Ein Irrgarten von dunklen, feuchten Gängen durchzog die schwarze Mauer des Brücken-Terminals und verband Rothand Vasquez’ Etablissement mit dem Innern des Gebäudes. Vasquez ging mit einer Taschenlampe voran und stieß mit dem Fuß die Ratten aus dem Weg.
»Ein Doppelgänger«, sagte er nachdenklich. »Ich hätte nie gedacht, dass er mit einem Doppelgänger arbeiten würde. Ich meine, wir beschatten das Arschloch doch schon seit Tagen.« Das letzte Wort sprach er so aus, als müssten es mindestens Monate sein, in denen er mit schier übermenschlicher Voraussicht jeden Schritt geplant hatte.
»Manche Leute schrecken eben vor nichts zurück«, sagte ich.
»He, immer mit der Ruhe, Mirabel. War schließlich deine Idee, den Burschen nicht wegzupusten, sobald wir ihn gesichtet hatten, obwohl das kein Problem gewesen wäre.« Er stieß mit der Schulter eine Schwingtür auf und betrat einen anderen Korridor.
»Auch dann wäre es nicht Reivich gewesen, oder?«
»Nein, aber bei der Untersuchung der Leiche hätten wir vielleicht rausgekriegt, dass er es nicht war, und dann hätten wir uns auf die Suche nach dem echten Reivich gemacht.«
»Damit hat er Recht«, sagte Dieterling. »Auch wenn ich es nur ungern zugebe.«
»Dafür hast du was gut bei mir, Schlange.«
»Lass es dir bloß nicht zu Kopf steigen.«
Vasquez jagte wieder eine Ratte in die Flucht. »Was ist da draußen denn nun wirklich passiert? Wieso habt ihr euch auf den Quatsch mit der Blutrache überhaupt eingelassen?«
»Du scheinst doch schon ziemlich gut Bescheid zu wissen«, sagte ich.
»Na ja, so was spricht sich eben rum. Besonders, wenn einer wie Cahuella auf die große Reise geht. Da wird von Machtvakuum gemunkelt und so weiter. Mich wundert nur, dass ihr beiden lebend aus der Sache rausgekommen seid. Nach allem, was man hört, sind bei dem Überfall ganz schön die Fetzen geflogen.«
»Ich war nicht schwer verletzt«, sagte Dieterling. »Tanner hat’s viel schlimmer erwischt. Er hatte einen Fuß verloren.«
»So schlimm war es auch wieder nicht«, sagte ich. »Die Strahlenwaffe hat die Wunde kauterisiert und die Blutung gestillt.«
»Na schön«, sagte Vasquez. »Also nur ‘ne Fleischwunde. Ihr wachst mir allmählich richtig ans Herz.«
»Schön, aber können wir jetzt von was anderem reden?«
Meine Zurückhaltung rührte nicht allein daher, dass ich keine Lust hatte, mit Rothand Vasquez über den Vorfall zu reden. Das war ein Grund, aber ebenso wichtig war, dass ich die Einzelheiten nur noch vage in Erinnerung hatte. Das war vielleicht anders gewesen, bevor man mich — für die Regeneration meines Fußes — in ein künstliches Koma versetzte; doch inzwischen schien mir das alles in grauer Vorzeit zu liegen, obwohl erst ein paar Wochen vergangen waren.
Ich hatte jedoch aufrichtig geglaubt, dass Cahuella es schaffen würde. Anfangs sah es aus, als hätte er Glück gehabt: der Laserstrahl war durch seinen Körper gegangen, ohne lebenswichtige Organe zu zerteilen, fast so, als sei die Bahn zuvor von einem erfahrenen Thoraxchirurgen berechnet worden. Doch dann hatte es Komplikationen gegeben, und da er keine Möglichkeit hatte, in den Orbit zu gelangen — er wäre beim Verlassen der Atmosphäre sofort verhaftet und hingerichtet worden —, musste er sich mit der besten Schwarzmarktmedizin zufrieden geben, die für Geld zu haben war. Für die Heilung meines Beins hatte sie ausgereicht, aber gerade solche Verletzungen waren durch den Krieg inzwischen alltäglich geworden. Komplexe Schäden an inneren Organen stellten ungleich höhere Anforderungen an die ärztliche Kunst, und die dafür erforderlichen Mittel waren auf dem Schwarzmarkt nicht zu finden.
