»Sie wollten jemanden töten«, sagte Chanterelle. Die Gondel schwang sich durch das beleuchtete Korallenriff des Baldachins. Sie war auf dem Weg nach Hause. Unter uns lag, dunkel bis auf vereinzelte Feuer, der Mulch.
»Was?«
»Sie hatten die Pistole zur Hälfte aus der Tasche gezogen, als wollten Sie schießen. Nicht so, wie Sie sie mir gezeigt hatten — um mir zu drohen —, sondern als würden Sie den Abzug durchziehen, ohne vorher ein Wort zu sagen. Als wollten Sie einfach auf jemanden zugehen, ihm eine Kugel durch den Leib jagen und wieder verschwinden.«
»Leugnen hätte wohl wenig Sinn?«
»Sie müssen endlich offen mit mir reden, Tanner. Ich muss mehr erfahren. Sie sagten, die Wahrheit würde mir nicht gefallen, sie würde alles komplizieren. Aber die Sache ist auch so schon kompliziert genug, glauben Sie mir. Werden Sie Ihre Maske nun ein wenig lüften, oder setzen wir das Spiel wie bisher fort?«
Ich war noch nicht fertig damit, den Vorfall geistig zu verarbeiten. Ich hatte das Gesicht von Argent Reivich gesehen, in aller Öffentlichkeit, nur wenige Meter von mir entfernt.
Hatte er mich womöglich schon vorher entdeckt, war er viel raffinierter, als ich gedacht hatte? Wenn er mich erkannt hatte, hätte er die Halle nach der anderen Richtung verlassen können, während ich um Methusalem herum ging. Ich hatte mich so fest darauf verlassen, dass er immer noch vor der Glaswand stand, dass ich zu wenig auf die Menschen geachtet hatte, die gerade gingen. Es wäre also nicht ganz auszuschließen. Aber wenn ich akzeptierte, dass Reivich von Anfang an gewusst hatte, dass ich da war, trat ich damit eine ganze Serie von Fragen los, die noch viel beunruhigender waren. Warum war er stehen geblieben, wenn er mich bereits gesehen hatte? Und wieso waren wir einander einfach so über den Weg gelaufen? Ich hatte in diesem Stadium gar nicht nach ihm gesucht; ich wollte erst ein Gefühl für das Terrain bekommen, bevor ich tatsächlich die Netze auswarf. Und damit nicht genug: als ich nun die wenigen Augenblicke zwischen meiner Entdeckung Reivichs und dem Moment an mir vorüberziehen ließ, in dem mir klar wurde, dass er nicht mehr da war, tauchte eine weitere Erinnerung auf. Ich hatte noch etwas, noch jemanden gesehen, aber ich hatte mich so voll auf den Abschuss konzentriert, dass mein Bewusstsein das Bild verdrängt hatte.
Hinter dem Glas war ein zweites Gesicht gewesen — auch ein Gesicht, das ich kannte, ganz dicht bei Reivich.
Sie hatte die oberflächlichen Hautverfärbungen entfernt, aber die Knochenstruktur war kaum verändert und der Gesichtsausdruck war mir sehr vertraut.
Ich hatte Zebra gesehen.
