Er war zehn Jahre alt und ging mit seinem Vater durch den Frachtraum. Ihre Stiefel quietschten auf dem gewölbten, blank polierten Boden, und in der dunklen Oberfläche konnten sie ihr Spiegelbild sehen: ein Mann und ein Junge stiegen einen endlosen Hang hinauf, der für das Auge immer steiler wurde, obwohl er sich unter ihren Füßen ganz eben anfühlte.
»Wir gehen nach draußen, nicht wahr?«, fragte Sky.
Titus sah auf seinen Sohn hinab. »Wie kommst du denn darauf?«
»Sonst wärst du nicht mit mir hierher gekommen.«
Titus sagte nichts, Widerspruch wäre auch zwecklos gewesen. Sky war noch nie zuvor im Frachtraum gewesen; nicht einmal auf einem von Constanzas unerlaubten Ausflügen in die verbotenen Zonen der Santiago. Sky hatte nicht vergessen, wie sie ihn zu den Delphinen mitgenommen hatte und wie er dafür bestraft worden war. Doch was dann kam, hatte die Strafe völlig in den Schatten gestellt: der Blitz, das lange Warten, eingesperrt in seinem dunklen Kinderzimmer, allein und frierend. Inzwischen war das alles sehr weit weg, aber einiges, was an diesem Tag geschehen war, verstand er immer noch nicht so ganz, und er hatte seinen Vater nie dazu bewegen können, mit ihm darüber zu sprechen. Das hatte nicht nur mit Starrköpfigkeit zu tun; nicht nur mit Titus’ Trauer über den Tod von Skys Mutter. Die stillschweigende Zensur — denn es war mehr als nur eine einfache Weigerung, den Vorfall zu erörtern — wirkte bei jedem Erwachsenen, den Sky darauf angesprochen hatte. Niemand erwähnte den Tag, an dem das ganze Schiff in Kälte und Dunkelheit versunken war, dennoch war Skys Erinnerung daran sehr lebendig geblieben.
Nach einigen Tagen — im Nachhinein war er ziemlich sicher, dass es tatsächlich Tage gedauert hatte — war es den Erwachsenen gelungen, die Hauptbeleuchtung wieder in Gang zu bringen. Sky hörte, wie die Luftzirkulatoren wieder ansprangen — wie das schwache Hintergrundgeräusch zurückkehrte, das ihm eigentlich erst aufgefallen war, als es fehlte. Bis dahin, so hatte ihm sein Vater später erzählt, hatten sie nicht umgewälzte Luft geatmet, die zunehmend verbrauchter roch, je mehr Kohlendioxid die hundertundfünfzig wachen Menschen in die Atmosphäre zurückgaben. Wenige Tage länger, und es hätte ernsthafte Probleme gegeben, aber nun wurde die Luft spürbar frischer, und das Schiff erwärmte sich so weit, dass man wieder ohne zu frösteln durch die Korridore gehen konnte. Verschiedene Sekundärsysteme, auf die man während des Stromausfalls nicht hatte zugreifen können, wurden zögernd angefahren. Die Bahn, die Material und Techniker die Säule hinauf und hinunter beförderte, nahm den Betrieb wieder auf. Die Informationsnetze des Schiffes waren bislang stumm geblieben, nun gaben sie erneut Auskunft. Auch das Essen wurde besser, aber Sky hatte kaum mitbekommen, dass man sich während des Blackouts von Notrationen ernährt hatte.
Doch immer noch erklärte ihm keiner von den Erwachsenen, was eigentlich geschehen war.
Als endlich wieder so etwas wie Normalität auf dem Schiff eingekehrt war, schlich Sky sich heimlich in sein Kinderzimmer zurück. Im Raum brannte Licht, doch er sah erstaunt, dass alles noch mehr oder weniger so war, wie er es zurückgelassen hatte: Clown hatte immer noch die Form, in der er nach dem Blitz erstarrt war. Sky trat vorsichtig näher und untersuchte die Missgestalt seines Freundes. Jetzt erkannte er, dass Clown immer nur als Muster in den kleinen bunten Quadraten existiert hatten, mit denen Wände, Decke und Fußboden gepflastert waren. Clown war ein bewegliches Bild gewesen, das nur dann stimmig war — nur dann richtig aussah —, wenn es genau von Skys Standort aus gesehen wurde. Er schien nur deshalb körperlich — und nicht nur als Zeichnung an der Wand — präsent zu sein, weil seine Füße und Beine auch auf den Fußboden gezeichnet waren, aber perspektivisch so verzerrt, dass sie von da, wo Sky gerade stand, völlig real wirkten. Der Raum musste Sky ständig gefolgt sein und registriert haben, wohin sein Blick ging. Hätte er seinen Standort schnell genug wechseln können, schneller, als der Raum Clowns Bild neu berechnen konnte, dann hätte er den Trick mit der Perspektive vielleicht durchschaut. Aber Clown war Sky immer weit voraus gewesen. Drei Jahre lang hatte der Junge kein einziges Mal an seiner Echtheit gezweifelt, obwohl Clown ihn nie berührt hatte und auch von ihm nicht berührt werden konnte.
Skys Eltern hatten ihre Verantwortung für ihn an eine Illusion abgegeben.
