Zehn

An dem Tag, als der Passagier erwachte — dem Tag, der alles veränderte —, fuhr Sky mit seinen beiden engsten Vertrauten auf einem Wartungszug in einem der engen Tunnel, die das Schiff vom Bug bis zum Heck durchzogen, durch die Säule der Santiago. Der Zug polterte schwerfällig mit wenigen Stundenkilometern dahin und hielt immer wieder an, wenn die Besatzung Material ablud, oder wenn er warten musste, bis ein anderer Zug den nächsten Tunnelabschnitt freigemacht hatte. Skys Begleiter vertrieben sich die Zeit wie üblich mit tollen Geschichten. Sky spielte den Advocatus Diaboli. Er amüsierte sich nicht so gut wie die anderen, war aber nur zu gern bereit, ihnen bei erster Gelegenheit den Spaß zu verderben.

»Viglietti hat mir gestern etwas erzählt«, sagte Norquinco so laut, dass er den Lärm des Zuges übertönte. »Angeblich glaubt er selbst nicht daran, aber er kennt Leute, die davon überzeugt sind. Eigentlich geht es um die Flottille.«

»Wir sind gespannt«, sagte Sky.

»Einfache Frage: Wie viele Schiffe gab es ursprünglich, bevor die Islamabad hochging?«

»Fünf natürlich«, sagte Gomez.

»Aha. Und wenn das nun gar nicht stimmt? Wenn es nun ursprünglich sechs gewesen wären? Eines ist explodiert — das wissen wir —, aber wenn das andere nun noch irgendwo da draußen wäre?«

»Hätten wir es dann nicht sehen müssen?«

»Nicht, wenn es tot ist; nur ein leeres Spukschiff, das hinter uns her fliegt.«

»Sehr praktisch«, sagte Sky. »Das Ding hat nicht zufällig auch noch einen Namen?«

»Wenn du so fragst…«

»Ich wusste es doch.«

»Sie sagen, es heißt Caleuche.«

Sky seufzte. Es sollte also wieder einmal eine von diesen Fahrten werden. Früher einmal — vor vielen Jahren — war das Bahnnetz des Schiffes für die drei ein Ort gewesen, wo man sich vergnügen und unter kontrollierten Bedingungen die tollsten Abenteuer erleben konnte; Schauplatz von riskanten Spielen und Scheinkämpfen, Gespenstergeschichten und Wortgefechten. Von den Hauptrouten zweigten stillgelegte Seitengänge ab, die Gerüchten zufolge zu geheimen Frachträumen oder zu Verstecken von blinden Kälteschlafpassagieren führten, die im letzten Moment von gegnerischen Regierungen an Bord geschmuggelt worden sein sollten. In manchen Passagen hatten Sky und seine Freunde sich waghalsige Mutproben geliefert, indem sie sich außen an die Züge hängten und mit dem Rücken an den vorbeirasenden Tunnelwänden entlang streiften. Jetzt war er älter geworden und blickte mit wehmütiger Verwirrung auf diese Zeiten zurück, einerseits stolz auf die Kühnheit, die sie bewiesen hatten, andererseits entsetzt, wie knapp sie dabei oft einem schrecklichen Tod entronnen waren.

Das war eine Ewigkeit her. Inzwischen waren sie zu ernsthaften jungen Männern herangereift, die sich auf dem Schiff nützlich machten. In diesen neuen, mageren Zeiten musste jeder seinen Beitrag leisten, und Sky und seine Gefährten wurden regelmäßig dazu eingeteilt, Materiallieferungen zu den Arbeitern an der Säule und im Triebwerksbereich und wieder zurück zu begleiten.

Normalerweise mussten sie auch beim Ausladen helfen und die Lasten von Hand durch Kriechgänge und Zugangsschächte dorthin befördern, wo sie gebraucht wurden. Kein reines Zuckerlecken also, auch wenn es vielleicht so aussah. Sky kam selten aus einer Schicht zurück, ohne sich irgendwo gerissen, geschnitten oder geprellt zu haben, und die körperliche Anstrengung hatte ihm zu unerwartet kräftigen Muskeln verholfen.

Die drei waren ein seltsames Gespann. Gomez strebte eine Beschäftigung im Triebwerksbereich an und bemühte sich um Aufnahme in die heilige Priesterschaft des Antriebsteams. Hin und wieder durfte er mit der Bahn bis dorthin fahren, manchmal kam er sogar mit einem der stets flüsternden Techniker ins Gespräch. Den suchte er dann mit seinen Kenntnissen über die Physik des Magneteinschlusses und anderer Geheimnisse des Antimaterie-Antriebs zu beeindrucken. Sky hatte einige dieser Gespräche mit verfolgt und dabei festgestellt, dass die Techniker Gomez’ Fragen und Antworten nicht in jedem Fall verächtlich zurückwiesen. Manchmal zeigten sie sich sogar in Maßen beeindruckt und deuteten an, dass Gomez tatsächlich Aussichten hätte, eines Tages in die Reihen dieser sanften Kaste aufzusteigen.

Norquinco war aus anderem Holz geschnitzt. Er hatte die Gabe, sich ausschließlich, ja geradezu zwanghaft in ein Problem zu vertiefen; ihn konnte alles begeistern und völlig mit Beschlag belegen, so lange es nur ausreichend vielschichtig und komplex war. Listen zu führen war seine Leidenschaft, seine ganze Liebe gehörte Seriennummern und Systemen aller Art. Kein Wunder, dass er sich am liebsten mit dem völlig unüberschaubaren Nervensystem der Santiago beschäftigte; den Computernetzen, die das ganze Schiff durchzogen und seit dem Start unzählige Male geändert, umgeleitet und wie ein altes Pergament immer wieder überschrieben worden waren — zum letzten Mal nach dem großen Blackout. Kaum ein normaler Erwachsener maßte sich an, mehr als einen winzigen Unterbereich dieses Labyrinths verstehen zu wollen, Norquinco fühlte sich dagegen zu seiner Gesamtheit hingezogen. Was für die meisten Menschen ans Pathologische grenzte, hatte für ihn eine morbide Faszination.

