Dreiunddreißig

Ich sah Zebra an. Sie sah mich an. Keiner sprach ein Wort.

Die beiden Gorillas führten uns in die Gondel. Alles roch brandneu. Die Lederbezüge atmeten Luxus. Der hintere Bereich war abgetrennt und mit sechs Sesseln und einem hügelförmigen Tisch ohne Beine möbliert. Leise Musik erfüllte die Luft. Die Decke zeigte ein elegantes Neon-Dekor. Voronoff und einer der Leibwächter setzten sich uns gegenüber. Quirrenbach bestieg mit dem anderen das vordere Abteil. Hinter der Trennwand waren sie nur als graue Schatten zu erkennen.

Die Gondel startete sehr weich. Die Arme auf dem Dach klapperten leise wie die Nadeln einer eifrigen Strickerin.

»Was meinte er mit All?«, fragte ich.

»Einen Ort namens Refugium. Eins von den Karussells im hohen Orbit«, sagte Voronoff. »Aber Ihnen kann das eigentlich egal sein. Ich meine, Sie wollten ja nicht nur so zum Spaß mitfliegen, oder?«

Seit meiner Ankunft in der Stadt hatte dieses Refugium schon einmal jemand erwähnt, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang das gewesen war.

»Was passiert, wenn wir dort ankommen?«

»Das bestimmt Mister Reivich, und Sie werden es rechtzeitig erfahren. Man könnte von Verhandlungen sprechen. Aber bilden Sie sich ja nicht ein, Sie hätten allzu gute Karten, Mirabel. Nach allem, was ich höre, haben Sie Ihre Trümpfe bereits ausgespielt.«

»Ein paar Asse habe ich immer noch im Ärmel.« Leider klang das etwa so überzeugend, als wenn sich ein betrunkener Landstreicher mit seiner Potenz brüstete. Durch die Seitenfenster konnte ich beobachten, wie der Escher-Turm, ein schwebender Kristallberg, hinter uns zurückfiel, und ich sah auch — und das war nicht unwichtig — wie die zweite Gondel, die nicht Zebra gehörte, ihre Arme auf volle Länge ausfuhr und sich anschickte, uns in diskretem Abstand zu folgen.

»Was jetzt?«, fragte ich, ohne den Gorilla zu beachten. »Ihr Spiel ist aus, Voronoff. Sie werden sich ein neues suchen müssen.«

»Hier geht es nicht um Spiele, Sie Schwachkopf. Hier geht es um Schmerz.« Er beugte sich so weit vor, dass er mit dem Oberkörper fast auf dem Tisch lag. Er hatte Reivichs Aussehen, aber seine Körpersprache und seine Sprechweise passten nicht dazu. Ich hörte nicht den leisesten Sky’s Edge-Akzent, und Voronoffs geballte Dynamik wäre dem aristokratischen Reivich fremd gewesen. »Es geht um Schmerz«, wiederholte er. »Denn nur durch Schmerz kann man Sie auf Abstand halten. Verstehen Sie?«

»Eigentlich nicht, aber reden Sie nur weiter.«

»Sie halten Langweile normalerweise nicht für eine Art von Schmerz. Das liegt daran, dass sie Ihnen nur in relativ kleinen Mengen verabreicht wird. Sie wissen nicht, wie sie wirklich ist. Langeweile, wie Sie sie kennen, und Langeweile, wie ich sie kenne, sind etwa so verschieden, als fasste man mit einer Hand in den Schnee und mit der anderen in einen Behälter mit flüssigem Stickstoff.«

»Langeweile ist kein Stimulus, Voronoff.«

»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte er. »Immerhin entsteht das Gefühl, das wir Langeweile nennen, in einem bestimmten Bereich des menschlichen Gehirns. Das können Sie nicht bestreiten. Und dieser Teil muss logischerweise durch einen externen Stimulus aktiviert werden, nicht anders als das Geschmacks- oder das Hörzentrum.« Er hob abwehrend die Hand. »Ich weiß schon, was Sie jetzt sagen wollen. Das ist nämlich eine besondere Fähigkeit von mir — Dinge im Voraus zu wissen. Geradezu symptomatisch für meinen Zustand, könnte man sagen. Ich bin ein neurales Netz, das so gut auf seinen Input eingestimmt ist, dass es sich seit Jahren nicht mehr weiterentwickelt hat. Aber kehren wir zum Thema zurück. Sie wollten natürlich einwenden, Langeweile sei eher ein Mangel an Reizen als das Vorhandensein eines bestimmten Stimulus. Aber ich sage Ihnen, das ist kein Unterschied; das Glas ist gleichzeitig halb leer und halb voll. Sie hören die Stille zwischen den Tönen, ich höre die Musik. Sie sehen ein schwarzes Muster auf weißem Grund; ich sehe ein weißes Muster auf Schwarz. Mehr noch, ich sehe beides.« Wieder grinste er wie ein Geisteskranker, der seit Jahren in einem Verlies angekettet war und nun tiefgründige Gespräche mit seinem eigenen Schatten führte. »Ich sehe alles. Das ist unvermeidlich, wenn jemand meine — wie soll ich sagen? — meine Erfahrungstiefe erreicht hat.«

»Sie sind also vollkommen verrückt?«

»Ich war verrückt«, erwiderte Voronoff und nickte. Er wirkte nicht gekränkt. »Ich habe den Wahnsinn durchschritten und bin auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Jetzt würde er mich ebenso langweilen wie die Normalität.«

Ich wusste natürlich, dass er nicht verrückt war — jedenfalls war er kein tobender Irrer, denn sonst hätte Reivich ihn nicht einsetzen können, um mich zu ködern. Voronoff musste noch einen Rest Realitätsbewusstsein haben. Ich war mit Sicherheit niemals in einer ähnlichen geistigen Verfassung gewesen — und ich hatte durchaus unter Langeweile gelitten —, aber ich musste davon ausgehen, dass er im Vollbesitz seiner Fähigkeiten war, alles andere wäre tödlich gewesen.

