Siebzehn

Der Leiter der Sicherheitswache stand vor seinem Gefangenen und betrachtete ihn wie ein Bildhauer eine noch im Rohzustand befindliche Skulptur; zufrieden mit dem bereits Erreichten, aber im vollen Bewusstsein dessen, was noch zu tun war. Und es gab noch viel zu tun, aber er nahm sich vor, keinen Fehler zu machen.

Sky Haussmann war fast allein mit dem Saboteur. Die Folterkammer lag in einem abgelegenen, fast vergessenen Seitenbereich des Schiffes und war nur über eine der Bahnlinien zu erreichen, von denen alle anderen dachten, sie wäre stillgelegt. Sky hatte die Kammer und die umliegenden Räume selbst eingerichtet und das Lymphsystem der Versorgungslinien angezapft, um sie mit Luft und Wärme zu versorgen. Grundsätzlich hätte eine genaue Überprüfung des Energie- und Luftkonsums die Existenz des Raumes verraten können, aber selbst dann wäre die Entdeckung als mögliches Sicherheitsrisiko in Skys Zuständigkeit gefallen. Doch dazu war es nie gekommen, und er bezweifelte, dass es in Zukunft passieren könnte.

Der Gefangene hing, Arme und Beine gespreizt, vor ihm an der Wand. Er war fest verankert und von Maschinen umgeben. Neuralsonden führten durch seine Schädeldecke zu den Steuerungsimplantaten in seinem Gehirn. Es waren selbst für einen Chimären außerordentlich simple Implantate, aber sie erfüllten ihren Zweck. Vor allem waren sie mit den Regionen des Schläfenlappens verbunden, in denen tiefe religiöse Erlebnisse erzeugt wurden. Epileptiker berichteten schon seit langem von Gotteserfahrungen, wenn diese Regionen von starker elektrischer Aktivität betroffen waren; die Implantate stimulierten solche religiösen Impulse lediglich in leichterer und gut kontrollierbarer Form. Wahrscheinlich war der Saboteur auch von seinen früheren Herren so gesteuert worden und hatte sich deshalb so selbstlos ihrem selbstmörderischen Auftrag verschrieben.

Jetzt nützte Sky diese religiöse Hingabe für seine Zwecke.

»Weißt du, dass inzwischen niemand mehr von dir spricht?«, fragte er.

Der Saboteur sah ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Seine Lider waren verschwollen. »Was?«

»Es ist, als hätte der Rest des Schiffes stillschweigend beschlossen zu vergessen, dass du jemals existiert hast. Wie fühlt man sich, wenn man aus dem Gedächtnis der Öffentlichkeit gelöscht wird?«

»Sie erinnern sich doch an mich?«

»Richtig.« Sky nickte zu der fahlen, aerodynamischen Gestalt hin, die am anderen Ende des Raumes in einem Becken aus grünem Panzerglas schwebte. »Ich und er. Aber das besagt nicht viel, nicht wahr? Wenn sich nur die Folterknechte an einen erinnern?«

»Es ist besser als nichts.«

»Die Leute sind natürlich misstrauisch.« Er dachte an Constanza, den einzig wahren Dorn in seinem Fleisch. »Wenigstens waren sie misstrauisch, wenn sie überhaupt darüber nachdachten. Immerhin hast du meinen Vater getötet. Gibt mir das nicht sogar das moralische Recht, dich zu foltern?«

»Ich habe nicht…«

»Aber natürlich.« Sky lächelte. Er stand an dem primitiven Kontrollpult, über das er die Implantate des Saboteurs ansprechen konnte, und befingerte gelangweilt die klobigen schwarze Knöpfe und die verglasten Analoganzeigen. Die Anlage war selbst gebaut, er hatte sich die Teile dafür überall auf dem Schiff zusammengesucht und ihr dann den Namen ›Gotteskasten‹ gegeben. Denn letzten Endes war sie nichts anderes als ein Gerät, das Gott in den Schädel des Killers hinein praktizierte. In den ersten Tagen hatte er dem Mann damit nur Schmerzen zugefügt, doch dann — nachdem seine Persönlichkeit zerstört war — hatte er begonnen, sie nach seinen eigenen Vorstellungen mit kontrollierten Dosen neuraler Ekstase wieder aufzubauen. Im Augenblick tröpfelte nur ein winziges elektrisches Rinnsal in den Schläfenlappen des Infiltrators, und in diesem Nullzustand grenzten dessen Empfindungen für Sky eher an Agnostizismus als an Ehrfurcht.

»Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe«, sagte der Mann.

