier zu erwärmen. Normalerweise hätte das mehrere Stunden gedauert, aber ich bemühte mich nicht, Zellschäden zu vermeiden. Niemand würde eine Leiche obduzieren, die unter einem Zug gelegen hatte, und wer sollte auf den Gedanken kommen, ich hätte die ausgetauscht?

Mein Kom-Armband piepste. »Ja?«

»Captain Haussmann? Wir haben möglicherweise eine technische Störung. Es handelt sich um einen Zug in Säulenkorridor Drei, unweit von Knoten Sechs. Sollen wir ein Pannenhelferteam losschicken, um die Sache zu untersuchen?«

»Nein, das ist nicht nötig«, sagte ich — hoffentlich nicht allzu hastig. »Ich kümmere mich selbst darum. Ich bin ganz in der Nähe.«

»Wirklich, Captain?«

»Ganz bestimmt… wir wollen doch keinen unnötigen Aufwand treiben.«

Als der Passagier warm — aber hirntot — war, hob ich ihn aus dem Tank. Ja; er war ähnlich gebaut wie Norquinco, auch Haut- und Haarfarbe stimmten so weit überein. Norquinco hatte meines Wissens keine romantischen Beziehungen zu irgend jemandem auf der Santiago — aber wenn ich erst fertig war, sollte selbst ein Geliebter — ob Mann oder Frau — die beiden nicht mehr auseinander halten können.

Ich hob Norquinco auf und legte ihn in den Tank. Er atmete noch — ein paar Mal hatte er sogar gestöhnt, bevor er wieder das Bewusstsein verlor. Ich zog ihn nackt aus und drapierte das Biomonitoren-Netz über ihn. Die Sensoren hefteten sich von selbst an den Körper und stellten sich präzise ein. Einige würden sich unter die Haut bohren und bis zu den inneren Organen vordringen.

An der Tankanzeige schaltete eine Reihe von Lichtern auf Grün um, ein Zeichen, dass die Einheit Norquinco akzeptiert hatte. Der Deckel schloss sich.

Ich studierte die Statusanzeige.

Der Tank war auf weitere vier Jahre Kälteschlafzeit programmiert. Dann wäre die Santiago bereits im Orbit um Journey’s End und die Schläfer dürften aufwachen und ihr neues Eden betreten.

Auch mir passten die vier Jahre gut ins Konzept.

Ich war zufrieden und bereitete mich seelisch darauf vor, den zweiten Passagier in den Säulenkorridor zurück zu schleppen — keine leichte Aufgabe. Doch zuerst musste ich der kaum warmen Leiche die Kleider anlegen, die ich Norquinco eben ausgezogen hatte.

In der Säule angekommen, legte ich den Mann zehn Meter vor den Zug, der noch immer gegen das Hindernis ankämpfte und nun den Gestank durchgeschmorter Kabel verströmte. Dann holte ich aus einem der Spinde in den Nischen einen schweren Schraubenschlüssel mit langem Griff und zerschlug damit dem Mann bis zur Unkenntlichkeit das Gesicht. Bei jedem Hieb splitterten die Knochen wie spröder Lack. Dann kehrte ich zur Lokomotive zurück und befreite mit ein paar kräftigen Schlägen den eingeklemmten Werkzeugkasten.

Sobald die Blockade beseitigt war, fuhr der Zug sofort an. Ich musste voraus laufen, um nicht gegen die Wand gequetscht zu werden. Vorsichtig stieg ich über den Toten hinweg und drückte mich in die nächste Nische. Von dort sah ich mit mitleidloser Faszination zu, wie die Bahn mit ihren Güterwagons Fahrt aufnahm, den Mann auf den Schienen erfasste, vor sich her schob und dabei grässlich verstümmelte.

Erst sehr viel weiter korridoraufwärts kam der Zug endlich zum Stehen.

Gespannt schlich ich hinterher. Eine halbe Stunde zuvor hatte ich in der gleichen Situation zu meiner Überraschung feststellen müssen, dass Norquinco lediglich bewusstlos war. Letztlich war das natürlich ein Segen gewesen… aber diesmal wurde ich nicht mehr enttäuscht. Der Zug hatte seine Arbeit getan. Nicht der zerbeulte Werkzeugkasten hatte ihn aufgehalten, sondern seine Notbremsanlage… aber die hatte viel zu träge reagiert, um den Mann im Tunnel noch retten zu können.