»Sie könnten ein Ende machen«, riet ich ihm. »Selbstmord zu begehen kann doch in einer Stadt wie dieser so schwierig nicht sein.«

»Manche Menschen wählen diesen Weg«, sagte Zebra. »Menschen wie Voronoff. Sie nennen es natürlich nicht Selbstmord. Aber sie entwickeln plötzlich eine bedenkliche Begeisterung für Aktivitäten mit sehr geringer Überlebenswahrscheinlichkeit wie Abspränge über dem Gasriesen oder Besuche bei den Schleierwebern.«

»Warum nicht, Voronoff?« Doch dann musste ich lächeln. »Nein, warten Sie. Sie standen schon kurz davor, nicht wahr? Ihr Auftritt als Reivich. Sie hofften, ich würde Sie töten, richtig? Ein halbwegs würdevoller Ausweg aus dem Schmerz. Der weise alte Unsterbliche, niedergeschossen von einem auswärtigen Verbrecher, nur weil er zufällig in der Rolle eines flüchtigen Mörders auftrat?«

»Mit einer ungeladenen Pistole? Das hätte ich für mein Leben gern gesehen, Mirabel.«

»Ein Punkt für Sie?«

»Aber«, sagte Zebra, »dann hast du gemerkt, dass es dir zu gut gefiel.«

Voronoff sah sie an und fragte mit kaum verhohlener Gehässigkeit: »Was gefiel mir zu gut?«

»Gejagt zu werden. Es hat den Schmerz gelindert, nicht wahr?«

»Was verstehst du denn schon von diesem Schmerz?«

»Nein«, sagte ich. »Seien Sie ehrlich, Voronoff. Sie hat Recht, nicht wahr? Zum ersten Mal seit Jahren haben Sie wieder gespürt, was Leben heißt. Nur deshalb sind Sie sinnlose Risiken eingegangen — um sich dieses Kribbeln zu bewahren. Aber Sie bekamen nie genug. Selbst die Sprünge in den Abgrund konnten Sie nur in Maßen amüsieren.«

Er sah uns mit neuem Eifer an. »Wurden Sie jemals gejagt? Haben Sie eine Vorstellung, wie das ist?«

»Ich hatte das Vergnügen«, sagte ich. »Und es ist noch gar nicht so lange her.«

»Ich rede nicht von unseren dummen Spielchen«, fauchte Voronoff verächtlich. »Da wird nur Abschaum von Abschaum gejagt — Anwesende natürlich ausgeschlossen. Als Sie das Opfer waren, Mirabel, waren die Jäger so sehr im Vorteil, dass sie Ihnen auch gleich die Augen verbinden und eine Kugel durch den Kopf hätten jagen können, anstatt Sie erst noch laufen zu lassen.«

»Sie werden sich wundern, aber damals hätte ich Ihnen fast zugestimmt.«

»Man hätte die Sache auch anders aufziehen können. Mit fairen Chancen. Hätte man Ihnen mehr Vorsprung gelassen, bevor man die Verfolgung aufnahm, dann wäre Ihr Tod nicht von vornherein beschlossene Sache gewesen. Man hätte Ihnen auch die Möglichkeit geben können, ein Versteck aufzusuchen. Das hätte vieles geändert, nicht wahr?«

»Manches«, nickte ich. »Eine Kleinigkeit wäre allerdings auch dann gleich geblieben: Ich hatte mich nicht freiwillig gemeldet.«

»Vielleicht hätten Sie das sogar getan. Wenn es sich ausgezahlt hätte. Gegen eine entsprechende Belohnung. Wenn Sie eine Aussicht gesehen hätten, mit dem Leben davonzukommen.«

»Was war Ihre Belohnung, Voronoff?«

»Der Schmerz«, sagte er. »Die Erlösung davon. Zumindest für ein paar Tage.«

Wahrscheinlich setzte ich zu einer Antwort an. Jedenfalls scheint es mir im Rückblick so. Vielleicht war es auch Zebra oder der wortkarge Gorilla mit dem Keulengewehr. Doch mit Sicherheit weiß ich nur noch, was wenige Sekunden später passierte. Die Augenblicke davor sind spurlos aus meinem Gedächtnis gelöscht. Als aus der anderen Gondel das Feuer auf uns eröffnet wurde, spürten wir wohl zuerst einen heißen, grellen Blitz. Dann jagte die Schockwelle der Strahlenwaffe mit einem ohrenbetäubenden Schlag durch die aufgerissene Gondel, und schließlich flog das ganze Triebwerk als heiße Wolke aus Metall, Plastik und anderen Kunststoffen in die Luft. Danach kam wohl der Absturz. Der Angriff hatte die Dacharme abgerissen oder so verbogen, dass sie sich nicht mehr an den Kabeln halten konnten.