Vielen Menschen war er deshalb nicht geheuer. Die für die Netzprobleme zuständigen Techniker gingen bei den meisten Störungen ausgetretene Pfade, und das Letzte, was ‘ sie brauchten, war jemand, der ihnen etwas effizientere Verfahren zeigte. Sie wehrten sich mit dem nicht ganz ernst gemeinten Argument, Norquinco würde sie noch arbeitslos machen — aber das war nur eine höfliche Umschreibung dafür, dass er ihnen unheimlich war. Deshalb ließ man ihn mit Sky und Gomez fahren, wo er weit vom Schuss war.

»Die Caleuche.« Sky wiederholte das Wort. »Ich nehme an, der Name hat auch etwas zu bedeuten?«

»Und das nicht zu knapp«, sagte Norquinco. Er hatte Skys verächtlichen Gesichtsausdruck richtig interpretiert. »Auf der Insel, von der meine Vorfahren kamen, gab es jede Menge Gespenstergeschichten. Die von der Caleuche war eine davon.« Norquinco war ernst geworden, seine übliche Nervosität war wie weggeblasen.

»Und jetzt wirst du uns sicher gleich erzählen, was es damit auf sich hat.«

»Die Caleuche war ein Gespensterschiff.«

»Komisch, darauf wäre ich im Leben nicht gekommen.«

Gomez stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Nun halt mal den Mund und lass Norquinco reden, ja?«

Norquinco nickte. »Bei Nacht hörten die Leute immer wieder Akkordeonmusik über das Meer klingen. Manchmal lief das Schiff sogar in einen Hafen ein oder holte sich Matrosen von anderen Schiffen. Die Toten an Bord feierten ein Fest, das niemals endete. Die Besatzung bestand aus Zauberern; Brujos. Sie hüllten die Caleuche in eine Wolke, die ihr überallhin folgte. Manchmal wurde sie gesichtet, aber sobald man ihr zu nahe kam, versank sie unter den Wellen oder verwandelte sich in einen Felsen.«

»Aha«, sagte Sky. »Dieses Schiff, das niemand deutlich sehen konnte — weil es ja in eine Wolke gehüllt war —, hatte also auch noch die Fähigkeit, sich in einen alten Felsen zu verwandeln, wenn jemand ihm zu nahe kam? Erstaunlich, Norquinco; wenn das keine Zauberei ist, dann weiß ich auch nicht.«

»Ich behaupte ja gar nicht, dass es jemals wirklich Gespensterschiffe gegeben hat«, gab Norquinco gekränkt zurück. »Jedenfalls damals nicht. Aber heute, wer weiß? Vielleicht handelte der Mythos von einem Gespensterschiff, das erst noch kommen sollte?«

»Das wird ja immer besser.«

»Pass auf«, schaltete sich Gomez ein. »Wir vergessen die Caleuche und den Mumpitz mit dem Gespensterschiff. Trotzdem hat Norquinco in einer Beziehung nicht Unrecht. Warum soll es nicht möglich gewesen sein? Warum soll es kein sechstes Schiff gegeben haben? Mit der Zeit geriet es in Vergessenheit, und niemand wusste mehr, was er davon zu halten hatte.«

»Wenn du meinst. Wenn man wollte, könnte man auch sagen, die ganze Geschichte ist ein einziges Lügengewebe, das sich die Besatzung eines Generationenschiffs aus Langeweile zusammengesponnen hat, um ihr Leben durch einen kleinen Mythos zu bereichern.« Sky hielt inne, als der Zug auf seiner Induktionsschiene ratternd in einen anderen Tunnel einbog. Die Schwerkraft stieg an, weil sie der Außenhülle etwas näher kamen.

»Ach, jetzt sehe ich, wo dein Problem liegt«, sagte Norquinco und lächelte ein wenig. »Dein alter Herr, nicht wahr? Du willst das alles nur deshalb nicht glauben, weil dein Vater Leiter der Sicherheitswache ist. Und weil du den Gedanken nicht ertragen kannst, dass ihm etwas so Wichtiges entgangen sein sollte.«

»Vielleicht weiß er es ja — hast du dir das schon einmal überlegt?«

»Du gibst also zu, dass das Schiff tatsächlich existieren könnte.«

»Nein, eigentlich…«

Aber Gomez nun hatte sichtlich Feuer gefangen und unterbrach ihn. »Mir fällt es tatsächlich nicht schwer zu glauben, dass es einmal ein sechstes Schiff gegeben haben soll. Nicht nur fünf, sondern sechs Schiffe auszurüsten, wäre doch nicht so viel mehr Aufwand gewesen? Und danach — nachdem die Schiffe auf Reisegeschwindigkeit beschleunigt hatten — könnte es zu einer Katastrophe gekommen sein… ein tragisches Ereignis, vielleicht auch ein Verbrechen, bei dem die ganze Besatzung und wahrscheinlich auch die Momios ums Leben kamen. Natürlich müsste noch genügend Restenergie vorhanden sein, um die verbliebene Antimaterie im Sicherheitsbehälter einzuschließen, aber dazu braucht man nicht allzu viel.«

»Und?«, fragte Sky. »Das sollen wir alles so ohne weiteres vergessen haben?«

»Angenommen, die anderen Schiffe hätten bei der Zerstörung des sechsten die Hand im Spiel gehabt, dann wäre es nicht schwierig gewesen, die Datenarchive der gesamten Flottille so zu manipulieren, dass jeder Hinweis auf das Verbrechen selbst, ja sogar auf die Existenz des Opfers gelöscht wurde. Und die damalige Besatzungsgeneration hätte schwören müssen, das Verbrechen vor ihren Nachkommen, unseren Eltern, geheim zu halten.«

Gomez nickte begeistert. »Dann wären inzwischen nur noch Gerüchte übrig; halb vergessene Wahrheiten, mit Mythen verquickt.«

»Und genau das ist die Situation«, stellte Norquinco fest.