Doch solche Gedanken schob er jetzt — er war in versöhnlicher Stimmung — weit von sich. Zu sehr beeindruckten ihn die schiere Größe des Frachtraums und die Aussicht auf das, was ihm bevorstand. Sie waren, nur von einer wandernden Lichtpfütze umgeben, ganz allein, und das ließ den Raum noch größer erscheinen. Was außerhalb des Lichtkreises lag, war nur schemenhaft erkennbar; die massigen schwarzen Frachtbehälter, die mit den zugehörigen Transportmaschinen in weitem Bogen ins Dunkel hinein ragten, ließen die Dimensionen erahnen. Hier und dort waren Raumschiffe geparkt; etliche Einpersonenschlepper und Flugbesen für den Einsatz im Nahbereich, aber auch voll belüftete Taxi-Shuttles für den Verkehr zwischen den Schiffen der Flottille. Die Taxis konnten notfalls auch in eine Atmosphäre eintreten, waren aber nicht dafür gebaut, anschließend wieder ins All zurückzukehren. Die Landefähren, mächtige Deltaflügler, die mehrfach die Oberfläche von Journey’s End ansteuern sollten, waren zu groß, um innerhalb der Santiago Platz zu finden; man hatte sie stattdessen an der Außenseite des Schiffes befestigt, und wer nicht wie Skys Mutter vor ihrem Tod einem der Außenteams zugeteilt war, bekam sie so gut wie nie zu sehen.
Vor einem der kleineren Shuttles hielt Titas an. »Ja«, sagte er, »wir gehen nach draußen. Ich glaube, es ist Zeit für dich, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.«
»Was für Dinge?«
Doch an Stelle einer Antwort schob Titas nur die Manschette seiner Uniformjacke zurück und sprach leise in sein Armband. »Exkursionsfahrzeug 15 aktivieren.«
Es gab keine Verzögerung; seine Autorität wurde nicht infrage gestellt. Das Taxi reagierte sofort. Auf dem keilförmigen Rumpf gingen die Lichter an, die Tür zum Cockpit schwang lautlos auf, und die Palette, auf der das Schiff stand, drehte sich, bis die Tür vor den beiden war und das Raumschiff in einer Linie mit den Startgeleisen stand. Dampf quoll aus den Seitenluken, und irgendwo im Innern des eckigen Rumpfs heulten Turbinen auf. Noch vor wenigen Sekunden war das Ding ein Stück totes, glänzendes Metall gewesen, nun drohten es die angestauten Energien fast zu sprengen.
Sky blieb an der Tür stehen, bis ihn sein Vater zum Einsteigen aufforderte.
»Nach dir, Sky. Geh nach vorne und setz dich auf den Sessel links von der Instrumentensäule. Aber fass dabei nichts an.«
Sky hüpfte in das Raumschiff und spürte, wie der Boden unter seinen Füßen vibrierte. Im Innern des Taxis ging es sehr viel enger zu, als er von außen gedacht hatte — der Rumpf war mit dicken Panzerplatten verkleidet —, und er musste sich ganz klein machen, um die vorderen Plätze zu erreichen, ohne mit dem Kopf an das Gewirr von knorpeligen Röhren und Leitungen zu stoßen. Als er seinen Platz gefunden hatte, justierte er so lange an der stählernen Schnalle herum, bis der Anschnallgurt stramm saß. Vor ihm leuchtete kühl ein türkisgrünes Display — ständig wechselnde Ziffern und komplizierte Diagramme — unter einem gewölbten, goldschimmernden Sichtfenster. Zu seiner Linken befanden sich eine Kontrollsäule mit vielen kleinen Hebeln und Schaltern und ein einzelner schwarzer Steuerknüppel.
Sein Vater zwängte sich in den rechten Sitz. Die Tür hatte sich hinter ihnen geschlossen, und damit hatte der Lärm schlagartig nachgelassen. Nur das Fauchen der Umwälzanlage war zu hören. Sein Vater berührte mit dem Finger das grüne Display, und als es sich veränderte, kniff er die Augen zusammen und studierte konzentriert die Ergebnisse.
»Ein guter Rat, Sky. Verlass dich nie darauf, wenn die verdammten Dinger dir sagen, dass alles sicher ist. Vergewissere dich lieber selbst.«
»Du hast kein Vertrauen zu den Maschinen?«
»Früher war das anders.« Sein Vater schob den Steuerknüppel nach vorn, und das Taxi glitt, vorbei an den Reihen weiterer Fahrzeuge, über die Startgeleise. »Aber Maschinen sind nicht unfehlbar. Wir hatten uns eingeredet, sie wären es, denn nur das bewahrte uns davor, an einem Ort wie diesem, wo wir bei jedem Atemzug auf sie angewiesen sind, den Verstand zu verlieren. Leider hat es nie gestimmt.«
»Warum hast du deine Meinung geändert?«
»Das wirst du bald sehen.«
Sky sprach in sein eigenes Armband — es gewährte ihm Zugriff auf eine begrenzte Untergruppe der Funktionen, über die das Gerät seines Vaters verfügte — und bat das Schiff, ihn mit Constanza zu verbinden. »Du errätst niemals, von wo ich anrufe«, sagte er, als ihr Gesicht winzigklein aufleuchtete. »Ich gehe nach draußen.«
»Mit Titus?«
»Ja, mein Vater sitzt neben mir.«
Constanza war jetzt dreizehn, wurde aber — genau wie Sky — oft für älter gehalten. Das hatte bei beiden nichts mit dem Äußeren zu tun, denn Constanza sah zumindest nicht älter aus, als sie tatsächlich war, und Sky wirkte sogar sehr viel jünger: er war klein und blass, und man konnte sich nur schwer vorstellen, dass er in absehbarer Zeit in die Pubertät kommen sollte. Aber geistig waren sie beide nach wie vor frühreif; Constanza arbeitete als mehr oder weniger vollwertige Kraft in Titus’ Sicherheitswache mit. Auf einem Schiff mit einer zahlenmäßig so kleinen lebenden Besatzung hatte sie naturgemäß nur wenig mit der Durchsetzung von Vorschriften zu tun, sondern war hauptsächlich damit beschäftigt, komplizierte Sicherheitsprozeduren zu überwachen und Betriebsszenarien zu studieren und zu simulieren. Es war eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit — die Santiago war ein unglaublich komplexes System, das sich nur schwer in seiner Gesamtheit erfassen ließ —, aber sie hatte ihr höchstwahrscheinlich nie Gelegenheit geboten, das Schiff zu verlassen. Seit sie für Skys Vater arbeitete, war die Freundschaft der beiden Kinder nicht mehr ganz so eng — Constanza trug viel mehr Verantwortung als Sky und bewegte sich in der Welt der Erwachsenen —, aber was jetzt vor ihm lag, musste sie zwangsläufig beeindrucken und ihm in ihren Augen mehr Respekt verschaffen.