Nach etwa einer Sekunde wurden wir heftig abgebremst, und das brachte mich wieder einigermaßen zu mir. In meiner ersten Erinnerung — bevor die Schmerzen einsetzten — stand die Gondel auf dem Kopf, der Tischhügel hing wie ein Pickel von der Decke, und in dem Boden mit dem Neon-Dekor klaffte ein gezacktes Loch, durch das ich viel zu deutlich und viel zu weit entfernt den unteren Teil der Stadt — das stinkende Gassengewirr des Mulch — sehen konnte.

Der Leibwächter war verschwunden, nur sein Gewehr rutschte klirrend auf dem neuen Fußboden hin und her. Die Gondel fand schwankend zu einem labilen neuen Gleichgewicht. Auch die Hand des Gorillas war noch da, sie war um das Gewehr gekrallt. Ein Schuss hatte sie glatt vom Arm getrennt. Die Knochenstümpfe am Handgelenk erinnerten mich an den Moment nach Reivichs Überfall, als ich in unserem Zelt saß und einen Fuß verloren hatte; immer wieder war ich mit der Hand über den Stumpf gefahren und hatte mir die blutigen Finger vor das Gesicht gehalten, weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, dass der Feind mir einen Teil meines Körpers geraubt hatte wie ein Stück Land.

Nur — und das wusste ich jetzt — war das alles gar nicht mir passiert.

Zebra und ich waren in eine Ecke der Kabine geschleudert worden und lagen uns in den Armen wie ein Liebespaar. Von Voronoff — ganz oder in Teilen — war nichts zu sehen. Der Schmerz brandete in ersten Wellen über mich herein, aber als ich mich genauer damit befasste, stellte ich fest, dass er für einen Knochenbruch nirgendwo stark genug war.

Die Gondel schaukelte quietschend hin und her. Bis auf unsere Atemzüge und Zebras leises Wimmern war es bemerkenswert still.

Zebra öffnete die Augen einen Spalt breit und sah mich gequält an. »Tanner?«, fragte sie. »Was ist passiert?«

»Wir wurden angegriffen«, sagte ich. Sie hatte von der zweiten Gondel nichts gewusst und war daher völlig überrumpelt worden, während ich mich mental auf eine Intervention, in welcher Form auch immer, eingestellt hatte. »Wahrscheinlich mit einer schweren Strahlenwaffe. Ich denke, wir stecken im Baldachin fest.«

»Sind wir in Sicherheit?«, fragte sie und befreite unter Schmerzen eine ihrer Gliedmaßen. »Nein; warte. Dumme Frage. Entsetzlich dumme Frage.«

»Bist du verletzt?«

»Ich, hm… Moment mal.« Ihr ohnehin schon glasiger Blick wurde noch eine Spur glasiger. »Nein; jedenfalls nichts, was nicht ein paar Stunden warten könnte.«

»Was hast du eben getan?«

»Mein Körperbild auf Schäden untersucht.« Sie sagte es verächtlich. »Was ist mit dir, Tanner?«

»Ich komme schon durch. Falls überhaupt einer von uns durchkommt.«

Die Gondel machte einen Satz, sackte nach unten ab und fing sich zittrig wieder. Ich versuchte, nicht durch das Loch im Boden zu schauen, aber der Mulch schien sich eher noch weiter entfernt zu haben und sah aus wie ein Stadtplan, den man auf Armeslänge von sich abhielt. Ein paar von den untersten Ästen des Baldachins versperrten mir die Sicht, aber sie waren dünn und unbewohnt und verstärkten nur das Gefühl schwindelerregender Höhe. Hinter der Trennwand bewegten sich Schatten. Die Gondel setzte sich wieder in Bewegung.

»Jemand wird uns retten«, sagte Zebra. »Oder meinst du nicht?«

»Vielleicht will sich dieser Jemand nicht in eine Privatfehde einmischen.« Ich nickte zur Trennwand hin. »Von den beiden da vorne ist zumindest einer noch am Leben. Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen, bevor er noch auf unerfreuliche Ideen kommt und womöglich auf uns schießt.«

»Und wo sollen wir hin, Tanner?«

Ich schaute durch das Loch im Boden. »Die Auswahl ist nicht allzu groß, wie?«

»Du bist verrückt!«

»Das mag schon sein«, sagte ich, kniete mich vor das Loch, hielt mich mit beiden Händen an den Rändern fest und streckte den Kopf hindurch. »Das muss wohl an der Gegend hier liegen.«

Ich ließ mich durch die Öffnung gleiten, bis ich mit den Füßen die knorrige Oberfläche des Baldachin-Astes berührte, an dem wir hängen geblieben waren. Es war ein dünner Ast, und wir befanden uns am vorderen Ende, kurz bevor er in feine Fäden auslief, die an die Wurzeln einer Zwiebel erinnerten. Sobald ich einen festen Stand hatte, streckte ich Zebra die Arme entgegen und half ihr aus der Gondel, obwohl sie dank ihrer extrem verlängerten Gliedmaßen meine Hilfe kaum benötigte.

Unten angekommen, hob Zebra den Kopf und betrachtete das zerstörte Vehikel. Das Dach war zu einer formlosen Masse aus verschmorten Bauteilen verschmolzen. Von den Teleskoparmen war nur noch einer vorhanden, er hatte sich, völlig verbogen, mit letzter Kraft etwas darüber in einen Ast gekrallt und hielt die Gondel fest. Man hatte den Eindruck, als würde der kleinste Windstoß genügen, um die ganze Konstruktion in den Mulch hinab zu schleudern. Quirrenbach und der zweite Leibwächter befanden sich noch im vorderen Abteil, aber von außen drückte ein vorstehendes Aststück gegen die Tür, sodass sie sich nicht öffnen ließ.