Sky schüttelte den Kopf. Er wusste, dass jeder weitere Einwand auf taube Ohren stoßen würde.

Der Zug kam in einer der Ladebuchten zum Stehen, von denen aus dieser Teil der Säule versorgt wurde. Die drei stiegen vorsichtig aus und drückten knirschend ihre Klebesohlen an den Fußbodenbelag, um sich zu verankern. So dicht an der Rotationsachse war die Schwerkraft so gut wie aufgehoben. Gegenstände fielen zwar immer noch zu Boden, aber mit einer gewissen Verzögerung, und wenn man zu kräftig auftrat, stieß man sich leicht den Kopf an der Decke.

Es gab viele solcher Buchten, und jede diente der Versorgung einer Gruppe von Momios. Um diesen Säulenabschnitt herum waren sechs Schläfermodule mit je zehn Kälteschlafkojen angebracht, doch die Bahnen fuhren nicht näher an die Kojen heran. Nahezu alle Geräte und Versorgungsgüter mussten hier ausgeladen und von Hand über Leiterschächte und durch gewundene Kriechgänge weiter befördert werden. Frachtaufzüge und Transportroboter waren zwar vorhanden, wurden aber nur selten benutzt. Besonders die Roboter funktionierten nur dann zuverlässig, wenn sie mit viel Aufwand programmiert und ständig gewartet wurden, und man musste ihnen selbst die einfachsten Arbeiten so geduldig erklären wie begriffsstutzigen Kindern. Normalerweise ging es schneller, wenn man die Sache gleich selbst erledigte. Deshalb lehnten auch so viele Techniker gelangweilt an den Paletten, rauchten selbst gedrehte Zigaretten und kritzelten mit ihren Schreibstiften auf den Clipboards herum, als wären sie halbwegs beschäftigt, obwohl in Wirklichkeit nichts passierte. Fast alle Techniker trugen blaue Monteuranzüge mit Emblemen der jeweiligen Abteilungen, aber in den meisten der Overalls klafften Risse oder Schlitze, die den Blick auf primitive Tätowierungen frei gaben. Sky kannte die Männer natürlich alle vom Sehen — auf einem Schiff mit nur einhundertfünfzig wachen Menschen war es schwierig, jemanden nicht zu kennen. Aber er hatte nur eine ungefähre Vorstellung, wie sie hießen, und wie sie lebten, wenn sie nicht arbeiteten, war ihm so gut wie unbekannt. Wenn sie nicht im Dienst waren, hielten sie sich meist in gesonderten Bereichen der Santiago auf, sie verkehrten auch meistens mit ihresgleichen, das ging so weit, dass sie auch nur untereinander Nachkommen zeugten. Sie hatten sogar eine eigene Sprache, einen sorgsam gehüteten Geheimjargon.

Doch diesmal war alles etwas anders.

Niemand hing untätig herum oder gab sich den Anschein, beschäftigt zu sein. Tatsächlich waren nur sehr wenige Techniker im Raum, und die wirkten so angespannt, als warteten sie auf eine Alarmsirene.

»Was ist denn los?«, fragte Sky.

Der Mann, der daraufhin vorsichtig hinter dem nächsten Palettenstapel hervortrat und kurz die Chromschulter eines zusammengekauerten Transportroboters berührte, als suche er eine Stütze, war kein Techniker. Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn.

»Dad?«, fragte Sky. »Was machst du hier?«

»Das könnte ich auch dich fragen, oder bist du auf einem — von deinen Einsätzen?«

»Selbstverständlich. Hatte ich dir nicht gesagt, dass wir hin und wieder die Züge begleiten?«

Titus sah ihn zerstreut an. »Ja… ja, sicher. Ich hatte es nur wieder vergessen. Sky, sei doch bitte so gut und hilf diesen Männern beim Abladen, und dann verschwinde mit deinen Freunden.«

Sky sah seinen Vater an. »Ich verstehe nicht.«

»Tu einfach, was ich dir sage!« Titus Haussmann wandte sich dem nächststehenden Techniker zu, einem bärtigen Mann, der seine schenkeldicken Arme mit den grotesk schwellenden Muskeln vor der Brust verschränkt hatte. »Für Sie und Ihre Männer gilt das Gleiche, Xavier. Bringen Sie alle, die entbehrlich sind, von hier weg ans obere Ende der Säule. Und wenn wir schon dabei sind, ich möchte auch, dass der Triebwerksbereich evakuiert wird.« Er schob seinen Ärmel hoch und flüsterte einen Befehl in sein Armband. Eine Empfehlung, um genau zu sein, dachte Sky, aber der Alte Balcazar würde einen Rat von Titus Haussmann niemals in den Wind schlagen. Dann wandte er sich wieder seinem Sohn zu und blinzelte überrascht, als er sah, dass der immer noch da war. »Sagte ich nicht, du sollst dich beeilen? Das war kein Scherz.«

Norquinco und Gomez gingen mit zwei Technikern zum Zug zurück, öffneten einen der Frachtwaggons und machten sich an die Knochenarbeit des Ausladens. Jede Kiste wurde von Hand zu Hand weitergereicht und, nachdem sie die Ladebucht verlassen hatte, vermutlich über mehrere Etagen zu den Schläferkojen hinuntergelassen.