Deshalb war er gestorben.
Und deshalb war ich nun hinter dem Mann her, der Cahuella und seine Frau getötet hatte, um ihn möglichst mit einem einzigen Diamantnadelgeschoss aus meiner aufziehbaren Pistole zu erledigen.
In meiner Soldatenzeit, bevor Cahuella mich als Sicherheitsexperten anstellte, war ich ein erfahrener Heckenschütze gewesen. Man sagte mir nach, ich könnte mit einem Kopfschuss eine bestimmte Hirnregion ausschalten. Aber das stimmte nicht; es war heillos übertrieben. Ein guter Schütze war ich allerdings immer gewesen, und ich legte Wert auf saubere Arbeit. Ich tötete schnell und mit chirurgischer Präzision.
Und ich hoffte aufrichtig, das Reivich mich nicht enttäuschen würde.
Überrascht stellte ich fest, dass der geheime Gang direkt ins Herz des Terminals führte und in einem im Schatten gelegenen Teil der Haupthalle mündete. Ich sah mich nach der Sicherheitsschranke um, die wir umgangen hatten. Dort wurden die Passagiere nach versteckten Waffen durchsucht und ihre Ausweise kontrolliert, für den Fall, dass etwa ein Kriegsverbrecher versuchte, den Planeten zu verlassen. Die aufziehbare Pistole, die immer noch unsichtbar in meiner Tasche steckte, wäre bei den Scans nicht aufgefallen, unter anderem deshalb hatte ich mich für sie entschieden. Jetzt war ich fast verärgert, weil meine sorgfältige Planung teilweise umsonst gewesen war.
»Meine Herren«, sagte Vasquez und blieb auf der Schwelle stehen, »für mich heißt es ›bis hierher und nicht weiter‹.«
»Und ich dachte, du fühlst dich hier wie zu Hause«, sagte Dieterling und sah sich um. »Was ist los? Hast du vielleicht Angst, dich nicht mehr losreißen zu können?«
»So in etwa, Schlange.« Vasquez klopfte uns beiden auf den Rücken. »Na schön, Jungs. Dann geht und holt euch diesen postmortalen Haufen Scheiße. Aber erzählt niemandem, dass ich euch hier reingebracht habe.«
»Keine Sorge«, beruhigte Dieterling. »Wir werden deine Rolle in dem Stück nicht überbetonen.«
»Akzeptabel. Und denk daran, Schlange…« Wieder zielte er mit einer nicht vorhandenen Waffe. »Der Jagdausflug, von dem wir gesprochen haben…«
»Du kannst dich als angemeldet betrachten, jedenfalls provisorisch.«
Er verschwand wieder im Tunnel. Dieterling und ich blieben im Terminal zurück und sahen uns schweigend um. Die fremdartige Umgebung hatte uns die Sprache verschlagen.
Wir standen in der unteren Halle, die sich wie ein Ring um den Ein- und Ausstiegsbereich am Fuß des Kabels legte. Die Decke war viele Stockwerke über uns, dazwischen spannte sich ein Netz von offenen Laufstegen und Transitröhren. An der Außenwand hatten sich einst Luxusgeschäfte, Boutiquen und Restaurants befunden. Die meisten waren jetzt geschlossen oder zu kleinen Gedenkstätten und Devotionalienläden umfunktioniert worden. Es herrschte wenig Betrieb, kaum jemand kam aus dem Orbit zurück, und nur eine Handvoll Leute gingen auf die Gondeln zu. In der Halle war es dunkler, als die Planer es wohl vorgesehen hatten, die Decke war kaum zu erkennen. Ich kam mir vor wie in einer Kathedrale, in der, nicht sichtbar, aber deutlich zu spüren, ein feierlicher Gottesdienst abgehalten wurde. Hastige Bewegungen oder lautes Sprechen schienen hier fehl am Platz. Fast unterschwellig hörte ich ein ständiges leises Summen wie in einem Keller voller Generatoren. Oder, dachte ich, wie in einem Raum voll psalmodierender Mönche, die alle mit Grabesstimme den gleichen Ton hielten.