Er wartete gespannt auf ihre Antwort, doch sie fiel etwas anders aus, als er erwartet hatte. »Es tut mir sehr Leid, Sky. Es wird sicher nicht leicht für dich werden, aber ich glaube, du musst es sehen.«
»Wovon sprichst du?«
»Das wird Titus dir gleich zeigen.« Sie hielt inne. »Ich habe es immer gewusst, Sky. Seit dem Tag, an dem es passierte, als wir von den Delphinen zurückkamen. Aber bisher hatte ich kein Recht, darüber zu sprechen. Wenn du willst, können wir das nachholen, sobald du wieder zurück bist.«
Er kochte vor Wut. Sie redete nicht wie eine Freundin mit ihm, sondern eher so, wie er sich eine herablassende ältere Schwester vorstellte. Und jetzt setzte sein Vater noch eins drauf, indem er ihm tröstend die Hand auf den Arm legte. »Sie hat Recht, Sky. Ich hatte überlegt, dich darauf vorzubereiten, mich aber dann doch dagegen entschieden — was Constanza sagt, ist wahr. Es wird nicht angenehm werden, aber die Wahrheit ist selten angenehm. Und ich glaube, du bist jetzt reif dafür.«
»Reif wofür?«, fragte er, dann fiel ihm ein, dass er die Verbindung zu Constanza noch nicht getrennt hatte, und er wandte sich an sie: »Du hast von diesem Ausflug gewusst, nicht wahr?«
»Sie hat vermutet, dass ich dich mit nach draußen nehmen wollte«, sagte sein Vater, bevor sich das Mädchen rechtfertigen konnte. »Das ist alles. Du darfst — und kannst — ihr deshalb nicht böse sein. Alle Angehörigen der Sicherheitswache müssen von einem Ausflug in den Weltraum und — außer bei einem Besuch auf einem der anderen Schiffe — über den Grund dafür in Kenntnis gesetzt werden.«
»Und was ist der Grund?«
»Du sollst erfahren, was mit deiner Mutter geschah.«
Das Taxi war die ganze Zeit weiter gerollt, nun hatten sie die glatte Metallwand des Frachtraums erreicht. Eine runde Tür öffnete sich, und das Taxi glitt von der Palette in einen langen, rot erleuchteten Raum, der nicht viel breiter war als die Maschine selbst. Sie mussten etwa eine Minute warten, bis die Luft aus der Kammer abgesaugt war, dann versank das Taxi jäh in einem Schacht. Skys Vater nützte die Gelegenheit, um sich über Sky zu beugen und seinen Gurt noch fester zu ziehen, dann waren sie draußen — unter ihnen die Nacht, über ihren Köpfen der sanft gerundete Rumpf. Sky glaubte ins Unendliche zu stürzen, obwohl unter ihnen nichts war, woran er die Höhe hätte messen können.
Sie sackten ab. Es dauerte nur einen Moment, doch der war schwindelerregend und erinnerte Sky an seine seltenen Besuche im Zentrum des Schiffes, wo die Schwerkraft fast gegen Null ging. Dann sprangen die Triebwerke an und erzeugten ein gewisses Schweregefühl. Skys Vater steuerte das Taxi geschickt von dem massigen grauen Schiffsrumpf weg und korrigierte mit leichten Schubveränderungen den Kurs. Seine Finger huschten so sensibel über die Bedienungselemente, als spielte er auf einem Klavier.
»Mir ist übel«, sagte Sky.
»Mach die Augen zu. Das geht gleich vorbei.«
Der Tod seiner Mutter — und das Wissen, dass dieser Ausflug damit in Zusammenhang stand — belastete den Jungen, konnte aber die freudige Erregung darüber, tatsächlich im Weltall zu sein, nicht ganz unterdrücken. Er löste die Schnalle des Sicherheitsgurts und kroch auf der Suche nach einem besseren Ausblick durch das ganze Schiff. Sein Vater erteilte ihm eine sanfte Rüge und befahl ihm ohne großen Nachdruck, sich wieder auf seinen Platz zu setzen. Dann wendete er das Taxi und lächelte, als das große Schiff in Sicht kam, das sie soeben verlassen hatten.
»Da ist sie. Deine Heimat seit zehn Jahren, Sky, und die einzige Heimat, die ich jemals gekannt habe. Ich weiß; du brauchst deine Gefühle nicht zu verbergen. Eine Schönheit ist sie gerade nicht, wie?«
»Aber sie ist so groß.«
»Das muss sie auch sein — sie ist doch alles, was wir jemals haben werden. Du bist natürlich besser dran. Du wirst Journey’s End zumindest sehen.«
Sky nickte, aber die selbstverständliche Gewissheit, mit der sein Vater davon ausging, dass er bis dahin tot sein würde, machte ihn unwillkürlich traurig.
Er schaute zum Schiff zurück. Die Santiago war zwei Kilometer lang, länger als alle Schiffe, die jemals die Meere der Erde befahren hatten, ebenbürtig auch den größten Raumschiffen, die vor dem Aufbruch der Flottille im Sonnensystem verkehrt waren. Ihr Grundgerüst war ein alter Raumfrachter mit Fusionsantrieb, den man nachträglich für den Interstellarflug umgebaut hatte. Die anderen Flottillenschiffe gingen mit kleinen Abweichungen auf ähnliche Konstruktionen zurück.