»Ich warte immer noch«, sagte Chanterelle. »Dieses bedeutungsschwere Stirnrunzeln kann ich nämlich nicht unbegrenzt ertragen.«
»Entschuldigen Sie. Es ist nur…«Ich grinste. »Ich habe fast den Eindruck, ich könnte Ihnen so gefallen, wie ich bin.«
»Nur nicht übertreiben, Tanner. Vor zwei Stunden haben Sie mich noch mit einer Waffe bedroht. Wenn eine Beziehung so anfängt, geht es meistens schief.«
»Normalerweise wäre ich ganz Ihrer Meinung. Aber zufällig hatten auch Sie mich mit einer Waffe bedroht, und die war um einiges größer als die meine.«
»Hmm, mag sein.« Das klang nicht überzeugt. »Aber wenn wir die Sache fortsetzen wollen — was immer Sie darunter verstehen —, sollten Sie jetzt anfangen, sich etwas ausführlicher über die dunklen Geheimnisse Ihrer Vergangenheit zu äußern. Auch wenn das eine oder andere darunter ist, das ich nicht unbedingt erfahren soll.«
»Oh, von dieser Sorte gibt es genug, glauben Sie mir.«
»Dann ans Licht damit. Bis wir in meiner Wohnung sind, möchte ich wissen, warum Sie diesen Mann töten wollten. Und wenn ich Sie wäre, würde ich mir große Mühe geben, mich zu überzeugen, dass er den Tod verdient — wer immer er auch sein mag. Sonst sinken Sie womöglich noch in meiner Achtung.«
Die Gondel schaukelte heftig, aber das fand ich inzwischen nicht mehr ganz so unangenehm.
»Er muss sterben«, sagte ich. »Obwohl ich nicht sagen kann, dass er ein schlechter Mensch wäre. Ich hätte an seiner Stelle genau so gehandelt.« Nur wäre ich professioneller vorgegangen, dachte ich. Und ich hätte hinterher niemanden am Leben gelassen.
»Hm, das ist kein guter Anfang, Tanner. Aber fahren Sie bitte fort.«
Ich erwog, Chanterelle eine bereinigte Fassung meiner Geschichte vorzulegen — doch dann wurde mir klar, dass es keine bereinigte Fassung gab. Also erzählte ich ihr von meiner Soldatenzeit und erklärte, wie ich in Cahuellas Dunstkreis geraten war. Ich sagte, Cahuella sei ein mächtiger und grausamer, aber kein wirklich schlechter Mensch, denn er wisse auch, was Vertrauen und Loyalität sei. Es falle nicht schwer, ihn zu respektieren, und man hätte auch den Wunsch, sich seinen Respekt zu verdienen. Vermutlich trug die Beziehung zwischen Cahuella und mir sehr primitive Züge: er war ein Mann, bei dem alles von erster Güte sein musste — seine Wohnung; die Waffen und Geräte in seiner Sammlung; seine Sexualpartnerinnen wie etwa Gitta. Auch bei seinen Angestellten war ihm das Beste gerade gut genug. Ich hielt mich für einen tüchtigen Soldaten, Leibwächter, Gefolgsmann, Krieger und Killer; die Etiketten waren austauschbar. Aber nur Cahuella bot mir einen absoluten Maßstab, nach dem ich mein Können beurteilen konnte.
»Ein übler Bursche, aber kein Unmensch?«, fragte Chanterelle. »Und das war für Sie Grund genug, für ihn zu arbeiten?«
»Er hat auch gut bezahlt«, sagte ich.
»Geldgieriger Bastard.«
»Auch das war nicht alles. Ich war wertvoll für ihn, weil ich Erfahrung hatte. Er war nicht bereit, diesen Schatz aufs Spiel zu setzen, indem er mich sinnlos in Gefahr brachte. Deshalb war ich weitgehend in beratender Funktion für ihn tätig — ich brauchte nur selten eine Waffe zu tragen. Dafür hatten wir richtige Leibwächter; jüngere, körperlich fittere, dümmere Ausgaben von mir.«
»Und wo kommt der Mann ins Spiel, den Sie im Escher-Turm gesehen haben?«
»Sein Name ist Argent Reivich«, sagte ich. »Er lebte früher auf Sky’s Edge. Der Name Reivich ist dort alteingeführt.«
»Auch im Baldachin hat die Familie eine lange Tradition.«
»Das überrascht mich nicht. Wenn Reivich hier bereits Verbindungen hatte, erklärt das, warum er so schnell Aufnahme in den Baldachin fand, während ich noch im Mulch durch die Pfützen watete.«
»Nicht so hastig. Was hat Reivich hierher geführt? Und was wollen Sie hier?«
Ich erzählte ihr, wie Cahuellas Waffen in die falschen Hände gefallen waren, und wie diese Hände damit Reivichs Familie ausgerottet hatten. Wie Reivich die Waffen zu meinem Arbeitgeber zurückverfolgt und sich entschlossen hatte, sich an ihm zu rächen.