»Voronoff lebt noch«, sagte ich und deutete mit dem Finger zum dickeren Ende des Astes. Dort kroch der Postmortale langsam und bedächtig auf allen vieren vorwärts. Er war wohl abgestürzt und zufällig hier hängen geblieben.

»Was willst du jetzt tun?«

»Nichts«, sagte ich. »Er kommt nicht weit.«

Der Schuss war exakt bemessen und gut gezielt; genügend Wucht dahinter, um zu überzeugen, aber nicht so viel, um den Ast zu durchschlagen. Voronoff hielt jäh inne, sah sich aber nicht sofort nach uns um.

Zebra spähte in den Gebäudedschungel über uns. Dort stand der Schütze, der eben gefeuert hatte. Sie hatte die Hüfte leicht auswärts gedreht und stützte den Schaft eines großen Gewehrs gegen den Oberschenkel.

Chanterelle schulterte die Waffe und machte sich über eine provisorische Treppe aus ineinander verwachsenen Zweigen an den Abstieg. Ihre Gondel stand heil und unversehrt über uns und hatte drei weitere, dunkel gekleidete Gestalten ausgespuckt. Die standen nun auf dem Ast und gaben ihr mit noch größeren und noch gefährlicheren Waffen Deckung, bis sie bei uns war.

Zuerst war es nur ein kleines Pünktchen, ein Phosphorfleck auf dem Schirm des Tiefenradars. Aber es sprach Bände. Zum ersten Mal, seit sie die Flottille verlassen hatten, waren sie auf etwas gestoßen, das hinter ihnen lag, wo bisher nur Lichtjahre weit leerer Raum gewesen war. Sky verstärkte den Strahl und richtete die Antenne auf die Region, aus der das Echo gekommen war.

»Das muss sie sein«, sagte Gomez, der ihm über die Schulter schaute. »Das muss die Caleuche sein. Sonst kann es da draußen nichts geben.«

»Vielleicht ist es auch nur wieder ein Stück Schrott«, sagte Norquinco zweifelnd.

»Nein.« Sky wartete. Das Phasenradar kitzelte immer neue Details heraus, der unscharfe Fleck verdichtete sich und nahm Gestalt an. »Dafür ist es viel zu groß. Ich denke, es ist das Gespensterschiff. Sonst könnte uns nichts von dieser Größe verfolgen.«

»Wie groß ist es genau?«

»Breit genug«, sagte Sky. »Aber ich kann keine Längenmessung vornehmen. Es hält die Längsachse in die gleiche Richtung wie wir, so als könnte es noch navigieren.« Er drückte einige Tasten und kniff die Augen zusammen, als neben dem Echo neue Zahlen erschienen. »Die Breite stimmt genau für ein Flottillenschiff. Auch das Profil passt — das Radar holt sogar einige Asymmetrien an den Stellen heraus, wo man die Antennenbündel an der vorderen Sphäre erwarten würde. Zu rotieren scheint sie nicht — man hat wohl aus irgendeinem Grund die Drehung gestoppt.«

»Vielleicht wollte man keine Schwerkraft mehr. Wie weit ist es weg?«

»Sechzehntausend Kilometer. Was in Anbetracht der Tatsache, dass wir eine halbe Lichtsekunde zurückgelegt haben, nicht schlecht ist. Wir können es mit minimaler Triebwerksleistung in wenigen Stunden erreichen.«

Nachdem sie sich ein paar Minuten lang beraten hatten, kamen sie überein, dass eine langsame Annäherung am sinnvollsten sei. Seit man wusste, dass sich das Schiff an der Flottille orientierte, konnte man es nicht mehr als ziellos dahintreibendes, totes Wrack betrachten. Die Caleuche besaß noch ein gewisses Maß an Autonomie. Sky bezweifelte, dass sie lebende Menschen an Bord hatte, aber auch diese — unwahrscheinliche — Möglichkeit galt es zu berücksichtigen. Zumindest könnten automatische Verteidigungssysteme aktiviert sein. Und wie die reagierten, wenn sich ein fremdes Schiff rasch und ohne Voranmeldung näherte, war schwer abzuschätzen.

»Wir könnten uns ja immer noch anmelden«, sagte Gomez.

Sky schüttelte den Kopf. »Sie folgen uns nun schon fast seit einem Jahrhundert und haben nie Anstalten gemacht, mit uns zu sprechen. Mag sein, dass ich krankhaft misstrauisch bin, aber ich schließe daraus, dass dieses Schiff nicht gern Besuch bekommt, ob angemeldet oder nicht. Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass niemand mehr an Bord ist. Einige Systeme funktionieren noch, aber das ist auch alles — es reicht gerade, um die Antimaterie zu schützen und das Schiff nicht allzu weit von der Flottille abtreiben zu lassen.«

»Bald wissen wir mehr«, sagte Norquinco. »Wenn wir erst auf Sichtweite heran sind, können wir uns die Schäden ansehen.«

Die nächsten beiden Stunden vergingen quälend langsam. Sky korrigierte den Anflugwinkel so, dass sie etwas von der Seite kamen und das Phasenradar aus dem Echo Rückschlüsse auf die Länge ziehen konnte. Die Ergebnisse waren nicht weiter überraschend: die Caleuche entsprach — mit ein paar kleinen, aber rätselhaften Abweichungen — fast genau dem Profil eines Flottillenschiffs.

