Siebenundzwanzig

Die Landung hätte nicht einfacher sein können.

Chanterelle hatte die Gondel auf einem flachen Metallsims aufgesetzt, das seitlich aus dem Escher-Turm hervor ragte und noch Platz für ein Dutzend weiterer Fahrzeuge bot. Die meisten waren Gondeln, aber auch zwei Volantoren mit Stummelflügeln waren darunter. Wie bei allen anderen Flugmaschinen, die ich in der Stadt gesehen hatte, verriet mir das glatte, hyperwindschnittige Design, dass sie vor der Seuche gebaut worden sein mussten. Es war sicher nicht leicht gewesen, damit durch das groteske Dickicht zu fliegen, zu dem die Stadt sich verformt hatte, aber vielleicht hatten es die Besitzer sogar als willkommene Herausforderung betrachtet, eine Art Risikosport.

Bei den Fahrzeugen herrschte ein reges Kommen und Gehen. Einige waren Privatbesitz, andere waren mit Aufschriften und Schildern als Taxis gekennzeichnet. Eine Reihe von Leuten standen nur am Rand des Landefeldes und betrachteten durch Teleskope auf hohen Sockeln die Stadt. Sie trugen ohne Ausnahme exotische Kleidung, wallende Umhänge oder Mäntel und betont verrückte Kopfbedeckungen, alles in grellen Farben und phantasievollen Mustern gehalten, neben denen selbst die Gebäude ringsum vergleichsweise dezent wirkten. Die Gesichter wurden hinter Masken, schillernden Schleiern, eleganten Fächern oder Sonnenschirmen verborgen. Biotechnisch veränderte Haustiere wurden an der Leine geführt, Tiere wie Katzen mit einem Echsenkamm am Rücken, die keiner bekannten Art zuzuordnen waren. Dennoch waren sie oft längst nicht so bizarr wie ihre Halter. Von denen waren manche zu Zentauren mit vier voll ausgebildeten Beinen geworden. Andere waren zwar in den Grundzügen noch menschenähnlich, aber ihr Körper war so sehr verdreht und in die Länge gezogen, dass sie wie futuristische Statuen aussahen. Eine Frau hatte ihren Schädel so stark verlängern lassen, dass er an den Schnabel eines tropischen Nashornvogels erinnerte. Ein Mann mutete wie der mythische Prototyp eines Extraterrestriers aus grauer Vorzeit an, er hatte einen unnatürlich langen, dünnen Körper und mandelförmige schwarze Schlitzaugen.

Chanterelle erzählte mir, solche Veränderungen ließen sich innerhalb von Tagen, allenfalls von Wochen bewirken. Mit genügend Entschlossenheit könne man sein Körperbild ein Dutzend Mal im Jahr umgestalten; etwa so häufig, wie ich mir im Allgemeinen die Haare schneiden ließ.

Und in einer solchen Umgebung wollte ich Reivich finden?

»An Ihrer Stelle«, sagte Chanterelle, »würde ich nicht den ganzen Tag herumstehen und die Augen aufreißen. Oder wollen Sie die Leute mit der Nase darauf stoßen, dass Sie nicht von hier sind?«

Ich tastete in meiner Tasche nach der Eisschrotpistole und hoffte, dass Chanterelle sah, wie mein Arm sich spannte, als ich sie fand. »Gehen Sie einfach weiter. Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich gute Ratschläge brauche.« Chanterelle gehorchte ohne Widerspruch, aber ich bekam nach ein paar Schritten Gewissensbisse, weil ich so schroff gewesen war. »Tut mir Leid; ich weiß ja, dass Sie mir nur helfen wollten.«

»Das liegt schließlich in meinem eigenen Interesse«, zischte sie, ohne die Lippen zu bewegen. »Wenn Sie sich so auffällig benehmen, dass jemand auf Sie losgeht, gerate ich womöglich noch in die Schusslinie.«

»Schön, dass Sie so besorgt um mich sind.«

»Reine Selbsterhaltung. Wieso soll ich mir um jemanden Sorgen machen, der eben meine Freunde angeschossen hat, und von dem ich noch nicht einmal weiß, wie er heißt?«

»Ihre Freunde kommen schon durch«, sagte ich. »Morgen um diese Zeit werden sie nicht einmal mehr humpeln oder höchstens dann, wenn sie mit ihren Verletzungen prahlen wollen. Und sie haben in Jägerkreisen eine wirklich gute Geschichte zu erzählen.«

»Dann sagen Sie mir wenigstens Ihren Namen.«

»Sie können mich Tanner nennen«, sagte ich und trieb sie weiter.

Ein warmer, feuchter Wind blies uns entgegen, als wir das Landefeld überquerten und auf den Torbogen zu gingen, der ins Innere des Escher-Turms führte. Einige Palankine glitten wie wandelnde Grabsteine vor uns her. Wenigstens regnete es nicht. Vielleicht regnete es in diesem Teil der Stadt weniger häufig, oder wir befanden uns hier schon oberhalb der schlimmsten Niederschläge. Meine Kleider waren noch nass vom Mulch, aber in dieser Beziehung sah Chanterelle nicht besser aus als ich.

Hinter dem Bogen lag ein hell erleuchteter, kühler Gang. Die Luft war parfümiert, Lampen, Fahnen und langsam rotierende Ventilatoren hingen von der Decke. Der Korridor machte eine leichte Biegung nach rechts, wir überquerten auf Steinbrücken mehrere Zierteiche. Zum zweiten Mal seit meiner Ankunft in der Stadt glotzten Koi-Karpfen zu mir herauf.

»Was finden Sie eigentlich an diesen Fischen«, fragte ich.

»Sie sollten nicht so verächtlich über sie sprechen. Sie bedeuten uns viel.«

»Aber es sind doch nur Karpfen.«

»Ja, und diesen Karpfen verdanken wir unsere Unsterblichkeit. Jedenfalls den ersten Schritt dorthin. Koi-Karpfen sind sehr langlebig. Sogar in freier Wildbahn sterben sie eigentlich nicht an Altersschwäche. Sie werden nur so lange immer größer, bis ihr Herz nicht mehr mitmacht. Aber das ist nicht das Gleiche.«

Chanterelle murmelte etwas wie ›Gesegnet seien die Koi‹, als sie die Brücke überquerte, und ich wiederholte lautlos den Spruch, um ja nicht unangenehm aufzufallen.

Die kristallinen Wände zeigten ein lebhaftes repetitives Muster, das aus Achtecken bestand, aber sie traten immer wieder zurück, um kleine Boutiquen und andere Geschäfte aufzunehmen, die in krakelig-bunter Neonschrift oder pulsierenden Lichtholografien ihre Dienste feilboten. Ich sah viele Baldachin-Bewohner auf Einkaufsbummel, meistens junge Paare, zumindest dem Aussehen nach. Kinder gab es freilich kaum, und wenn ich welche entdeckte, hätten es auch neuere Transformationen von Erwachsenen in ein geschlechtsreifes Jugendstadium oder sogar Haustiere in menschlicher Gestalt sein können, denen man einige kindgerechte Wendungen einprogrammiert hatte.