»Dad«, fragte Sky. »Was ist los?«

Er war auf einen Rüffel gefasst, aber Titus schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber mit einem unserer Passagiere stimmt etwas nicht — und das beunruhigt mich ein wenig.«

»Was meinst du, etwas stimmt nicht?«

»Eine von den verdammten Momios wacht gerade auf.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das dürfte eigentlich nicht passieren. Ich war soeben unten in der Koje, aber ich verstehe es immer noch nicht. Aber es macht mir Sorgen. Und deshalb möchte ich, dass der Bereich geräumt wird.«

Das war wirklich unglaublich, dachte Sky. Natürlich waren einige von den Passagieren gestorben, aber dass einer aufgewacht war, das hatte es noch nie gegeben. Und sein Vater schien darüber keineswegs erfreut zu sein, sondern wirkte vielmehr tief besorgt.

»Was ist so schlimm daran, Dad?«

»Es ist einfach nicht vorgesehen, dass sie aufwachen, das ist alles. So etwas kann nur passieren, wenn es von vornherein so geplant war. Noch bevor wir das Sonnensystem verlassen hatten.«

»Aber warum lässt du den Bereich räumen?«

»Weil es etwas gibt, das mein Vater mir gesagt hat, Sky. Und jetzt tu du, was ich dir sage, entlade deinen Zug und sieh zu, dass du schleunigst von hier verschwindest, ja?«

In diesem Augenblick glitt ein zweiter Zug aus der entgegengesetzten Richtung in die Bucht und blieb dicht vor der Bahn stehen, mit der Sky gekommen war. Vier von Titus’ Sicherheitsleuten stiegen aus, drei Männer und eine Frau, und schnallten sich die Plastikpanzer um, die für die Fahrt zu sperrig gewesen wären. Dies war fast die ganze einsatzfähige Miliz des Schiffes, Polizeitruppe und Armee in einem, dennoch waren die Leute nicht ausschließlich für die Sicherheitswache tätig. Der Trupp marschierte nach vorne zu einem anderen Waggon und holte weiß glänzende Gewehre heraus. Die Waffen wurden mit einer Vorsicht gehandhabt, die Unsicherheit verriet. Skys Vater hatte immer beteuert, es gebe an Bord keine Schusswaffen, aber davon hatte er den Jungen nie ganz überzeugen können.

Sky hätte auch in anderer Hinsicht gern mehr über die Sicherheitswache der Santiago gewusst. Die kleine, straff geführte und sehr schlagkräftige Organisation seines Vaters faszinierte ihn. Aber man hatte ihm nie erlaubt, mit Titus zusammenzuarbeiten. Titus hatte dafür eine durchaus einleuchtende Erklärung: wie solle er weiterhin völlig vorurteilsfrei und fair urteilen können, wenn sein eigener Sohn in seiner Organisation eine Rolle spielte, ob er nun geeignet sei oder nicht — aber davon wurde die Pille nicht weniger bitter. Folglich veranlasste Titus, dass Sky ausschließlich zu Arbeiten eingeteilt wurde, die möglichst weit abseits von allem lagen, was mit der Sicherheitswache zu tun hatte. So lange Titus die Organisation leitete, würde sich daran auch nichts ändern, das war ihnen beiden klar.

Sky ging zu seinen Freunden und half ihnen beim Abladen. Sie arbeiteten rasch, ohne die ausgefeilten Verzögerungstaktiken, die sie sonst anzuwenden pflegten. Seine Freunde waren nervös; hier war etwas Ungewöhnliches im Gange, und Titus Haussmann war kein Mensch, der Krisen sah, wo keine waren.

Sky behielt auch den Sicherheitstrupp im Auge.

Die Leute streiften sich Stoffbänder mit Kopfhörern über die kahlen Schädel, klopften auf die Mikrophone und überprüften die Funkfrequenzen. Dann holten sie gepanzerte Helme aus dem Zug, drückten sie sich auf den Kopf und justierten die Overlay-Monokel, die über ein Auge geklappt wurden. Jeder Helm war durch ein dünnes schwarzes Kabel mit dem Visier an der Oberseite des zugehörigen Gewehrs verbunden, die Gewehre konnten also abgefeuert werden, ohne dass der Schütze in Richtung des Ziels schauen musste. Vermutlich waren die Helme auch mit Infrarot- oder Sonar-Overlays ausgerüstet. Die wären hier in den dunklen Untergeschossen eine große Hilfe.

Als die Soldaten alles zu ihrer Zufriedenheit eingestellt hatten, gingen sie zu seinem Vater, und der gab ihnen rasch und leise, mit einem Minimum an Dramatik, Anweisungen. Sky beobachtete, wie sich Titus’ Lippen bewegten; seit seine Untergebenen eingetroffen waren, strahlte er eine unerschütterliche Ruhe aus. Gelegentlich machte er eine knappe, präzise Handbewegung oder schüttelte den Kopf. Er hätte auch ein Kinderlied vorsingen können. Sogar der Schweiß auf seiner Stirn war getrocknet.

Dann drehte sich Titus Haussmann um, ging zu dem Zug, mit dem seine Leute gekommen waren, und holte sich ebenfalls ein Gewehr. Nur ein Gewehr, weder Panzer, noch Helm. Die Waffe war wie die anderen weiß glänzend und hatte an der Unterseite ein sichelförmiges Magazin und eine schmale Schulterstütze. Skys Vater ging ruhig und respektvoll mit der Waffe um, aber nicht mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit; eher wie mit einer Schlange, der man eben erst das Gift abgezapft hatte.

Und das alles wegen eines einzigen Passagiers, der nicht mehr schlafen wollte?

»Dad…«, sagte Sky und verließ abermals seinen Posten. »Was ist los? Worum geht es wirklich?«

»Es ist nichts, worum du dich sorgen müsstest«, sagte sein Vater.