Gomez betrachtete das Radarecho. »Wahrscheinlich Spuren von Beschädigungen«, sagte er. Das Echo war jetzt sehr stark, und die Tatsache, dass sonst nichts auf dem Schirm zu sehen war, unterstrich ihre Einsamkeit nur noch mehr. Bisher hatte es keine Reaktion vom Rest der Flottille gegeben; nichts wies darauf hin, dass eines von den anderen Schiffen bemerkt hatte, was vorging. »Wisst ihr«, sagte er, »ich bin fast enttäuscht.«

»Tatsächlich?«

»Irgendwie hatte ich immer mit dem Gedanken gespielt, es könnte etwas ganz Unheimliches sein.«

»Ist dir ein Gespensterschiff nicht unheimlich genug?« Wieder korrigierte Sky den Kurs und brachte das Shuttle in weitem Bogen auf die andere Seite des Schiffes.

»Schon, aber seit wir genau wissen, was es ist, fallen so viele Möglichkeiten weg. Wisst ihr, was ich früher dachte? Ein anderes Schiff, viel schneller und fortschrittlicher, das der Flottille sehr viel später von zu Hause hinterher geschickt worden war. Es sollte uns in sicherem Abstand folgen — vielleicht nur, um uns zu beobachten, aber vielleicht auch, um einzuschreiten und uns zu helfen, wenn wirklich etwas schief ging.«

Sky sah ihn verächtlich an, obwohl er insgeheim ganz ähnliche Vorstellungen hatte. Vielleicht wurde es ja noch schlimmer, dachte er. Vielleicht hatte die Caleuche keine brauchbaren Vorräte an Bord, und es war auch unmöglich, ihre Antimaterie gefahrlos an sich zu bringen. Nur weil sich um das Schiff Legenden rankten, musste es noch keinen handfesten Vorteil bringen. Er dachte an die ursprüngliche Caleuche: jenes Gespensterschiff, das angeblich, mit einer toten, auf ewig zu einem grausigen Festmahl verdammten Besatzung die Gewässer im südlichen Chile unsicher machte und traurige Akkordeonmusik über die Wellen schickte. Wenn diese Caleuche gesichtet wurde, hatte sie sich durch Zauberei in einen algenbewachsenen Felsblock oder ein Stück Treibholz verwandelt.

Vielleicht fanden sie auch jetzt nicht mehr als das.

Die letzte Stunde verging nicht schneller als die anderen zuvor, doch an ihrem Ende wurden sie mit einem ersten kurzen Blick auf das Schiff belohnt. Es war tatsächlich ein Flottillenschiff — sie hätten auch auf die Santiago zufliegen können, nur brannte auf der Caleuche kein einziges Licht. Sie mussten die Suchscheinwerfer des Shuttles einschalten, um etwas zu erkennen, und als sie näher gekommen waren — als nur noch wenige hundert Meter sie von dem antriebslos dahindriftenden Schiff trennten —, konnten sie den Rumpf auf diese Weise nur quälend langsam Stück für Stück ableuchten.

»Der Kommandobereich sieht intakt aus«, sagte Gomez, als der Scheinwerferstrahl über die riesige Sphäre an der Vorderseite des Schiffes glitt. Dort waren viele schwarze Fenster und Sensoröffnungen auszumachen, aus runden Vertiefungen ragten Funkantennen, aber nichts wies darauf hin, dass die Sphäre bewohnt oder mit Energie versorgt gewesen wäre. Die vordere Hälfte war übersät mit zahllosen kleinen Aufschlagkratern, aber das war bei der Santiago nicht anders. Auf den ersten Blick schienen das die einzigen Beschädigungen zu sein.

»Flieg mal ein Stück an der Säule entlang«, verlangte Gomez. Hinter ihnen hatte sich Norquinco wieder in die Schemazeichnungen des alten Schiffs vertieft.

Sky zündete kurz die Schubdüsen, und das Shuttle schwebte langsam an der Kommandosphäre vorbei. Das zylindrische Modul dahinter beherbergte wohl die Shuttles der Caleuche und die Frachträume. Alles sah genau so aus wie erwartet. Sogar die Einstiegsluken befanden sich an den gleichen Stellen.

»Ich sehe keine größeren Schäden«, sagte Gomez. »Ich dachte, das Radar hätte gezeigt…«

»Schon richtig«, sagte Sky. »Aber die Schäden befanden sich alle auf der anderen Seite. Wir drehen an der Triebwerkssektion eine Schleife und fliegen dann wieder zurück.«

Langsam folgten sie der Säule nach hinten. Die Scheinwerfer schnitten helle Kreise aus der Dunkelheit. Ein Kälteschlafmodul nach dem anderen glitt vorbei. Sky hatte angefangen, sie zu zählen, weil er fast erwartete, dass einige fehlten, doch nach einer Weile sah er ein, dass es keinen Zweck hatte. Sie waren noch alle vorhanden und intakt; bis auf kleinere Verwitterungsspuren sah das Schiff noch genauso aus wie beim Start.

»Trotzdem kommt mir irgendetwas komisch vor«, sagte Gomez und kniff die Augen zusammen. »Irgendetwas ist nicht so, wie es sein sollte.«

»Mir fällt nichts auf«, sagte Sky.

»Für mich sieht sie auch ganz normal aus.« Norquinco hob nur kurz den Kopf. Seine Schemazeichnungen und Daten interessierten ihn viel mehr.