»Nein, das glaube ich dir. Soll ich dich daran erinnern?«

Der Saboteur schüttelte den Kopf. »Vielleicht habe ich Ihren Vater getötet. Aber jemand muss mir die Möglichkeit dazu gegeben haben. Jemand muss meine Fesseln durchschnitten und das Messer neben mein Bett gelegt haben.«

»Es war ein Skalpell, und das ist unendlich viel feiner als ein Messer.«

»Sie wissen das natürlich besser.«

Sky drehte einen der schwarzen Knöpfe ein Stück weiter und beobachtete, wie die Zeiger der Analoganzeigen zitternd nach oben schnellten. »Warum hätte ich dir ermöglichen sollen, meinen eigenen Vater zu töten? Hältst du mich für wahnsinnig?«

»Er lag ohnehin im Sterben. Sie hassten ihn für das, was er Ihnen angetan hatte.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Sie haben es mir gesagt, Sky.«

Das war natürlich nicht auszuschließen. Es machte Spaß, den Mann so lange in Angst und Verzweiflung zu versetzen, bis er seine Ausscheidungsorgane kaum noch beherrschen konnte, um dann den Druck zu mildern. Das konnte er mit der Anlage erreichen, wenn er wollte, er konnte aber auch ein paar chirurgische Instrumente auspacken und sie dem Gefangenen zeigen.

»Er hatte mir doch nichts angetan, wofür ich ihn hassen müsste.«

»Nein? Jetzt widersprechen Sie sich. Sie waren immerhin der Sohn von zwei Unsterblichen. Wenn Titus sich nicht eingemischt — Sie Ihren Eltern nicht geraubt hätte —, würden sie immer noch schlafen wie die anderen Passagiere.« Der Saboteur fuhr in seinem leicht archaischen Akzent fort: »Stattdessen müssen Sie Jahre Ihres Lebens auf diesem elenden Schiff verbringen, Sie werden dabei immer älter, setzen jeden Tag Ihr Leben aufs Spiel und können nie gewiss sein, ob Sie Journey’s End jemals erreichen werden. Und womöglich hat Titus sich ja auch geirrt. Vielleicht sind Sie gar nicht unsterblich? Mit Sicherheit werden Sie das erst in vielen Jahren sagen können.«

Sky drehte den Knopf noch etwas weiter. »Findest du, dass ich so alt aussehe, wie ich wirklich bin?«

»Nein…« Die Unterlippe des Saboteurs begann zu zittern. Er zeigte die ersten Symptome der Ekstase. »Aber das könnte auch an Ihren guten Genen liegen.«

»Ich werde es darauf ankommen lassen.« Sky drehte den Strom noch höher. »Du weißt, dass ich dich hätte foltern können.«

»Ohhh ja… ich weiß. O mein Gott, ich weiß es.«

»Aber ich habe es nicht getan. Ist das jetzt ein einigermaßen starkes religiöses Erlebnis?«

»Ja. Ich fühle die Gegenwart… da ist etwas… etwas… aaaah. Jesus. Ich kann jetzt nicht sprechen.« Krampfhafte Zuckungen, die nichts Menschliches mehr hatten, überliefen das Gesicht des Mannes. Er hatte zwanzig zusätzliche Gesichtsmuskeln, mit denen er sein Aussehen im Bedarfsfall drastisch verändern konnte. Sky vermutete, dass er sich an Bord geschlichen hatte, indem er die Züge des Mannes kopierte, für den seine Kälteschlafkoje eigentlich bestimmt gewesen war. Nun imitierte er Sky, die künstlichen Muskeln arrangierten sich wie von selbst zu der neuen Konfiguration. »Es ist zu schön.«

»Siehst du schon die strahlenden Lichter?«

»Ich kann nicht sprechen.«

Sky drehte den Knopf noch ein paar Striche weiter, bis er fast am Ende der Skala war. Alle Analog-Zeiger standen fast auf ›Voll‹. Fast, aber nicht ganz, und weil sie logarithmisch eingestellt waren, konnte der letzte Strich den Unterschied zwischen einem intensiven spirituellen Erlebnis und einer kompletten Vision von Himmel und Hölle bedeuten. So weit hatte er den Gefangenen noch nie getrieben, und er war noch nicht ganz sicher, ob er das Risiko eingehen wollte.

Er trat von der Anlage weg und näherte sich dem Saboteur. Hinter ihm zitterte Sleek in seinem Tank, Wellen der Vorfreude überliefen den Körper des Delphins. Der Mann sabberte jetzt und verlor vollends die Kontrolle über seine Muskulatur. Sein Gesicht zerfloss, die Züge erschlafften. Sky nahm seinen Kopf in beide Hände und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. Fast glaubte er, die Ströme, die sich in den Schädel des Saboteurs fraßen, als Kribbeln in den Fingern zu spüren. Einen Augenblick fixierten sie sich, Pupille starrte in Pupille; doch das war für den Infiltrator zu viel. Er musste das Gefühl haben, Gott zu sehen, dachte Sky; nicht unbedingt eine angenehme Erfahrung, auch wenn sie noch so sehr in Ehrfurcht gebettet war.