Chanterelle führte mich in einen großen Raum, ein prächtiges Kristallgewölbe, wo auf vielen Stockwerken mehrere Einkaufszentren und Märkte vereint waren. Von der Decke hingen Kronleuchter so groß wie Landekapseln. Ein kunstvoll verschlungenes Netz von Wegen führte in vielen Windungen vorbei an Koi-Teichen und künstlichen Wasserfällen, an Pagoden und Teehäusern. Im Zentrum dieses Innenhofes stand ein riesiges Glasbecken, das von einem feinen, rauchgrauen Metallgitter umschlossen war. Ich sah, dass in dem Becken etwas schwamm, aber davor drängten sich so viele Menschen mit Sonnenschirmen, Fächern und angeleinten Haustieren, dass ich nicht erkennen konnte, was es war.

»Ich setze mich jetzt an diesen Tisch«, sagte ich und wartete, bis ich Chanterelles Aufmerksamkeit gewonnen hatte. »Sie gehen dort in das Teehaus, bestellen für mich eine Tasse Tee und für sich, was immer Sie wollen, und kommen dann an den Tisch zurück. Und Sie werden den Anschein erwecken, als amüsierten Sie sich prächtig.«

»Sie gedenken die ganze Zeit die Pistole auf mich zu richten?«

»Betrachten Sie es als Kompliment. Ich kann den Blick nicht von Ihnen wenden.«

»Sie sind ein Witzbold, Tanner.«

Ich ließ mich lächelnd in den Stuhl sinken. Plötzlich schämte ich mich, weil ich über und über mit getrocknetem Mulch-Schlamm bedeckt war. Neben den bunt gekleideten Baldachin-Spaziergängern kam ich mir vor wie ein Stadtstreicher auf einem Empfang.

Ich war darauf gefasst, dass Chanterelle nicht wiederkäme, um mir den Tee zu bringen. Glaubte sie denn wirklich, ich würde sie hier in den Rücken schießen? Und hielt sie mich gar für einen solchen Meisterschützen, dass ich aus der Tasche heraus zielen konnte, ohne Gefahr zu laufen, einen Unbeteiligten zu treffen? Wäre sie einfach gemächlich davon geschlendert, dann wäre dies das Ende unserer Bekanntschaft gewesen. Und sie hätte — wie ihre Freunde — eine gute Geschichte zu erzählen gehabt, auch wenn die nächtliche Jagd nicht ganz nach Plan gelaufen war, Ich wäre ihr nicht einmal böse gewesen. So sehr ich mich auch bemühte, sie unsympathisch zu finden, ich vermochte kaum negative Gefühle aufzubringen. So gut ich Zebras Standpunkt verstand, auch was Chanterelle gesagt hatte, leuchtete mir ein. Sie hielt die Menschen, auf die man Jagd machte, für schlecht, und fand, sie hätten für ihre Taten den Tod verdient. Das war zwar ein Irrtum, aber woher sollte sie das wissen? Aus ihrer Sicht — sie hatte nicht den Einblick, den Waverly mir dankenswerterweise vermittelt hatte — handelte Chanterelle geradezu verdienstvoll. Tat sie dem Mulch nicht sogar einen Gefallen, indem sie die kranken Elemente ausmerzte?

Es reichte schon, dass ich den Gedanken überhaupt zuließ, auch wenn ich es gerade noch vermied, ihn in meinem Bewusstsein Fuß fassen zu lassen.

Sky Haussmann wäre sehr stolz auf mich gewesen.


»Machen Sie doch kein so dankbares Gesicht, Tanner.«

»Warum sind Sie zurückgekommen?«

Chanterelle stellte zwei Tassen auf den schmiedeeisernen Tisch und ließ sich, geschmeidig wie eine Katze, mir gegenüber auf einem Stuhl nieder. Ich überlegte, ob sie ihr Nervensystem wohl auf diese katzenhaften Bewegungen hatte hintrimmen lassen, oder ob sie nur viel Übung darin hatte. »Wahrscheinlich hatten Sie mich noch nicht zu Tode gelangweilt«, sagte sie. »Ganz im Gegenteil sogar. Sie machen mich neugierig. Und seit wir in der Öffentlichkeit sind, finde ich Sie nicht mehr halb so bedrohlich.«

Ich trank einen Schluck Tee. Er war fast geschmacklos, das gustative Gegenstück zu einem in blassesten Pastellfarben gehaltenen Aquarell.

»Das kann nicht alles sein.«

»Sie haben in Bezug auf meine Freunde Wort gehalten. Ich glaube, Sie hätten sie töten können, aber Sie haben Ihnen stattdessen sogar einen Gefallen getan. Sie haben ihnen gezeigt, was Schmerz wirklich ist — echter Schmerz; nicht die entschärfte Ersatzversion, die einem die Empirika bieten — und jetzt haben sie, wie Sie schon sagten, etwas, womit sie hinterher prahlen können. Es stimmt doch, oder? Sie hätten sie ohne weiteres töten können, ohne auch nur ein Jota an Ihren Plänen ändern zu müssen?«

»Was bringt Sie auf die Idee, ich könnte Pläne haben?«

»Die Art, wie Sie Ihre Fragen stellen. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Ihnen für Ihr Vorhaben, was immer es auch sein mag, nicht mehr viel Zeit bleibt.«

»Kann ich noch eine Frage stellen?«

Chanterelle nickte und nützte die Gelegenheit, um die Katzenmaske abzunehmen. Ihre Augen hatten einen senkrechten Pupillenschlitz wie die einer Löwin, doch davon abgesehen war ihr Gesicht ziemlich menschlich, breit und offen, mit hohen Backenknochen, umrahmt von einer Masse kastanienbrauner Locken, die ihr bis zu den Schultern fielen.

»Was wollen Sie wissen, Tanner?«

»Kurz bevor ich auf Ihre Freunde schoss, hat einer von Ihnen eine Bemerkung gemacht. Vielleicht waren Sie es sogar selbst, aber das weiß ich nicht mehr so genau.«

»Weiter. Worum ging es.«

»Derjenige sagte, mit meinen Augen habe es etwas Besonderes auf sich.«

»Das war ich«, gab Chanterelle verlegen zu.

Ich hatte es mir also nicht eingebildet. »Wie war das? Was hatten Sie gesehen?«

Jetzt senkte sie die Stimme. Sie schien zu spüren, dass das Gespräch eine merkwürdige Wendung genommen hatte.

»Sie glühten förmlich von innen heraus, standen wie zwei leuchtende Punkte in ihrem Gesicht«, sprudelte sie hervor. Es klang nervös. »Ich dachte, Sie hätten irgendeine Maske getragen und sie weggeworfen, bevor Sie wieder auftauchten. Aber dem war wohl nicht so?«

»Nein. Nein, dem war nicht so. Leider.«

Sie sah mir scharf in die Augen. Die schlitzförmigen Pupillen wurden noch schmaler. »Was immer es war, jetzt ist es verschwunden. Wollen Sie behaupten, Sie wüssten nicht, was es damit auf sich hatte?«

»Ich schätze«, sagte ich und trank ohne große Begeisterung den Rest des wässrigen Tees, »das wird für immer eines der kleinen Geheimnisse des Lebens bleiben.«

»Was ist das denn für eine Antwort?«

»Die beste, die ich Ihnen in diesem Stadium geben kann. Und wenn sich das so anhört, als hätte ich ein wenig Angst vor der Wahrheit, dann ist der Eindruck sicher nicht ganz falsch.« Meine Haut juckte unter dem verschwitzten Eisbettlerpullover. Ich steckte die Hand unter den Mantel und kratzte mir die Brust. »Ich würde das Thema jetzt lieber fallen lassen.«