»Nein, das ist nicht wahr. Die Umrisse sind leicht verschwommen. Siehst du das nicht?«

»Das ist nur der Kontrast«, sagte Sky. »Deine Augen kommen mit dem Helligkeitsunterschied zwischen den beleuchteten und den unbeleuchteten Partien nicht zurecht.«

»Wenn du meinst.«

Sie flogen schweigend weiter, um nicht zugeben zu müssen, dass Gomez Recht hatte und mit der Caleuche tatsächlich etwas nicht stimmte. Wieder musste Sky an Norquincos Geschichten über das Gespensterschiff denken: der alte Windjammer hatte sich angeblich in Nebel gehüllt, sodass ihn niemand deutlich sehen konnte. Zum Glück verzichtete Norquinco darauf, ihn ausgerechnet jetzt daran zu erinnern. Das hätte ihm den Rest gegeben.

»Kein Infrarot von den Kälteschlafkojen«, sagte Gomez endlich, als sie fast die ganze Säule abgeflogen hatten. »Das ist kein gutes Zeichen, Sky. Wären die Kojen noch in Funktion, dann müssten wir die Infrarotstrahlung von den Kühlsystemen ausmachen. Man kann nichts kühl halten, ohne irgendwo anders Wärme zu erzeugen. Die Momios sind sicher nicht mehr am Leben.«

»Kopf hoch«, sagte Sky. »Du wolltest ein Gespensterschiff, jetzt hast du es.«

»Ich glaube nicht, dass es Gespenster an Bord hat, Sky. Nur jede Menge toter Menschen.«

Sie passierten das Ende der Säule und kamen zum Antriebsaggregat. Jetzt hatten sie sich dem Rumpf bis auf zehn oder fünfzehn Meter genähert und hätten jedes Detail mit messerscharfer Deutlichkeit erkennen müssen, aber Gomez’ Beobachtung bewahrheitete sich. Sie sahen das Schiff wie hinter einer trüben Glasplatte, und bis auf die Grenze zum Weltall waren alle Umrisse verschwommen. Die Caleuche sah aus, als wäre sie angetaut und wieder gefroren.

Es war nicht, wie es sein sollte.

»Von größeren Schäden am Antrieb ist nichts zu sehen«, sagte Gomez. »Demnach ist die Antimaterie immer noch im Sicherheitsbehälter und wird mit Restenergie abgeschirmt.«

»Aber es wird kein Fünkchen Energie abgestrahlt. Und es brennt kein einziges Licht.«

»Sie wird eben alle nicht lebenswichtigen Systeme abgeschaltet haben. Aber die Antimaterie muss noch da sein, Sky. Das heißt, was immer hier passiert, unser Flug war nicht völlig vergeblich.«

»Sehen wir uns die andere Seite an. Wir wissen, dass dort etwas nicht in Ordnung ist.«

Sie flogen in einer engen Wendung hinter den klaffenden Mäulern der Triebwerke vorbei. Gomez hatte natürlich Recht — die Antimaterie musste da sein, das hatte nie in Zweifel gestanden. Wären die Triebwerke explodiert wie damals bei der Islamabad, dann wäre außer ein paar ungewöhnlichen Spurenelementen im interstellaren Medium nichts übrig geblieben. Das Schiff musste genug Antimaterie in sich haben, um abzubremsen, und die Einschluss-Systeme mussten normal arbeiten. Mit dieser Antimaterie könnte Skys Besatzung einiges anstellen. Denkbar wären Versuche an Ort und Stelle, um die Triebwerke der Caleuche in einem Ausmaß zu testen, wie sie es bei ihrem eigenen Schiff niemals riskiert hätten — und auf diese Weise mehr Leistung aus ihnen herauszuholen. Oder man befestigte das Gespensterschiff wie eine einzige riesige Raketenstufe an der Santiago, um damit die Bremswirkung enorm zu verstärken und es anschließend bei einem immer noch beträchtlichen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit abzustoßen. Eine dritte Möglichkeit gefiel Sky allerdings noch besser: man sammelte an Bord des Gespensterschiffs Erfahrungen im Umgang mit Antimaterie und nahm dann nur den Vorrat mit zurück zur Santiago, um ihn dort dem eigenen Treibstoffreservoir einzugliedern. So würde kein Treibstoff zum Abbremsen toter Masse vergeudet — und man konnte das Manöver halbwegs geheim halten.

Sie hatten den Wendepunkt überschritten und flogen auf der anderen Seite wieder nach oben. Die Radarscans hatten sie auf gewisse Asymmetrien vorbereitet: sie wussten, dass diese Seite des Schiffes anders war, doch was sie jetzt sahen, war so unglaublich, dass sie kaum ihren Augen trauten. Gomez stieß einen leisen Fluch aus, Sky nickte langsam. Das Schiff war über die ganze Länge von der knollenförmigen Kommandosphäre bis zum hinteren Rand des Antriebs aufgerissen, und aus der Spalte quoll eine widerlich lepröse Masse: ein blasiger Schaum so dicht wie Froschlaich. Sie studierten die Erscheinung mindestens eine Minute lang, ohne ein Wort zu sagen, während jeder versuchte, sie mit den Vorstellungen in Einklang zu bringen, die er sich von dem sechsten Schiff gemacht hatte.

Gomez sprach als Erster. »Hier ist etwas Seltsames passiert«, sagte er. »Etwas sehr, sehr Seltsames. Die Sache ist mir nicht geheuer, Sky.«

»Glaubst du, ich bin glücklich darüber?«, fragte Sky.