So weit von jeder Sonne entfernt, war das Schiff so gut wie unbeleuchtet und wäre ohne das Licht aus den über die ganze Länge verteilten Fensterchen gar nicht zu sehen gewesen. Ganz vorne saß eine große, mit Scheinwerfern besetzte Sphäre, der Kommandobereich. Er enthielt die Brücke, wo sich die Mitglieder der Besatzung meist aufhielten, wenn sie Dienst hatten. Dort waren auch die wissenschaftlichen Mess- und Navigationsinstrumente untergebracht, die fest auf den Zielstern gerichtet waren; jene Sonne mit dem Spitznamen ›Schwan‹, die aber in Wirklichkeit sehr viel profaner 61 Cygni A hieß: die eine Hälfte eines kühlen roten Binärsystems in einem wirren Sternhaufen, dem man in der Antike den Namen Cygnus gegeben hatte. Erst gegen Ende der Reise sollte das Schiff mit einer halben Drehung dem Schwan das Heck zuwenden, um seine Triebwerke zum Bremsen einzusetzen.
Hinter der Kontrollsphäre befand sich in einem Zylinder mit gleichem Durchmesser der Frachtraum, den sie soeben verlassen hatten. Daran schloss sich eine lange, dünne Säule an, in regelmäßigen Abständen besetzt mit riesigen Modulen, die an die Wirbel eines Dinosauriers erinnerten. Am Ende der Säule hing dann das Antriebssystem, jene beeindruckend komplexen Triebwerke, die bisher nur einmal gefeuert hatten, um das Schiff auf Reisegeschwindigkeit zu bringen, und erst in unvorstellbar ferner Zukunft, wenn Sky längst erwachsen war, wieder gezündet werden sollten.
Sky kannte alle Teile des Schiffes; man hatte ihm oft genug Modelle und Hologramme davon gezeigt, doch nun sah er es zum ersten Mal mit eigenen Augen von außen, und das war doch etwas anderes. Das Schiff rotierte langsam und schwerfällig, aber sehr würdevoll um seine Längsachse und erzeugte damit auf den gewölbten Decks die Illusion von Schwerkraft. Sky sah gebannt zu, wie die Lichter in Sicht kamen und zehn Sekunden später wieder verschwanden. Er entdeckte die winzige Öffnung im Frachtzylinder, wo das Taxi das Schiff verlassen hatte. Sie sah sehr klein aus, aber vielleicht nicht klein genug, wenn man bedachte, dass dieses Schiff für alle Zukunft seine ganze Welt darstellte. Noch war er ein kleiner Junge und hatte erst einen winzigen Teil der Santiago besucht, aber bald würde ihm niemand mehr verbieten, das Schiff bis in den letzten Winkel zu erforschen.
Noch etwas fiel ihm auf; etwas, das die Modelle und Holos einfach weggelassen hatten. Wenn sich das Schiff drehte, sah man, dass es auf einer Seite dunkler war auf der anderen.
Was mochte das bedeuten?
Doch er hatte kaum begonnen, sich über diese Unstimmigkeit den Kopf zu zerbrechen, als er sie auch schon wieder vergaß. Zu sehr beeindruckte ihn die schiere Größe des Schiffes, die vielen Details, die im luftleeren Raum noch aus mehreren Kilometern Entfernung gestochen scharf zu erkennen waren, und er überlegte, wo sich aus dieser ungewohnten Perspektive wohl seine Lieblingsplätze befinden mochten. Auf den tollkühnen Ausflügen, die er nicht allein, sondern nur unter Constanzas Führung unternommen hatte, waren sie nie sehr weit in die Säule vorgedrungen, bevor sie von den Erwachsenen wieder eingefangen wurden, so viel stand fest. Übrigens hatte ihm niemand seine Eskapaden wirklich verübelt. Man hatte Verständnis dafür, dass er die Toten sehen wollte, nachdem er von ihrer Existenz wusste.
Natürlich waren die Toten nicht wirklich tot — nur tiefgefroren.
Die Säule war einen Kilometer lang; halb so lang wie das ganze Schiff. Ihr Querschnitt war ein Sechseck, und an jeder der sechs Seiten hingen, wie durch eine Nabelschnur mit der Säule selbst verbunden, jeweils sechzehn scheibenförmige Schläfermodule. Sky wusste, dass jede dieser sechsundneunzig Scheiben in zehn Dreiecke unterteilt war, und dass jedes Dreieck einen Momio-Schläfer und die sperrigen Geräte zu seiner Versorgung beherbergte. Das ergab neunhundertundsechzig tiefgefrorene Passagiere. Fast tausend Menschen, für die gesamte Dauer der Reise zum Schwan in eisigem Tiefschlaf gefangen. Selbstverständlich waren diese Schläfer die kostbarste Fracht, die das Schiff beförderte, ja, seine einzige Daseinsberechtigung. Die einhundertfünfzig Mann starke Wachbesatzung war nur dazu da, die Tiefgefrorenen zu betreuen und das Schiff auf Kurs zu halten. Wieder verglich Sky sein derzeitiges Wissen über das Schiff mit dem Informationsstand, den er bis zu seiner Mündigkeit zu erreichen hoffte. Im Moment kannte er nicht einmal ein Dutzend Menschen, aber das lag nur daran, dass er besonders behütet aufgewachsen war. Bald schon würde er viele von den anderen kennen lernen. Sein Vater sagte, das Schiff sei nur deshalb mit einhundertfünfzig wachen Passagieren besetzt, weil diese Zahl für Soziologen eine magische Größe darstelle; es war der Wert, auf den sich viele Dorfgemeinschaften einpendelten, weil er die besten Aussichten auf hohes Gemeinwohl und innere Harmonie bot. Die Gruppe war so groß, dass der Einzelne nach Wunsch in leicht unterschiedlichen Kreisen verkehren konnte, aber nicht so groß, dass sich Zellen bilden konnten, die zur Spaltung führten. So betrachtet wäre der Alte Balcazar der Stammesführer, und Titus Haussmann mit seiner umfassenden Kenntnis aller geheimen Überlieferungen und seiner ständigen Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung spielte vielleicht die Rolle des Medizinmanns oder des ranghöchsten Jägers. In beiden Fällen wäre Sky der Sohn eines Autoritätsträgers oder, wie die Erwachsenen manchmal sagten, eines Caudillo — das Wort bedeutete ›großer Mann‹ —, und hätte somit gute Zukunftschancen. Seine Eltern und die anderen Erwachsenen sagten ganz offen, dass Captain Balcazar inzwischen ein ›alter Mann‹ war. Der Alte Balcazar und sein Vater standen beruflich in engem Kontakt: Titus hatte stets das Ohr des Captains, und Balcazar fragte Skys Vater in allen Fragen um Rat. Auch für diesen Ausflug hatte Titus sicher Balcazars Genehmigung eingeholt, denn die Raumschiffe der Santiago waren unersetzlich und sollten daher so wenig wie möglich geflogen werden.
