Als ich erwachte, war mir kalt. Ich konnte mich kaum aus den Fängen des Haussmann-Traums befreien. Die Nachwirkung war beunruhigend stark; ich sah mich immer noch an Skys Seite stehen und zusehen, wie sein verletzter Vater weggetragen wurde. Im trüben Licht der Kabine untersuchte ich meine Hand. Das Blut im Zentrum der rechten Handfläche war schwarz und zäh wie ein Klumpen Teer.
Schwester Duscha hatte mir erklärt, es handle sich um einen schwachen Stamm, aber es wollte mir offenbar nicht gelingen, die Infektion aus eigener Kraft zu besiegen. Die Jagd auf Reivich aufzuschieben, kam natürlich nicht infrage, dennoch fand ich Duschas Vorschlag, noch etwa eine Woche in Idlewild zu bleiben und mir das Virus von erfahrenen Ärzten ausschwemmen zu lassen, in diesem Moment sehr viel reizvoller als die Vorstellung, die Sache allein durchstehen zu müssen. Auch wenn der Stamm verglichen mit einigen anderen schwach sein mochte, konnte mir niemand garantieren, dass die Krankheit schon ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Dann stieg ein vertrautes und nicht sonderlich angenehmes Gefühl in mir auf: Übelkeit. Ich war an Schwerelosigkeit ganz und gar nicht gewöhnt, und die Eisbettler hatten mir keine Medikamente gegeben, um den Flug erträglicher zu machen. Ich überlegte ein paar Minuten lang, ob es sich lohnte, meine Kabine zu verlassen, oder ob ich besser einfach liegen blieb und die Beschwerden ertrug, bis wir das Glitzerband erreichten. Irgendwann siegte mein Magen, und ich beschloss, den Weg zum Gemeinschaftszentrum des Schiffes auf mich zu nehmen. Auf einem der Zettel in der Kabine stand, dort gebe es etwas zu kaufen, um die schlimmsten Symptome zu mildern.
Doch schon der Weg dorthin war abenteuerlicher, als mir lieb sein konnte. Das Zentrum, eine große, voll ausgerüstete und belüftete Kugel mit Restaurants, Apotheke und Vergnügungsstätten, lag irgendwo im vorderen Teil des Schiffes. Um es zu erreichen, musste man sich durch ein Labyrinth von klaustrophobisch engen Kriechgängen schlängeln, die mitten durch die Triebwerkskomponenten und um sie herum führten. Die Zettel in meiner Kabine warnten davor, sich in bestimmten Abschnitten zu lange aufzuhalten, und überließen es dem Leser, daraus seine Schlüsse über den Zustand der internen Strahlungsabschirmung in den genannten Bereichen zu ziehen.
Unterwegs dachte ich über den Traum nach.
Etwas störte mich daran, und ich überlegte immer wieder, inwiefern die Ereignisse zu dem passten, was ich bereits über Sky Haussmann wusste. Ich war kein Haussmann-Experte (das war ich nie gewesen), aber wer auf Sky’s Edge aufgewachsen war, bekam eine Reihe von grundlegenden Fakten über ihn und sein Leben zwangsläufig mit. Alle Welt wusste, wie Sky sich nach dem Blackout auf der Santiago, als das andere Schiff explodierte, vor der Dunkelheit gefürchtet hatte, und alle Welt wusste auch, dass und wie seine Mutter bei derselben Katastrophe ums Leben gekommen war. Lucretia galt durchweg als gute und in der ganzen Flottille beliebte Frau. Sky’s Vater Titus wurde geachtet und gefürchtet, aber nie wirklich gehasst. Er hatte den Beinamen Caudillo, der starke Mann. Alle Welt war sich einig, dass Sky zwar eine ungewöhnliche Erziehung genossen haben mochte, was aber nicht hieß, dass man seine Eltern für seine späteren Verbrechen verantwortlich machen konnte.
Alle Welt wusste weiterhin, dass Sky nicht viele Freunde gehabt hatte, doch die Namen Norquinco und Gomez waren überliefert worden, und man wusste auch, dass er sie später zu seinen Komplizen — wenn auch nicht zu gleichberechtigten Partnern — gemacht hatte. Allgemein bekannt war auch, dass Titus von einem Saboteur, den man unter die Passagiere geschmuggelt hatte, schwer verletzt worden war. Er war wenige Monate später gestorben, als sich der Saboteur im Schiffslazarett von seinen Fesseln befreite und den nebenan untergebrachten Titus ermordete.