»Finden Sie das nicht sehr ehrenwert von ihm?«
»Deshalb bin ich ihm auch nicht böse«, sagte ich. »Nur hätte ich an seiner Stelle dafür gesorgt, dass keiner am Leben geblieben wäre. Das war sein einziger Fehler; und den verzeihe ich ihm nicht.«
»Sie können ihm nicht verzeihen, dass er Sie nicht auch umgebracht hat?«
»Das war kein Gnadenakt, Chanterelle. Ganz im Gegenteil. Der Bastard wollte, dass ich mir Vorwürfe mache, weil ich Cahuella im Stich gelassen habe.«
»Bedauere, aber das ist mir doch um zu viele Ecken herum gedacht.«
»Er hat Cahuellas Frau getötet — die Frau, die ich beschützen sollte. Doch Cahuella, Dieterling und mich ließ er am Leben. Dieterling hatte einfach Glück, man hielt ihn für tot. Aber Cahuella und mich hat Reivich bewusst verschont. Cahuella sollte mich dafür bestrafen, dass ich Gittas Tod nicht verhindert hatte.«
»Und?«
»Und was?«
Sie war im Begriff, die Geduld zu verlieren. »Hat Cahuella Sie dafür bestraft?«
Die Frage war eigentlich nicht schwer zu beantworten. Cahuella hatte mich natürlich nicht bestraft — weil er selbst gestorben war. Er war seinen Verletzungen erlegen, obwohl die zu Anfang gar nicht so gefährlich ausgesehen hatten.
Warum also fiel es mir so schwer, Chanterelle eine Antwort zu geben? Warum sträubte sich meine Zunge gegen diese naheliegende Erklärung, warum ging mir stattdessen etwas ganz anderes durch den Sinn? Warum zweifelte ich plötzlich daran, dass Cahuella tatsächlich tot war?
Endlich sagte ich: »Dazu ist es nie gekommen. Aber ich musste mit der Schande leben, und das war an sich schon Strafe genug.«
»Aber es hätte nicht unbedingt so ausgehen müssen; jedenfalls nicht aus Reivichs Sicht.«
Wir durchquerten jetzt einen Teil des Baldachins, der an ein Modell der Alveolen in einer menschlichen Lunge erinnerte: ein unendlich verzweigtes Netz aus Kügelchen und dunklen Fäden, die aussahen wie geronnenes Blut.
»Wie hätte es denn sonst sein können?«, fragte ich.
»Vielleicht hat Reivich Sie verschont, weil seine Feindschaft nicht gegen Sie persönlich gerichtet war. Weil er wusste, dass Sie nur Cahuellas Angestellter waren, weil er nicht mit Ihnen Streit hatte, sondern mit Ihrem Arbeitgeber.«
»Klingt hübsch.«
»Und ist möglicherweise sogar richtig. Haben Sie sich schon einmal überlegt, dass Sie diesen Mann überhaupt nicht zu töten brauchen, dass Sie ihm vielleicht sogar Ihr Leben verdanken?«
Allmählich hatte ich von dieser Unterhaltung genug.