Ich zog den Ärmel hoch und sprach in mein Kom-Armband. »Sky Haussmann hier. Es hat einen ganz schrecklichen Unfall gegeben.«


Das alles war vier Monate her; es war bedauerlich, dass unsere Beziehung so enden musste, aber nun würde sich zeigen, dass auf Norquinco doch Verlass gewesen war. Jedenfalls ging ich davon aus — Gewissheit würde ich erst in einigen Minuten bekommen.

Der Hauptbildschirm zeigte den Blick entlang der Säule der Santiago von einem Punkt wenige Meter über dem Rumpf. Es war wie eine Studie zum Thema Fluchtpunkte, die konsequent durchgehaltene Perspektive hätte jeden Renaissance-Künstler begeistert. Die sechzehn Schläferringe mit den Toten verloren sich, immer kleiner werdend und zu Ellipsen verkürzt, in der Ferne.

Und jetzt setzte sich, abgesprengt von einer Serie ringsum angebrachter Sprengladungen, der von mir aus gesehen erste Ring in Bewegung. Er löste sich vom Rumpf, neigte sich langsam zur Seite und trieb gemächlich davon. Die Nabelschnüre, die ihn noch mit dem Schiff verbanden, wurden immer weiter gedehnt, bis sie schließlich abrissen und peitschend zurück schnellten. Gefrorene Gase schossen in kristallenen Wolken aus den durchtrennten Röhren. Irgendwo schrillten Sirenen. Ich hörte sie kaum, aber bei meiner Mannschaft lösten sie erhebliche Bestürzung aus.

Nach dem ersten Ring brach auch der zweite weg. Der dritte erzitterte und riss sich aus der Verankerung. So ging es weiter, die ganze Säule entlang. Mein System bewährte sich. Ursprünglich hatte ich überlegt, alle Ladungen gleichzeitig zu zünden, damit die Ringe in exakt parallelen Reihen davon treiben konnten, aber das erschien mir nicht poetisch genug. Da war es schon besser, die Zündung so zu staffeln, dass die Ringe wie von einem geheimen Wandertrieb gelenkt, einander folgten.

»Können Sie sehen, was ich tue?«, fragte ich.

»Ich sehe es genau«, sagte der andere Captain. »Und es widert mich an.«

»Sie sind tot, Sie Narr! Glauben Sie, einen Toten kümmert es noch, ob er im All beigesetzt wird oder mit uns nach Journey’s End reist?«

»Es sind Menschen! Sie verdienen es, auch im Tod mit Respekt behandelt zu werden. Sie können sie nicht einfach über Bord werfen.«

»O doch, und wie ich das kann, ich habe es soeben getan. Im Übrigen — es geht mir gar nicht um die Schläfer an sich. Ihre Masse ist im Verhältnis zu den Maschinen, von denen sie begleitet werden, zu vernachlässigen. Die machen einen echten Unterschied. Und deshalb können wir die Reisegeschwindigkeit länger beibehalten als Sie.«

»Ein Viertel Ihrer Schläfer bringt Ihnen keinen großen Vorsprung, Haussmann.« Der andere Captain hatte offenbar seine Hausaufgaben gemacht. Offenbar waren seine Gedanken in eine ganz ähnliche Richtung gegangen. »Wie viel früher als wir können Sie um Journey’s End in den Orbit gehen? Bestenfalls ein paar Wochen?«

»Das genügt«, sagte ich. »Es genügt, um sich die besten Landeplätze auszusuchen, unsere Leute hinunter zu schaffen und uns zu verschanzen.«

»Falls Sie dann noch Leute haben. Von den Toten gehen eine ganze Reihe auf Ihr Konto, nicht wahr? Oh, die üblichen Verlustquoten sind uns genau bekannt, Haussmann. Sie dürften bei Ihnen nicht viel höher liegen als bei uns. Unser Nachrichtendienst, Sie erinnern sich. Aber wir haben nur einhundertzwanzig Schläfer verloren. Bei den anderen Schiffen ist es ebenso. Wie konnten Sie so fahrlässig sein, Haussmann? Oder wollten sie, dass diese Menschen sterben?«

»Dummes Zeug. Wenn das in meine Pläne gepasst hätte, warum hätte ich dann nicht mehr getötet?«

»Um dann mit einer Handvoll Überlebender einen Planeten zu besiedeln? Haben Sie denn keine Ahnung von Genetik, Haussmann? Wissen Sie nicht, was Inzest ist?«

Ich wollte schon sagen, ich hätte auch das bedacht, aber wozu sollte ich den Bastard in alle meine Überlegungen einweihen? Wenn sein Nachrichtendienst so gut funktionierte, wie er behauptete, dann konnte er das auch selbst herausfinden.