Titus nahm drei von den Sicherheitsleuten mit und ließ den vierten als Wache in der Ladebucht zurück. Die Truppe verschwand in einem der Zugangsschächte zu den Kojen. Die Schritte wurden leiser, verklangen aber nicht ganz. Als Sky sicher war, dass sein Vater ihn nicht mehr hören konnte, ging er zu dem Wächter hinüber, der in der Bucht zurückgeblieben war.

»Was geht hier vor, Constanza?«

Sie klappte das Monokel hoch. »Warum glaubst du, dass ich dir das sagen werde, wenn dein Vater es nicht tut?«

»Ich weiß nicht. Ein Schuss ins Blaue, vielleicht weil ich darauf baue, dass wir einmal Freunde waren.«

Er hatte sie sofort erkannt, als der Zug in die Bucht einfuhr. Wenn die Lage so ernst war, verstand es sich fast von selbst, dass sie der Eingreiftruppe angehörte.

»Sei mir nicht böse«, bat Constanza. »Aber wir sind alle ziemlich gereizt, verstehst du?«

»Natürlich.« Er betrachtete ihr Gesicht, das so schön und leidenschaftlich war wie eh und je, und malte sich aus, wie es sein müsste, ihr mit dem Finger über die Wange zu streichen. »Ich habe gehört, ein Passagier sei im Begriff, vorzeitig aufzuwachen. Ist das wahr?«

»So könnte man sagen«, knirschte sie.

»Und deshalb braucht ihr mehr Artillerie, als ich auf diesem Schiff jemals gesehen habe? Ich wusste nicht einmal, dass wir so gut ausgerüstet sind.«

»Wie in bestimmten Situationen vorzugehen ist, entscheidet dein Vater, nicht ich.«

»Aber er muss doch etwas gesagt haben. Was ist an diesem Passagier denn so Besonderes?«

»Hör zu, ich weiß es nicht, klar? Ich weiß nur, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Die Momios können nicht vorzeitig geweckt werden. Das ist einfach nicht möglich, es sei denn, jemand hätte ihre Schlafkojen umprogrammiert. Und dafür müsste dieser Jemand schon einen sehr triftigen Grund haben.«

»Ich verstehe immer noch nicht, warum ein Schläfer zu früh aufwachen möchte.«

»Um die Mission zu sabotieren, was sonst?« Sie senkte die Stimme und trommelte mit den Fingern nervös auf den Gewehrschaft. »Einer von den Schläfern ist nicht als Passagier an Bord, sondern als lebende Zeitbombe. Ein Selbstmordattentäter — ein Verbrecher, jemand, der nichts zu verlieren hat. Und der uns so sehr hasst, dass er uns alle töten will. Vergiss nicht, es war nicht leicht, einen Platz auf einem der Schiffe zu bekommen, als die Flottille das Sol-System verließ. Die Confederacion hat sich mit dem Bau der Flotte ebenso viele Feinde wie Freunde gemacht. Es wäre sicher nicht schwer gewesen, einen Freiwilligen zu finden, der auch den Tod in Kauf nähme, um uns zu bestrafen.«

»Trotzdem kein einfaches Vorhaben.«

»Man dürfte nur nicht vergessen, die richtigen Leute zu bestechen.«

»Du hast wahrscheinlich Recht. Wenn du von einer Zeitbombe sprichst, meinst du das doch hoffentlich nicht wörtlich?«

»Nein — aber jetzt, wo du es erwähnst, so abwegig ist die Idee gar nicht. Was ist, wenn sie — wer immer sie auch waren — auf jedes Schiff einen Saboteur schmuggeln konnten? Vielleicht ist der auf der Islamabad nur als Erster aufgewacht. Dort hatte man wohl keine Vorwarnung.«

»Vielleicht hätte auch eine Vorwarnung nicht viel geholfen?«

Sie biss die Zähne zusammen. »Das werden wir sicher bald erfahren. Aber vielleicht ist es auch nur eine Störung in der Kälteschlafkoje.«

In diesem Augenblick ertönten die ersten Schüsse.

Sie wurden dreißig bis vierzig Meter unterhalb der Ladebucht abgefeuert, dennoch waren sie erschreckend laut. Auch Schreie waren zu hören. Sky glaubte, die Stimme seines Vaters zu erkennen, aber er konnte nicht sicher sein: die Akustik verzerrte alle Geräusche, ließ die Stimmen metallisch klingen und verwischte die Unterschiede.

Constanza erstarrte. »Verdammt«, sagte sie. Dann ging sie auf den Schacht zu. Bevor sie einstieg, drehte sie sich um und funkelte Sky drohend an. »Du bleibst hier.«

»Ich komme mit. Mein Vater ist da unten.«

Das Schießen hatte aufgehört, aber es herrschte immer noch ein Heidenlärm, vor allem hysterische Schreie und ein Gepolter, als würden schwere Gegenstände umgeworfen. Constanza kontrollierte noch einmal ihr Gewehr und warf es sich über die Schulter. Dann schickte sie sich an, über die Leiter in die dumpfen Tiefen hinabzusteigen.

»Constanza…«

Sky griff nach dem Gewehr und riss es ihr von der Schulter, bevor sie ihn daran hindern konnte.

Constanza drehte sich wütend um, aber er drängte sich bereits an ihr vorbei, den Lauf nicht direkt auf sie gerichtet, aber auch nicht direkt von ihr abgewandt. Obwohl er die Waffe nicht bedienen konnte, wirkte er wohl hinreichend entschlossen, denn Constanza wich zurück. Ihr Blick huschte zum Gewehr, das immer noch durch das schwarze Kabel mit ihrem Helm verbunden war. Das Kabel war jetzt straff gespannt.