»Nein, das habe ich nicht — schlicht und einfach deshalb, weil es überhaupt keine Rolle spielt. Wie Reivich über mich dachte, als er beschloss, mich am Leben zu lassen — ob er mich bestrafen oder begnadigen wollte —, kümmert mich nicht. Es ist völlig ohne Belang. Wichtig ist, dass er Gitta getötet hat, und das ich Cahuella geschworen habe, ihren Tod zu rächen.«
»Ihren Tod zu rächen.« Ihr Lächeln war bitter. »Das klingt nach tiefstem Mittelalter. Vasallenehre und Treuepflicht. Lehenseid und Racheschwüre. Haben Sie in letzter Zeit mal in den Kalender geschaut, Tanner?«
»Davon verstehen Sie nichts, Chanterelle.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Richtig, sonst würde ich mich fragen, ob ich noch ganz bei Verstand bin. Wozu, in drei Teufels Namen, sind Sie hier? Um irgendein lächerliches Gelübde zu erfüllen — Auge um Auge?«
»Wenn Sie es so ausdrücken, kann ich eigentlich nicht darüber lachen.«
»Es ist auch nicht zum Lachen, Tanner. Es ist eher tragisch.«
»Für Sie vielleicht.«
»Und für jeden, der auch nur ein Fünkchen Objektivität besitzt. Sind Sie sich darüber im Klaren, wie viel Zeit vergangen sein wird, bis Sie nach Sky’s Edge zurückkommen?«
»Ich bin kein Kind mehr, Chanterelle.«
»Beantworten Sie meine Frage, verdammt.«
Ich seufzte. Wann hatte ich mir die Zügel so sehr aus der Hand nehmen lassen? War unsere Freundschaft nur ein Ausrutscher gewesen; ein kurzer Ausbruch aus dem normalen Alltag?
»Mindestens dreißig Jahre«, antwortete ich, als wäre das gar nichts, nicht mehr als ein paar Wochen. »Und bevor Sie weiter fragen, ja, ich bin mir durchaus bewusst, wie viel sich in dieser Zeit verändern könnte. Aber nicht die wichtigen Dinge. Die haben sich bereits verändert, und das ist nicht mehr rückgängig zu machen, so sehr ich es mir auch wünschte. Gitta ist tot. Dieterling ist tot. Mirabel ist tot.«
»Was?«
»Ich sagte: Cahuella ist tot.«
»Nein. Sie sagten, Mirabel ist tot.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Draußen zog die Stadt an uns vorbei. Was für Zustände mochten wohl in meinem Kopf herrschen, wenn ich solche Böcke schoss? Fehlleistungen wie diese ließen sich nicht so ohne weiteres mit Übermüdung erklären. Das Haussmann-Virus hatte zweifellos verheerendere Auswirkungen, als ich befürchtet hatte: nicht genug damit, dass es mich im Wachen wie im Träumen mit Scherben aus Skys Leben und seiner Zeit überschüttete, jetzt untergrub es schon die Fundamente meiner Identität und zerrüttete mein Ichbewusstsein. Und doch… selbst darin konnte ich einen gewissen Trost finden. Die Eisbettler hatten mir gesagt, ihre Therapie würde das Virus in nicht allzu langer Zeit austrocknen… Dennoch waren die Sky-Episoden zusehends eindringlicher geworden. Und warum sollte das Haussmann-Virus daran schuld sein, dass ich Ereignisse nicht aus Skys, sondern aus meiner eigenen Vergangenheit durcheinander brachte? Was hatte es davon, wenn ich Mirabel mit mir selbst verwechselte?
Nein. Nicht Mirabel. Cahuella.
Verstört — ich wollte nicht an jenen Traum von dem weißen Raum und dem Mann denken, dem ein Fuß fehlte — versuchte ich, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
»Ich will nur sagen…«
»Was?«
»Ich will nur sagen, ich erwarte nicht etwa, bei meiner Rückkehr alles so vorzufinden, wie ich es verlassen habe. Aber es kann auch nicht schlimmer werden. Denn die Menschen, die mir etwas bedeuteten, waren vorher schon tot.«
Dieses Haussmann-Virus ruinierte mich noch vollkommen.
Ich fing an, mich selbst als Sky zu sehen, und Tanner Mirabel wurde immer mehr… wozu? Zu einer dritten Person, losgelöst von mir, nicht mehr ich selbst?
Ich erinnerte mich an meine Verwirrung in Zebras Wohnung, als ich im Geiste jene Schachpartie immer wieder durchgespielt und manchmal gewonnen und dann wieder verloren hatte.