»Hör mir zu«, flüsterte er. »Nein; du brauchst nicht zu sprechen. Höre nur zu. Ich hätte dich töten können, aber ich habe es nicht getan. Ich habe dich verschont. Ich habe Gnade geübt. Weißt du, was das heißt? Ich bin gnädig. Ich möchte, dass du das in Erinnerung behältst, das und noch etwas. Ich kann auch eifersüchtig und nachtragend sein.«

In diesem Augenblick schlug Skys Armband an. Es war das Armband, das er von seinem Vater geerbt hatte, als er die Leitung der Sicherheitswache übernahm. Mit einem leisen Fluch ließ er den Kopf des Gefangenen los und nahm den Anruf entgegen. Dabei vergaß er nicht, dem Mann den Rücken zuzuwenden.

»Haussmann? Sind Sie da?«

Der Alte Balcazar. Sky lächelte. Doch dann gab er sich so forsch und routiniert wie möglich.

»Ich bin hier, Captain. Was kann ich für Sie tun?«

»Es ist etwas geschehen, Haussmann. Etwas Wichtiges. Sie müssen mich begleiten.« Sky begann mit der freien Hand den Strom an der Anlage zurückzudrehen, hielt aber noch rechtzeitig inne. Wenn er ihn ganz abstellte, könnte der Gefangene womöglich wieder sprechen. Er musste ihn unter Kontrolle halten, so lange er mit dem Captain in Verbindung stand.

»Sie begleiten, Captain? An eine bestimmte Stelle auf dem Schiff?«

»Nein, Haussmann. Wir müssen das Schiff verlassen. Wir fliegen zur Palästina. Sie müssen mitkommen. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«

»Ich bin in dreißig Minuten im Shuttle-Hangar, Captain.«

»Sie sind in fünfzehn Minuten da, Haussmann, und haben ein Shuttle startbereit.« Der Captain legte eine Pause ein. »Balcazar Ende.«

Sky starrte stumm auf das Armband, nachdem das Bild des Captains erloschen war. Was mochte da wohl passiert sein? Seit zwischen den vier verbliebenen Schiffe sozusagen der Kalte Krieg ausgebrochen war, fanden Flüge, wie ihn Balcazar soeben angekündigt hatte, nur noch außerordentlich selten statt, und wenn, dann wurden sie schon Tage zuvor bis in die letzte Einzelheit sorgfältig geplant. Normalerweise bekam jedes hochrangige Besatzungsmitglied, das ein anderes Schiff besuchte, eine vollzählige Eskorte von Sicherheitsleuten mit auf den Weg, während Sky selbst zurückblieb, um für die Koordination zu sorgen. Doch diesmal hatte ihm Balcazar nur ein paar Minuten Zeit gegeben, und dem Anruf des Captains waren auch keinerlei einschlägige Gerüchte vorangegangen.

Fünfzehn Minuten — und mindestens eine hatte er schon vergeudet. Er klappte seine Ärmelmanschette herunter und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Im letzten Augenblick fiel ihm ein, dass der Gefangene noch an den Gotteskasten angeschlossen war und in elektrischer Ekstase schwelgte.

Wieder überlief Sleek ein Schauer der Erwartung.

Sky trat wieder an die Anlage und stellte sie so ein, dass der Delphin den Strom für die elektrische Stimulation regulieren konnte. Sleek zuckte wie besessen, er warf sich gegen die Wände seines Gefängnisses und hüllte sich in eine sprudelnde Wolke von Wasserblasen. Jetzt konnte der Delphin über die Implantate in seinem Schädel die Anlage ansprechen; er konnte den Gefangenen vor Schmerzen schreien oder vor Lust stöhnen lassen. Wobei Sleek im Allgemeinen die erste Möglichkeit vorzog.


Lange bevor Sky den alten Mann sah, hörte er ihn schon ächzend und keuchend durch den Hangar schlurfen. Valdivia und Rengo, seine beiden medizinischen Betreuer, folgten ihm in diskretem Abstand. Sie gingen leicht gebückt, weil sie mit Handgeräten seine Vitalzeichen überwachten, und machten dabei so besorgte Gesichter, als hätte der Alte nur noch wenige Minuten zu leben. Sky dagegen hegte keinerlei Befürchtungen, der Captain könnte auf der Stelle tot umfallen: die beiden liefen nun schon seit Jahren mit diesen Leichenbittermienen herum, doch das war nur die sorgsam gepflegte Maske ärztlicher Professionalität. Valdivia und Rengo mussten den Anschein erwecken, der Captain läge praktisch in den letzten Zügen, sonst würden sie womöglich gezwungen, ihr nicht allzu gut entwickeltes medizinisches Können anderswo einzusetzen.