»Verzeihen Sie, dass ich davon angefangen habe«, sagte Chanterelle mit beißender Ironie. »Und wie geht es jetzt weiter, Tanner? Sie sagten bereits, Sie hätten nicht damit gerechnet, dass ich zurückkommen würde. Daraus schließe ich, dass ich für Sie nicht unentbehrlich bin, sonst hätten Sie sich besser abgesichert. Heißt das, dass unsere Wege sich trennen?«

»Das klingt ja fast so, als wären Sie enttäuscht.« Ob Chanterelle wohl wusste, das ich schon seit einigen Minuten die Hand nicht mehr auf dem Griff meiner Pistole hatte, ja, dass ich in dieser Zeit kaum mehr an die Waffe gedacht hatte? »Finden Sie mich so faszinierend, oder langweilen Sie sich noch mehr, als ich dachte?«

»Wahrscheinlich etwas von beidem. Aber Sie faszinieren mich tatsächlich, Tanner. Schlimmer noch, Sie sind ein Rätsel, das ich erst zur Hälfte gelöst habe.«

»Schon zur Hälfte? Sie sollten sich Zeit lassen. Ich bin nicht so unergründlich, wie Sie glauben. Kratzen Sie an der Oberfläche, und Sie werden sich wundern, wie wenig Sie darunter finden. Ich bin nur…«

Was wollte ich sagen — nur ein Soldat, nur ein Mann, der ein Versprechen einlösen wollte? Ein Narr, der nicht wusste, wann die Zeit zum Aufgeben gekommen war?

Ich stand auf und zog demonstrativ die Hand aus der Tasche mit der Pistole. »Ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen, Chanterelle, das ist alles. Allerdings steckt hinter dem Mann nicht viel mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich hier ein wenig herumführen würden. Aber wenn Sie wollen, können Sie jetzt auch gehen.«

»Haben Sie Geld, Tanner?«

»Etwas. Aber für hiesige Verhältnisse sicher keine Reichtümer.«

»Zeigen Sie mir, was Sie haben.«

Ich zog den schäbigen Rest, eine Handvoll schmieriger Ferris-Scheine, aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Was kriege ich dafür? Wenn ich Glück habe noch eine Tasse Tee?«

»Ich weiß nicht. Es reicht für eine neue Garderobe, und die könnten Sie sicher gebrauchen, wenn Sie sich hier halbwegs einfügen wollen.«

»Falle ich denn so aus dem Rahmen?«

»Sie fallen so sehr aus dem Rahmen, Tanner, dass Sie ernsthaft in Gefahr sind, eine neue Mode zu kreieren. Aber ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass Sie tatsächlich derartige Ambitionen haben.«

»Nicht unbedingt, nein.«

»Ich kenne mich im Escher-Turm nicht gut genug aus, um Ihnen die beste Adresse nennen zu können, aber unterwegs sind mir einige Boutiquen aufgefallen, wo man Sie sicher angemessen einkleiden könnte.«

»Zuerst möchte ich mir dieses Becken ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Oh, was das ist, weiß ich. Das ist Methusalem. Ich hatte ganz vergessen, dass er hier gehalten wird.«

Der Name war mir nicht fremd, und ich hatte das Gefühl, als sei er mir an diesem Abend schon einmal durch den Kopf gegangen. Aber Chanterelle führte mich bereits weg. »Wir können später wiederkommen, wenn Sie nicht mehr so sehr hervorstechen.«

Ich hob seufzend die Hände und gab mich geschlagen. »Dann können Sie mir auch gleich den Rest des Escher-Turms zeigen.«

»Warum nicht? Die Nacht ist ja noch jung.«

Wir machten uns auf zur nächsten Boutique. Unterwegs rief Chanterelle nacheinander ihre Freunde an, um sich zu vergewissern, dass sie alle wohlbehalten im Baldachin eingetroffen waren, aber sie hinterließ für keinen eine Nachricht und erwähnte sie danach auch nicht wieder. Das war vermutlich die Regel: viele von den Menschen, die ich im Escher-Turm sah, kannten das Große Spiel und verfolgten es vielleicht auch mit lebhaftem Interesse, aber außerhalb der privaten Salons, wo es als anerkannte Sportart gefeiert wurde, bekannte sich niemand dazu.

In der Boutique empfingen uns zwei glänzend schwarze, zweibeinige Servomaten von einem viel höheren technischen Entwicklungsstand, als ich es bisher in der Stadt erlebt hatte. Sie sonderten unaufhörlich verlogene Komplimente ab, obwohl mir klar war, dass ich aussah wie ein Gorilla, der versehentlich in die Requisitenkammer eines Theaters eingebrochen war. Mit Chanterelles Hilfe entschied ich mich für eine Kombination, für die ich mich nicht zu schämen brauchte, die mich aber auch nicht ruinierte. Hose und Jacke waren von ähnlichem Schnitt wie die Eisbettlerkleider, die ich jetzt erleichtert ablegte, aber der Stoff, ein Gewebe aus blitzenden Gold- und Silberfäden, war verglichen damit geradezu extravagant luxuriös. Ich fand mich sehr auffallend, doch als wir die Boutique verließen — Vadims Mantel hatte ich verwegen über die Schulter geworfen —, streiften mich die Vorübergehenden allenfalls mit einem flüchtigen Blick, während man mich vorher mit unverkennbarem Misstrauen beäugt hatte.

»Also«, sagte Chanterelle, »verraten Sie mir jetzt, woher Sie kommen?«

»Was hatten Sie sich denn selbst schon zusammengereimt?«

»Nun, von hier sind Sie nicht. Nicht von Yellowstone und ziemlich sicher auch nicht aus dem Rostgürtel; wahrscheinlich kommen Sie auch nicht von einer der anderen Enklaven im System.«

»Ich komme von Sky’s Edge«, sagte ich. »Ich bin auf der Orvieto eingeflogen. Eigentlich hätten Sie das an meiner Eisbettlerkleidung erkennen müssen.«

»Richtig, aber der Mantel hatte mich verwirrt.«

»Der alte Fetzen? Den hat mir ein alter Freund im Rostgürtel geschenkt.«

»Bedauere, aber solche Mäntel werden nicht verschenkt.« Chanterelle betastete einen der groben, schillernden Flicken, die auf den Stoff aufgenäht waren. »Sie haben wirklich keine Ahnung, was das bedeutet?«

»Na schön; ich habe den Mantel gestohlen. Von jemandem, der ihn vermutlich selbst gestohlen hatte und sicher noch Schlimmeres verdient hätte.«

»Das klingt eine Spur überzeugender. Als ich den Mantel zum ersten Mal sah, wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Doch als Sie dann vom Traumfeuer anfingen…« Sie hatte die Stimme so weit gesenkt, dass die letzten Worte kaum noch zu hören waren.