Sky spürte, wie sich die künstliche Schwerkraft wieder verringerte. Das Taxi bremste ab.
»Sieh es dir genau an«, sagte Titus.
Sie schwebten soeben an den Triebwerken vorbei: ein unübersichtliches Gewirr von Tanks, Rohrleitungen und ausgeschweiften Öffnungen, die an Trompetentrichter erinnerten.
»Antimaterie«, sagte Titus leise. Es klang wie ein Fluch. »Das reine Teufelszeug, das kann ich dir sagen. Auch die Shuttles führen kleine Mengen davon mit, um die Fusionsreaktionen in Gang zu bringen, und schon davon bekomme ich eine Gänsehaut. Wenn ich erst an die Mengen an Bord der Santiago denke, sträuben sich mir die Nackenhaare.«
Titus zeigte auf die beiden Magnetflaschen am Heck des Schiffes: riesige Behälter zum Einschluss von Anti-Lithium in makroskopischen Mengen. Das größere Reservoir war jetzt leer, der Treibstoff war restlos für den Anfangsschub verbraucht worden, der das Schiff auf interstellare Reisegeschwindigkeit beschleunigt hatte. Äußerlich war kein Unterschied festzustellen, doch die zweite Flasche enthielt nach wie vor die volle Menge Antimaterie, sorgsam eingebettet in ein Vakuum, das um eine Winzigkeit vollkommener war als jenes, in dem das große Schiff flog. Die Antimaterie-Menge in der kleineren Flasche war geringer, weil das Schiff bei der Dezeleration weniger Masse haben würde als bei der Beschleunigung, aber sie war immer noch groß genug, dass man davon Albträume bekam.
Über Antimaterie machte man keine Witze, jedenfalls hatte Sky das noch nie erlebt.
»Schön«, sagte sein Vater. »Jetzt setz dich wieder auf deinen Platz und leg deinen Gurt an.«
Als er angeschnallt war, gab Titus maximalen Schub, und das Taxi schoss davon. Die Santiago schrumpfte zu einem dünnen grauen Splitter, und schließlich musste man das Sternenfeld schon sehr sorgfältig absuchen, um sie überhaupt noch zu finden. Vor dem Hintergrund der scheinbar unbeweglichen Sterne wollte man kaum glauben, dass sich das Schiff überhaupt bewegte. Tatsächlich flog es mit acht Hundertstel Lichtgeschwindigkeit, schneller als je ein bemanntes Raumschiff zuvor, aber bei den ungeheuren Entfernungen im interstellaren Raum dennoch kaum der Rede wert.
Deshalb wurden die Passagiere tiefgefroren, damit sie den langen Flug verschlafen konnten, während drei Mannschaftsgenerationen fast ihr ganzes Leben damit zubrachten, sie zu betreuen. Von der Besatzung wurden die reglosen Gestalten in ihren Kälteschlaftanks scherzhaft als ›Mumien‹ oder auf Castellano, das für private Gespräche immer noch in Gebrauch war, als Momios bezeichnet.
Sky Haussmann gehörte zur Besatzung. Jeder, den er kannte, gehörte zur Besatzung.
»Kannst du die anderen Schiffe schon sehen?«, fragte sein Vater.
Sky spähte so lange durch das vordere Sichtfenster, bis er eines davon entdeckte. Es war nicht leicht zu finden, aber offenbar hatten sich seine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Oder hatte er es sich doch nur eingebildet?
Nein — da war es wieder, ein eigenes, winzig kleines Sternbild.
»Da ist eins.« Sky deutete mit dem Finger darauf.
Sein Vater nickte. »Das müsste die Brasilia sein. Die Palästina und die Bagdad sind ebenfalls da draußen, aber sehr viel weiter entfernt.«
»Kannst du sie sehen?«
»Nicht mit bloßem Auge.« Titus Hände glitten im Dunkeln über die Schaltelemente des Taxis. Farbige Kästchen erschienen auf dem Fenster wie Kreidestriche vor der Schwärze des Alls. Sie umrahmten die Brasilia und die weiter entfernten Schiffe, aber erst als die Brasilia schon nicht mehr zu übersehen war, konnte Sky die beiden anderen als dünne Splitter ausmachen. Die Brasilia war, wie er feststellte, von gleicher Bauart war wie sein Heimatschiff, sogar die Scheiben rings um die Säule waren identisch.