Sky nickte ihr zu. »Gib mir das Kopfteil«, verlangte er.

»Das trägt dir eine Menge Ärger ein«, prophezeite sie.

»Wieso? Weil ich meinem Vater folge, der sich in Gefahr befindet? Das rechtfertigt schlimmstenfalls eine maßvolle Verwarnung.« Wieder nickte er ihr zu. »Gib mir den Helm, Constanza.«

Sie verzog das Gesicht, dann nahm sie den Helm ab. Sky setzte ihn auf, ohne sie auch noch um das Innenfutter zu bitten. Der Helm war ihm etwas zu klein, aber er hatte keine Zeit, um die Größe einzustellen. Er klappte das Monokel herunter und sah befriedigt, wie es aufleuchtete und ihm zeigte, was das Gewehr sah. Ein Bild in verschiedenen Tönen von Grau bis Grün, überlagert vom Fadenkreuz, den Werten des Entfernungsmessers und den verschiedenen Statusanzeigen. Mit alledem konnte er nichts anfangen, doch als er sich Constanza zuwandte, stach ihre Nase als weißer Fleck aus ihrem Gesicht hervor. Infrarot; mehr brauchte er nicht zu wissen.

Er ließ sich in den Schacht hinunter. Constanza folgte ihm in vorsichtigem Abstand.

Er hörte keine Schreie mehr, aber die Stimmen waren noch da. Sie klangen leise, aber nicht ruhig. Er konnte seinen Vater jetzt eindeutig identifizieren, doch die Art, wie er sprach, war ihm fremd.

Er erreichte den Raum, von dem aus alle Kälteschlafkojen dieser Gruppe zu erreichen waren. Die Kojen gingen strahlenförmig nach zehn Seiten ab, aber nur eine der Verbindungstüren stand offen. Von dort kamen die Stimmen. Sky brachte das Gewehr in Anschlag und näherte sich durch den von Rohren durchzogenen Korridor der Koje. Der Korridor war eigentlich dunkel, doch jetzt leuchtete er in matten Grau- und Grüntönen. Sky stellte fest, dass er in Panik war. Die Angst war immer da gewesen, doch erst, seit er das Gewehr in Händen hielt und hier unten angekommen war, hatte er Zeit, sich damit zu befassen. Das Gefühl war ihm fast, aber nicht völlig fremd. Er wusste noch recht gut, wann er es zum ersten Mal kennen gelernt hatte, damals, als er allein, von aller Welt verlassen, in seinem Kinderzimmer saß. Nun warf sein eigener Schatten Phantombilder an die Wand, und einen Augenblick lang wünschte er, Clown wäre bei ihm und könnte ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen. Der Gedanke, in sein Kinderzimmer zurückzukehren, hatte plötzlich einen fast unwiderstehlichen Reiz. Dort gab es eine heile Welt, unberührt von Gerüchten über Gespensterschiffe oder Sabotage, frei von den sehr realen Nöten der Gegenwart.

Er schlich um eine Biegung im Korridor, und dann lag die Koje vor ihm: ein großer Raum voller lebenserhaltender Maschinen für einen einzelnen Schläfer. Es roch nach hohem, ehrwürdigem Alter wie in einer Totenkapelle. Bis vor kurzem war es hier noch eisig kalt gewesen, und das Monokel zeigte ihm immer noch große olivgrüne und schwarze Flächen.

Hinter sich hörte er Constanza sagen: »Gib mir das Gewehr zurück, Sky, dann wird niemand erfahren, dass du es mir abgenommen hast.«

»Du bekommst es wieder, sobald die Gefahr vorüber ist.«

»Wir wissen doch noch nicht einmal, worin die Gefahr besteht. Vielleicht haben sich ja nur versehentlich ein paar Schüsse gelöst.«

»Und die Störung in der Kälteschlafkoje war sicher auch nur ein unglücklicher Zufall. Sonst noch was?«

Er betrat den Kojenraum und nahm die Szene in sich auf. Die drei Männer von der Sicherheitswache, dazu sein Vater — blassgrüne Flecken, die ins Weißliche spielten.

»Constanza«, sagte einer der Männer. »Ich dachte, du solltest… verdammt. Bist du es überhaupt?«

»Nein, ich bin es. Sky Haussmann.« Sky klappte das Monokel hoch. Sofort wurde der Raum merklich dunkler.

»Und wo ist Constanza?«

»Ich habe ihr den Helm und das Gewehr abgenommen. Es geschah ganz und gar gegen ihren Willen.« Er schaute über die Schulter. Hoffentlich hatte Constanza gehört, wie er sie zu entlasten versuchte. »Sie hat sich wirklich gewehrt, glaubt mir.«

Es gab zehn Kojen in dem Ring, und jede war durch einen eigenen Korridor mit dem Zentrum des Moduls verbunden. Seit dem Start der Flottille war der Raum allenfalls ein bis zwei Mal betreten worden. Die Versorgungssysteme für die Schläfer waren ebenso empfindlich und kompliziert wie die Antimaterie-Triebwerke; wenn sich unkundige Hände daran zu schaffen machten, konnte es auch hier sehr leicht zu einer Katastrophe kommen. Wie einst die toten Pharaonen, so hatten auch die Schläfer damit gerechnet, in ihrer Ruhe nicht gestört zu werden, bis sie das Jenseits — oder in diesem Fall das System von 61 Cygni-A — erreichten. So hatte man das Gefühl, hier eigentlich nicht hinzugehören.

Aber das war nicht halb so schlimm wie der Anblick, den Skys Vater bot.

Titus Haussmann lag auf dem Boden, einer der Sicherheitsleute hielt seinen Oberkörper in den Armen. Auf seiner Brust verbreitete sich eine dunkle, klebrige Substanz, die Sky als Blut erkannte. Seine Uniform hatte tiefe Risse, in denen sich das Blut sammelte. Bei jedem seiner mühsamen Atemzüge war ein entsetzliches Gurgeln zu hören.