»Bedaure, aber jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Was hat das Traumfeuer mit meinem Mantel zu tun?«

Bevor ich noch zu Ende gesprochen hatte, fiel mir ein, dass Zebra ähnliche Andeutungen gemacht hatte. »Mehr als Sie offenbar ahnen, Tanner. Nur ein Außenseiter konnte so wenig über Traumfeuer wissen wie Sie, doch zugleich trugen Sie den gleichen Mantel wie die Angehörigen des Vertriebssystems, die Händler.«

»Das heißt, Sie haben mir nicht alles erzählt, was Sie über das Traumfeuer wissen?«

»Fast alles. Aber wegen des Mantels dachte ich, Sie wollten mich vielleicht hereinlegen, und deshalb nahm ich mich sehr in Acht.«

»Dann sagen Sie mir jetzt, was sie noch wissen. Wie groß sind die verfügbaren Mengen? Ich habe gesehen, dass die Leute sich ein paar Kubikzentimeter injizierten und vielleicht einen Vorrat von hundert Kubikzentimetern besaßen. Deshalb vermute ich, dass die Gruppe, die Traumfeuer verwendet, relativ klein ist; Sie und Ihre elitären, risikofreudigen Freunde und vielleicht noch ein paar andere. Maximal ein paar Tausend regelmäßige Abnehmer in der ganzen Stadt?«

»Das könnte eine ziemlich gute Schätzung sein.«

»Damit beliefe sich der Bedarf der ganzen Stadt auf — wie viel? Ein paar hundert Kubikzentimeter pro User und Jahr? Vielleicht eine Million Kubikzentimeter pro Jahr für die ganze Stadt? Das ist eigentlich nicht viel — etwa ein Kubikmeter Traumfeuer.«

»Ich weiß es nicht.« Chanterelle war es sichtlich peinlich, so offen über eine Sucht zu sprechen. »Könnte ungefähr hinkommen. Ich weiß nur, dass das Zeug heute schwerer zu kriegen ist als noch vor einem oder zwei Jahren. Die meisten von uns mussten ihren Verbrauch einschränken; drei oder vier Mal pro Woche ein Schuss, mehr ist inzwischen nicht mehr drin.«

»Und niemand anderer hat versucht, es herzustellen?«

»Nun, natürlich. Irgendjemand versucht immer, gefälschtes Traumfeuer an den Mann zu bringen. Aber das ist keine Frage der Qualität. Entweder ist es Feuer, oder es ist keins.«

Ich nickte, obwohl ich die Bemerkung nicht so ganz verstanden hatte. »Also offensichtlich ein Verkäufermarkt. Gideon ist der Einzige, der das richtige Produktionsverfahren oder was auch immer kennt. Und die Postmortalen brauchen den Stoff dringend, sonst sind sie totes Fleisch. Das heißt, Gideon kann den Preis in vernünftigen Grenzen so hoch treiben, wie er will. Wieso er allerdings das Angebot begrenzt, ist mir ein Rätsel.«

»Jedenfalls hat er es nicht versäumt, den Preis zu erhöhen, keine Sorge.«

»Aber vielleicht nur deshalb, weil er nicht mehr so viel absetzen kann wie früher; weil es bei der Herstellung irgendwo einen Engpass gibt; vielleicht hat er Schwierigkeiten, das Rohmaterial zu beschaffen.« Chanterelle zuckte nur die Achseln, also fuhr ich fort: »Na schön. Dann erklären Sie mir doch bitte noch, was es mit dem Mantel auf sich hat.«

»Der Mann, der Ihnen diesen Mantel geschenkt hat, war ein Händler, Tanner. Das bedeuten diese Flicken auf dem Stoff. Der ursprüngliche Besitzer muss Verbindung zu Gideon gehabt haben.«

Ich rief mir in Erinnerung, wie Quirrenbach und ich Vadims Kabine durchsucht hatten. Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass Quirrenbach und Vadim heimliche Komplizen gewesen waren. »Er hatte Traumfeuer«, sagte ich. »Aber das war oben im Rostgürtel. So dicht an der Quelle kann er also nicht gesessen haben.«

Er nicht, dachte ich bei mir, aber was ist mit seinem Freund? Vielleicht hatten Vadim und Quirrenbach auf mehr als einem Gebiet zusammengearbeitet: vielleicht war Quirrenbach der Händler, und Vadim war nur sein Vertreter für den Rostgürtel.

Ich wollte ohnehin noch einmal mit Quirrenbach sprechen. Mittlerweile hatte ich eine ganze Latte von Fragen an ihn.

»Mag sein, dass Ihr Freund nicht allzu dicht an der Quelle saß«, sagte Chanterelle. »Aber eines müssen Sie wissen. Die vielen Geschichten, die Sie über Gideon gehört haben, über Menschen, die verschwanden, weil sie die falschen Fragen stellten?«

»Ja?«, fragte ich.

»Sie sind alle wahr.«


Danach ließ ich mich von Chanterelle zu den Palankin-Rennen führen. Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass Reivich bei einem solchen Ereignis auftauchte, aber so eifrig ich auch die Zuschauermenge absuchte, ich sah niemanden, der infrage gekommen wäre.

Die Rennbahn war kompliziert und führte in Schleifen nach oben und unten durch viele Etagen. Hin und wieder verließ sie sogar das Gebäude und hing hoch über dem Mulch im Freien. Verschiedene Schikanen, Hindernisse und Fallen waren eingebaut, und die Abschnitte unter dem Nachthimmel waren nicht eingezäunt, sodass ein Palankin ungebremst in die Tiefe stürzen konnte, wenn sein Besitzer zu scharf in die Kurve ging. An jedem Rennen nahmen zehn oder elf kunstvoll verzierte wandelnde Kisten teil, und strenge Regeln bestimmten, was erlaubt war oder nicht. Chanterelle sagte freilich, die Regeln würden nicht ganz ernst genommen, es sei nicht ungewöhnlich, dass jemand seinen Palankin mit Waffen ausrüste, um andere Teilnehmer zu behindern — oder mit einem ausfahrbaren Rammsporn einen Rivalen auf den ausgesetzten Etappen über die Kante zu stoßen.

Angefangen hätten die Rennen mit einer aus Langeweile abgeschlossenen Wette zwischen zwei unsterblichen Palankin-Fahrern. Doch jetzt könne fast jeder daran teilnehmen. Die Hälfte der Palankine würde von Leuten gefahren, die von der Seuche nichts zu befürchten hätten. Oft würden in einer Nacht größere Vermögen verloren oder gewonnen — meistens verloren.

Vermutlich immer noch besser als die Jagd auf Menschen.


»Hören Sie«, sagte Chanterelle, als wir die Rennen verließen. »Was wissen Sie von den Meistermischern?«

»Nicht allzu viel«, sagte ich zurückhaltend. Der Name war mir vage vertraut, aber mehr auch nicht. »Warum fragen Sie?«

»Sie haben wirklich keine Ahnung, wie? Damit ist auch der letzte Zweifel beseitigt. Sie sind wirklich nicht von hier.«

Die Meistermischer hatten schon vor der Schmelzseuche existiert und gehörten zu den vergleichsweise wenigen alten gesellschaftlichen Gruppen, die die Katastrophe halbwegs intakt überstanden hatten. Wie die Eisbettler waren sie eine eigenständige Organisation, und wie die Eisbettler beschäftigten sie sich mit Gott. Aber damit waren die Übereinstimmungen auch schon erschöpft. Die Eisbettler sahen — was sie auch sonst an Zielen vertreten mochten — ihren Daseinszweck darin, ihrer Gottheit zu dienen und sie zu verherrlichen. Die Meistermischer dagegen wollten Gott werden.

Und das war ihnen — in mancher Hinsicht — schon vor langer Zeit gelungen.