Er suchte auf dem Taxifenster nach einem bunten Rahmen für das vierte Schiff, aber er fand nichts.
»Ist die Islamabad hinter uns?«, fragte er seinen Vater.
»Nein«, antwortete Titus leise. »Sie ist nicht hinter uns.«
Er sprach in einem Tonfall, der Sky beunruhigte. Aber im Inneren des Taxis war es so dunkel, dass er Titus’ Gesicht nicht sehen konnte. Vielleicht war das beabsichtigt.
»Wo ist sie dann?«
»Sie ist nicht mehr da.« Sein Vater sprach sehr langsam. »Sie ist schon seit längerem nicht mehr da, Sky. Wir haben nur noch vier Schiffe. Der Islamabad ist vor sieben Jahren ein Unglück zugestoßen.«
Die Stille dauerte eine Ewigkeit, bis Sky sich schließlich die entscheidende Frage abringen konnte.
»Was ist passiert?«
»Eine Explosion. Eine Explosion, wie du sie dir nicht vorstellen kannst.« Sein Vater hielt kurz inne. »Für einen winzigen Augenblick war es, als erstrahlten Million von Sonnen. Zwinkere einmal mit den Lidern, Sky — und stell dir vor, dass in dieser Zeit tausend Menschen zu Asche verbrennen.«
Sky dachte an den Blitz in seinem Kinderzimmer zurück.
Drei Jahre war er damals alt gewesen. Das Licht hätte ihn sicher mehr erschreckt, hätte Clowns seltsamer Zusammenbruch am gleichen Tag nicht alles andere überschattet. Obwohl er es nie ganz vergaß, wenn er an das Ereignis dachte, war das Wichtigste doch immer noch die grenzenlose Enttäuschung über den Gefährten seiner Kindheit, die Erkenntnis, dass Clown nur ein Trugbild aus flimmernden Punkten gewesen war. Wie hätte ihn der kurze, helle Blitz mehr erschüttern können als diese Katastrophe?
»Hat jemand die Explosion herbeigeführt?«
»Nein, das glaube ich nicht. Jedenfalls nicht mit Absicht. Aber es könnte ein Experiment gewesen sein.«
»Mit den Triebwerken?«
»Manchmal denke ich mir, dass es so gewesen sein muss.« Jetzt sprach sein Vater fast verschwörerisch leise. »Unsere Schiffe sind sehr alt, Sky. Ich wurde genau wie du an Bord geboren. Mein Vater war ein junger Mann, noch kaum erwachsen, als er mit der ersten Generation den Merkur-Orbit verließ. Das war vor hundert Jahren.«
»Aber das Schiff nützt sich doch nicht ab«, sagte Sky.
»Nein«. Titus nickte mit Nachdruck. »Unsere Schiffe sind noch fast so gut wie an dem Tag, an dem sie gebaut wurden. Das Problem ist nur, sie werden nicht besser. Damals gab es auf der Erde noch Menschen, die auf unserer Seite standen und uns auch während der Reise unterstützen wollten. Sie hatten im Lauf der Jahre viel über die Konstruktion unserer Schiffe nachgedacht und immer wieder überlegt, wie sie uns mit kleinen Dingen das Leben erleichtern könnten. Sie schickten uns ihre Vorschläge: Verbesserungen an den lebenserhaltenden Systemen; Modifikationen für die Kälteschlafkojen. Wir hatten in den ersten Jahrzehnten Dutzende von Schläfern verloren, Sky — aber mit den neuen Einstellungen bekamen wir das Problem allmählich in den Griff.«
Auch das war Sky neu: die Vorstellung, dass einige von den Schläfern nicht mehr am Leben sein sollten, wollte ihm zunächst nicht in den Kopf. Schließlich war auch der Kälteschlaf so etwas wie der Tod. Doch sein Vater erklärte ihm, dass den Schläfern allerhand zustoßen konnte, was ein erfolgreiches Auftauen verhinderte.
»Aber in letzter Zeit… jedenfalls seit deiner Geburt — ist alles sehr viel besser geworden. In den vergangenen zehn Jahren hatten wir nur zwei Todesfälle.« Später sollte Sky sich fragen, was man mit diesen Toten gemacht hatte; ob sie etwa immer noch im Schiff waren. Die Erwachsenen hingen an den Momios wie eine religiöse Sekte an einem seltenen und sehr empfindlichen Heiligenbild. »Aber es gab noch einen Verbesserungsvorschlag«, fuhr sein Vater fort.