»Dad…«, sagte Sky.

»Schon gut«, antwortete einer der Soldaten. »Die Sanitäter sind schon unterwegs.«

Und das, dachte Sky, war bei der Qualität der medizinischen Versorgung auf der Santiago kaum beruhigender, als wenn man ihm einen Priester angekündigt hätte. Oder einen Bestattungsunternehmer.

Er wandte sich dem Kälteschlaftank zu, dem langen, katafalkähnlichen, von Maschinen strotzenden Kryo-Sarg, der den größten Teil des Raumes einnahm. Der Deckel stand weit offen und zeigte große, gezackte Sprünge wie eine zerbrochene Glasscheibe. Auf dem Fußboden bildeten spitze Glasscherben ein abstraktes Glasmosaik. Es sah ganz danach aus, als hätte sich jemand mit Gewalt aus seinem Sarg befreit.

Doch der Sarg war nicht leer.

Der Schläfer war tot oder dem Tode nahe; das war nicht zu übersehen. Auf den ersten Blick war bis auf die Schusswunden nichts Ungewöhnliches festzustellen: ein nackter Mensch, gespickt mit Überwachungssensoren, Infusionsnadeln und Kathetern. Er war jünger als die meisten, dachte Sky — mit anderen Worten, bestes Fanatikerfutter. Aber mit seinem kahlen Schädel und dem maskenhaft starren Gesicht hätte er als ganz normaler Schläfer wie tausend andere durchgehen können.

Nur hatte er seinen Unterarm verloren.

Er lag auf dem Boden — ein schlaffer Handschuh, mit einem Saum aus fransigen Hautlappen. Doch darunter waren weder Fleisch noch Knochen zu sehen, und es war auch nur sehr wenig Blut ausgetreten. Auch der Armstumpf war nicht so, wie er sein sollte. Haut und Knochen hörten wenige Zentimeter unterhalb des Ellbogens auf, der Rest war eine dünne Metallprothese: ein komplexes, grausiges, mit Blut verschmiertes Glitzerding, das nicht in stählernen Fingern, sondern in einem Sortiment von tödlichen Klingen endete.

Sky malte sich aus, wie es sich zugetragen haben musste.

Der Mann war — vermutlich einem Plan folgend, der ausgeheckt worden war, bevor die Flottille den Merkur-Orbit verließ — in seinem Tank erwacht. Eigentlich sollte er wohl unbeobachtet zu sich kommen, den Tank zerschmettern, sich auf das eigentliche Schiff schleichen und dort heimlich eine Katastrophe auslösen, genau so, wie es Constanzas Theorie nach auf der Islamabad geschehen sein könnte. Ein einzelner Mann konnte eine Menge Unheil anrichten, wenn er nicht darauf erpicht war, selbst mit dem Leben davonzukommen.

Aber die Reanimation war nicht unbemerkt geblieben. Der Prozess war noch nicht abgeschlossen gewesen, als der Sicherheitstrupp die Koje betrat. Vielleicht hatte sich Skys Vater über den Tank gebeugt, um ihn zu untersuchen, als der Mann mit seiner Unterarmwaffe den Deckel aufgebrochen hatte. In diesem Moment hätte er Titus ohne weiteres erstechen können, während sie aus vollen Rohren auf ihn feuerten. Vollgepumpt mit schmerzstillenden Reanimationsmedikamenten, hatte er die Schüsse wahrscheinlich kaum gespürt.

Sie hatten ihn aufgehalten, vielleicht sogar getötet, aber zuvor hatte er Titus aufs Schwerste verletzt. Sky kniete neben seinem Vater nieder. Titus hatte die Augen noch geöffnet, schien aber nicht mehr richtig sehen zu können.

»Dad? Ich bin’s, Sky. Du musst durchhalten, ja? Die Sanitäter sind schon unterwegs. Es wird alles wieder gut.«

Einer der Soldaten legte ihm die Hand auf die Schulter. »Er ist stark, Sky. Er musste als Erster hineingehen. Das war so seine Art.«

»Sie meinen wohl, es ist seine Art.«

»Natürlich. Er wird es schon schaffen.«

Sky wollte etwas sagen, die Worte bildeten sich bereits in seinem Kopf, doch in diesem Augenblick regte sich der blinde Passagier; zuerst mit traumhafter Langsamkeit, dann erschreckend schnell. Eine erste, endlose Sekunde lang konnte Sky es gar nicht fassen; der Mann war einfach zu schwer verletzt, um sich überhaupt zu bewegen, noch dazu mit solcher Kraft und Geschwindigkeit.

Geschmeidig wie ein Tier rollte sich der Fremde aus dem Tank, stand auf den Beinen, beschrieb mit seinem Arm elegant einen sensenartigen Bogen und schlitzte einem der Soldaten die Kehle auf. Der Mann brach in die Knie, ein Blutstrahl brach aus der Wunde. Der Angreifer hielt inne und hob den Waffenarm. Das Messerbündel begann zu schwirren und zu klicken. Eine Klinge wurde eingezogen, eine andere, bläulich glänzend wie ein chirurgisches Skalpell, schob sich an ihren Platz. Der Mann beobachtete das Spiel mit stummer Faszination.

Dann trat er auf Sky zu.

Sky hatte noch Constanzas Waffe, aber jetzt war seine Angst so groß, dass er sie nicht einmal in Anschlag bringen konnte, um sich den blinden Passagier damit vom Leibe zu halten. Der Mann sah ihn an. Seine Gesichtsmuskeln begannen zu zucken, als kröchen unter der Haut gleichzeitig Dutzende von Maden über den knöchernen Schädel. Dann hörte das Zucken auf, und für einen Moment sah Sky sein Ebenbild wie in einem Zerrspiegel. Als die Bewegung wieder einsetzte, waren die bekannten Züge verschwunden.