Ein Teil war mir freilich ein Rätsel. Er enthielt Elemente, die mir unbekannt waren. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals Gerüchte über ein anderes Schiff gehört zu haben, ein unheimliches Gespensterschiff, das die Flottille verfolgte wie die legendäre Caleuche. Selbst der Name Caleuche war mir fremd. Wie sollte ich das verstehen? Hatte das Indoktrinationsvirus so viele Details über Skys Leben gespeichert, die nun meine eigene Unwissenheit aufdeckten, oder hatte ich mir einen bisher nicht dokumentierten Stamm eingefangen, in den man verschiedene Arabesken eingearbeitet hatte, die in den meisten anderen Viren fehlten? Und waren diese Ausschmückungen historisch korrekt (und einfach nicht allgemein bekannt) oder reine Fiktion: von gelangweilten Haussmann-Kultisten eingefügt, um der eigenen Religion etwas mehr Würze zu geben?
Ich konnte es — noch — nicht entscheiden. Aber ich musste mich offenbar wohl oder übel damit abfinden, dass mir im Schlaf noch weitere Episoden von Haussmanns Leben präsentiert wurden. Und obwohl mir die Träume selbst — oder die Art, wie sie alles unterdrückten, was ich vielleicht selbst träumen wollte — nicht unbedingt willkommen waren, konnte ich zumindest nicht leugnen, dass ich gern wissen wollte, wie die Sache weiterging.
Ich schlug mir Sky Haussmann aus dem Sinn und beschäftigte mich im Weiterkriechen lieber mit dem Ziel, das die Strelnikov letztlich ansteuerte.
Das Glitzerband.
Davon hatte ich sogar auf Sky’s Edge schon gehört. Wer hätte das nicht? Es gab nur ein paar Dutzend Orte, die so berühmt waren, dass ihr Ruf auch in andere Sonnensysteme drang; Orte, die selbst über Lichtjahre hinweg eine gewisse Anziehungskraft ausübten. Auf vielen besiedelten Welten galt das Glitzerband als der Inbegriff von grenzenlosem Reichtum, einem Leben im Überfluss und persönlicher Freiheit. Es stand Chasm City in nichts nach, nur der allgegenwärtige Druck der Schwerkraft fehlte. Viele redeten im Scherz davon, dorthin auszuwandern, wenn sie ihr Glück gemacht oder in die Familie mit den richtigen Beziehungen eingeheiratet hätten. Wir hatten in unserem System kein Ziel, das ähnlich viel Glamour verbreitet hätte. Und viele Menschen hatten so wenig Aussicht, jemals dorthin zu gelangen, als wäre das Glitzerband ein mythischer Ort.
Aber es war durchaus real.
Es war nichts anderes als eine Kette von zehntausend eleganten, ja pompösen Habitats, die Yellowstone umkreisten: ein herrliches Arrangement von Arkologien, Karussells und Zylinderstädten, das wie ein Kranz aus Sternenstaub um die Welt lag. Chasm City mochte der Hort sein, aus dem letztlich der Reichtum des ganzen Systems stammte, aber die Stadt hatte sich in ihrer dreihundertjährigen Geschichte und mit ihrer ungeheuren Selbstgefälligkeit den Ruf erworben, im Konservatismus erstarrt zu sein. Das Glitzerband wurde dagegen ständig neu erfunden, Habitats lösten sich aus der Formation und fügten sich an anderer Stelle wieder ein, wurden demontiert und wieder aufgebaut. Ein Meer von Subkulturen gelangte zu einer kurzen Blüte und verschwand wieder, wenn ihre Vorreiter beschlossen, stattdessen etwas anderes auszuprobieren. Wo die Kunst in Chasm City eher zur Behäbigkeit tendierte, wurde im Glitzerband fast alles gefördert. So existierten etwa die Werke eines Künstlers nur für den winzigen Moment, in dem sie aus Quark-Gluon-Plasma geformt und stabilisiert werden konnten, ja, ihre Existenz ließ sich nur durch eine komplizierte Kette von Schlussfolgerungen ableiten. Ein anderer schuf mit gesteuerter Kernspaltung atomare Feuerbälle, die vorübergehend das Aussehen berühmter Persönlichkeiten annahmen. Auch vor den verrücktesten sozialen Experimenten scheute man nicht zurück: Tausende von Menschen unterwarfen sich freiwillig einer Tyrannei diktatorischer Staaten, weil sie nicht mehr gezwungen sein wollten, moralische Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen. In manchen Habitats ließen die Bewohner ihre höheren Hirnfunktionen außer Kraft setzen, um wie eine Herde Schafe unter der Obhut von Maschinen zu leben. In anderen ließ man sein Bewusstsein auf Affen oder Delphine übertragen und ging fortan in verwickelten Machtkämpfen um die Rechte an einzelnen Bäumen oder in elegischen Sonarphantasien auf. Gruppen von Wissenschaftlern, die bei den Musterschiebern gewesen waren, um sich das Bewusstsein neu konfigurieren zu lassen, vertieften sich in die Metastruktur der Raumzeit und ersannen ausgeklügelte Experimente, die an die Grundlagen der Existenz rührten. Eines Tages, so munkelte man, würden sie das Prinzip für einen überlichtschnellen Raumschiffantrieb entdecken und das Geheimnis an ihre Verbündeten weitergeben. Die würden dann die erforderlichen Systeme in ihre Habitats einbauen, und alle anderen würden erst davon erfahren, wenn auf einen Schlag die Hälfte des Glitzerbandes verschwunden wäre.