Das sollte natürlich nicht heißen, dass Balcazar geradezu in der Blüte seiner Jahre gestanden hätte. Der alte Mann trug unter seiner fest zugeknöpften Uniformjacke ein Gerät zur Überwachung seiner Lebensfunktionen um den Oberkörper, das ihm das pummelige Aussehen eines wohlgenährten Gockels verlieh. Ein Eindruck, der durch sein steif abstehendes graues Haar und das misstrauische Funkeln in den weit auseinander liegenden schwarzen Augen noch verstärkt wurde. Balcazar war bei weitem das älteste Besatzungsmitglied; er war schon lange vor Titus’ Zeit Captain gewesen. Jedermann wusste, dass er einst ein Mann von messerscharfem Verstand gewesen war, der die Crew eiskalt und mit ruhiger Hand durch zahllose kleinere Krisen geführt hatte, doch jedermann wusste auch, dass diese Zeit vorbei war; das Messer war stumpf geworden, der Mann war inzwischen eine Karikatur seiner selbst. Insgeheim wurde gemunkelt, sein Verstand sei so gut wie restlos zerrüttet, während man lauthals bedauerte, dass seine Hinfälligkeit es erforderlich mache, die Zügel in die Hände der jüngeren Generation zu legen; er müsse durch einen jungen Captain oder einen Mann mittleren Alters ersetzt werden, der noch nicht völlig vergreist wäre, wenn die Flottille ihren Bestimmungsort erreichte. Man dürfe nicht mehr zu lange warten, hieß es, sonst hätte der Nachfolger keine Zeit mehr, sich in die Aufgabe einzuarbeiten, bevor die zweifellos schwierige Schlussphase der Reise anbreche.

Es hatte öffentliche Kritik gegeben, Misstrauensanträge, die Forderung nach Zwangspensionierung aus Gesundheitsgründen — wenn auch natürlich keine ausdrückliche Meuterei —, doch der alte Bastard hatte alle Stürme überstanden. Dennoch war seine Position noch nie so schwach gewesen wie jetzt. Seine treuesten Verbündeten starben allmählich weg. Titus Haussmann, den Sky immer noch als seinen Vater betrachtete, hatte zu ihnen gehört. Titus’ Tod war für den Captain ein herber Verlust gewesen, er hatte sich voll auf die taktischen Ratschläge des Mannes verlassen, der so gut über die wahre Stimmung in der Mannschaft Bescheid wusste. Man hatte fast den Eindruck, als könnte der Captain ohne seinen Vertrauten nicht auskommen und hätte nichts dagegen, wenn Sky in Titus’ Rolle schlüpfte. Das lag nicht nur an Skys schneller Beförderung zum Leiter der Sicherheitswache. Als der Captain anfing, ihn gelegentlich sogar als ›Titus‹ anzusprechen, hatte Sky zunächst an ein harmloses Versehen gedacht, doch bei genauerer Betrachtung steckte sehr viel mehr dahinter. Der Captain hatte, wie man so sagte, nicht mehr alle Tassen im Schrank; er warf alles durcheinander und hatte bisweilen Mühe, die jüngste Vergangenheit klar im Blick zu behalten. So konnte man kein Schiff führen.

Deshalb hatte Sky beschlossen, etwas zu unternehmen.

»Wir kommen natürlich mit«, flüsterte der erste Betreuer. Valdivia sah seinem Kollegen Rengo so ähnlich, dass man sie für Brüder halten konnte. Sie hatten beide kurzgeschorenes weißes Haar und die gleichen tiefen Sorgenfalten auf der Stirn.

»Unmöglich«, sagte Sky. »Es steht nur ein zweisitziges Shuttle zur Verfügung.« Er zeigte auf das nächststehende Flugzeug auf seiner Transportpalette. Um den Zweisitzer herum standen zwar noch andere Schiffe, aber bei denen fehlten irgendwelche Bauteile, oder die Reparaturklappen standen offen. Die Wartung ließ allgemein zu wünschen übrig; überall auf dem Schiff versagten Geräte, die bis zum Ende der Mission hätten halten sollen. Das wäre weiter kein Problem gewesen, wenn die Schiffe sich untereinander mit Ersatzteilen und Fachwissen ausgeholfen hätten, aber daran war bei der derzeitigen Vereisung der diplomatischen Beziehungen nicht zu denken.

»Wie lange würde es dauern, um eine größere Maschine notdürftig startklar zu machen?«, fragte Valdivia.