»War das schon immer so?«, fragte ich.
»Nein. Ich meine, ein Dreckloch ist es immer gewesen, aber seit meinem letzten Besuch ist es eindeutig noch schlimmer geworden. Noch vor einem Monat muss hier die Hölle los gewesen sein. Die meisten Leute, die auf das Schiff wollten, mussten hier durch.«
Die Ankunft eines Raumschiffs im Orbit um Sky’s Edge war immer ein Ereignis. Wir waren im Vergleich zu vielen anderen besiedelten Welten ein kleiner und ziemlich rückständiger Planet, der im interstellaren Handel mit seinen ständig wechselnden Machtverhältnissen nicht gerade eine Schlüsselrolle spielte. Zu exportieren hatten wir wenig, abgesehen von unserer Kriegserfahrung und einigen aus den Urwäldern gewonnenen Bioprodukten, für die wenig Nachfrage bestand. Und obwohl wir den Demarchisten-Welten nur zu gerne ausgefallene technische Waren und Dienstleistungen aller Art abgekauft hätten, konnten sich dergleichen auf Sky’s Edge nur die wohlhabendsten Bürger leisten. Wenn uns ein Schiff besuchte, dann munkelte man gewöhnlich, es sei entweder aus den lukrativeren Märkten — wie der Yellowstone-Sol- oder der Fand-Yellowstone-Grand-Teton-Route — hinausgeekelt worden, oder es müsse einen Zwischenstopp einlegen, um Reparaturen durchzuführen. Im Durchschnitt passierte das alle zehn Standardjahre einmal, und wir wurden jedes Mal wieder übers Ohr gehauen.
»Wurde Haussmann tatsächlich hier hingerichtet?«, fragte ich Dieterling, als wir die große Halle durchquerten, wo jeder Schritt widerhallte.
»Irgendwo hier in der Nähe«, sagte er. »Die genaue Stelle kennt niemand, weil es damals keine präzisen Karten gab. Aber sie muss in einem Umkreis von wenigen Kilometern liegen; auf jeden Fall im Stadtgebiet von Nueva Valparaiso. Man wollte die Leiche zunächst verbrennen, entschloss sich dann aber, sie einzubalsamieren; so ließ sie sich besser als abschreckendes Beispiel verwenden.«
»Den Kult gab es damals also noch nicht?«
»Nein. Natürlich gab es ein paar Spinner, die mit ihm sympathisierten — aber von einer Kirche konnte nicht die Rede sein. Die kam erst später. Die Santiago war zum größten Teil freidenkerisch orientiert, doch so leicht ließ sich die Religion nicht aus der menschlichen Psyche entfernen. Also nahm man Skys Taten und verschmolz sie mit den Erinnerungen an zuhause, wobei man nach Belieben das eine bewahrte und das andere verwarf. Bis man sich auf diese Weise eine Weltanschauung mit allem Drum und Dran zusammengebastelt hatte, vergingen ein paar Generationen, doch dann gab es kein Halten mehr.«
»Und nach dem Bau der Brücke?«
»Da hatte einer der Haussmann-Kulte — die Kirche Skys, wie er sich nannte — den Leichnam bereits in seinen Besitz gebracht. Und er hatte — schon aus praktischen Gründen — beschlossen, Sky müsse nicht nur in der Nähe der Brücke, sondern direkt darunter gestorben sein. Die Brücke sei eigentlich auch gar kein Weltraumfahrstuhl — das sei allenfalls ihre äußere Funktion —, sondern ein Zeichen Gottes: ein vorgefertigtes Heiligtum zum Gedenken an Sky Haussmanns ruhmreiches Verbrechen.«