Als die Amerikanos vor fast vierhundert Jahren Yellowstone besiedelten, brachten sie alle genetischen Errungenschaften ihrer Kultur mit: Genomsequenzen, Kopplungs- und Funktionskarten für buchstäblich Millionen von terranischen Spezies einschließlich aller höheren Primaten und Säugetiere. Sie waren in der Genetik zu Hause. Schließlich hatten sie es ihr zu verdanken, dass sie überhaupt nach Yellowstone gekommen waren: sie hatten sich selbst als befruchtete Eier mit zerbrechlichen Transportrobotern auf die Reise geschickt; nach der Ankunft hatten die Maschinen künstliche Gebärmütter hergestellt und die Eier darin reifen lassen. Die erste Generation hatte natürlich nicht lange überlebt — aber ihr Erbe hatte überdauert. DNA-Sequenzen erlaubten es späteren Nachkommen, das Blut der Amerikanos mit ihrem eigenen zu mischen und damit zur Biodiversifikation der zweiten Siedlerwelle beizutragen, die nicht mit samentragenden Robotern, sondern mit Schiffen kam.

Die Amerikanos hatten noch mehr hinterlassen — nämlich riesige Dateien mit Informationen, Fachwissen, das nicht in Vergessenheit geraten, aber so eingerostet war, dass subtilere Beziehungen und Abhängigkeiten nicht mehr wahrgenommen wurden. Diesen Schatz nahmen die Meistermischer in ihre Obhut. Sie machten sich zu Hütern aller biologischen und genetischen Erkenntnisse, und sie mehrten das Wissen durch den Handel mit den Ultras, die ihnen hin und wieder Brosamen fremder genetischer Information anboten, außerirdische Genome oder Behandlungsverfahren, die in anderen Systemen entwickelt worden waren. Trotz alledem waren die Meistermischer auf Yellowstone nur selten ins Zentrum der Macht gelangt. Schließlich war das System dem Sylveste-Clan hörig, jener uralten, einflussreichen Familie, die eine Transzendenz der körperlichen Existenz durch cybernetische Verfahren zur Bewusstseinserweiterung propagierte.

Dennoch brauchten die Meistermischer natürlich nicht am Hungertuch zu nagen, denn nicht jeder hatte sich bedingungslos der Sylveste-Doktrin verschrieben, außerdem war nach den krassen Fehlschlägen bei den Achtzig die Begeisterung für die Transmigration stark abgekühlt. Aber sie wirkten in der Stille: korrigierten genetische Anomalien bei Neugeborenen und bügelten Schwachstellen in vermeintlich reinen Blutlinien aus. Je fachmännischer diese Arbeit ausgeführt wurde, desto weniger trat sie in Erscheinung, es war wie bei einem perfekten Mord, bei dem nicht einmal der Verdacht auf ein Verbrechen aufkam und hinterher niemand mehr wusste, wer eigentlich das Opfer war. Die Meistermischer gingen nach den gleichen Grundsätzen vor wie Restauratoren, die beschädigte Kunstwerke wiederherstellten. Sie bemühten sich, möglichst wenig von ihren eigenen Vorstellungen einfließen zu lassen. Dabei verfügten sie über ein Gestaltungspotenzial, das wahrhaft erschreckend war. Aber es wurde streng kontrolliert, denn die Gesellschaft konnte nicht zulassen, dass von zwei Seiten gleichzeitig massiver Transformationsdruck ausgeübt wurde, und das sahen die Meistermischer in gewissen Grenzen auch ein. Hätten sie die geballte Kraft ihres Könnens freigesetzt, sie hätten Yellowstones Kultur in Stücke gerissen.

Doch dann war die Seuche gekommen, und sie hatte die Gesellschaft in Stücke gerissen. Doch wie bei einem Asteroiden, der mit einer zu schwachen Ladung gesprengt wurde, hatten die einzelnen Teile zu wenig Fluchtgeschwindigkeit mitbekommen, um sich weit genug zu verteilen. Yellowstones Gesellschaft war mit lautem Knall ins Dasein zurückgekehrt — bruchstückhaft, chaotisch, jeden Augenblick vom Zerfall bedroht, aber doch wieder eine Gesellschaft. Und eine Gesellschaft, in der die Ideologie der Cybernetik zumindest vorübergehend gleichbedeutend war mit Ketzerei.

Das so entstandene Machtvakuum hatten die Meistermischer zu füllen verstanden.

»Sie unterhalten überall im Baldachin ihre Behandlungszentren«, erklärte Chanterelle. »Dort kann man seinen Stammbaum erstellen und die Verzweigungen des eigenen Clans verfolgen lassen oder in den Broschüren für neue Gen-Designs blättern.« Sie deutete auf ihre Augen. »Alles, was bei der Geburt fehlte oder nicht vererbt werden sollte. Auch Transplantate sind möglich — aber ziemlich selten, wenn man sich nicht gerade etwas so Ausgefallenes wie Pegasus-Schwingen in den Kopf gesetzt hat. Meistens sind die Modifikationen genetischer Natur. Die Meistermischer bilden die DNA so um, dass die Veränderungen auf natürliche Weise erfolgen — oder jedenfalls so natürlich, dass der Unterschied zu vernachlässigen ist.«

»Wie geht das vor sich?«

»Ganz einfach. Wenn Sie sich in den Finger schneiden — schließt sich die Wunde dann mit Fell oder mit Schuppen? Natürlich nicht — denn das Wissen um die Architektur des Körpers ist in den Tiefen der DNA vergraben. Die Meistermischer tun nichts anderes, als dieses Wissen so selektiv zu verändern, dass der Körper die üblichen Schutzfunktionen gegen Verletzungen und Abnutzung weiterhin ausüben kann, aber an gewissen Stellen den falschen Bauplan verwendet. Mit der Zeit wächst also etwas, das im Phänotyp eigentlich nie angelegt war.« Chanterelle hielt inne. »Wie gesagt, Behandlungszentren, wo sie ihr Handwerk ausüben, gibt es im gesamten Baldachin. Wenn Sie wissen wollen, was mit Ihren Augen los ist, sollten wir vielleicht ein solches Zentrum aufsuchen.«

»Was hat das mit meinen Augen zu tun?«

»Sie glauben doch, dass etwas damit nicht in Ordnung ist.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich und gab mir alle Mühe, nicht allzu mürrisch zu klingen. »Aber vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht können mir die Meistermischer etwas sagen. Sind sie vertrauenswürdig?«

»So viel oder so wenig wie jeder andere hier.«

»Großartig. Jetzt bin ich vollkommen beruhigt.« Das nächste Zentrum befand sich in einer der mit Holographien dekorierten Nischen, an denen wir bereits vorbeigekommen waren, über einem Teich blöde glotzender Koi-Karpfen. Innen war es so klein, dass Dominikas Zelt daneben geradezu geräumig wirkte. Der Berater trug eine schlichte aschgraue Kutte, die nur mit dem Emblem der Meistermischer gekennzeichnet war, zwei ausgestreckten, von DNA-Strängen umschlungenen Händen. Er saß hinter einer frei schwebenden Konsole von der Form eines Bumerangs, über der sich verschiedene pulsierende Molekülprojektionen in kräftigen Primärfarben drehten, die an Kinderspielzeug erinnerten. Seine von Handschuhen geschützten Hände tanzten über die Moleküle und lösten komplexe Kaskaden von Spaltungen und Neukombinationen aus. Er hatte uns bestimmt sofort bemerkt, als wir eintraten, aber er setzte seine Arbeit scheinbar ungerührt noch etwa eine Minute lang fort, bevor er geruhte, von unserer Anwesenheit Notiz zu nehmen.