»Die Triebwerke?«
»Ja.« Tiefer Stolz klang aus Titus’ Stimme. »Die Triebwerke sind derzeit abgeschaltet und werden erst kurz vor dem Ziel wieder gezündet — aber wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihre Leistung zu verbessern, könnten wir, wenn wir Journey’s End erreichen, schneller abbremsen. Wie die Dinge jetzt liegen, müssten wir das Bremsmanöver einleiten, wenn wir vom Schwan noch Jahre entfernt sind — doch bei besserer Triebwerksleistung könnten wir länger mit Reisegeschwindigkeit fliegen und kämen eher ans Ziel. Schon eine kleine Steigerung — eine Zeitersparnis von wenigen Jahren — wäre ein Erfolg, besonders, wenn wir weitere Schläfer verlieren sollten.«
»Wird es dazu kommen?«
»Das werden wir erst sehr viel später erfahren. In fünfzig Jahren, wenn wir unserem Ziel schon sehr nahe sind, werden die Geräte, mit denen die Schläfer im Kälteschlaf gehalten werden, sehr alt geworden sein. Sie gehören zu den wenigen Systemen, die wir nicht laufend reparieren und modernisieren können — zu kompliziert und zu gefährlich. Jede Verkürzung der Flugzeit wäre also ein Gewinn. Denk an meine Worte — in fünfzig Jahren wirst du um jeden Monat kämpfen, den du von der Reisezeit abknapsen kannst.«
»Haben die Leute zu Hause denn einen Weg gefunden, um die Leistung der Triebwerke zu steigern?«
»Genau so war es.« Sein Vater freute sich, dass er das erraten hatte. »Natürlich hatten alle Schiffe der Flottille die entsprechenden Anweisungen erhalten, und wir waren auch in der Lage, die empfohlenen Umbauten vorzunehmen. Doch zunächst zögerten wir noch. Man rief alle Captains zu einem Spitzengespräch zusammen. Balcazar und drei von den vier anderen hielten den Plan für gefährlich. Sie mahnten zur Vorsicht — wiesen darauf hin, dass wir noch vierzig oder fünfzig Jahre Zeit hätten, um den Vorschlag zu studieren, bevor wir eine Entscheidung treffen müssten. Angenommen, die Erde hätte in ihrem Entwurf einen Fehler entdeckt? Womöglich war eine entsprechende Warnung bereits unterwegs — eine dringende Botschaft, die ›Halt!‹, schrie — vielleicht hatten die Konstrukteure in ein oder zwei Jahren auch noch eine bessere Idee, die sich aber jetzt nicht realisieren ließ. Angenommen, wir folgten dem ersten Vorschlag und verbauten uns damit die Möglichkeit, den zweiten auszuführen?«
Wieder dachte Sky an jenen Blitz mit seiner reinigenden Kraft. »Und was ist nun mit der Islamabad passiert?«
»Wie gesagt, wir werden nie Gewissheit haben. Die Captains beendeten das Gespräch mit dem einstimmigen Beschluss, vorerst nichts zu unternehmen und weitere Informationen abzuwarten. Ein Jahr verging; die Diskussion wurde fortgesetzt — auch Captain Khan beteiligte sich daran — und dann geschah es.«
»Vielleicht war es doch ein Unfall.«
»Vielleicht«, sagte sein Vater skeptisch. »Vielleicht. Hinterher… Die Explosion richtete zum Glück keine schwereren Schäden an. Weder bei uns noch bei den anderen Schiffen. Sicher, anfangs sah es schlimm aus. Als uns die elektromagnetische Schockwelle traf, brannte die Hälfte unserer Systeme durch, und wir konnten nicht einmal all jene sofort wieder in Gang bringen, die für die Mission unentbehrlich waren. Es gab keinen Strom, mit Ausnahme der Notversorgung für die Schläfer und unsere eigene Magneteinschlussanlage. In unserem Teil des Schiffes — ganz vorne — hatten wir nichts. Keine Energie. Nicht einmal so viel, wie man brauchte, um die Luftaustauscher zu betreiben. Das hätte tödlich sein können, aber in den Korridoren war genügend Luft, und das verschaffte uns eine Gnadenfrist von einigen Tagen; die nützten wir, um provisorische Verbindungskabel einzuziehen und die nötigen Ersatzteile einzubauen. So brachten wir allmählich wieder alles in Gang. Natürlich wurden wir von Trümmern getroffen — die Islamabad wurde nicht völlig zerstört, als sie explodierte, und einige der Bruchstücke durchschlugen unser Schiff mit halber Lichtgeschwindigkeit. Auch wurde durch den Blitz unsere Rumpfabschirmung ziemlich stark verbrannt — deshalb ist das Schiff auf einer Seite dunkler als auf der anderen.« Sein Vater schwieg einen Augenblick, aber Sky ahnte, dass er noch nicht fertig war. »So kam deine Mutter ums Leben, Sky. Lucretia befand sich außerhalb des Schiffs, als es passierte. Sie war mit einer Technikermannschaft dabei, den Rumpf zu inspizieren.«
Sky hatte gewusst, dass seine Mutter an diesem Tag gestorben war — er hatte sogar gewusst, dass sie draußen gewesen war —, aber was genau mit ihr passiert war, hatte man ihm nie gesagt.
»Ist das der Grund, warum du mit mir hierher geflogen bist?«
»Fast.«
Das Taxi legte sich schräg und flog in einem weiten Bogen zur Santiago zurück. Skys Enttäuschung war nicht allzu groß. Zwar hatte er sich tatsächlich schwache Hoffnungen gemacht, der Ausflug würde ihn auch noch zu einem der anderen Schiffe führen, aber solche Besuche waren überaus selten. Stattdessen — vielleicht sollte er versuchen, sich ein paar Tränen abzuquetschen, wenn schon vom Tod seiner Mutter die Rede war, aber eigentlich war ihm nicht nach Weinen zumute — wartete er nun geduldig darauf, dass sein Heimatschiff aus dem Dunkel auftauchte wie ein freundlicher Küstenstreifen in stürmischer Nacht.