»Aber die Brücke wurde doch von Menschen geplant und gebaut.«
»Im Auftrag Gottes. Verstehst du denn nicht? Darüber lässt sich nicht streiten, Tanner. Gib es einfach auf.«
Wir gingen an einigen Haussmann-Kultisten vorbei, zwei Männern und einer Frau, die auf dem Weg zur anderen Seite waren. Sie kamen mir auf den ersten Blick bekannt vor, obwohl ich mich nicht entsinnen konnte, jemals leibhaftige Angehörige der Sekte gesehen zu haben. Alle drei trugen aschgraue Kutten, und beide Geschlechter bevorzugten langes Haar. Einer der Männer hatte ein Diadem auf dem Kopf, das irgendwie mechanisch aussah — vielleicht zur Schmerzerzeugung. Der linke Ärmel des anderen war leer und seitlich festgesteckt. Die Frau hatte ein kleines delphinförmiges Mal auf der Stirn, und das erinnerte mich daran, dass sich Sky Haussmann mit den Delphinen an Bord der Santiago angefreundet und viel Zeit mit den Tieren verbracht hatte, die von allen anderen gemieden wurden.
Ich fand es merkwürdig, dass mir das eingefallen war. Ob ich es wohl irgendwo gehört hatte?
»Hast du die Pistole griffbereit?«, fragte Dieterling. »Man weiß ja nie. Womöglich bindet sich der Bastard gerade die Schuhbänder, wenn wir um die nächste Ecke biegen.«
Ich klopfte auf die Tasche, um mich zu vergewissern, dass die Waffe noch da war, dann sagte ich: »Ich glaube nicht, dass heute unser Glückstag ist, Miguel.«
Wir traten durch eine Tür in der inneren Wand der Halle. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass der Mönchsgesang aus menschlichen Kehlen kam; die Stimmen hielten einen fast, aber leider nicht ganz reinen Ton.
Zum ersten Mal, seit wir das Terminal betreten hatten, konnten wir das Kabel sehen. Wir standen auf einer Galerie über dem Einstiegsbereich, einem großen, kreisrunden Raum. Der Boden lag Hunderte von Metern unter uns, über uns kam das Kabel durch eine Irisöffnung aus der Decke und führte hinab bis zu dem Punkt, an dem es schließlich verankert war. Dort unten lauerten Wartungsmaschinen auf reparatur- oder renovierungsbedürftige Gondeln, und von dort unten kam auch der Gesang; er war nur dank der ungewöhnlichen Akustik bis hier herauf zu hören.
Die Brücke bestand aus einem einzigen dünnen Hyperdiamantseil, das vom Boden bis zum Synchronorbit reichte. Es war fast über die gesamte Länge nicht mehr als fünf Meter dick (und größtenteils hohl). Nur der allerletzte Kilometer innerhalb des eigentlichen Terminals hatte einen Durchmesser von dreißig Metern und verjüngte sich nach oben hin kaum merklich. Die Gründe dafür waren ausschließlich psychologischer Natur: zu viele Passagiere hatten sich gegen die Fahrt in den Orbit gesträubt, sobald sie sahen, wie dünn der Faden, an dem sie hochgezogen werden sollten, tatsächlich war. Deshalb hatten die Besitzer den sichtbaren Teil des Kabels im Inneren des Terminals viel stärker gemacht als eigentlich nötig.