»Mindestens einen halben Tag«, sagte Sky.

Das hatte Balcazar wohl wenigstens zum Teil mitbekommen, denn er murmelte: »Verdammt, Haussmann, ich dulde keine Verzögerung.«

»Sehen Sie?«

Rengo sprang vor. »Dürfte ich dann, Captain?«

Es war ein Ritual, das sie schon unzählige Male durchgespielt hatten. Balcazar ließ sich mit einem gequälten Seufzer die seitlich geknöpfte Jacke öffnen. Darunter kam der blanke Panzer des medizinischen Aggregats zum Vorschein. Der Motor schwirrte und keuchte wie eine schrottreife Luftreinigungsanlage. In den Panzer waren Dutzende von Schaugläsern mit Skalen und Messinstrumenten oder mit pulsierenden Flüssigkeitsleitungen eingelassen. Rengo zog eine Sonde aus seinem Handgerät, steckte sie in verschiedene Öffnungen und nahm die Zahlen und Graphen, die über seinen Bildschirm glitten, nickend oder mit Kopfschütteln zur Kenntnis.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Sky.

»Sobald er zurück ist, möchte ich ihn unten im Lazarett zu einer Generaluntersuchung sehen«, sagte Rengo.

»Der Puls ist etwas schwach«, sagte Valdivia.

»Er hält schon durch. Ich setze das Beruhigungsmittel etwas höher.« Rengo drückte einige Tasten auf seinem Handgerät. »Unterwegs wird er ein wenig müde sein, Sky. Lassen Sie bitte nicht zu, dass ihn die Bastarde auf dem anderen Schiff in Aufregung versetzen! Bringen Sie ihn bei den ersten Anzeichen von Reibereien aus medizinischen Gründen sofort zurück.«

»Ganz bestimmt.« Sky half dem bereits etwas schläfrigen Captain in das zweisitzige Shuttle. Natürlich war es eine Lüge, dass die größeren Schiffe nicht startbereit waren, aber außer Sky selbst verstand niemand von den Anwesenden so viel von der Technik, dass er das hätte beweisen können.

Der Start verlief ohne Zwischenfälle. Sie verließen den Zugangstunnel, klinkten sich aus, schwenkten im Bogen von der Santiago weg und lenkten das Shuttle mit kleinen Schubstößen auf sein Ziel, die Palästina zu. Der Captain saß vor Sky, sein Spiegelbild im Cockpitfenster erinnerte an das offizielle Porträt eines achtzigjährigen Despoten aus einem anderen Jahrhundert. Sky hatte erwartet, dass er einnickte, aber er blieb wach. Er hatte die Angewohnheit, alle paar Minuten ominöse, von Hustensalven unterbrochene Bemerkungen zu machen.

»Khan war ein Narr… verdammt leichtsinnig… hätte nach den Unruhen von ‘15 niemals das Kommando behalten dürfen… wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man den Burschen für den Rest der Reise eingefroren oder ins All gestoßen… ohne seine Masse hätten wir vielleicht den Vorsprung für die Bremsphase bekommen, den wir von vornherein haben wollten…«

»Tatsächlich, Captain?«

»Das ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen, verdammter Dummkopf! Was kann ein Mensch schon wiegen, den zehnmillionsten Teil unserer Schiffsmasse vielleicht? Was wäre das denn für ein Vorsprung?«

»Kein sehr großer, Captain.«

»Verdammt, das möchte ich doch meinen. Das ist das Problem mit Ihnen, Titus, Sie nehmen alles, was ich sage, so verdammt wörtlich… hängen mit gezücktem Federkiel an jedem meiner Worte wie ein elender Schreiberling…«

»Ich bin nicht Titus, Captain. Titus war mein Vater.«

»Was?« Balcazar starrte ihn an, seine Augen waren gelb vor Misstrauen. »Ach, verdammt, ist doch egal!«

Tatsächlich hatte Balcazar einen seiner besseren Tage. Er hatte sich nicht völlig in seinen Wahnvorstellungen verloren. Es konnte viel schlimmer sein: manchmal überkam ihn die Lust, wie eine Sphinx in Rätseln zu sprechen. Vielleicht hatten selbst seine abwegigsten Äußerungen irgendwann einmal in einem sinnvollen Zusammenhang gestanden, doch für Sky klangen sie nur wie die Phantasien eines Sterbenden. Aber das konnte ihm egal sein. Wenn Balcazar seine Selbstgespräche führte, erwartete er nur selten, dass man darauf einging. Hätte Sky sich tatsächlich eingeschaltet — oder es gar gewagt, ein winziges Detail in Balcazars innerem Monolog infrage zu stellen —, der Schreck hätte bei dem alten Mann wahrscheinlich trotz Rengos Beruhigungsmitteln zu multiplem Organversagen geführt.