»Eines musst du begreifen«, sagte Titus endlich. »Das Gelingen unserer Expedition wird durch die Zerstörung der Islamabad nicht ernsthaft infrage gestellt. Immerhin sind noch vier Schiffe übrig — das sind viertausend Siedler für Journey’s End —, aber selbst wenn nur ein Schiff wohlbehalten die Zielwelt erreichte, könnten wir noch eine Kolonie gründen.«
»Du meinst, dass unser Schiff das einzige sein könnte, das heil ans Ziel kommt?«
»Nein«, sagte sein Vater. »Ich meine, wir könnten zu denen gehören, die nicht ankommen. Wenn du das erst begriffen hast, Sky — wenn du begriffen hast, dass jeder von uns entbehrlich ist —, dann wirst du schon sehr viel besser verstehen, welche Kräfte innerhalb der Flottille am Werk sind; welche Entscheidungen in fünfzig Jahren möglicherweise getroffen werden müssen, wenn es zum Schlimmsten kommt. Merke dir nur: es genügt, wenn ein einziges Schiff auf Journey’s End eintrifft.«
»Aber wenn noch ein weiteres Schiff explodieren würde…«
»Zugegeben, diesmal würden wir wahrscheinlich keinen Schaden mehr nehmen. Seit die Islamabad hochging, haben wir den Abstand zwischen den Schiffen stark vergrößert. Das erhöht die Sicherheit, aber es erschwert die Pflege persönlicher Kontakte. Das könnte auf lange Sicht problematisch werden. Distanz kann Misstrauen erzeugen, und sie kann dazu verleiten, einen Feind nicht mehr als menschliches Wesen zu betrachten. Seinen Tod durchaus ins Kalkül zu ziehen.« Titus’ Stimme war so kalt und gleichgültig geworden, dass Sky sie kaum wiedererkannte, doch nun mäßigte er seinen Ton. »Vergiss das nicht, Sky. Wir sitzen alle in einem Boot, auch wenn die Schwierigkeiten in der Zukunft noch größer werden sollten.«
»Glaubst du, das könnte geschehen?«
»Ich weiß es nicht, aber verringern werden sie sich wohl kaum. Und wenn das alles wichtig wird — wenn wir uns dem Ende der Reise nähern —, wirst du in meinem Alter sein, und du wirst eine verantwortliche Position bekleiden, vielleicht liegt sogar die Leitung des Schiffes in deinen Händen.«
»Hältst du das für möglich?«
Titus lächelte. »Ich wäre mir sogar ganz sicher — wenn es da nicht noch eine gewisse sehr begabte junge Dame mit Namen Constanza gäbe.«
Während sie redeten, waren sie der Santiago sehr viel näher gekommen, aber jetzt flogen sie aus einem anderen Winkel auf sie zu. Die massige Kommandosphäre erschien aus dieser Perspektive wie ein kleiner grauer Mond, von Fugen durchzogen und überwuchert von einer Kruste kastenförmiger Sensormodule. Sky dachte über Constanza nach, nachdem sein Vater sie schon erwähnt hatte, und fragte sich, ob sie von seinem Ausflug nicht vielleicht doch beeindruckt war. Immerhin war er draußen im Weltall gewesen, auch wenn er sie damit nicht so hatte überraschen können, wie er ursprünglich gehofft hatte. Und eigentlich hatte er das, was er dort gesehen — und erfahren — hatte, bisher doch ganz gut verkraftet.
Aber Titus war noch nicht mit ihm fertig.
»Sieh ganz genau hin«, sagte sein Vater, als die geschwärzte Seite der Sphäre in Sicht kam. »An dieser Stelle war deine Mutter mit dem Inspektionsteam beschäftigt. Sie hatten sich mit magnetischen Gurten am Rumpf festgemacht und arbeiteten ganz dicht an der Oberfläche. Das Schiff drehte sich natürlich — genau wie jetzt — und wäre das Glück mit ihnen gewesen, dann hätten sie im Augenblick der Explosion auf der anderen Seite gearbeitet. Aber durch die Rotation hatten sie das Unglücksschiff in diesem Moment genau im Blickfeld und wurden von der vollen Wucht der Detonation getroffen. Und sie trugen nur die leichten Raumanzüge.«
Jetzt verstand Sky, warum ihn sein Vater nach draußen gebracht hatte. Er hatte ihm nicht nur erzählen wollen, wie seine Mutter ums Leben gekommen war, er sollte auch nicht nur mit der grausigen Tatsache vertraut gemacht werden, dass ein Fünftel der Flottille nicht mehr existierte. Das alles war Teil des Szenariums, aber die wichtigste Botschaft befand sich hier, auf dem Rumpf des Schiffes.
Alles andere war nur das Vorspiel gewesen.
Als der Blitz sie traf, hatten sie zunächst mit ihren Körpern die schlimmste Strahlung abgefangen. Sie waren sofort verbrannt — später erfuhr Sky, dass sie wahrscheinlich keinen Schmerz gespürt hatten —, aber im Augenblick ihres Todes hatten sie Negativschatten hinterlassen; hellere Stellen auf dem weiträumig verkohlten Rumpf. Sieben menschliche Umrisse waren zu sehen, erstarrt in einer Haltung, die man nur als qualvoll bezeichnen konnte, obwohl es wahrscheinlich nur die natürliche Stellung war, in der sie gearbeitet hatten, als der Blitz sie traf. Ansonsten sahen sie alle gleich aus; welchen Schatten Skys Mutter geworfen hatte, war nicht festzustellen.
»Du weißt vermutlich, welcher Fleck der ihre ist?«, fragte Sky.
»Ja«, antwortete Titus. »Das heißt natürlich nicht, dass ich sie gefunden hätte — das war jemand anderer. Aber dennoch, ich weiß, welches der Schatten deiner Mutter war.«
Wieder sah Sky die Flecken an. Er wollte sie sich einbrennen in sein Gedächtnis, denn er wusste, dass er nie wieder den Mut aufbringen würde, hierher zu kommen. Später sollte er erfahren, dass man sich nie ernsthaft bemüht hatte, sie zu beseitigen; man hatte sie bewusst zurückgelassen, zum Gedenken nicht nur an die sieben toten Arbeiter, sondern auch an die tausend anderen Opfer, die der verheerende Blitz in Atome zerrissen hatte. Das Schiff trug die Spuren der Katastrophe wie eine Narbe.
»Nun?«, fragte Titus mit leiser Ungeduld. »Soll ich es dir sagen?«
»Nein«, wehrte Sky ab. »Nein, ich will es nicht wissen. Niemals.«