»Bring uns vom Rumpf weg«, verlangte Norquinco, und diesmal gehorchte Sky ohne Widerrede. Er zündete die Schubdüsen und steuerte zweihundert Meter nach draußen. In diesem Abstand warteten sie schweigend, bis sie einen besseren Blick auf das Schiff bekamen. Je länger man es betrachtete, dachte Sky, desto mehr erinnerte es an blasiges Fleisch oder vielleicht an schlecht verheiltes Narbengewebe. Auf jeden Fall sah es ganz anders aus, als er erwartet hätte.

»Da vorne ist etwas«, sagte Gomez und wies mit dem Finger auf die Stelle. »Seht ihr? Es versteckt sich hinter der Kommandosphäre. Scheint nicht zum Schiff zu gehören.«

»Ein anderes Schiff«, sagte Sky.

Sie tasteten sich näher heran und suchten die schwarze Masse nervös mit ihren Scheinwerfern ab. Im ›Fleisch‹ des Rumpfes, fast schon vergraben unter den blasigen Wucherungen, steckte ein sehr viel kleineres, intaktes Raumschiff. Es war genau so groß wie ihr Shuttle — hatte sogar die gleiche Grundform. Nur die Markierungen und einige Kleinigkeiten waren anders.

»Verdammt. Jemand ist uns zuvorgekommen«, sagte Gomez.

»Möglich«, sagte Sky. »Aber das kann schon Jahrzehnte her sein.«

Sie krochen näher an das andere Shuttle heran. Jetzt wit terten sie eine Falle, aber das kleine Schiff sah ebenso tot aus wie das große Raumschiff daneben. Es war an der Caleuche vertäut — mit drei Leinen mit penetrierenden Greifhaken, die man in den Rumpf geschossen hatte. Solche Haltevorrichtungen gehörten zur Standardausrüstung eines Shuttles, aber Sky hätte nie gedacht, dass jemand sie auf diese Weise einsetzen würde. Auf der anderen Seite der Caleuche gab es intakte Andockluken — warum hatte das Shuttle die nicht benützt?

»Bring uns schön langsam näher heran«, sagte Gomez.

»Das tue ich doch!« Aber es war viel schwieriger, an dem verlassenen Shuttle anzudocken, als es aussah, denn sie wurden immer wieder von den eigenen Schubdüsen weggeblasen. Als die beiden Schiffe endlich zusammenkamen, war der Stoß um einiges heftiger, als Sky lieb sein konnte. Aber die Dichtungen hielten, und er konnte einen Teil ihrer Energie in das andere Schiff umleiten und dessen Systeme hochfahren. Sie waren wohl nur inaktiv gewesen. Es ging ihm fast zu einfach, aber die Shuttles waren von jeher so gebaut, dass sie mit allen Andocksystemen auf allen Schiffen kompatibel waren.

Flackernd gingen die Lichter an, und die Luftschleuse glich den Druck zu beiden Seiten der Türen aus.

Die drei Männer stiegen in ihre Raumanzüge und schnallten sich die Sensor- und Funkausrüstung um, die sie speziell für diese Expedition mitgenommen hatten. Dann nahm jeder eines von den Maschinengewehren mit Scheinwerfer an sich, die Sky der Sicherheitswache entwendet hatte. Sky übernahm die Führung. Sie schwebten durch den Verbindungstunnel und betraten eine gut beleuchtete Shuttle-Kabine, die dem Raum, den sie eben verlassen hatten, auf den ersten Blick sehr ähnlich war. Weder Spinnweben noch Staubwolken verrieten, wie lange das Shuttle schon leer stand. Sogar einige Statusanzeigen hatten sich eingeschaltet.

Doch hier fanden sie eine Leiche.

Sie trug einen Raumanzug und war ohne Zweifel schon lange tot — obwohl keiner von den dreien den grinsenden Totenschädel hinter der Sichtscheibe länger als nötig begutachten wollte. Der Mann schien freilich keines gewaltsamen Todes gestorben zu sein. Er saß in entspannter Haltung im Pilotensessel, die Arme im Raumanzug hingen locker herab, die Finger in den Handschuhen waren im Schoß gefaltet wie zu einem stummen Gebet.

»Oliveira«, las Gomez von einem Schild am Helm ab. »Ein portugiesischer Name. Er muss von der Brasilia gekommen sein.«

»Warum ist er hier gestorben?«, fragte Norquinco. »Er hatte doch noch Energie? Er hätte nach Hause fliegen können.«

»Nicht unbedingt.« Sky deutete auf eine der Statusanzeigen. »Energie hatte er vielleicht, aber sicher keinen Treibstoff. Er hatte es auf dem Weg hierher wohl so eilig, dass er alles verbraucht hat.«

»Na und? Im Innern der Caleuche müssten sich doch noch Dutzende von Shuttles befinden. Warum hat er das hier nicht zurückgelassen und ist mit einem anderen geflogen?«

Schritt für Schritt erstellten sie eine Arbeitshypothese, um die Gegenwart des Toten zu erklären. Niemand hatte je von Oliveira gehört, aber er stammte schließlich von einem anderen Schiff und war sicher schon seit vielen Jahren verschollen.