»Darüber werde ich mir den Kopf zerbrechen, wenn es so weit ist«, sagte ich.


Letzten Endes war es Zamudio doch gelungen, den anderen vorübergehend einen Vorsprung zu verschaffen, auch wenn er sich das wahrscheinlich etwas anders vorgestellt hatte. Der Captain der Palästina hatte sich wohl sehr gute Chancen ausgerechnet, den Antimateriefluss zu unterbrechen, sonst hätte er nicht versucht, sein Triebwerk abzuschalten.

Der Blitz war ebenso grell, ebenso schmerzhaft weiß gewesen wie an jenem Tag in meinem Kinderzimmer, als die Islamabad explodierte.

Doch am nächsten Tag geschah etwas Unerwartetes.

Zamudios Schiff hatte bis zum letzten Augenblick technische Daten an seine beiden Verbündeten gesendet, die sich mitten in dem Bremsschuh befanden, den er selbst hatte unterbrechen wollen. So viel erriet ich, auch wenn man mich an diesem Informationsfluss nicht direkt teilhaben ließ. Auch das war ungewöhnlich. Der Rest der Flottille hatte sich zähneknirschend gegen mich verbündet. Das hatte ich eigentlich nicht erwartet, aber im Rückblick betrachtet hätte ich damit rechnen müssen. Ich hatte den Bastarden ein Feindbild geliefert. Irgendwie war ich sogar stolz darauf. Ich ganz allein hatte den anderen Captains so viel Angst eingejagt, dass sie es trotz allem, was zwischen ihnen stand, für ratsam hielten, gemeinsam gegen mich vorzugehen.

Und jetzt das — es war, als stünde Zamudio von den Toten wieder auf.

»Die Daten waren nützlicher, als er dachte«, sagte Armesto.

»Zamudio hat nicht mehr viel davon«, gab ich zurück.

Inzwischen war zwischen meinem Schiff und den beiden anderen eine deutliche Rotverschiebung festzustellen. Sie lagen dank des Bremsmanövers weit hinter mir zurück. Aber die Kommunikationsprogramme beseitigten mühelos alle Verzerrungen, nur gegen den wachsenden Zeitunterschied durch das Auseinanderdriften der Flottille waren sie machtlos.

»Nein«, sagte Armesto. »Aber die Palästina hat uns mit ihrem Opfer ein Geschenk von unschätzbarem Wert gemacht. Soll ich es Ihnen erklären?«

»Wenn es Ihnen Spaß macht.« Ich gab mich — hoffentlich überzeugend — gelangweilt. In Wirklichkeit war mir ganz und gar nicht wohl in meiner Haut.

Armesto erzählte mir von dem Datenstrom, der bis zur letzten Nanosekunde vor der Detonation von der Palästina abgestrahlt worden war. Es ging darum, mit welchen Methoden man versucht hatte, den Antimateriezufluss zu unterbrechen. Dass die Prozedur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich enden würde, hatte man immer gewusst, aber wo der Fehler genau lag, war nicht klar gewesen. Die Computersimulationen hatten nur flüchtige Einblicke gewährt. Man vermutete, wenn es gelänge, den Fehler einzugrenzen, könnte man ihn vielleicht durch minimale Veränderungen des Treibstoffzustroms ausgleichen. Das ließ sich allerdings nicht experimentell überprüfen. Doch jetzt hatte so etwas wie ein Test stattgefunden. Die Telemetrie vom Schiff war unmittelbar nach Auftreten des Fehlers abgerissen, aber sie hatte die Instabilität dennoch tiefer erforscht als jeder kontrollierte Labortest und jede Computersimulation.

Und sie hatte Ergebnisse gebracht.

Den Zahlen ließ sich genügend Information entnehmen, um nachvollziehen zu können, wie sich der Fehler entwickelt haben musste. Als man sie an Bord in die Simulationen eingab, die von den Antriebsteams erarbeitet worden waren, zeigten sich erste Hinweise auf eine Strategie, mit der sich das Ungleichgewicht steuern ließ. Eine leichte Veränderung in der Topologie des Magneteinschlusses, und der Fluss ließe sich problemlos unterbrechen, ohne dass ein Rückfluss von Normalmaterie oder ein Austritt von Antimaterie zu befürchten wäre. Natürlich war das nach wie vor ein verdammt riskantes Manöver.