Und das wäre wahrhaftig die beste Lösung gewesen, dachte Sky.

Nach einigen Minuten sagte er: »Eigentlich könnten Sie mir jetzt sagen, worum es geht, Captain.«

»Natürlich, Titus, natürlich.«

Und dann erzählte ihm der Captain so gelassen, als säßen sie wie zwei alte Freunde bei einem Pisco Sour und redeten über alte Zeiten, sie befänden sich auf dem Weg zu einem Spitzengespräch hochrangiger Mitglieder der Flottillen. Es sollte die erste derartige Sitzung seit mehreren Jahren werden, und der Anlass war das unerwartete Eintreffen eines weiteren Updates aus dem Sol-System. Mit anderen Worten, einer Botschaft von zu Hause mit ausführlichen technischen Instruktionen. Äußere Ereignisse dieser Art förderten auch jetzt, inmitten eines Kalten Krieges, noch die Einigkeit innerhalb der Flottille. Schließlich mochte ein Geschenk wie diese Botschaft auch die Islamabad vernichtet haben, als Sky noch ganz klein war. Bis auf den heutigen Tag wusste niemand genau, ob Khan mit Absicht aus dem Giftbecher getrunken hatte, oder ob die damalige Katastrophe nur ein übler kosmischer Scherz gewesen war. Diesmal wurde eine weitere Steigerung der Triebwerksleistung verheißen, erforderlich seien nur ganz geringfügige Veränderungen an der Topologie des Magneteinschlusses; alles ganz ungefährlich, hieß es in der Botschaft — man habe zu Hause unzählige Tests mit Kopien der Flottillen-Triebwerke durchgeführt; der Fehlerspielraum sei wirklich zu vernachlässigen, wenn gewisse Vorsichtsmaßnahmen beachtet würden…

Doch gleichzeitig war eine zweite Botschaft eingetroffen.

Tut es nicht, hieß es darin. Es ist nur ein Bluff.

Es spielte kaum eine Rolle, dass die zweite Botschaft keinen plausiblen Grund angab, warum irgendjemand an einem solchen Bluff interessiert sein sollte. Die Saat des Zweifels war gelegt und verlieh dem Spitzengespräch einen ganz neuen, unheimlichen Beigeschmack.

Sky und Balcazar waren endlich auf Sichtweite an die Palästina herangekommen, wo das Gespräch stattfinden sollte. Alle drei Schiffe hatten Taxi-Shuttles mit hochrangigen Offizieren entsandt. Auf den Treffpunkt hatte man sich in aller Eile geeinigt, was aber nicht hieß, dass dabei keine Schwierigkeiten aufgetreten wären. Doch die Entscheidung für die Palästina war naheliegend. In jedem Krieg, dachte Sky, ob kalt oder nicht, war ein neutrales Territorium, sei es für Verhandlungen, für den Austausch von Spionen oder — wenn alles andere gescheitert war — zur Demonstration neuer Waffen, für alle Beteiligten von Vorteil. In diesem Fall hatte die Palästina diese Rolle übernommen.

»Glauben Sie wirklich, dass es sich um einen Bluff handelt, Captain?«, fragte Sky. Balcazar hatte gerade einen seiner Hustenanfälle überwunden. »Ich meine, warum sollte man das tun?«

»Warum sollte man was tun?«

»Warum sollte man versuchen, uns durch fehlerhafte technische Daten in eine Katastrophe zu führen? Wer könnte zu Hause davon profitieren? Es ist ein Wunder, dass man sich überhaupt die Mühe macht, uns etwas zu schicken.«

»Exakt«, fauchte Balcazar so verächtlich, als wäre hier jedes Wort zu viel. »Man würde auch nichts profitieren, wenn man uns etwas Brauchbares schickte — und das würde sehr viel mehr Aufwand erfordern. Begreifen Sie das denn nicht, Sie kleiner Narr? Gott schütze uns alle, wenn einer von eurer Generation jemals ans Ruder kommt…« Er verstummte.

Sky wartete, bis er zu husten und dann zu keuchen aufhörte. »Trotzdem muss es doch ein Motiv geben…«

»Reine Bosheit.«

Sky wusste, dass er sich auf sehr dünnem Eis bewegte, aber das konnte ihn nicht abhalten. »Die Bosheit könnte auch in der Nachricht stecken, die uns warnt, die vorgeschlagenen Veränderungen durchzuführen.«

»Und Sie würden viertausend Menschenleben aufs Spiel setzen, um diese Schuljungenspekulation auf die Probe zu stellen?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, solche Entscheidungen zu treffen, Captain. Ich sage nur, ich beneide sie nicht um die Verantwortung.«

»Was verstehen Sie schon von Verantwortung, Sie unverschämter kleiner Knirps?«

Noch nicht viel, dachte Sky. Aber das könnte sich eines Tages… vielleicht eines nicht allzu fernen Tages, rasch ändern. Zunächst war es wohl besser, die Frage nicht zu beantworten. Er flog schweigend weiter, nur die Erstickungsanfälle des alten Mannes unterbrachen die Stille.