Die Gondeln glitten im Abstand von wenigen Minuten zu beiden Seiten des Kabels nach oben beziehungsweise nach unten. Die blanken, mit Magnetkraft gehaltenen Zylinder waren so weit nach innen gewölbt, dass sie das Kabel fast zur Hälfte umschlossen. Jeder hatte mehrere Stockwerke, auf denen voneinander getrennt Speise-, Erholungs- und Schlafräume untergebracht waren. Die meisten Gondeln waren leer, und in den Fahrgasträumen brannte kein Licht. Nur jede fünfte oder sechste beförderte eine Handvoll Fahrgäste. Die leeren Gondeln waren symptomatisch für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Brücke, obwohl sie an sich kein größeres Problem darstellten. Im Verhältnis zum Gesamtaufwand waren die Kosten für Leerfahrten minimal, und der Fahrplan der besetzten Gondeln wurde nicht beeinträchtigt. Von ferne sahen sie alle gleich voll aus und förderten damit die Illusion, die Brücke sei ausgelastet und arbeite mit Gewinn. Doch seit die Kirche die Anlage gepachtet hatte, rechneten die Eigentümer nicht mehr damit, dass diese Hoffnung sich eines Tages erfüllen könnte. Jetzt in der Monsunzeit mochte auch der Eindruck entstehen, der Krieg läge in den letzten Zügen, dabei war die Planung für die nächsten Feldzüge längst abgeschlossen, und die Strategen spielten ihre Grenzübergriffe und Großoffensiven bereits am Computer durch.
Ein frei schwebender Glassteg führte in schwindelnder Höhe von der Galerie auf das Kabel zu und endete so weit davor, dass gerade noch Platz für eine ankommende Gondel blieb. Etliche Fahrgäste, darunter eine Gruppe gut gekleideter Aristokraten, standen bereits mit ihrem Gepäck auf dem Steg und warteten. Aber ich sah weder Reivich noch jemanden, der Ähnlichkeit mit einem von Reivichs Partnern gehabt hätte. Die Leute unterhielten sich oder sahen sich auf quadratischen Bildschirmen, die wie schmale tropische Fische durch den Raum glitten, Marktberichte und Interviews mit Prominenten an.
Vor dem Steg befand sich ein Schalter, an dem Fahrkarten verkauft wurden; hinter der Theke saß eine Frau, die sich sichtlich langweilte.
»Du wartest hier«, sagte ich zu Dieterling.
Als ich an den Schalter trat, blickte die Frau auf. Ihre Uniform war zerknittert, und unter den blutunterlaufenen, verschwollenen Augen hatte sie dunkelviolette Schatten.
»Ja?«
»Ich bin ein Freund von Argent Reivich und muss ihn dringend sprechen.«
»Das ist leider nicht möglich.«
Ich hatte nichts anderes erwartet. »Wann ist er abgefahren?«
Eine näselnde Stimme, verschliffene Konsonanten. »Diese Frage darf ich Ihnen leider nicht beantworten.«
»Nun machen Sie mal halblang, ja?« Ich schwächte die Bemerkung mit einem Lächeln ab, das hoffentlich liebenswürdig genug ausfiel. »Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, aber die Sache ist wirklich sehr dringend. Ich habe nämlich etwas für ihn — ein wertvolles Familienerbstück aus dem Reivich-Besitz. Kann ich irgendwie noch während der Fahrt Verbindung mit ihm aufnehmen, oder muss ich warten, bis er den Orbit erreicht?«
Die Frau zögerte. Sie konnte mir in diesem Stadium fast keine Informationen geben, ohne gegen ihre Vorschriften zu verstoßen — aber ich wirkte wohl grundehrlich und schien über die Vergesslichkeit meines Freundes aufrichtig bestürzt zu sein. Und ich sah eindeutig wie ein reicher Mann aus.
Sie warf einen Blick auf einen Bildschirm. »Sie können ihm eine Nachricht schicken, dann kann er Sie anrufen, sobald er die Orbitalstation erreicht hat.« Er war also noch nicht eingetroffen, sondern hing irgendwo über mir am Kabel.