Kurzum, das Glitzerband war ein Ort, wo ein halbwegs aufgeweckter Mensch ohne weiteres sein halbes Leben verplempern konnte. Aber ich glaubte nicht, dass Reivich sich lange dort aufhalten würde, bevor er die Reise nach Yellowstone fortsetzte. Er wollte sicher so schnell wie möglich nach Chasm City, um dort unterzutauchen.
Und ich würde ihm in beiden Fällen keinen großen Vorsprung lassen.
Immer noch von Übelkeit geplagt, kroch ich in den Gemeinschaftsbereich und sah mich um. Etwa ein Dutzend anderer Passagiere befanden sich in der Kugel. Obwohl jeder sich aussuchen konnte, wie er sich orientieren wollte (die Triebwerke des Shuttleboots waren im Moment abgeschaltet), hatten sich alle so verankert, dass Oben und Unten einheitlich ausgerichtet waren. Ich suchte mir einen freien Wandriemen, steckte den Arm hinein und gab vor, die anderen Matschraupen mit lediglich mäßigem Interesse zu beobachten. Sie hatten sich in Zweier- und Dreiergruppen zusammengefunden und unterhielten sich leise. Ein sphärischer Servomat schwebte, von winzigen Ventilatoren angetrieben, von einer Gruppe zur anderen und bot Waren feil, die er aus verschiedenen, über seinen ganzen Körper verteilten Luken abgab. Er erinnerte mich an eine Jägerdrohne, die sich lautlos ihr nächstes Ziel suchte.
»Kein Grund, nerrvös zu werrden, Frreund«, nuschelte jemand in kehligem Russisch. »Ist nur Roboterr!«
Ich ließ ganz offensichtlich nach, sonst hätte ich merken müssen, dass sich jemand an mich herangeschlichen hatte. Gemächlich drehte ich mich um und sah mir den Sprecher an. Vor mir schwebte eine Fleischmauer, die den halben Raum versperrte. Auf einem Hals, der dicker war als mein Oberschenkel, saß ein rosiges, förmlich wundgeriebenes Gesicht. Der Haaransatz befand sich nur etwa einen Zentimeter über den Augenbrauen: das Haar selbst war lang und schwarz und mit Pomade nach hinten an den Schädel geklatscht, der einem grob behauenen Felsblock glich. Über dem breiten Mund mit den hängenden Mundwinkeln prangte ein dichter schwarzer Schnauzbart, ein dünner schwarzer Backenbart betonte den gewaltigen Unterkiefer. Der Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt wie ein Kosakentänzer, sein überdurchschnittlich entwickelter Bizeps drohte die Ärmel zu sprengen. Er trug einen langen, wattierten Mantel mit großen Flicken aus einem steifen, in allen Regenbogenfarben schillernden Material, die das Licht einfingen und in tausend Fünkchen zerlegten. Seine Augen starrten durch mich hindurch und schienen sich nicht genau auf denselben Punkt zu richten, so als wäre eines davon aus Glas.
Das gibt Ärger, dachte ich.
»Wer ist hier nervös?«, fragte ich.
»He, Junge kann ja sprechen.« Der Mann verankerte sich neben mir an der Wand. »Ich machen nurr Konverrsation, da?«
»Großartig. Und jetzt zieh Leine und such dir jemand anderen für deine Konversation.«
»Warum so unfrreundlich? Du Vadim nicht mögen, Frreund?«
»Zunächst war ich bereit, dir eine Chance zu geben«, antwortete ich auf Norte, obwohl ich mich auch mit Russisch einigermaßen behelfen konnte. »Aber alles in allem… nein, wohl eher nicht. Und so lange wir uns nicht besser kennen, will ich auch nicht dein Freund sein. Und jetzt verschwinde. Ich muss nachdenken.«
»Ich mir überrlegen.«
Der Servomat hatte bei uns angehalten. Sein beschränkter Prozessor spulte stur sein Programm ab, ohne die wachsende Spannung zwischen uns zu registrieren, begrüßte uns als Reisegefährten und erkundigte sich, ob wir irgendwelche Wünsche hätten. Bevor der Riesenkerl neben mir zu Wort kam oder sich auch nur umdrehen konnte, bestellte ich mir eine Scopolamin-Dextrose-Injektion, das älteste und billigste Medikament gegen Übelkeit, das es gab. Wie alle Passagiere hatte ich mir für die Dauer der Reise ein Bordkonto eingerichtet, ich war mir allerdings nicht ganz sicher, ob die einbezahlte Summe für den Preis der Spritze ausreichte. Aber der Servomat erhob keine Einwände, eine Luke klappte auf und eine Einweg-Spritze kam zum Vorschein.