Aber Sky dachte angestrengt nach. Eine Bemerkung Balcazars ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: der Alte hatte angedeutet, es wäre besser, die Toten im All beizusetzen, als sie auf die Zielwelt mitzunehmen. Bei näherer Betrachtung hatte das eine gewisse Logik.

Jedes Kilogramm, das ein Schiff tragen musste, war ein Kilogramm, das von der interstellaren Reisegeschwindigkeit heruntergebremst werden musste. Das Schiff hatte eine Gesamtmasse von knapp einer Million Tonnen — das zehn Millionenfache der Masse eines Menschen, wie Balcazar ganz richtig gesagt hatte. Die einfachen Gesetze der Newton-Physik besagten, dass eine Verringerung der Schiffsmasse um diese Menge bei gleicher Triebwerksleistung zu einer proportionalen Erhöhung der Bremsgeschwindigkeit führen musste.

Eine Verbesserung um eins zu zehn Millionen war nicht gerade spektakulär… aber wer sagte denn, dass man sich mit der Masse eines einzigen Menschen begnügen musste?

Sky dachte an all die toten Passagiere auf der Santiago: die Schläfer, für die eine Reanimierung medizinisch nicht mehr möglich war. Die Forderung, sie trotzdem nach Journey’s End zu bringen, war pure Humanitätsduselei. Auch die großen, schweren Geräte zur Lebenserhaltung könnten abgeworfen werden. Je länger Sky darüber nachdachte, desto weniger unmöglich erschien es ihm, die Schiffsmasse auf diese Weise um etliche Tonnen zu reduzieren. So dargestellt, klang es fast zwingend. Das wäre immer noch sehr viel weniger als ein Tausendstel, aber — wer wusste denn, ob man in den kommenden Jahren nicht noch weitere Schläfer verlieren würde? Unzählige Dinge konnten schief gehen.

Sich in den Kälteschlaf zu begeben, war eine riskante Sache.

»Vielleicht sollten wir alle in Ruhe abwarten, Titus«, sagte der Captain und riss Sky damit aus seinen Gedanken. »Das wäre doch sicher nicht die schlechteste Reaktion, oder?«

»Abwarten, Captain?«

»Ja.« Der Captain dachte jetzt mit eisiger Klarheit, aber Sky wusste, dass diese Phase sehr schnell wieder vorbei sein konnte. »Abwarten, was die anderen tun, meine ich. Sie haben die Botschaft doch auch erhalten. Und sie werden ebenfalls erörtert haben, wie sie vorgehen wollen — aber sie konnten natürlich mit keinem von uns darüber sprechen.«

Der Captain schien bei klarem Verstand zu sein, dennoch hatte Sky Mühe, um zu folgen. Um das zu verbergen, sagte er: »Sie haben sie lange nicht mehr erwähnt, nicht wahr?«

»Natürlich nicht. Man ist doch keine Klatschbase, Titus — gerade Sie sollten das doch wissen. ›Loose lips sink ships‹, lautet ein altes Sprichwort. Durch Schwatzhaftigkeit versenkt man Schiffe. Oder sorgt dafür, dass sie entdeckt werden.«

»Entdeckt, Captain?«

»Wir wissen doch nur zu gut, dass unsere Freunde auf den anderen dreien von ihrer Existenz offenbar nichts ahnen. Wir haben Spione bis in die höchsten Ränge eingeschleust, und es ist nie ein Wort über sie gefallen.«

»Ist das auch ganz sicher, Captain?«

»Ach, ich denke schon, Titus.«

»Wirklich, Captain?«

»Natürlich. Sie haben auf der Santiago doch auch ständig ein Ohr am Boden, oder? Also wissen Sie, dass die Besatzung zumindest Gerüchte über das sechste Schiff gehört hat, selbst wenn ihnen die meisten keinen Glauben schenken.«

Sky verbarg seine Überraschung, so gut er konnte. »Die meisten halten das sechste Schiff für einen Mythos, Captain.«

»Und dabei soll es auch bleiben. Aber wir wissen es besser.«

Sky dachte bei sich: Es ist also wahr. Nach so langer Zeit erfahre ich, dass das verdammte Ding tatsächlich existiert Zumindest in Balcazars Phantasie. Aber so, wie der Captain redete, müsste auch Titus von dem Geheimnis gewusst haben. Da das sechste Schiff ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellte — auch wenn nur sehr wenig darüber bekannt war —, lag das durchaus im Bereich des Möglichen. Und Titus war gestorben, bevor er die Information an seinen Nachfolger hatte weitergeben können.