»Ich nehme an, Sie haben ein Anliegen an mich.«

Chanterelle machte sich zur Wortführerin. »Mein Freund möchte seine Augen untersuchen lassen.«

»Was Sie nicht sagen?« Der Meistermischer klappte seine Konsole zur Seite, zog ein Okular aus seiner Kutte und beugte sich naserümpfend zu mir. Wahrscheinlich berechtigte ihn mein Körpergeruch zu dieser Reaktion. Dann betrachtete er meine beiden Augen durch das Okular. Die riesige Linse schien die Hälfte des Raumes einzunehmen. »Was soll mit seinen Augen sein?«, fragte er gelangweilt.

Wir hatten uns auf dem Weg hierher eine Geschichte zurechtgelegt. »Ich habe eine Dummheit gemacht«, sagte ich. »Ich wollte die gleichen Augen haben wie mein Partner. Aber eine Behandlung bei den Meistermischern konnte ich mir nicht leisten. Ich war im Orbit und…«

»Was hatten Sie denn im Orbit zu suchen, wenn Sie sich schon unsere Preise nicht leisten konnten?«

»Ich wollte mich scannen lassen, das ist doch wohl klar. Das ist nicht billig; nicht bei einem guten Anbieter, der auch anständige Backups garantiert.«

»Aha.« Damit hatte ich ihn wirksam zum Schweigen gebracht. Die Meistermischer lehnten Neuralscans und alles, was damit zusammenhing, aus ideologischen Gründen ab. Sie behaupteten, die Seele lasse sich nicht in eine Maschine einsperren, sondern könne nur auf biologischem Wege erhalten werden.

Der Berater schüttelte den Kopf, als hätte ich einen heiligen Eid gebrochen.

»Das war nun wirklich töricht. Aber das haben Sie ja inzwischen selbst erkannt. Was ist geschehen?«

»Im Karussell gab es Schwarze Genetiker; Blutverschneider, die einen ähnlichen Service anboten wie die Meistermischer, aber zu sehr viel niedrigeren Preisen. Nachdem das, was ich wollte, keine größere anatomische Rekonstruktion erforderte, glaubte ich, das Risiko eingehen zu können.«

»Und jetzt kommen Sie natürlich zu uns gekrochen.«

Ich schenkte ihm mein demütigstes Lächeln und bezähmte meine Empörung, indem ich mir verschiedene interessante und schmerzvolle Methoden ausmalte, mit denen ich ihn ins Jenseits befördern könnte, ohne dabei in Schweiß zu geraten.

»Seit meiner Rückkehr vom Karussell sind mehrere Wochen vergangen«, sagte ich. »Und mit meinen Augen ist nichts passiert. Sie sehen immer noch so aus wie vorher. Jetzt möchte ich wissen, ob die Blutverschneider mich nur geschröpft haben.«

»Das ist aber nicht umsonst. Ich habe gute Lust, Ihnen noch einen Zuschlag zu berechnen, weil Sie so dumm waren, zu den Blutverschneidern zu gehen.« Dann wurde sein Ton eine Spur milder. »Aber vielleicht haben Sie Ihren Denkzettel ja bereits bekommen. Das hängt vermutlich davon ab, ob ich Veränderungen feststellen kann oder nicht.«

Was nun folgte, war kein reines Vergnügen. Ich musste auf einer Liege Platz nehmen, die komplizierter und steriler war als die bei Dominika, und der Meistermischer fixierte meinen Kopf mit einer gepolsterten Schraubzwinge. Eine Maschine senkte sich über meine Augen und fuhr einen feinen Draht aus, der leicht vibrierte wie das Schnurrhaar einer Katze. Die Sonde wanderte über meine Augen und vermaß sie mit kurzen blauen Laserlichtimpulsen. Dann bohrte sich das Schnurrhaar — so schnell, dass ich nur einen einzigen, kalten Stich spürte — in mein Auge, entnahm eine Gewebeprobe, zog sich zurück, bewegte sich an eine andere Stelle und drang wieder ein. Das wiederholte sich vielleicht ein Dutzend Mal in unterschiedlicher Tiefe. Doch es ging so schnell, dass mein Blinzelreflex erst einsetzte, als die Maschine bereits fertig war und sich das zweite Auge vornahm.

»Das genügt«, sagte der Meistermischer. »Damit müsste sich feststellen lassen, was die Blutverschneider — wenn überhaupt — bei Ihnen gemacht haben und warum die Behandlung nicht anschlägt. Vor einigen Wochen, sagten Sie?«

Ich nickte.

»Vielleicht ist es noch zu früh, der Erfolg könnte sich noch einstellen.« Ich hatte das Gefühl, er führte Selbstgespräche. »Sie verfügen über einige recht fortgeschrittene Behandlungsmethoden, aber die haben sie in ihrer Gesamtheit von uns gestohlen. Natürlich kürzen sie die Sicherheitstoleranzen ganz radikal und verwenden veraltete Sequenzen.«

Er kehrte auf seinen Platz zurück und klappte die Konsole wieder herunter. Sofort erschien ein Display, das so verworren war, dass ich überhaupt nichts erkennen konnte: ständig wechselnde Histogramme und Kästen, in denen Kolonnen von alphanumerischen Symbolen abgespult wurden. Plötzlich manifestierte sich ein riesiger Augapfel von einem halben Meter Durchmesser, der aussah wie eine Zeichnung aus einem von da Vincis Notizbüchern. Der Meistermischer wischte mit seinen Handschuhen darüber, und schon schälten sich Stücke davon ab wie Schalen von einer Zwiebel, und die tieferen Schichten wurden sichtbar.

»Veränderungen sind vorhanden«, sagte er, nachdem er Minuten lang sein Kinn geknetet hatte und sich immer tiefer in das schwebende Auge hinein gewühlt hatte. »Tiefgreifende genetische Veränderungen — aber ich vermisse die üblichen Signaturen der Meistermischer.«

»Signaturen?«

»Copyright-Informationen, die in redundante Basenpaare verschlüsselt wurden. In diesem Fall haben die Blutverschneider die Sequenzen wohl doch nicht von uns gestohlen, sonst wären noch Restspuren des Meistermischer-Designs vorhanden.« Er schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Nein; diese Arbeit stammt nicht von Yellowstone. Sie ist recht hoch entwickelt, aber…«

Ich wälzte mich von der Liege und wischte mir eine Träne aus den misshandelten Augen. »Aber was?«

»Aber es ist ziemlich sicher nicht das, was Sie bestellt hatten.«

Das hatte ich schon vorher gewusst, denn ich hatte ja gar nichts bestellt. Aber ich zeigte mich gebührend überrascht und verärgert, damit sich der Meistermischer an meiner Bestürzung über den vermeintlichen Betrug der Meistermischer ausgiebig weiden konnte.