Der Mann lächelte und stieß Sky seine saubere neue Klinge in die Brust. Sky spürte seltsamerweise im ersten Moment keinen Schmerz, sondern nur einen heftigen Schlag gegen die Rippen, der ihm den Atem raubte. Er taumelte zurück und gab den Weg frei.

Die beiden unverletzten Soldaten hinter ihm hoben ihre Waffen.

Sky sank zu Boden und rang um den nächsten Atemzug. Der Schmerz war schier unerträglich, und das Einatmen brachte nicht die erhoffte Erleichterung. Wahrscheinlich hatte das Messer die Lunge getroffen, dachte er, und durch den Schlag mochte obendrein eine Rippe zu Bruch gegangen sein. Immerhin schien die Klinge das Herz verfehlt zu haben, und da er die Beine noch immer bewegen konnte, war vermutlich auch das Rückgrat unversehrt geblieben.

Wieder verging ein Augenblick, ohne dass die Soldaten das Feuer eröffnet hätten. Sky konnte den Rücken des blinden Passagiers sehen. Warum drückten sie nicht ab? Sie hatten doch freies Schussfeld.

Natürlich, Constanza. Sie stand gleich hinter dem Fremden, und wenn die Soldaten auf ihn schossen, war die Gefahr groß, dass die Kugeln seinen Körper durchschlugen und sie trafen. Sie müsste den Rückzug antreten, aber da die Türen zu den anderen Kojen geschlossen waren — und keine Aussicht bestand, sie so schnell zu öffnen —, gab es nur einen Weg: die Leiter hinauf. Dann wäre ihr der Mörder dicht auf den Fersen. Ein normaler Einarmiger hätte Mühe gehabt, die Leiter zu erklimmen, aber für diesen Mann galten offenbar andere physiologische Gesetze.

»Sky…«, sagte Constanza. »Sky. Du hast mein Gewehr. Du hast einen besseren Schusswinkel als die beiden anderen. Du musst schießen.«

Im Liegen, immer noch nach Atem ringend — seine verletzte Lunge gurgelte wie ein Baby —, hob er das Gewehr und nahm den blinden Passagier, der in aller Ruhe auf Constanza zuging, mühsam ins Visier.

»Du musst schießen, Sky.«

»Ich kann nicht.«

»Schieß. Die Sicherheit der Flottille steht auf dem Spiel.«

»Ich kann nicht.«

»Schieß!«

Mit zitternder Hand, kaum fähig, das Gewehr zu halten, geschweige denn, präzise zu zielen, richtete er die Mündung ungefähr auf den Rücken des Mannes, dann schloss er die Augen — obwohl ihn ohnehin die schwarze Flut einer Ohnmacht zu überwältigen drohte — und zog den Abzug durch.

Der kurze, scharfe Feuerstoß klang wie ein lautes, tiefes Rülpsen. Zugleich klirrte es wie Metall: Kugeln, die nicht in menschliches Fleisch schlugen, sondern in die Panzerverkleidung des Korridors.

Der blinde Passagier blieb stehen, als hätte er etwas vergessen und wollte umkehren, dann fiel er zu Boden.

Constanza stand noch aufrecht.

Sie ging auf den Mann zu und trat ihn mit dem Fuß, aber er reagierte nicht. Sky ließ das Gewehr aus den Fingern gleiten, doch da waren die beiden anderen Soldaten schon neben ihm und hielten den falschen Schläfer mit ihren Gewehren in Schach.

Sky rang nach Atem. »Tot?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Constanza. »Jedenfalls läuft er uns vorerst nicht weg. Wie geht es dir?«

»Kann nicht atmen.«

Sie nickte. »Du wirst es überleben. Du hättest schießen sollen, als ich es dir sagte.«

»Hab ich doch.«

»Nein, hast du nicht. Du hast wahllos losgeballert. Er wurde zum Glück von einem Querschläger getroffen. Du hättest uns alle umbringen können.«

»Habe ich aber nicht.«

Sie beugte sich über ihn und nahm ihm das Gewehr ab. »Ich glaube, das gehört mir.«

Inzwischen kamen die Sanitäter die Leiter heruntergestiegen. Natürlich hatte niemand Zeit gehabt, die Leute zu informieren, und so wussten sie im ersten Moment nicht, um wen sie sich zuerst kümmern sollten. Ein angesehenes, hochrangiges Mitglied der Besatzung war schwer verwundet; zwei weitere Besatzungsmitglieder schwebten womöglich ebenfalls in Lebensgefahr. Doch außerdem lag da ein verletzter Schläfer, und der stand als Angehöriger einer Elite, deren Dienst sie ihr Leben geweiht hatten, noch höher. Dass diese Momio nicht das war, was sie zu sein schien, war wohl nicht sofort ersichtlich.

Einer der Sanitäter trat zu Sky und untersuchte ihn kurz, dann drückte er ihm eine Atemmaske auf das Gesicht und überflutete sein kraftloses Atmungssystem mit reinem Sauerstoff. Sky spürte, wie die schwarze Flut ein wenig zurückwich.

»Helft Titus«, sagte er und deutete auf seinen Vater. »Aber tut auch für den blinden Passagier, was ihr könnt.«

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte der Sanitäter, der inzwischen wohl halbwegs erfasst hatte, was hier vorgefallen war.

Sky drückte sich die Maske wieder auf das Gesicht, bevor er antwortete. Im Geiste überlegte er fieberhaft, was er dem Mörder antun, auf welch gewundenen Pfaden er ihm wahre Höllenqualen bereiten könnte.

»O ja, das ist sogar mein voller Ernst.«

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