Ich entnahm die Spritze, rollte den Ärmel hoch und stieß mir die Nadel in die Vene, als wollte ich mich gegen einen Angriff mit biologischen Kampfstoffen wappnen.
»He, du machst das wie Prrofi. Kein Zögerrn.« Die Bewunderung klang aufrichtig. Der Mann nuschelte jetzt in langsamem Norte. »Was bist du, Doktor?«
Ich rollte den Ärmel über die anschwellende Einstichstelle.
»Nicht ganz. Aber ich arbeite mit kranken Menschen.«
»Ja?«
Ich nickte. »Kannst gerne eine Kostprobe haben.«
»Ich bin nicht krank.«
»Glaube mir, das hat mich noch nie abgehalten.«
Ich war mir nicht sicher, ob er schon kapierte, was ich ihm sagen wollte; dass er mit mir nämlich nicht die beste Wahl getroffen hatte, falls er für den nächsten Tag einen Gesprächspartner suchte. Ich warf die leere Spritze in den Servomaten zurück. Die Scop-Dex-Mischung wirkte bereits, ich spürte nur noch ein schwaches, nebelhaftes Unbehagen. Es gab sicher wirksamere Behandlungen für die Raumkrankheit — die so genannten Anti-Agonistene —, aber selbst wenn sie hier erhältlich gewesen wären, hätten meine Mittel wohl kaum ausgereicht, um sie zu bezahlen.
»Harrter Burrsche«, sagte der Mann und nickte, obwohl sein Hals für so extreme Belastungen nicht gebaut war. »Gefällt mir. Aber wie harrt du bist wirrklich?«
»Das geht dich zwar eigentlich nichts an, aber du kannst es gern mal ausprobieren.«
Der Servomat wartete noch ein wenig, dann schwebte er zur nächsten Gruppe weiter. Inzwischen waren weitere potenzielle Kunden eingetroffen und schauten mit blässlichen Gesichtern in die Runde. Eigentlich war es lächerlich. Da waren wir nun über so viele Lichtjahre durch den interstellaren Raum gekommen, und doch war die Reise auf diesem kleinen Shuttleboot für viele von uns der erste Weltraumflug, den wir bei Bewusstsein erlebten.
Der Hüne beäugte mich. Ich glaubte fast zu hören, wie in seinem Schädel viele kleine Rädchen zu schwirren begannen. Sicher ließen sich die meisten Leute, die er ansprach, leichter einschüchtern als ich.
»Wie gesagt, ich heiße Vadim. Jederr nennt mich so. Nur Vadim. Ich bin Orriginal — man könnte sagen, Teil von Lokalkolorrit. Und du?«
»Tanner«, sagte ich. »Tanner Mirabel.«
Er nickte so langsam und bedächtig, als hätte er meinen Namen schon einmal gehört.
»Das rrichtiger Name?«
»Ja.«
Es war mein richtiger Name, aber ich konnte ihn ohne Bedenken verwenden. Dass Reivich ihn bereits erfahren hatte, war ausgeschlossen, auch wenn er natürlich wusste, dass ihn jemand verfolgte. Cahuellas Organisation war straff geführt, die Identität der Angestellten wurde geschützt. Reivich könnte bestenfalls den Eisbettlern eine Liste aller anderen Passagiere der Orvieto abgeschmeichelt haben — aber die hätte ihm noch lange nicht verraten, wer nun unter den vielen Namen der Mann war, der ihm nach dem Leben trachtete.
Vadim fragte in kameradschaftlich interessiertem Tonfall: »Woherr du kommen, Meera-Bell?«
»Das geht dich nichts an«, sagte ich. »Bitte, Vadim — was ich eben sagte, war ernst gemeint. Ich habe keine Lust, mit dir zu reden, Lokalkolorit hin oder her.«
»Aber ich will dir Geschäft vorrschlagen, Meera-Bell. Ich denken, du sollten zuhörren.« Er starrte immer noch mit einem Auge durch mich hindurch, während das andere auf irgendeinen Punkt schräg hinter meiner Schulter gerichtet war.