Aber es war immer das gleiche Spiel gewesen.
Damals musste es angefangen haben. Der Versprecher bedeutete nur, dass der Prozess genau wie das Haussmann-Virus die Grenzen meiner Träume überschritten hatte.
Verstört versuchte ich abermals, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
»Ich will nur sagen, ich erwarte nicht etwa, bei meiner Rückkehr alles so vorzufinden, wie ich es verlassen habe. Aber es kann auch nicht schlimmer werden. Denn die Menschen, die mir etwas bedeuteten, waren vorher schon tot.«
»Ich denke, im Grunde geht es Ihnen darum, Genugtuung zu bekommen«, sagte sie. »Wie in den alten Empirika, wo der Adelige seinen Handschuh auf den Boden wirft und Satisfaktion fordert. So funktionieren Sie. Als ich diese Art von Empirika noch verschlang, hielt ich solche Szenen anfangs für absurd. So komisch konnte man sich doch nicht einmal in historischer Zeit benommen haben! Aber das war ein Irrtum. Die Strukturen sind nicht nur historisch belegt, sie sind sogar noch quicklebendig. Und in Tanner Mirabel sind sie neu erstanden.« Sie hatte die Katzenmaske wieder aufgesetzt, das lenkte den Blick auf den höhnisch verzogenen Mund, und ich hatte plötzlich Lust, diesen Mund zu küssen, wusste aber zugleich, dass der Moment dafür — falls es ihn je gegeben hatte — für immer vorüber war. »Tanner fordert Satisfaktion. Und er schreckt vor nichts zurück, um sie zu bekommen. Nichts ist ihm dafür zu absurd, zu blöd, zu sinnlos. Auch wenn er hinterher dasteht wie das letzte Arschloch.«
»Bitte beleidigen Sie mich nicht, Chanterelle. Nicht wegen meiner Grundsätze.«
»Das hat nichts mit Grundsätzen zu tun, Sie aufgeblasener Esel. Das ist nur dummer männlicher Stolz.« Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und ihre Stimme bekam einen gehässigen Ton, den ich jedoch in jenem stillen Winkel meines Bewusstseins, wo ich den Streit als neutraler Zuschauer beobachtete, immer noch attraktiv fand. »Sagen Sie mir eines, Tanner. Denn eine Kleinigkeit haben Sie mir bei alledem noch nicht erklärt.«
»Für reiche kleine Mädchen tue ich doch alles.«
»Oh, wie sarkastisch. Geben Sie bloß Ihren Job nicht dran, um den aufreibenden Beruf des Redners zu ergreifen — Ihr messerscharfer Witz könnte uns allen zum Verhängnis werden.«
»Sie wollten mir eine Frage stellen.«
»Es geht um Ihren Boss — diesen Cahuella. Er hatte doch den Wunsch, Reivich selbst zu jagen, als er erfuhr, dass sich Reivich auf dem Weg nach Süden zu diesem — wie sagten Sie? — diesem Reptilienhaus befand?«
»Weiter«, sagte ich unwirsch.