»Ich kenne die Homeobox-Mutationen, die man für eine Katzenpupille braucht, und ich sehe keine größeren Veränderungen in den entsprechenden Chromosomenbereichen. Dafür wurden anderswo Eingriffe vorgenommen, in Bereichen, wo dafür überhaupt keine Veranlassung bestand.«

»Können Sie mir das etwas genauer erklären?«

»Nicht sofort, nein. In den meisten Ketten sind die Sequenzen lückenhaft, das erschwert die Sache. Die spezifischen DNA-Veränderungen werden normalerweise mit einem Retrovirus eingeschleust, das von uns — oder den Blutverschneidern — hergestellt und so programmiert wurde, dass es die erforderlichen Mutationen für die gewünschte Transformation auslöst. In Ihrem Fall«, fuhr er fort, »scheint sich das Virus nicht ausreichend kopiert zu haben. Es gibt nur wenige intakte Stränge, wo die Veränderungen voll zum Tragen kommen. Das Virus ist unwirksam, und das könnte erklären, warum die Veränderungen noch nicht auf die Grobstruktur Ihres Auges übergegriffen haben. Aber ich habe so etwas auch noch nie gesehen. Wenn das wirklich die Arbeit eines Blutverschneiders ist, dann könnte das bedeuten, dass sie Verfahren verwenden, die uns nicht bekannt sind.«

»Und das ist wahrscheinlich nicht gut?«

»So lange sie ihre Verfahren von uns gestohlen hatten, bestand wenigstens eine gewisse Garantie, dass sie funktionierten oder zumindest keine akute Gefährdung darstellten.« Er zuckte die Achseln. »Das ist nun leider nicht mehr gewährleistet. Ich kann mir vorstellen, dass Sie diesen Besuch bereits bedauern. Aber die Reue kommt zu spät.«

»Vielen Dank für Ihr Mitgefühl. Wenn man die Veränderungen feststellen kann, lassen sie sich vermutlich auch rückgängig machen.«

»Das wäre viel schwieriger, als sie einzuleiten. Aber es wäre machbar — mit erheblichen Kosten.«

»Das überrascht mich nicht.«

»Wollen Sie unsere Dienste in Anspruch nehmen?«

Ich ließ Chanterelle vorgehen und wandte mich zur Tür. »Wenn ich mich dafür entscheide, werden Sie es rechtzeitig erfahren.«


Ich war nicht sicher, was sie nach der Untersuchung von mir erwartete, vielleicht stellte sie sich vor, die Fragen des Meistermischers hätten meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen, und ich wüsste plötzlich wieder, was mit meinen Augen los war und wie es dazu gekommen war. Vielleicht. Und — vielleicht — hatte auch ich das erwartet. Vielleicht hatte ich mich an die Hoffnung geklammert, ich hätte den Zustand meiner Augen nur vorübergehend vergessen, eine verspätete Nachwirkung der Reanimations-Amnesie.

Aber nichts dergleichen geschah.

Ich war nicht klüger als zuvor, nur noch mehr verstört, weil ich nun wusste, dass tatsächlich etwas mit mir vorging, und weil ich nicht länger darüber hinweggehen konnte, dass meine Augen im Dunkeln leuchteten. Denn das war sicher noch nicht alles. Seit meiner Ankunft in Chasm City war mir zunehmend klarer geworden, dass ich über eine Fähigkeit verfügte, die ich früher nie bemerkt hatte: ich konnte im Dunkeln sehen, wenn andere Leute bildverstärkende Brillen oder Infrarot-Overlays brauchten. Zum ersten Mal war mir das aufgefallen — ohne dass ich es bewusst registriert hätte —, als ich das zerstörte Gebäude betreten und mit einem Blick nach oben die Treppe gesehen hatte, die mich in Sicherheit und zu Zebra führte. Das Licht war dafür eigentlich zu schwach gewesen, aber es hatte natürlich mehr als genug andere Dinge gegeben, die mich beschäftigten.

Später, als die Gondel in Lorants Küche gekracht war, hatte sich etwas Ähnliches ereignet. Ich war aus dem zerschellten Fahrzeug gekrochen und hatte das Schwein und seine Frau gesehen, lange bevor sie mich entdeckten — obwohl ich als Einziger keine Nachtbrille trug. Und wieder hatte ich mich in meinem Adrenalinrausch nicht weiter darum gekümmert, obwohl ich es mir zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr so ohne weiteres aus dem Kopf schlagen konnte.

Doch jetzt wusste ich, dass sich in meinen Augen eine tiefgreifende genetische Veränderung vollzog, und dass ich mir nichts von dem, was vorher war, nur eingebildet hatte. Vielleicht waren die Veränderungen auch trotz der lückenhaften Gene, die der Meistermischer festgestellt hatte, bereits abgeschlossen.

»Was immer er Ihnen gesagt hat«, bemerkte Chanterelle, »es war nicht das, was Sie hören wollten, nicht wahr?«

»Er hat mir gar nichts gesagt. Sie waren doch dabei; Sie haben jedes Wort gehört.«

»Ich dachte, Sie könnten vielleicht mit dem einen oder anderen etwas anfangen.«

»Das hatte ich auch gehofft, aber es war nicht so.«

Wir schlenderten zurück auf den freien Platz mit dem Teehaus. Meine Gedanken rasten dahin wie ein ungebremstes Schwungrad. Jemand hatte auf genetischer Ebene an meinen Augen herumgepfuscht und eine fremdartige Entwicklung einprogrammiert. Ob etwa das Haussmann-Virus den Prozess eingeleitet hatte? Möglich wäre es — aber was hatte es mit Sky zu tun, wenn man im Dunkeln sehen konnte? Sky hasste die Dunkelheit, er fürchtete sie mehr als alles andere.

Aber er konnte nicht im Dunkeln sehen.

Die Veränderung konnte nicht erst seit meiner Ankunft auf Yellowstone erfolgt sein, es sei denn, Dominika hätte einen entsprechenden Eingriff vorgenommen, als ich das Implantat herausnehmen ließ. Ich war zwar bei Bewusstsein gewesen, aber doch so desorientiert, dass ich davon nichts bemerkt hätte. Doch auch das passte nicht ins Bild. Die Nachtsichtigkeit war mir schon vorher aufgefallen.

Und wie stand es mit Waverly?

Das war besonders aus chronologischer Sicht durchaus eine Möglichkeit. Ich hatte bewusstlos im Baldachin gelegen, als Waverly das Implantat einsetzte. Damit blieb freilich nur ein Zeitraum von wenigen Stunden zwischen der genetischen Behandlung und dem Einsetzen der physischen Veränderungen im Auge. Wenn man bedachte, dass die Veränderungen als kontrolliertes Wachstum zu begreifen waren, erschien mir das viel zu kurz, aber vielleicht war es doch ausreichend, schließlich war nur ein relativ kleiner Zellbereich betroffen, kein großes Organ und kein größeres anatomisches Areal. Und plötzlich sah ich auch ein zumindest denkbares Motiv dafür. Waverly hatte für beide Seiten gearbeitet, er hatte Zebra auf mich aufmerksam gemacht, um mir eine Chance zu geben, das Große Spiel lebend zu überstehen. Wäre es möglich, dass er mir noch einen weiteren Vorteil hatte verschaffen wollen — indem er mich nachtsichtig machte?

Möglich wäre es, richtig. Es wäre sogar eine tröstliche Vorstellung.

Aber ich war nicht bereit, daran zu glauben.