»Ich bin an deinem Geschäft nicht interessiert, Vadim.«
»Du sollten aber sein.« Jetzt hatte er die Stimme gesenkt. »Wo wir hinfliegen, ist gefährrlich, Meera-Bell. Sehrr, sehrr gefährlich. Besonderrs für Neuankömmlinge.«
»Was soll am Glitzerband so gefährlich sein?«
Er schaltete sein Lächeln ein und gleich wieder aus. »Glitzerband… ja. Sehrr interressant, wirrklich. Du werrden sehen, alles ganz anderss als… errwarrtet.« Er hielt inne und strich sich mit einer Hand über das Stoppelkinn. »Und wirr noch garr nicht rreden von Chasm City, njett«
»Gefahr ist ein relativer Begriff, Vadim. Ich weiß nicht, was man hier darunter versteht, aber wo ich herkomme, meint man damit mehr als das stets gegenwärtige Risiko, in ein gesellschaftliches Fettnäpfchen zu treten. Mit dem Glitzerband komme ich schon klar, darauf kannst du dich verlassen. Und das gilt auch für Chasm City.«
»Du meinst, du kennen Gefahrr? Ich glaube, du haben keine Ahnung, was auf dich zukommt, Meera-Bell. Fürr mich du bist sehrr unwissender Mensch.« Er hielt inne und strich sich über die rauen Flicken auf seinem wattierten Mantel. Unter dem Druck seiner Finger rasten die Brechungsmuster nach außen. »Deshalb ich mit dir rreden, verstehen? Ich spielen barrmherzigen Samarriter fürr dich.«
Jetzt begriff ich, worauf er hinaus wollte. »Du bietest mir also an, mich zu beschützen?«
Vadim zuckte zusammen. »Ist sehrr unschönes Worrt. Bitte nicht noch einmal sagen. Wirr sprrechen lieber von Sicherrheitsbündnis, Meera-Bell. Viele Vorrteile für beide Seiten.«
Ich nickte. »Lass mich mal spekulieren; Vadim. Du bist wirklich von hier, wie? Du kommst nicht von irgendeinem Schiff. Wahrscheinlich ist das Shuttleboot mehr oder weniger dein ständiger Wohnsitz, richtig?«
Ein rasches, nervöses Grinsen. »Sagen wir, ich kennen mich besserr hierr aus als durrchschnittliche Matschrraupe, die eben errst aufgetaut. Und sagen wir weiter, ich haben einflussreiche Partner in Umkrreis von Yellowstone. Partner mit Muskeln. Leute, die auf Neuankömmling aufpassen, dafür sorgen können, dass er — oder sie — nicht in Schwierrrrigkeiten kommen.«
»Und wenn dieser Neuankömmling auf deine Hilfe nun lieber verzichtet, was passiert dann? Wäre es möglich, dass er dann genau durch diese Partner in Schwierigkeiten gebracht wird?«
»Du sehrr zynischer Mensch.«
Jetzt war ich es, der grinste. »Weißt du was, Vadim? Ich glaube, du bist nur ein schmieriger kleiner Betrüger. Dein Netz von Partnern existiert gar nicht wirklich, stimmt’s? Dein Einfluss endet in etwa mit dem Rumpf dieses Schiffes — und selbst hier bist du nicht unbedingt allmächtig.«
Er löste die massigen Arme und verschränkte sie wieder. »Nimm dich in Acht, Meerabell — ich dich warrnen.«
»Nein, Vadim, ich warne dich. Wenn du mehr wärst als eine lästige Schmeißfliege, hätte ich dich bereits getötet. Und nun geh und probier deine Masche an jemand anderem aus.« Ich deutete mit dem Kopf in die Runde. »Kandidaten gibt es genug. Aber noch besser wäre es, du würdest in deine miefige kleine Kabine zurückkriechen und noch ein wenig an deiner Technik feilen. Jemandem im Glitzerband mit Gewalt zu ‘ drohen, ist nämlich nicht so unbedingt überzeugend, finde ich. Vielleicht solltest du lieber in die Modeberatung einsteigen?«
»Du wirrklich keine Ahnung, wie, Meera-Bell?«
»Keine Ahnung wovon?«
Er sah mich so mitleidig an, dass ich mich für einen Moment tatsächlich fragte, ob ich die Situation nicht völlig falsch eingeschätzt hatte. Doch dann schüttelte er den Kopf, stieß sich von der Wand ab und schwebte durch den kugelförmigen Raum davon. Sein Mantel flatterte hinter ihm her wie eine Fata Morgana. Das Shuttleboot hatte den Schub wieder verstärkt, deshalb beschrieb er einen langsamen Bogen und landete geschickt in der Nähe des nächsten einsamen Reisenden, der eben eingetroffen war: ein kleiner, übergewichtiger Mann mit schütterem Haar und bleichem, melancholischem Gesicht.
Vadim schüttelte ihm die Hand und zog dann das gleiche Spielchen ab wie vorher bei mir.
Fast hätte ich ihm ein wenig mehr Glück gewünscht.