»Warum hatte Cahuella dann nicht auch das Bedürfnis, die Sache selbst zu Ende zu bringen? Dadurch, dass Reivich diese Gitta getötet hatte, wurde das Ganze für Cahuella doch erst recht zu einer persönlichen Angelegenheit. Ein Grund mehr, um — ich wage es kaum auszusprechen — Satisfaktion zu fordern?«
»Kommen Sie zur Sache.«
»Ich begreife nicht, warum ich mit Ihnen spreche und nicht mit Cahuella. Warum steht nicht Cahuella vor mir?«
Ich hatte Mühe, darauf eine Antwort zu finden, jedenfalls eine, die mich selbst zufrieden stellte. Cahuella war zwar ein harter Bursche gewesen, aber er hatte nie als Soldat gekämpft. Es gab Verhaltensweisen, die mir in Fleisch und Blut übergegangen waren, Cahuella aber einfach fehlten — er hätte ein halbes Leben gebraucht, um sie sich anzueignen. Er verstand sich auf Waffen, aber nicht unbedingt auf den Krieg. Strategie und Taktik waren bei ihm reine Theorie — er war ein guter Spieler und beherrschte die Regeln der Kriegführung bis in die Feinheiten —, aber er war nie von der Wucht einer einschlagenden Granate in den Dreck geschleudert worden, hatte nie einen seiner Körperteile außer Reichweite auf dem Boden liegen und zucken sehen wie eine gestrandete Qualle. Solche Erfahrungen machten einen nicht zwangsläufig zu einem besseren Menschen — aber sie veränderten den Charakter. Andererseits, hätte ihn das, was ihm fehlte, in irgendeiner Weise beeinträchtigt? Wir befanden uns schließlich nicht im Krieg. Und ich war für den Job auch kein Naturtalent. So ernüchternd es war, ich konnte mich des Verdachts nicht ganz erwehren, dass Cahuella an meiner Stelle bereits Erfolg gehabt hätte.
Warum war also ich hier und nicht er?
»Er hätte den Planeten nicht so ohne weiteres verlassen können«, sagte ich. »Er galt als Kriegsverbrecher und konnte sich nicht frei bewegen.«
»Er hätte sicher Mittel und Wege gefunden, das Verbot zu umgehen«, sagte Chanterelle.
Das Beunruhigende war, dass sie wahrscheinlich Recht hatte. Und das war das Letzte, worüber ich nachdenken wollte.
»Es war nett, Sie kennen gelernt zu haben, Tanner. Vermutlich.«
»Chanterelle, nicht…«
Die Tür der Gondel schloss sich, und wir waren voneinander getrennt. Ich sah, wie sie den Kopf schüttelte. Die Maske verbarg ihren Gesichtsausdruck hinter katzenhaftem Gleichmut. Dann hob die Gondel ab und entfernte sich mit leisem Zischen. Wenn sich die Kabel spannten und wieder erschlafften, ertönte eine leise Musik, die an das Schwirren von Darmsaiten erinnerte.
Wenigstens hatte sie der Versuchung widerstanden, mich im Mulch auszusetzen.
Dafür stand ich in einem Bereich des Baldachins, wo ich mich nicht auskannte. Aber was hatte ich denn erwartet? Vermutlich hatte sich irgendwo in meinem Hinterkopf die Vorstellung festgesetzt, wir würden am Ende des Abends das Bett miteinander teilen. Angesichts der Tatsache, dass wir unsere Affäre damit begonnen hatten, Schusswaffen aufeinander zu richten und Drohungen auszutauschen, wäre das wahrhaftig ein überraschender Abschluss gewesen. Obendrein war sie noch schön — nicht so exotisch wie Zebra; vielleicht auch nicht so selbstbewusst —, wobei gerade das mit Sicherheit meine Beschützerinstinkte geweckt hatte. Dafür hätte sie mich ausgelacht — dummer männlicher Stolz — und natürlich mit vollem Recht. Und wenn schon. Sie gefiel mir, und wenn ich schon eine Rechtfertigung dafür brauchte, dass ich mich zu ihr hingezogen fühlte, kam es kaum noch darauf an, wie irrational die ausfiel.
»Geh zum Teufel, Chanterelle«, sagte ich, aber es klang nicht allzu überzeugt.
Das Sims, auf dem sie mich zurückgelassen hatte, sah aus wie der Landeplatz vor dem Escher-Turm, nur herrschte hier viel weniger Betrieb — Chanterelles Gondel war die einzige gewesen, und jetzt war auch sie fort. Ein leichter Regen fiel, als schwebte ein riesiger Drache über dem Baldachin und hauchte seinen feuchten Atem auf ihn herab.
Ich trat an den Rand und spürte, wie Sky mit dem Regen über mich kam.