»Sie wollten sich Methusalem ansehen«, sagte Chanterelle und zeigte auf das große Becken hinter dem Metallgitter. »Jetzt haben Sie die Gelegenheit.«

»Methusalem?«

»Sie werden schon sehen.«

Ich drängte mich durch die Menge, die um das Becken herum stand. Eigentlich brauchte ich mich nicht weiter anzustrengen. Die Menschen machten mir Platz, bevor ich auch nur Blickkontakt aufnehmen konnte, und rümpften ebenso angewidert die Nase wie der Meistermischer. Ich konnte sie gut verstehen.

»Methusalem ist ein Fisch«, sagte Chanterelle und trat mit mir vor das rauchgrüne Glas. »Ein sehr großer und sehr alter Fisch. Der älteste überhaupt.«

»Wie alt?«

»Genau weiß das niemand, aber er geht mindestens auf die Amerikano-Ära zurück. Damit ist er um einiges älter als jeder andere lebende Organismus auf diesem Planeten, einige Bakterienkulturen eventuell ausgenommen.«

Der riesig aufgeschwollene, unsagbar alte Koi-Karpfen hing im Becken wie eine Seekuh, die sich sonnte. Sein Auge, so groß wie ein Teller, beobachtete uns ohne jeden Ausdruck. Man stand wie vor einem blinden Spiegel, auf dem weißliche Trübungen schwammen wie Inseln auf einem schiefergrauem Meer. Die hellen Schuppen hatten die Farbe fast völlig verloren, und der unförmige Körper war übersät mit krebsartigen Wucherungen und hässlichen Löchern. Die Kiemen öffneten und schlossen sich so langsam, als würde der Fisch nur von den Strömungen im Becken bewegt.

»Wieso ist Methusalem nicht gestorben wie die anderen Koi?«

»Vielleicht hat man sein Herz saniert oder ihm andere Herzen eingesetzt, eventuell sogar ein mechanisches. Vielleicht braucht er es auch nur nicht allzu sehr zu strapazieren. So viel ich weiß, ist es da drin sehr kalt. Die Wassertemperatur liegt nahe dem Gefrierpunkt, deshalb hat man ihm etwas ins Blut getan, um es flüssig zu halten. Sein Stoffwechsel ist so weit verlangsamt wie nur möglich, ohne vollends zum Stillstand zu kommen.« Chanterelle berührte das vor Kälte beschlagene Glas. Ihre Finger hinterließen Spuren. »Aber man verehrt ihn sehr. Die Alten vergöttern ihn geradezu. Sie glauben, wenn sie mit ihm in Verbindung treten — indem sie das Glas berühren —, sichern sie ihre eigene Langlebigkeit.«

»Glauben Sie das auch, Chanterelle?«

Sie nickte. »Früher schon, Tanner. Aber wie alles andere ist auch das eine Phase, über die man mit der Zeit hinauswächst.«

Ich starrte wieder in das Spiegelauge und fragte mich, was Methusalem in all den Jahren wohl gesehen haben mochte, und ob sein Gedächtnis, so weit bei einem aufgeschwollenen alten Fisch davon die Rede sein konnte, irgendetwas davon bewahrt hatte. Irgendwo hatte ich gelesen, Goldfische hätten ein besonders kurzes Erinnerungsvermögen und seien unfähig, einen Eindruck länger als ein paar Sekunden lang zu behalten.

Ich hatte für diesen Tag genug von Augen; selbst von den geistlosen Glotzaugen eines unsterblichen und hoch verehrten Zierkarpfens. So wanderte mein Blick in das flirrende flaschengrüne Halbdunkel unter der schlaffen Wölbung von Methusalems Unterkiefer. Auf der anderen Seite des Beckens drängten sich etwa ein Dutzend Gesichter gegen das Glas.

Und da sah ich Reivich…

Es konnte nicht sein, aber da stand er tatsächlich: fast genau gegenüber von mir auf der anderen Seite. Eine fast überirdische Ruhe lag auf seinem Gesicht, er schien völlig vertieft in die Betrachtung des uralten Tieres. Methusalem bewegte — unbeschreiblich träge — eine Flosse und verursachte damit einen Wirbel, der Reivichs Gesicht verschwimmen ließ. Ich sagte mir vor, wenn sich das Wasser wieder beruhigte, würde ich einen Einheimischen sehen, der lediglich die gleiche genetische Ausstattung für ein nichtssagend gut aussehendes Aristokratengesicht mitbekommen hatte wie Reivich.

Doch als die Wellen sich legten, sah ich immer noch Reivich.

Er hatte mich nicht bemerkt; obwohl wir einander gegenüber standen, hatten sich unsere Blicke noch nicht gekreuzt. Ich schlug die Augen nieder, beobachtete ihn aber weiterhin unter den Lidern hervor, während ich in meiner Tasche nach der Eisschrot-Pistole tastete. Ich war fast erschrocken, als meine Finger sie fanden. Ich klappte den Sicherungsbügel herunter.

Reivich reagierte immer noch nicht.

Er war ganz nahe. Obwohl ich mich Chanterelle gegenüber anders geäußert hatte, war ich ziemlich sicher, ihm eine Kugel durch den Leib jagen zu können, ohne die Pistole aus der Tasche zu ziehen. Wenn ich drei Mal schoss, konnte ich sogar die Ablenkung durch das Wasser berücksichtigen und meinen Schusswinkel danach ausrichten. Ob der Schrot wohl mit so hoher Geschwindigkeit aus dem Lauf gejagt wurde, dass er zwei Panzerglasplatten und das Wasser dazwischen durchschlagen konnte? Ich wusste es nicht, und vielleicht war die Frage ohnehin akademisch. Bei dem Winkel, in dem ich schießen musste, um Reivich zu treffen, war mir nämlich noch etwas im Wege.

Ich konnte doch Methusalem nicht so einfach töten… oder doch?

Natürlich konnte ich. Ich brauchte nur den Abzug durchzuziehen, um den Riesenkarpfen aus seinem sicher überaus simplen Geisteszustand zu erlösen, der keinesfalls komplex genug war, um den Namen Elend zu verdienen. Es wäre kein verabscheuungswürdigeres Verbrechen als die Beschädigung irgendeines wertvollen Kunstwerks.

Methusalems Auge, die blinde Silberschale, zog meinen Blick auf sich.

Ich brachte es nicht übers Herz.

»Verdammt!«, sagte ich.

»Was ist?«, fragte Chanterelle. Sie versperrte mir fast den Weg, als ich vom Becken zurücktrat und mich rückwärts zwischen die Menschen schob, die sich den Hals verrenkten, um einen Blick auf den legendären Fisch zu werfen.

»Ich habe eben jemanden gesehen. Auf der anderen Seite von Methusalem.« Ich hatte die Pistole halb aus der Tasche gezogen; ein zufälliger Blick, und jeder Umstehende konnte meine Absicht erraten.

»Tanner, sind Sie wahnsinnig?«

»Wahrscheinlich gleich auf mehrere Arten«, gab ich zu. »Aber das ändert leider gar nichts. In bin ganz zufrieden mit dem Wahnsystem, in dem ich derzeit lebe.« Und dann schlenderte ich — so gemächlich, wie ich nur konnte — um das Becken herum. Meine Hand schwitzte so stark, dass die Pistole ganz nass wurde. Ich zog sie noch ein wenig weiter heraus und hoffte, dass die Bewegung so lässig wirkte, als wollte ich ein Zigarrenetui herausholen, hätte aber inne gehalten, weil ich durch irgendetwas abgelenkt worden war.

Dann bog ich um die Ecke.

Doch Reivich war nicht mehr da.

Загрузка...