Die anderen Passagiere waren zu gleichen Teilen männlich und weiblich, auch die genetische Mischung war verhältnismäßig ausgewogen. Ich war ziemlich sicher, dass zwei oder drei von Sky’s Edge stammten, dem Aussehen nach Aristokraten, doch die interessierten mich nicht weiter. Da ich mich langweilte, versuchte ich, ihre Gespräche zu belauschen, aber die Akustik des Gemeinschaftszentrums verkochte alles zu einem Einheitsbrei, sodass nur hin und wieder ein Wort zu verstehen war, wenn jemand aus der Gruppe die Stimme erhob. Immerhin stellte ich fest, dass sie Norte sprachen. Nur wenige Bewohner von Sky’s Edge beherrschten das Norte perfekt, aber fast jeder verstand es einigermaßen: es war die einzige Sprache, die über alle Parteigrenzen hinweg verwendet wurde und sich deshalb auch für diplomatische Annäherungsversuche oder für geschäftliche Verhandlungen mit Partnern von außerhalb eignete. Im Süden herrschte Castellano vor, die Hauptsprache der Santiago, wobei natürlich auch die anderen Sprachen der Flottille ihre Spuren hinterlassen hatten. Im Norden hörte man ein ständig wechselndes Kreol aus Hebräisch, Farsi, Urdu, Pandschabi und Englisch, dem Vorfahren des Norte, aber vor allem Portugiesisch und Arabisch. Die Aristokraten kamen mit Norte meist besser zurecht als der Durchschnittsbürger; es fließend zu sprechen galt als besonders kultiviert. Ich hatte es für meinen Beruf gebraucht — genau wie die meisten anderen Sprachen des Nordens. Außerdem konnte ich mich einigermaßen passabel auf Russisch und auf Canasisch verständigen.
Mit Russisch und Norte käme ich, notfalls mit maschineller Unterstützung, wahrscheinlich auch im Glitzerband und in Chasm City zurecht, doch die Hauptsprache der demarchistischen Neugründer von Yellowstone war Canasisch, ein schwer zu fassendes Gemisch aus Quebecois-Französisch und Kantonesisch. Man sagte, wer wirklich fließend Canasisch sprechen wolle, brauche einen Kopf voller Sprachprozessoren — die Sprache sei einfach fundamental fremd und verstoße allzu drastisch gegen die im menschlichen Gehirn verwurzelten Regeln der grammatischen Tiefenstruktur.
Das hätte mich vielleicht beunruhigt, wären die Demarchisten nicht die geborenen Händler gewesen. Seit mehr als zweihundert Jahren war Yellowstone das Zentrum des wachsenden interstellaren Handelsnetzes, speiste aufstrebende Kolonien mit Innovationen und sog dieselben Kolonien aus wie ein Vampir, sobald sie eine gewisse technologische Reife erlangt hatten. Für die Stoner war es schon aus wirtschaftlichen Gründen selbstverständlich, mit Dutzenden von fremden Sprachen zu jonglieren.
Natürlich musste ich mit Gefahren rechnen. So weit hatte Vadim vollkommen Recht, aber es waren andere als die, auf die er angespielt hatte. Was ich zu befürchten hatte, war subtiler und ging darauf zurück, dass ich mit den Feinheiten einer Kultur nicht vertraut war, die der meinen um mindestens zweihundert Jahre voraus war. Dass ich infolgedessen verletzt würde, war weniger wahrscheinlich, als dass meine Mission kläglich scheiterte. Das allein war Grund genug, um mich in Acht zu nehmen. Aber ich hatte es nicht nötig, mir von einem kleinen Gauner wie Vadim ein fadenscheiniges Schutzversprechen zu erkaufen — mochte er nun über die entsprechenden Kontakte verfügen oder nicht.
Etwas riss mich aus meinen Gedanken. Wieder war es Vadim, und diesmal sorgte er für beträchtliche Unruhe.
Er war mit einem Mann handgemein geworden, der eben erst in das Gemeinschaftszentrum gekommen war. Die beiden rangen miteinander, ohne sich von der Wand zu lösen. Vadims Gegner schien sich zunächst behaupten zu können, aber etwas an Vadims Bewegungen — sie waren so träge, als langweile ihn die ganze Sache — verriet mir, dass er den anderen nur in Sicherheit wiegte. Die übrigen Passagiere bemühten sich mit Erfolg, das Handgemenge zu ignorieren; vielleicht waren sie froh, dass sich der Gauner ein anderes Opfer gesucht hatte.
Dann schlug Vadims Stimmung blitzartig um.