Sky dachte an seinen Freund Norquinco und an die gemeinsamen Zugfahrten mit ihm. Er erinnerte sich noch gut, wie fest Norquinco an die Existenz des sechsten Schiffes geglaubt hatte. Auch Gomez hatte sich leicht überzeugen lassen. Sky hatte mit den beiden seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesprochen, aber jetzt sah er sie im Geiste neben sich, sie nickten stumm und freuten sich, dass er etwas, wogegen er sich so heftig gewehrt hatte, nun widerspruchslos als Tatsache akzeptieren musste. Er hatte seit jenem Gespräch im Zug kaum mehr an die Geschichte gedacht, doch jetzt zermarterte er sich das Gehirn, um zu rekapitulieren, was Norquinco gesagt hatte.

»Die meisten Besatzungsmitglieder, die sich überhaupt darauf einlassen«, sagte er, »gehen davon aus, dass das sechste Schiff ausgestorben ist und nur als leeres Wrack hinter uns her treibt.«

»Was lediglich beweist, dass hinter jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckt. Natürlich ist es dunkel — keine Lichter, nichts weist darauf hin, dass es mit Menschen besetzt ist, aber das könnte alles Täuschung sein. Vielleicht ist die Crew noch am Leben und steuert es ganz unauffällig. Wir haben natürlich keine Ahnung, wie es um ihren Gemütszustand bestellt ist, wir wissen ja immer noch nicht, was tatsächlich geschehen ist.«

»Aber das wäre wünschenswert. Jetzt ganz besonders.« Sky zögerte, doch dann wagte er den Sprung ins Ungewisse. »Mit Rücksicht auf den Ernst der Lage und in Anbetracht dieser technischen Instruktionen von zu Hause — gibt es etwas, das ich über das sechste Schiff wissen sollte, irgendetwas, das uns helfen könnte, die richtige Entscheidung zu treffen?«

Er war sehr erleichtert, als ihm der Captain die Frage nicht übel nahm. Er schüttelte nur den Kopf.

»Sie haben alles erfahren, was ich weiß, Titus. Mehr ist wirklich nicht bekannt. Ich fürchte, die Gerüchte enthalten alle Informationen, die uns vorliegen.«

»Mit einer Expedition könnte man Klarheit schaffen.«

»Das sagen Sie mir immer wieder. Aber bedenken Sie die Risiken: Gewiss, das Schiff liegt gerade noch in Reichweite unserer Shuttles. Laut unserer letzten exakten Radarposition fliegt es etwa eine halbe Lichtsekunde hinter uns, wobei es früher einmal sehr viel näher gewesen sein muss. Noch einfacher wäre es, wenn wir dort Treibstoff fassen könnten. Aber vielleicht wollen sie keine Besucher? Seit mehr als einer Generation tun sie nun schon so, als würden sie nicht existieren. Durchaus möglich, dass sie ihre Tarnung nicht kampflos aufgeben wollen.«

»Es sei denn, sie wären tot. Einige von unseren Leuten glauben, wir hätten sie angegriffen und dann aus den Archiven gelöscht.«

Der Captain zuckte die Achseln. »Vielleicht war es ja tatsächlich so. Wenn man ein solches Verbrechen ungeschehen machen könnte, würde man es doch tun, meinen Sie nicht? Aber es könnte auch sein, dass einige von denen überlebt haben und sich nun ganz still verhalten, um uns in einer späteren Phase der Reise überrumpeln zu können.«

»Sie meinen, diese Botschaft von zu Hause könnte sie aus der Deckung locken?«

»Schon möglich. Falls die Botschaft sie ermutigt, an ihrem Antimaterietriebwerk herumzuspielen, aber in Wirklichkeit nur eine Falle ist…«

»Dann stecken sie den halben Himmel in Brand.«

Der Captain lachte leise, ein ekelhaft rasselndes Geräusch, und dann nickte er endlich doch ein. Der Rest des Fluges verlief ohne Zwischenfälle, aber Skys Gedanken überschlugen sich. Er konnte kaum verarbeiten, was er erfahren hatte. Immer wieder sagte er den gleichen Satz vor sich hin, und immer wieder war er wie eine Ohrfeige, eine Strafe für die Arroganz, mit der er Norquinco und den anderen entgegengetreten war. »Das sechste Schiff existiert. Das verdammte sechste Schiff existiert…«

Das konnte der Faktor sein, der alles veränderte.

Загрузка...