Auch Oliveira musste von der Caleuche erfahren haben; vielleicht auf die gleiche Weise wie Sky: durch Gerüchte, die sich mit der Zeit so weit verdichteten, dass sie zu Tatsachen wurden. Wie Sky hatte er beschlossen, das Gespensterschiff anzufliegen und nachzusehen, was es dort zu holen gab. Vielleicht versprach er sich satte Gewinne für seine Mannschaft oder — nicht auszuschließen — für sich persönlich. Also hatte er ein Shuttle genommen, vermutlich heimlich, aber er war ohne Rücksicht auf den Treibstoffverbrauch mit voller Triebwerksleistung geflogen. Vielleicht war er dazu gezwungen gewesen, weil das Zeitfenster, innerhalb dessen seine Abwesenheit unbemerkt bleiben konnte, nur sehr schmal war. Aber er hatte das Risiko wohl für vertretbar gehalten. Immerhin konnte er, wie Gomez gesagt hatte, mit den Treibstoffvorräten der Caleuche rechnen — oder mit deren Shuttles. Damit hätte er den Rückflug ohne Schwierigkeiten schaffen müssen.

Dennoch hatte es wohl Probleme gegeben.

»Hier ist eine Nachricht«, sagte Norquinco, der sich die Anzeigen angesehen hatte.

»Was?«

»Wie ich sagte. Eine Nachricht. Vermutlich von… hm… von ihm.« Bevor Sky ihn dazu auffordern konnte, hatte Norquinco die Nachricht schon abgerufen, sie durch mehrere Softwareprotokolle übersetzen lassen und in ihre Anzüge geleitet. Die Tonspur lief über den normalen Funkkanal, und die visuellen Komponenten wurden auf ein Display auf der Helminnenseite projiziert, sodass der Eindruck entstand, Oliveiras Geistergestalt stünde mit ihnen in der Kabine. Er trug noch denselben Anzug, in dem er auch gestorben war, aber jetzt hatte er das Helmvisier hochgeklappt, sodass sie sein Gesicht sehen konnten. Ein noch ziemlich junger Mann mit dunkler Hautfarbe, in seinen Augen stand Entsetzen, vermischt mit tiefer Resignation.

»Ich denke, ich werde Selbstmord begehen«, sagte er auf Portugiesisch. »Ja, das werde ich tun. Es ist wohl der einzig vernünftige Weg. Sie hätten das in meiner Lage sicher auch getan. Man braucht nicht einmal viel Mut dazu, denn wenn man einen Raumanzug trägt, gibt es ein Dutzend schmerzlose Todesarten. Einige davon sind angeblich sogar noch besser als schmerzlos. Ich werde es bald erfahren. Sagen Sie mir bitte, ob Sie mich mit einem Lächeln auf dem Gesicht gefunden haben? Ich hoffe es. Alles andere wäre einfach nicht fair.«

Sky musste sich konzentrieren, um den Worten folgen zu können, aber die Schwierigkeiten waren nicht unüberwindlich. Die Angehörigen der Sicherheitswache mussten alle anderen innerhalb der Flottille gebräuchlichen Sprachen beherrschen — und Portugiesisch stand dem Castellano viel näher als etwa Arabisch.

»Ich nehme einmal an, dass Sie — wer immer Sie auch sein mögen — aus etwa den gleichen Motiven hier sind wie ich. Aus reiner, schamloser Habgier. Nun, ich kann es Ihnen nicht verdenken — und sollten Sie altruistische Gründe haben, so möchte ich mich in aller Form entschuldigen. Aber das kann ich mir kaum vorstellen. Sie haben sicher wie ich von dem Gespensterschiff gehört und sich gefragt, was es an Bord wohl zu holen gäbe. Hoffentlich haben Sie, was die Treibstoffvorräte angeht, nicht den gleichen Fehler gemacht. Aber vielleicht doch, vielleicht waren Sie sogar schon drin und wissen deshalb genau, wovon ich spreche. Sollten Sie allerdings den Treibstoff brauchen und das Schiff noch nicht betreten haben, dann steht Ihnen — so Leid es mir tut — eine große Enttäuschung bevor. Falls Enttäuschung das richtige Wort ist.« Er hielt inne und schaute auf das Lebenserhaltungssystem hinunter, das er um die Brust geschnallt trug. »Die Caleuche ist nämlich nicht ganz das, wofür Sie sie halten. Sie ist unendlich viel weniger. Und zugleich unendlich viel mehr. Niemand weiß das besser als ich. Ich war nämlich drin. Wir waren beide drin.«

»Beide?«

Es war, als hätte ihn der Mann gehört. »Vielleicht haben Sie Lago ja noch nicht gefunden? Habe ich Lago schon erwähnt? Ich hätte es tun sollen — mein Fehler. Er war ein guter Freund von mir, aber jetzt ist er der Grund, warum ich Selbstmord begehen werde. Gewiss, ohne Treibstoff komme ich nicht mehr nach Hause — und wenn ich um Hilfe bäte, würde man mich zum Tode verurteilen, weil ich überhaupt hierher geflogen bin. Selbst wenn die Brasilia mich nicht hängte, würden es eben die anderen Schiffe tun. Nein — es gibt wirklich keinen Ausweg. Aber wie gesagt, wirklich überzeugt hat mich erst Lago. Der arme, arme Lago. Ich hatte ihn nur auf die Suche nach Treibstoff geschickt. Es tut mir wirklich unendlich Leid.« Er riss sich förmlich aus seinen Gedanken und schien jedem Einzelnen in die Augen zu schauen. »Habe ich Ihnen das andere schon erzählt? Habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sofort gehen sollen, falls Sie noch können? Ich bin mir nicht sicher.«

»Schalte das verdammte Ding aus«, sagte Sky.

Norquinco zögerte, dann gehorchte er. Oliveiras Geist erstarrte mitten in seinem Selbstgespräch und hing reglos im Raum.

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