»Es ist wohl am besten, ich fahre ihm sofort hinterher«, sagte ich. »Dann braucht er nicht lange im Orbit zu warten. Ich händige ihm den betreffenden Gegenstand aus und komme mit der nächsten Gondel zurück.«
»Das klingt vernünftig.« Sie sah mich an. Vielleicht spürte sie, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte, aber sie vertraute ihrem Instinkt nicht so weit, dass sie versucht hätte, sich mir in den Weg zu stellen. »Aber Sie müssen sich beeilen. Die nächste Gondel fährt gleich ab.«
Ich wandte mich dem kabelseitigen Ende des Steges zu und sah eine leere Gondel aus dem Wartungsbereich nach oben gleiten.
»Dann sollten Sie mir rasch eine Fahrkarte ausstellen.«
»Eine Rückfahrkarte, nehme ich an.« Die Frau rieb sich die Augen. »Das macht fünfhundertfünfzig Austral.«
Ich öffnete meine Brieftasche und zog die knisternden Südland-Scheine heraus. »Ein Skandal«, sagte ich. »Wenn man bedenkt, was die Brückenverwaltung tatsächlich an Energie aufwenden muss, um mich in den Orbit zu bringen, dürfte die Fahrt höchstens ein Zehntel kosten. Aber wahrscheinlich schöpft die Kirche Sky’s einen Teil ab.«
»Ich will Ihnen nicht widersprechen, aber Sie sollten sich nicht abfällig über die Kirche äußern. Jedenfalls nicht hier.«
»Ja, das ist mir bekannt. Aber Sie gehören nicht dazu, oder?«
»Nein«, sagte sie und gab mir das Wechselgeld in kleineren Scheinen heraus. »Ich arbeite hier nur.«
Die Haussmann-Kultisten hatten die Brücke vor etwa zehn Jahren übernommen, nachdem sie sich mit Erfolg eingeredet hatten, dass Sky genau an dieser Stelle gekreuzigt worden sei. Haussmanns Jünger hatten eines Abends das Gebäude gestürmt, bevor irgendjemand wusste, was eigentlich gespielt wurde. Sie behaupteten, überall im Terminal Kanister mit ihrem Virus versteckt zu haben, die angeblich mit Sprengladungen versehen waren, und drohten, sie beim ersten Versuch einer Zwangsräumung zu zünden. Wäre tatsächlich so viel von dem Virus in der Brücke gewesen, wie die Kultisten behaupteten, dann hätte es der Wind über die Hälfte der Halbinsel verteilt. Vielleicht war auch alles nur ein Bluff, aber niemand wollte das Risiko einer Zwangsbekehrung für Millionen von Unbeteiligten auf sich nehmen. Also blieben die Kultisten im Besitz der Brücke. Der Brückenverwaltung wurde gestattet, den Betrieb fortzusetzen, auch wenn das bedeutete, dass die Belegschaft ständig geimpft werden musste, um nicht mit Virusresten infiziert zu werden. Angesichts der Nebenwirkungen der Anti-Virus-Therapie war die Brücke nicht gerade der beliebteste Arbeitsplatz auf der Halbinsel — und die ständigen Chorgesänge der Kultisten kamen noch erschwerend hinzu.
Sie reichte mir das Ticket.
»Hoffentlich schaffe ich es noch rechtzeitig in den Orbit.«
»Die letzte Gondel ist erst vor einer Stunde abgefahren. Falls Ihr Freund die genommen hat…« Ihr Zögern verriet, dass das ›falls‹ ohne Bedeutung war. »Dann haben Sie gute Chancen, ihn bei Ihrer Ankunft noch in der Orbitalstation anzutreffen.«
»Ich hoffe nur, er weiß die ganze Aktion auch gebührend zu schätzen.«
Sie hätte fast gelächelt, gab aber auf halbem Wege auf. Es war wohl doch zu anstrengend.