Im nächsten Moment klebte der Neuankömmling an der Wand und litt sichtlich Schmerzen. Vadims massiger Schädel schwebte dicht vor seinem verängstigten Gesicht. Der Mann wollte etwas sagen, aber er brachte kaum ein Murmeln zustande, bevor ihm Vadim den Mund zuhielt. Dann kam, ein widerlicher Anblick, seine letzte Mahlzeit langsam zwischen Vadims Fingern hervorgequollen. Der Fettwanst schüttelte sich vor Ekel, wich ein Stück zurück und fasste mit der sauberen Hand in den Wandriemen. Dann rammte er seinem Opfer dicht unter dem Brustkorb die Faust in den Magen. Dem Mann entfuhr ein heiseres Keuchen, die Augen traten ihm fast aus dem Kopf; er versuchte verzweifelt, Atem zu holen, bevor Vadim den nächsten Schlag landete.
Doch Vadim war schon mit ihm fertig. Er wischte sich noch den Arm am Stoff der Wandverkleidung ab, dann nahm er die Hand vom Riemen und wollte sich abstoßen, um zu einem der Ausgänge zu schweben.
Ich berechnete meine Flugbahn und kam ihm zuvor. Nur einen Moment lang durfte ich das schwindelerregende Gefühl des freien Falls genießen, dann prallte ich einen Meter neben Vadim und seinem Opfer gegen die Wand. Vadim sah mich erschrocken an.
»Meera-Bell… Ich dachte, wirr hätten Verhandlungen abgeschlossen?«
Ich lächelte.
»Ich habe sie eben wiederaufgenommen, Vadim.«
Ich hatte mich gut verankert. Nun hieb ich Vadim mit der gleichen Lässigkeit, mit der er den anderen Mann geschlagen hatte, etwa an der gleichen Stelle die Faust in den Magen. Vadim fiel in sich zusammen wie eine nass gewordene Origami-Figur und stöhnte leise.
Die übrigen Anwesenden zeigten inzwischen etwas mehr Anteilnahme für das Geschehen.
Ich richtete das Wort an sie. »Ich weiß nicht, ob dieser Mann auch Ihnen schon zu nahe getreten ist, ich halte ihn jedenfalls nicht für so gefährlich, wie er Sie gerne glauben machen würde. Sollten Sie Schutzgeld an ihn bezahlt haben, dann haben Sie Ihr Geld höchstwahrscheinlich zum Fenster hinausgeworfen.«
Vadim würgte heraus: »Du bist ein toter Mann, Meera-Bell.«
»Dann habe ich ja nicht mehr viel zu befürchten.« Ich sah den anderen Mann an. Er hatte wieder ein wenig Farbe bekommen und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Alles klar? Ich habe nicht mitbekommen, wie der Kampf anfing.«
Der Mann sprach Norte, aber sein Akzent war so stark, dass ich ihn nicht gleich verstand. Er war ziemlich klein, aber so untersetzt wie eine Bulldogge. Und die Ähnlichkeit beschränkte sich nicht nur auf den Körperbau. Auch das Gesicht mit der platten Nase wirkte ungemein reizbar und streitlustig, und das dünne Haar sprießte ihm in kurzen Borsten aus dem Schädel.
Nun zog er sich die Kleider zurecht. »Ja… so weit ist alles klar, vielen Dank. Dieser Flegel bedrohte mich zuerst mit Worten, dann wurde er auch noch handgreiflich. In diesem Stadium hoffte ich noch, dass mir jemand zu Hilfe kommen würde, aber ich schien plötzlich zu einem Teil des Mobiliars geworden zu sein.«
»Das ist mir nicht entgangen.« Ich warf einen verächtlichen Blick in die Runde. »Immerhin haben Sie sich gewehrt.«
»Mit ziemlich mäßigem Erfolg.«
»Vadim ist leider nicht der Typ, der mutige Gesten zu schätzen wüsste. Ist so weit wirklich alles in Ordnung?«
»Ich denke schon. Eine leichte Übelkeit, das ist alles.«
»Warten sie.«
Ich schnalzte mit den Fingern und rief damit den Servomaten herbei, der in cybernetischer Unschlüssigkeit ein paar Meter entfernt von uns schwebte. Als er näher kam, versuchte ich, noch eine Scop-Dex-Spritze zu erstehen, aber jetzt war mein Bordkonto leer.
»Vielen Dank«, sagte er Mann und biss die Zähne zusammen. »Was ich auf dem Konto habe, müsste genügen.« Er wechselte ein paar Worte auf Canasisch mit der Maschine, so schnell und leise, dass ich nicht folgen konnte, und schon sprang eine neue Spritze heraus.
Während mein Schützling unbeholfen die Nadel in die Vene praktizierte, wandte ich mich an Vadim. »Ich habe heute meinen großzügigen Tag. Du kannst jetzt gehen. Aber lass dich in diesem Raum nicht wieder blicken.«
Er kräuselte spöttisch die Lippen. Tropfen von Erbrochenen hingen wie Schneeflocken an seinen Wangen.