Doch das hielt die Captains nicht davon ab, es auszuprobieren.

Mein Schiff ließ die Brasilia und die Bagdad immer weiter hinter sich zurück. Die beiden hatten sich gedreht, um die Triebwerke für die Bremsphase nach vorne zu bringen. Nun strahlten die gleißenden Antimateriefackeln wie zwei heiße blaue Zwillingssonnen durch den leicht rotverschobenen, halbkugelförmigen Himmelsabschnitt hinter der Santiago. Die Schubstrahlen der beiden Schiffe waren potenzielle Waffen von nicht zu unterschätzender Wirkung, aber weder Armesto noch Omdurman hätten die Nerven gehabt, sie auf mein Schiff zu richten. Sie kämpften gegen mich, nicht gegen die vielen künftigen Kolonisten, die ich nach wie vor an Bord hatte. Auch ich hätte mein Triebwerk zünden und einen der beiden Nachzügler mit dem Raketenstrahl der Santiago bestreichen können — aber das wäre für das andere Schiff mit Sicherheit ein Grund gewesen, mich ohne Rücksicht auf die Passagiere zu töten. Laut meinen Simulationen konnte ich unsere Flamme nicht so schnell umstellen, dass ich einer Feuertaufe durch das zweite Schiff zuvorgekommen wäre.

Das kam also nicht infrage… folglich musste ich mit diesen zwei Feinden leben, bis sich eine andere Möglichkeit fand, sie zu vernichten. Während ich noch die Alternativen abwog, die mir offen standen, erloschen hinter mir genau im gleichen Augenblick die beiden Antriebsflammen.

Ich hielt den Atem an und wartete auf die Atomblitze, die mir zeigen würden, dass die Antimaterie-Antriebe bei der Abschaltung explodiert waren.

Aber die Blitze blieben aus.

Armesto und Omdurman war es gelungen, die Flammen zu löschen, nun trieben sie wie ich, wenn auch dank des Bremsschubs mit geringeren Geschwindigkeiten durch das All.

Armesto nahm Verbindung auf. »Sie haben hoffentlich gesehen, was uns soeben gelungen ist, Sky. Das ändert alles, nicht wahr?«

»Es ändert lange nicht so viel, wie Sie sich einreden möchten.«

»Lassen Sie doch die Spielchen. Sie wissen, was es bedeutet. Omdurman und ich haben nun die Möglichkeit, unsere Triebwerke immer wieder anzuschalten, auch für beliebig kurze Zeit. Sie können das nicht. Das ist ein gewaltiger Unterschied.«

Ich überlegte. »Es ändert nichts. Ihre Schiffe haben noch immer fast die gleiche relative Restmasse wie vor einem Tag. Wenn sie um 61 Cygni-A in den Orbit gehen wollen, müssen Sie weiter abbremsen. Mein Schiff ist um die Masse der abgestoßenen Schläferringe leichter. Damit bin ich nach wie vor im Vorteil. Und ich werde bis zur letzten Minute mit Reisegeschwindigkeit fliegen.«

»Sie haben nur etwas vergessen«, sagte Armesto. »Auch wir haben unsere Toten.«

»Die spielen keine Rolle mehr. Es ist zu spät. Sie fliegen jetzt langsamer als ich. Und Sie sagen ja selbst — Sie hatten nicht so viele Ausfälle wie wir.«

»Irgendwie werden wir einen Ausgleich finden, Haussmann. Sie kommen uns nicht zuvor.«

Ich sah auf die Fernbildschirme, auf denen zwei Pünktchen zu sehen waren — die beiden anderen Schiffe in starker Vergrößerung. Jetzt drehten sie sich langsam wieder um die eigene Achse. Ich sah es deutlich. Die Punkte zogen sich zu schmalen Linien auseinander und schrumpften wieder.

Und plötzlich waren sie von einer Aura aus Abgasstrahlung umgeben.

Die anderen Schiffe waren wieder im Rennen.

»Es ist noch nicht vorbei«, erklärte Armesto.


Einen Tag später trieben von den anderen beiden Schiffen die Toten weg.

Vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit Armesto und Omdurman demonstriert hatten, dass sie ihre Antriebsflammen mit einem Verfahren kontrollieren konnten, über das ich noch nicht verfügte. Damit waren sie wieder mit im Spiel. Letztlich war der Untergang der Palästina für sie ein Himmelsgeschenk gewesen — auch wenn dabei fast tausend Kolonisten ums Leben gekommen waren.

Nun flogen die anderen Schiffe wieder mit der gleichen relativen Geschwindigkeit wie die Santiago auf Journey’s End zu. Und sie gaben sich alle Mühe, mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Wobei der Ausgang natürlich mehr oder weniger feststand. Mein Schiff hatte immer noch die geringere Masse… das hieß, sie mussten Masse abwerfen, wenn sie die Reisegeschwindigkeit auf der gleichen Bremsparabel verlassen wollten wie ich.

Das hieß, auch sie mussten ihre Toten ins All stoßen.

Sie taten es ohne jede Eleganz. Wahrscheinlich hatten sie Tag und Nacht gearbeitet, um die Sicherungsblockaden, über deren Umgehung Norquinco fast sein ganzes Leben lang gebrütet hatte, mit brutaler Gewalt zu zerschlagen… aber sie waren insofern im Vorteil, als sie sich dabei nicht zu verstecken brauchten. Die Brasilia und die Bagdad mussten alle verfügbaren Kräfte bis zur Erschöpfung eingesetzt haben. Ich wäre fast neidisch geworden. Es war alles so viel einfacher, wenn man in aller Öffentlichkeit agieren konnte… aber es ging auf Kosten der Eleganz.

Der Bildschirm zeigte in starker Vergrößerung, wie die Schläferringe von den beiden anderen Schiffen abfielen. Es wirkte beliebig, als würde Herbstlaub von einem Baum geweht, man spürte keine ordnende Kraft. Sehen konnte ich es nicht, die Auflösung war zu schlecht, aber ich hatte den Verdacht, dass an der Außenseite tatsächlich Arbeitstrupps in Raumanzügen mit Schneidbrennern und Sprengladungen hantierten. Die Schläferringe wurden mit brutaler Gewalt aus ihrer Verankerung gerissen.

»Sie können trotzdem nicht gewinnen«, prophezeite ich Armesto.

Er würdigte mich einer Antwort, obwohl ich halb und halb damit gerechnet hatte, dass die anderen Schiffe von jetzt an Funkstille halten würden. »Wir können und wir werden gewinnen.«

»Sie sagten doch selbst, Sie haben nicht so viele Tote wie wir. Und wenn Sie noch so viele abstoßen, es wird nicht reichen.«

»Wir werden einen Weg finden.«

Erst später erriet ich, wie seine Strategie aussehen könnte. Was immer geschah, Journey’s End war nur noch zwei oder drei Monate entfernt. Wenn man die Vorräte sorgfältig rationierte, konnte man einige Kolonisten vorzeitig wecken. Die reanimierten Momios konnten, wenn auch unter kaum noch menschenwürdigen Bedingungen, zusammen mit der Besatzung auf dem Schiff leben, und damit ließe sich der Unterschied ausgleichen. Für jeweils zehn vorzeitig geweckte Kolonisten könnte man einen Schläferring abstoßen, und die damit erreichte Verringerung der Schiffsmasse ermöglichte eine steilere Bremsparabel.

Es wäre ein langwieriges und gefährliches Verfahren — nach meiner Schätzung wäre bei einer Reanimierung unter suboptimalen Bedingungen mit einem Verlust von zehn Prozent der betroffenen Schläfer zu rechnen —, aber es könnte den Massenunterschied knapp aufwiegen.

Und dann wären sie zwar nicht im Vorteil, hätten aber immerhin gleichgezogen.

»Ich weiß, was Sie vorhaben«, erklärte ich Armesto.

»Das bezweifle ich sehr«, antwortete der alte Mann.

Aber bald sah ich, dass ich Recht hatte. Nachdem die erste Wolke von Schläferringen davongeschwebt war, spielte sich ein Muster ein: etwa alle zehn Stunden ein Abwurf. Das entsprach genau meinen Erwartungen: zehn Stunden dauerte es, um alle Kolonisten in einem Ring aufzutauen. Jedes Schiff hatte nur eine Handvoll Leute mit den dafür erforderlichen Fachkenntnissen, sie mussten also in Schichten arbeiten.

»Das wird Sie nicht retten«, sagte ich.

»Ich denke doch, Sky… ich denke doch.«

Da wusste ich, was ich zu tun hatte.

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