»Er ist sicher ganz hingerissen.«
Ich steckte das Ticket in die Tasche und bedankte mich — die Frau sah so elend aus, sie tat mir unwillkürlich Leid, weil sie hier arbeiten musste — und ging zu Dieterling zurück. Er stützte sich auf die niedrige Glaswand, die den Verbindungssteg seitlich abschloss, und schaute auf die Kultisten hinab. Sein Blick war ruhig, voller Gleichmut, aber doch wachsam. Ich musste an unseren Ausflug in den Dschungel denken, an den Hamadryaden-Angriff, bei dem er mir das Leben gerettet hatte. Auch damals hatte er diese unbeteiligte Miene aufgesetzt: ein Mann in einer Schachpartie gegen einen hoffnungslos unterlegenen Gegner.
»Und?«, fragte er flüsternd, als ich in Hörweite war.
»Er hat schon eine Gondel genommen.«
»Wann?«
»Vor etwa einer Stunde. Ich habe mir eben eine Fahrkarte gekauft. Geh du jetzt an den Schalter, aber lass niemanden merken, dass wir zusammen reisen.«
»Vielleicht sollte ich lieber nicht mitkommen, Bruder.«
»Es wird schon nichts passieren.« Ich sprach noch leiser. »Zwischen hier und dem Ausgang in der Orbitalstation gibt es keine Ausreisekontrolle. Niemand wird dich verhaften, wenn du nur hinauf und wieder herunter fährst.«
»Du hast leicht reden, Tanner.«
»Mag sein, aber ich versichere dir, du hast nichts zu befürchten.«
Dieterling schüttelte den Kopf. »Schon möglich, trotzdem hat es nicht viel Sinn, wenn wir gemeinsam reisen; wir sollten nicht einmal zusammen in einer Gondel sein. Wer weiß, wie scharf Reivich das Terminal überwachen lässt?«
Ich wollte widersprechen, aber im Grunde wusste ich, dass er Recht hatte. Dieterling ging es wie Cahuella. Er konnte Sky’s Edge nicht verlassen, ohne Gefahr zu laufen, als Kriegsverbrecher verhaftet zu werden. Sie waren beide systemweit in den Datenbanken erfasst, und auf ihre Ergreifung war eine saftige Prämie ausgesetzt — nur war Cahuella schon tot.
»Na schön«, sagte ich. »Vermutlich spricht noch etwas dafür, dass du hier bleibst. Nachdem ich selbst für einige Zeit — mindestens drei Tage — nicht im Reptilienhaus sein kann, brauche ich einen kompetenten Mann, der zu Hause nach dem Rechten sieht.«
»Bist du sicher, dass du alleine mit Reivich fertig wirst?«
Ich zuckte die Achseln. »Ein einziger Schuss genügt, Miguel.«
»Und dafür bist du der richtige Mann.« Ich sah ihm die Erleichterung an. »Also gut, ich fahre noch heute Abend ins Reptilienhaus zurück. Und ich werde jede Nachrichtensendung verschlingen.«
»Ich werde mich bemühen, dich nicht zu enttäuschen. Drück mir die Daumen.«
»Versprochen.« Dieterling schüttelte mir die Hand. »Sei vorsichtig, Tanner. Nur, weil keine Prämie auf dich ausgesetzt ist, kannst du hinterher nicht einfach weggehen, ohne den Leuten einiges zu erklären. Du musst dir auch überlegen, wie du die Pistole wieder los wirst.« — Ich nickte.
»Wenn du so sehr an ihr hängst, kauf ich dir eine zum Geburtstag.«
Er sah mich lange an, als wollte er noch etwas sagen, dann nickte er und wandte sich zum Gehen. Ich sah ihm nach, bis er die halbdunkle Halle betrat. Die Farbe seines Mantels veränderte sich, ein Flimmern ging über seinen breiten Rücken, dann war er verschwunden.
Ich wandte mich meinerseits der Gondel zu und wartete, bis ich einsteigen konnte. Dann schob ich die Hand in die Tasche und umfasste die Waffe. Sie war kühl und hart wie Diamant.