»Wir sind noch nicht fertig miteinander, Meera-Bell.«
Er ließ den Riemen los, hielt inne und sah sich nach den anderen Passagieren um. Offenbar wollte er seinem Abgang wenigstens ein Minimum an Würde verleihen. Die Mühe war vergeblich, denn ich hatte etwas anderes mit ihm vor.
Vadim spannte die Muskeln an, um sich von der Wand abzustoßen.
»Moment noch«, sagte ich. »Glaubst du etwa, ich lasse dich gehen, ohne dass du zurückgibst, was du gestohlen hast?«
Er zögerte, sah sich nach mir um. »Dir habe ich nichts gestohlen.« Er wandte sich an den anderen Mann. »Auch Ihnen nicht, Mister Quirrenbach.«
»Ist das wahr?«, fragte ich den Mann, dem ich zu Hilfe gekommen war.
Auch Quirrenbach zögerte und sah erst Vadim an, bevor er antwortete. »Ja… das ist wahr. Er hat mir nichts gestohlen. Ich hatte bis jetzt nicht mit ihm gesprochen.«
Ich hob die Stimme. »Was ist mit den anderen? Wurden Sie von dem Bastard in irgendeiner Weise betrogen?«
Schweigen. Ich hatte nichts anderes erwartet. Niemand würde mehr freiwillig zugeben, dass er einer kleinen Ratte wie Vadim auf den Leim gegangen war, nachdem sie alle gesehen hatten, wie erbärmlich er tatsächlich war.
»Siehst du«, sagte Vadim. »Du findest niemanden, Meera-Bell.«
»Hier vielleicht nicht«, sagte ich und fasste mit der freien Hand nach seinem wattierten Mantel. Die rauen Flecken fühlten sich so kühl und trocken an wie die Haut einer Schlange. »Aber was ist mit all den anderen Passagieren auf dem Shuttleboot? Ich könnte mir denken, dass du von ihnen schon einige geschröpft hast, seit wir Idlewild verlassen haben.«
»Und wenn schon?«, flüsterte er. »Was geht es dich an?« Sein Tonfall wechselte ständig. Jetzt kroch er wie ein Wurm vor mir, ein widerlicher Schleimer, ganz anders als vorhin, als er den Raum betreten hatte. »Was willst du dafür, dass du dich heraushältst? Was kostet es, wenn du dich zurückziehst und mich in Ruhe lässt?«
Ich musste lachen. »Du willst mich tatsächlich kaufen?«
»Einen Versuch ist es immer wert.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Ich zerrte Vadim zurück und stieß ihn abermals so fest gegen die Wand, dass ihm die Luft weg blieb. Dann schlug ich auf ihn ein. Blinder Zorn überspülte mich wie eine warme Welle. Ich spürte unter meinen Fäusten die ersten Rippen brechen. Vadim wollte sich wehren, aber ich war schneller und stärker, und ich war rechtschaffen empört.
»Halt!«, rief eine Stimme, die schon fast nicht mehr von dieser Welt war. »Hören sie auf; er hat genug!«
Quirrenbach zog mich weg. Zwei andere Passagiere waren herübergeschwebt, um sich das Schauspiel aus der Nähe anzusehen, und betrachteten nun den übel zugerichteten Vadim mit wohligem Entsetzen. Sein Gesicht spielte in allen Regenbogenfarben, sein Mund weinte tiefrote Tränen. So ähnlich musste ich ausgesehen haben, als die Eisbettler mit mir fertig waren.
»Wollen Sie wirklich, dass ich ihn schone?«, fragte ich.
»Davon kann längst nicht mehr die Rede sein«, sagte Quirrenbach. »Aber ich finde auch nicht, dass Sie ihn töten müssen. Angenommen, er sagt die Wahrheit und hat tatsächlich Freunde?«
»Er ist ein Nichts«, beruhigte ich ihn. »Er hat nicht mehr Einfluss als Sie oder ich. Und selbst wenn… Wir sind auf dem Weg zum Glitzerband9 und das ist keine Grenzsiedlung ohne Recht und Ordnung.«
Quirrenbach sah mich merkwürdig an. »Sie meinen das wirklich ernst? Sie glauben wirklich, wir wären auf dem Weg zum Glitzerband!«
»Sind wir das nicht?«
»Das Glitzerband gibt es nicht«, sagte Quirrenbach. »Es existiert seit Jahren nicht mehr. Was uns erwartet, ist etwas völlig anderes.«
Aus Vadims zerschlagenem Gesicht kam gänzlich unerwartet ein Glucksen. Vielleicht war es nur das Blut in seinem Mund. Vielleicht aber auch ein hämisches Lachen.